Versorgungsforschung: so notwendig wie auch missverstanden
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IMPLICONplus<br />
– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
03 / 2012<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong>: <strong>so</strong> <strong>notwendig</strong><br />
<strong>wie</strong> <strong>auch</strong> <strong>missverstanden</strong><br />
von Norbert Schmacke
IMPLICONplus<br />
– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong>: <strong>so</strong> <strong>notwendig</strong><br />
<strong>wie</strong> <strong>auch</strong> <strong>missverstanden</strong><br />
von Norbert Schmacke<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> (Health Services Research) ist infolge des Impulses<br />
der Verbundförderung von Krankenkassen und Bundesforschungsministerium<br />
<strong>auch</strong> in Deutschland fester Bestandteil der Gesundheitsforschung geworden.<br />
Inzwischen hat neben dem Bundesministerium für Bildung und Forschung <strong>auch</strong><br />
die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Notwendigkeit erkannt, Grundlagen<br />
der <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> in ihr Förderprogramm aufzunehmen. Häufig besteht<br />
noch der Eindruck, <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> sei reine Anwendungsforschung,<br />
welche die Akzeptanz klinischer Forschung in der Praxis fördern müsse.<br />
Demgegenüber gilt es, gerade die Logik des Ver<strong>so</strong>rgungssystems mittels<br />
methodisch hochwertiger Forschung zu verstehen. Hierfür sind weitaus<br />
größere Mittel erforderlich als sie in der Vergangenheit für methodisch oft<br />
unzureichende Modellevaluationen eingeplant worden sind.<br />
War <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> zum Zeitpunkt der ersten Ausschreibung des Verbundes von<br />
Spitzenverbänden der Krankenkassen und Bundesforschungsministeriums in 2001 noch<br />
ein Außenseiter, reklamieren heute alle medizinischen Fachgesellschaften und nicht<br />
mehr allein die psycho<strong>so</strong>zialen Grundlagenfächer der Medizin und Public Health dieses<br />
Forschungsgelände für sich. Das ist in gewisser Weise ein Erfolg, weil damit der Blick auf<br />
das konkrete Ver<strong>so</strong>rgungsgeschehen bis hin zur Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />
„salonfähig“ geworden ist, es ist aber <strong>auch</strong> ein Problem, weil häufig nicht mehr nachgedacht<br />
wird, welche Forschungsansätze sich hinter diesem Begriff denn nun versammeln.<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> als Hoffnungsträger<br />
Was hat <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> in Deutschland, im Gefolge einer langjährigen Tradition<br />
von Health Services Research, überhaupt erst auf die Tage<strong>so</strong>rdnung gebracht? Es<br />
war wohl die überfällige Kritik an der dominierenden klinischen Forschung, die als<br />
arzneimittellastig zu bezeichnen war, die sich <strong>auch</strong> in gut gemachten Vergleichsstudien<br />
mit randomisierten Designs nicht um eine angemessene Definition von Standards<br />
kümmerte und sich mit Laufzeiten von wenigen Wochen oder Monaten zufrieden gab, die<br />
oft eine ausdrückliche Patientenzentrierung vermissen ließ und kaum Interesse an der<br />
Frage zeigte, <strong>wie</strong> die Praxis mit publizierter Evidenz umging, außer unter dem Aspekt,<br />
<strong>wie</strong> denn Innovationen aus der industriellen Pipeline möglichst profitabel in den Markt<br />
zu bringen wären.<br />
albring & albring<br />
03 / 2012 - Seite
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– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
Mehr als eine Anwendungsdisziplin<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> wurde und wird leichthin mit praxisnaher, anwendung<strong>so</strong>rientierter<br />
Forschung gleichgesetzt. Noch immer denken viele Spon<strong>so</strong>ren, Kliniker und<br />
Repräsentanten des Systems in den Kategorien Grundlagenforschung, klinische<br />
Forschung und Anwendungsforschung (letzteres wird gern <strong>auch</strong> mit Evaluation<br />
gleichgesetzt). Dem Zeitgeist geschuldet hat dazu die Frage nach den Potenzialen für<br />
Wirtschaftsförderung an Bedeutung gewonnen. Wer mit der Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
und zusätzlichen Steuereinahmen wirbt, findet erst einmal Gehör in Politik aber <strong>auch</strong><br />
in der Forschungsförderung. Es könnte <strong>auch</strong> immer noch der Eindruck vorherrschen,<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> sei <strong>so</strong> etwas <strong>wie</strong> „quick and dirty“-Forschung, die sich um<br />
Schwachstellen der Ver<strong>so</strong>rgung und das Einebnen von Innovationsbarrieren kümmern<br />
<strong>so</strong>ll. Spon<strong>so</strong>ren, gleich ob in Staat, Sozialversicherung oder Industrie, verlangen beim<br />
Einreichen von Forschungsanträgen automatisch Ausführungen zum Anwendungsnutzen.<br />
Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht <strong>so</strong>gar vernünftig, weil es eine tiefsitzende<br />
Aversion gegen L’art pour L’art –Wissenschaft gibt und natürlich die Verwendung von<br />
Forschungsmitteln gut begründet sein will. Es sei nur am Rande bemerkt, dass in dieser<br />
schönen neuen Welt der Hinwendung zum Anwendungsnutzen, nach Möglichkeit noch in<br />
Exzellenzzentren, eine stattliche Zahl universitärer Disziplinen vom Aussterben bedroht<br />
sind: man spricht schon salopp von Orchideenfächern vom Typ Orientalistik.<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> benötigt gute klinische Forschung<br />
Wenn denn in der klassischen klinischen Forschung der tatsächliche Ver<strong>so</strong>rgungsbedarf<br />
und die Hindernisse zur Erreichung hoher Ver<strong>so</strong>rgungsqualität nur marginal angesprochen<br />
werden, dann stellt sich rasch die Frage, <strong>wie</strong> es um die Erfüllung der hohen Erwartungen<br />
an die moderne <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> bestellt ist.<br />
Betrachten wir das vielleicht allen konkreten Projekten übergeordnete Forschungsinteresse,<br />
fördernde und hemmende Faktoren für eine sich an Qualität und<br />
Wirtschaftlichkeit orientierende Praxis zu verstehen und nach Möglichkeit zu beseitigen.<br />
Dieses Konzept setzt nun einmal voraus, sich über die Güte der publizierten Evidenz ein<br />
Bild zu machen, will man als Forscher nicht auf Zuruf das Etikett „Innovation“ für eine<br />
neue medizinische Einzelleistung oder ein ganzes Ver<strong>so</strong>rgungskonzept übernehmen und<br />
gewissermaßen nur noch danach fragen, warum die Praktiker „zu dumm“ sind, diese<br />
Innovationen einzusetzen.<br />
albring & albring<br />
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– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
Wenn etwa Hausärzte dem Rezeptieren von Cholinesterasehemmern skeptisch<br />
gegenüberstehen, könnte dies nicht nur Ausdruck von unentschlossenem Verhalten sein,<br />
<strong>so</strong>ndern vielmehr genau<strong>so</strong> gut eine reflektierte Haltung angesichts des außerordentlich<br />
begrenzten Nutzens dieser Antidemenz-Hoffnungsträger. Wenn manche Kardiologen<br />
stolz darauf sind, dass in Deutschland die Implantationsrate von Stents bei der koronaren<br />
Herzkrankheit be<strong>so</strong>nders hoch ist, dann zeigt sich, <strong>wie</strong> wichtig hohe Methodenkompetenz<br />
ist, um publizierte Studien richtig deuten zu können: ganz aktuell zeigt eine methodisch<br />
anspruchsvolle Metaanalyse erneut, dass die Implantation von Stents bei Patientinnen<br />
und Patienten mit stabiler Angina pectoris keinen Überlebensvorteil mit sich bringt.<br />
Welchen Gesetzen al<strong>so</strong> folgt die Praxis? Dies zu verstehen, erfordert über die Kenntnis<br />
der jeweiligen klinischen Studienlage hinaus eine Analyse der Logik und der Eigengesetze<br />
des Ver<strong>so</strong>rgungssystems, seiner Akteure und ihrer Eingebundenheit in Traditionen,<br />
Ausbildungsstandards <strong>wie</strong> <strong>auch</strong> ökonomische Anreize. Im Falle der offenkundigen<br />
Über- und Fehlver<strong>so</strong>rgung mit Stents bei der KHK geht es vermutlich noch um ein<br />
anderes „Phänomen“, nämlich die Macht der bildgebenden Verfahren. Interviews mit<br />
Kardiologen legen die Vermutung nahe, dass <strong>auch</strong> die Faszination durch die Optik der<br />
Koronarangiogramme eine Rolle spielt: Verengungen der Herzkranzgefäße wirken störend<br />
und müssen demzufolge beseitigt werden. Die Forschergruppe prägte dafür den Begriff<br />
des „oculostenotischen Reflex“. Die Kardiologen wussten um die Studienlage, konnten<br />
sich aber nach eigenen Aussagen nicht von der Vorstellung befreien, Stenosen beseitigen<br />
zu müssen. Es geht demzufolge <strong>so</strong>wohl um die Beseitigung verführerischer ökonomischer<br />
Anreize <strong>wie</strong> das Reflektieren der Macht dieser eindrucksvollen Angiogramme.<br />
Nun könnte argumentiert werden: die Lösung des Problems liegt in der Entwicklung<br />
evidenzbasierter und pädagogisch gut gemachter Patienteninformationen über die<br />
Indikation zur Implantation von Stents. Solche Entscheidungshilfen müssen entwickelt<br />
werden, und ihr Nutzen ist <strong>wie</strong>derum zu belegen: beides fehlt leider im Falle der<br />
koronaren Herzkrankheit.<br />
Die Verantwortungsfrage<br />
Das Problem geht aber leider weit darüber hinaus. In der heutigen medizinischen<br />
Kultur ist die Idee der informierten Patientenentscheidung – vereinfacht und etwas<br />
polemisch gesagt - nicht vorgesehen; es ist aber <strong>auch</strong> die Frage erlaubt, wo Grenzen<br />
dieses außerordentlich sympathischen Ansatzes liegen und ob die Verantwortung für<br />
gute Medizin am Ende des Tages doch bei den Ärztinnen und Ärzten verbleibt, deren<br />
Empfehlungen für Kranke um<strong>so</strong> schwerer zu hinterfragen sind, je größer ihre Not ist.<br />
albring & albring<br />
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– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
Anders formuliert: während die Politik schon das neue Zeitalter des „Shared Decision<br />
Making“ eingeläutet hat, zeigt die internationale Debatte zum SDM, dass wir ganz<br />
am Anfang dieser radikal neuen Kultur in der Patientenver<strong>so</strong>rgung stehen. Dies zeigt<br />
be<strong>so</strong>nders anschaulich, dass <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> alles andere als eine „Light“-Disziplin<br />
ist, die als Sahnehaube auf die klinische Forschung aufgetragen werden kann. Es geht<br />
vielmehr <strong>auch</strong> in der <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> oft um Grundlagen, für deren Bearbeitung<br />
<strong>so</strong>zialwissenschaftliches, epidemiologisches und klinisches Wissen gleichermaßen<br />
benötigt werden.<br />
Hohe Anforderungen an die Systemanalyse<br />
Gerade dort, wo neue Ver<strong>so</strong>rgungsformen erprobt werden <strong>so</strong>llen, bedarf es – aus<br />
wissenschaftlicher Sicht wohl gemerkt – eines <strong>so</strong>rgfältigen Vorgehens von der Ermittlung<br />
„aussichtsreicher Kandidaten“ zur Verbesserung der Regelver<strong>so</strong>rgung bis zu deren<br />
Testung in kontrollierten Studiendesigns. Im Fachjargon heißt dies: komplexe Interventionen<br />
müssen theoretisch gut begründet und mit angemessenen Evaluationsstudien<br />
zunächst in überschaubaren Settings entwickelt und getestet werden, ehe sie „ausgerollt“<br />
werden können, <strong>wie</strong> dies im neuzeitlichen Management-Deutsch <strong>so</strong> gern genannt<br />
wird. Dass die Geduld hierfür oft fehlt und quick-and-dirty-Evaluationen eingefordert<br />
werden, wenn überhaupt, das kann man vielleicht verstehen, aber es ist trotzdem ein<br />
bedauerlicher Fehler. Der hoch plausible Ansatz der Verträge zur Integrierten Ver<strong>so</strong>rgung<br />
leidet extrem unter diesem strukturellen Mangel. Ob es zu dem jetzt ermöglichten<br />
Modellvorhaben „Delegation ärztlicher Leistungen“ jemals belastbare Evaluationsergebnisse<br />
geben wird, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Es geht – pathetisch<br />
gesagt- um die Einforderung einer neuen Forschungskultur für das Gesundheitswesen<br />
in Deutschland generell. Und bezogen auf die genuinen Themen der <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong><br />
wäre das verbunden mit einer massiven Erhöhung der Investitionen auf Seiten<br />
der Spon<strong>so</strong>ren. Es steht freilich zu befürchten, dass eher weiter gigantische Mittel in<br />
die molekularbiologische Forschung und den neuen Hoffnungsträger „Per<strong>so</strong>nalisierte<br />
Medizin“ investiert werden als in die Klärung der offenen Frage, <strong>wie</strong> unser prinzipiell<br />
ja sehr gut ausgestattetes Ver<strong>so</strong>rgungssystem „zukunftsfest“ gestaltet und dabei vor<br />
allem die Belange der älter werdenden Bevölkerung besser als bisher berücksichtigen<br />
werden können. Nötig ist mehreres: die Verbesserung der Relevanz und der Qualität<br />
klinischer Forschung und die Ausweitung der bisherigen Ansätze von Health Services<br />
Research à la Germany. Welche Leistungen mit ausreichenden Nutzenbelegen neu in<br />
das System gelangen <strong>so</strong>llen und <strong>wie</strong> dann ihre Verbreitung beschleunigt werden kann:<br />
das sind die beiden Kernfragen, die deutlich klarer als heute gestellt und beantwortet<br />
werden könnten.<br />
albring & albring<br />
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– Gesundheitspolitische Analysen –<br />
Fazit:<br />
<strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> konnte sich zwar in den letzten Jahren besser platzieren. Der<br />
Bedarf an methodisch gut gemachten Studien zur Analyse der Entwicklungspotenziale<br />
und Barrieren und zur Implementation neuer Ver<strong>so</strong>rgungsmodelle ist allerdings<br />
weitaus größer als zumeist eingeschätzt. Dieses Manko gilt es gerade angesichts des<br />
Panoramawandels der Erkrankungen mit einer absehbaren Zunahme nicht-präventabler<br />
Erkrankungen klarer zu erkennen.<br />
Prof. Dr. med. Norbert Schmacke<br />
www.ipp.uni-bremen.de<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Prof. Dr. med. Norbert Schmacke, geb. 1948, leitete von 2003 bis 2011 die Arbeits- und<br />
Koordinierungsstelle für Gesundheitsver<strong>so</strong>rgungsforschung an der Bremer Universität.<br />
Er ist seitdem as<strong>so</strong>ziiertes Mitglied in der Abteilung <strong>Ver<strong>so</strong>rgungsforschung</strong> des Instituts<br />
für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen. Seit 2004 ist er im<br />
Gemeinsamen Bundesausschuss tätig und wurde jetzt erneut als stellvertretendes<br />
unparteiisches Mitglied benannt.<br />
www.akg.uni-bremen.de<br />
schmacke@uni-bremen.de<br />
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„News“ die wichtigsten gesundheitspolitischen Nachrichten des letzten Monats.<br />
Impressum:<br />
Herausgeber<br />
Dr. med. Manfred Albring<br />
Tel.: 030/431 02 95<br />
Redaktion<br />
Helmut Laschet (verantwortlich)<br />
Anschrift<br />
Warnauer Pfad 3<br />
13503 Berlin<br />
Layout<br />
Dr. rer. nat. Kai Albring<br />
albring & albring<br />
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