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anruf - Evangelische Kirchengemeinde Mainz-Hechtsheim

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Das aktuelle Kurzinterview<br />

Pfarrer i. R. Friedrich<br />

Vetter, Jahrgang 1943,<br />

bekleidete von 1990 bis<br />

2001 eine Spezialfachstelle<br />

der Landeskirche<br />

für Seelsorge an Flüchtlingen<br />

in einer Erstaufnahmeeinrichtung<br />

für Asylsuchende in<br />

Ingelheim. Mit diesem<br />

Dienst war auch die Begleitung<br />

der rheinland-pfälzischen<br />

Gemeinden der EKHN (Westerwald,<br />

Rhein-Lahn-Kreis, Rheinhessen)<br />

in der Arbeit mit Flüchtlingen verbunden.<br />

Von 2001 an war Vetter<br />

Seelsorger in der Abschiebehaft in<br />

Ingelheim. Auch nach seiner Pensionierung<br />

im Jahr 2008 engagiert sich<br />

Friedrich Vetter, dem diese Arbeit<br />

zu einem Herzensthema wurde, intensiv<br />

für die Belange Betroffener.<br />

Friedrich Vetter wohnt mit seinem<br />

mittlerweile erwachsenen und nicht<br />

mehr im Haushalt lebenden Sohn<br />

seit 13 Jahren in <strong>Hechtsheim</strong>.<br />

Die Zahl der Asylbewerber in<br />

Deutschland ist in der ersten Hälfte<br />

2013 im Vergleich zum gleichen<br />

Zeitraum im Vorjahr um 90 % gestiegen.<br />

Auch <strong>Mainz</strong> steht unter<br />

Druck, nach geeigneten Unterkünften<br />

zu suchen. Für Rheinland-Pfalz<br />

werden in diesem Jahr 4800 Erstantragssteller<br />

erwartet. Da <strong>Mainz</strong><br />

nach einer definierten Quote 5 %<br />

aufnehmen muss, ziehen also in<br />

etwa 240 Flüchtlinge in unsere<br />

Stadt. Können Sie uns zunächst etwas<br />

über die Situation der Flüchtlinge<br />

in <strong>Mainz</strong> sagen?<br />

Zuallererst ist hier der Zwang zur Gemeinschaftsunterbringung<br />

zu nennen.<br />

Es müssen also auch Einzelpersonen<br />

unterschiedlichster Herkunft,<br />

die einander nicht bekannt sind und<br />

manchmal auch nicht dieselbe Sprache<br />

sprechen in einem Raum miteinander<br />

leben. Zunächst werden die<br />

Flüchtlinge außerdem mit einem strikten<br />

Arbeitsverbot belegt. Bisher belief<br />

sich dies auf ein Jahr, seit Juli 2013 wurde<br />

es auf die Zeit von neun Monaten<br />

verringert. Nach dieser Etappe darf ein<br />

Flüchtling nur dann arbeiten, wenn<br />

ihm eine spezielle Arbeitserlaubnis erteilt<br />

wird, die er jedoch nur bekommt,<br />

wenn der Nachweis gelingt, dass für<br />

die in Aussicht genommene Beschäftigung<br />

kein deutscher oder aus einem<br />

anderen EU-Land kommender Arbeitnehmer<br />

gefunden werden konnte. Des<br />

strikten Arbeitsverbots wegen sind die<br />

Flüchtlinge also auf Leistungen nach<br />

dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen<br />

und erhalten eine um etwa<br />

15 % gekürzte Sozialhilfe. Sind die Hilfesuchenden<br />

also in <strong>Mainz</strong> angelangt,<br />

müssen sie schnell entdecken, dass<br />

hier keineswegs paradiesische Zustände<br />

herrschen, sondern ihnen in vielerlei<br />

Hinsicht zahlreiche Steine in den<br />

Weg gelegt werden ...<br />

Aus welchen Ländern kommen die<br />

Flüchtlinge vor allem und welchen<br />

Religionen gehören sie an? Worunter<br />

leiden sie nach Ihrer Erfahrung<br />

in der Fremde besonders?<br />

Die Flüchtlinge kommen aus allen<br />

Kriegsgebieten dieser Welt, besonders<br />

aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, den<br />

Staaten Afrikas, aber auch aus der russischen<br />

Kaukasusrepublik Tschetschenien.<br />

Krieg und das Leben in Diktaturen,<br />

Armut und Perspektivlosigkeit vor allem<br />

für die nachwachsende Generation sind<br />

die Hauptursachen für die Flucht so<br />

vieler Menschen aus ihrer Heimat. Sie<br />

mussten alles zurücklassen, haben nun<br />

oft keine Familie, keine Freunde mehr;<br />

nicht selten werden die Familien auf der<br />

Flucht auseinandergerissen. Angesichts<br />

des Arbeitsverbots leiden viele Flüchtlinge<br />

auch an dem einhergehenden<br />

Rollenwechsel; während sie bisher der<br />

Versorger der Familie waren, sind sie<br />

nun Bittsteller, deren schnell erwachsen<br />

werdenden und Deutsch lernenden<br />

Kinder meist als Dolmetscher fungieren.<br />

Unter den Asylsuchenden sind Christen,<br />

Buddhisten, Muslime und natürlich<br />

auch Menschen, die keiner Religion angehören.<br />

Während auf die Ankündigung hin,<br />

dass in Bretzenheim eine Flüchtlingsunterkunft<br />

eingerichtet wird,<br />

Proteste der Anwohner laut wurden,<br />

überlegt daneben die Mehrheit<br />

der Bretzenheimer bereits,<br />

wie sie helfen könne. Auch in der<br />

Sonderausgabe der Zeitschrift<br />

Chrismon zum Reformationstag las<br />

ich, dass in der Gemeinde St. Pauli<br />

in Hamburg, in der schon seit April<br />

80 Flüchtlinge Kirchenasyl finden,<br />

der Gemeinde eher fernstehende<br />

Mitglieder durch diese Situation<br />

motiviert wurden, sich stark zu<br />

engagieren. Wie sehen Ihre Erfahrungen<br />

diesbezüglich aus?<br />

Viele <strong>Kirchengemeinde</strong>n unterstützen<br />

Flüchtlinge durchaus und das sage ich<br />

mit großer Dankbarkeit. Und auch ich<br />

habe ähnliche Erfahrungen machen<br />

dürfen: konkrete Aufgaben können bei<br />

kirchenfernen Gemeindemitgliedern<br />

wieder einen intensiven Kontakt zur<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong> zeitigen. Daneben<br />

gibt es natürlich auch Ängste und Ressentiments<br />

wie sie auch auf der Bürgerversammlung<br />

in Bretzenheim Ende<br />

August artikuliert wurden.<br />

Behrouz Asadi, Referent für Migration<br />

bei den Malteser-Werken in<br />

<strong>Mainz</strong>, formulierte: „Jesus selbst<br />

war ein Flüchtling. Deshalb sollten<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong>n Asylsuchende<br />

positiv aufnehmen.“ Wo sehen Sie<br />

hier die vordringlichsten Aufgaben<br />

für Kirche?<br />

Flüchtlinge suchen eine neue Heimat,<br />

Freunde, emotionale Geborgenheit.<br />

Sie benötigen Sicherheit und Hilfe<br />

bei der Bewältigung ihrer oft traumatischen<br />

Erlebnisse im Herkunftsland,<br />

aber auch auf der Flucht selbst, denken<br />

Sie an den Massentod vor Lampedusa.<br />

Unabhängig von deren Religion<br />

sollten <strong>Kirchengemeinde</strong>n die Türen<br />

für Flüchtlinge öffnen, Orte der Begegnung<br />

sein, helfen, soziale Kontakte<br />

aufzubauen. Natürlich ist das Erlernen<br />

der deutschen Sprache hierfür unerlässlich,<br />

aber ich kann auch verstehen,<br />

wenn mich ein Flüchtling fragt,<br />

wofür er Deutsch lerne, wenn er es<br />

ausschließlich im Unterricht spräche,<br />

weil er hier keinen Menschen kennt ...<br />

<strong>Kirchengemeinde</strong>n sind wichtige Brückenbauer,<br />

sie können dazu beitragen,<br />

Ängste abzubauen und Möglichkeiten<br />

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