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Download - INSTITUT FÜR AKTUELLE KUNST IM SAARLAND

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Zwölf Aspekte für eine wissenschaftlich<br />

angemessene Fundierung von Künstlerarchiven<br />

1.<br />

Der Begriff »Archiv« lässt sich heute nicht mehr positivistisch<br />

gebrauchen. Der Begriff »Bewahren« etwa ist in diesem Kontext<br />

zwangsläufig obsolet, setzt er doch eine Sicherheit über das<br />

Bewahrenswerte und das, was es bedeutet, voraus, die wir gar<br />

nicht mehr haben können. »Was ist Wahrheit« können wir mit<br />

Pilatus fragen und wie er den impliziten Zweifel nähren und seine<br />

empiriokritizistische Grundhaltung wiederholen, dass uns die<br />

Sicherheit über die Kenntnis vom »Wahren« des »Bewahrten«<br />

nicht geboten ist und nicht gut ansteht. Im besten Falle müssen<br />

wir den Zweifel und die Skepsis zur Methode machen und immer<br />

wieder neu überprüfen und fragen, was wir denn da machen,<br />

wenn wir Entscheidungen treffen, etwas zu kassieren oder zu<br />

bewahren.<br />

2.<br />

Pierre Nora hat uns klargemacht, dass das Verständnis von<br />

Geschichte vom »Geschehenen« auf die Totalität des gesellschaftsgebundenen<br />

»Erinnerten« verlagert werden muss. Wir<br />

wissen, dass das, was wir in unseren Archiven gehortet haben<br />

oder horten wollen, uns zwar die Wahrheit der Geschichte nicht<br />

mehr sichert, aber wir wissen stattdessen, dass wir mit einer<br />

solchen Sammeltätigkeit eine vorweg gedeutete Geschichte weg -<br />

geschlossen haben. Wie der Konstruktcharakter für die Ent -<br />

stehung von Geschichte gilt, muss diese Vorstellung bei der<br />

retrospektiven Suche nach dem, was im Archiv lagert, ebenso<br />

gelten. Mit Nora hat sich der Begriff von den »lieux de mémoire«<br />

durchgesetzt. Sie sagen uns, dass Geschichte in einer spezifischen<br />

Weise nicht nur konstruiert ist, sondern auch als Konstrukt<br />

aufzufinden ist. Hagen Schulze und Étienne François haben 2001<br />

solche Erinnerungsorte gleich dreibändig für die Deutsche Identität<br />

ausgemacht und analysiert, was sich mit ihnen aufsuchen lässt.<br />

Archive sind in einem besonderen Maße Quellen einer solchen<br />

»mémoire«, weil sie ein höheres und differenzierteres Maß an<br />

Entdeckbarem aufweisen als die steinernen Monumente, auf die<br />

sich die lieux de mémoire-Forschung zunächst bezog. In diesem<br />

Sinne erfüllt das Archiv selbst auf einer Metaebene alle Anforderungen<br />

eines Symbolkonstrukts: Es ist ein »lieu de mémoire«.<br />

Wir können ihn nutzen, müssen ihn aber auch immer hinter -<br />

fragen, welcher intendierte Ort in ihm begegnet.<br />

Auch für die Arbeit mit Künstlernachlässen können wir die<br />

Erkenntnisse der lieux de mémoire-Forschung fruchtbar machen,<br />

eo ipso für ihre intendierte Sicherung, nicht zuletzt aber für die<br />

Deutung durch Forschung. Erst hiermit gilt die Aufwertung, die<br />

wir heute im Begriff »Archiv« mitdenken. Nur durch die aktualisierbaren<br />

Symbole der Vergangenheit lässt sich überhaupt etwas<br />

vom Ereignis Geschichte fixieren und etwas über ihr Zustandekommen<br />

aussagen.<br />

3.<br />

Daraus folgt: Künstlerarchive gelten uns als spezifisches Speichermedium.<br />

In ihnen legt sich das Erinnerte ab, aus ihm kann dieses<br />

Erinnerbare abgerufen werden. Damit verlagern wir jede Frage<br />

der Wertung, strenger und rigider Kassationsgesetze, auf eine<br />

andere Ebene als die der qualitätswertenden Urteile, die über die<br />

Aufnahme oder Ablehnung eines Nachlasses bestimmen dürfen.<br />

Konkret: Gänzlich unabhängig von der Qualität eines Künstlers<br />

erlauben Briefe, Tagebücher, die in der Nachlassbibliothek zu<br />

erkundenden Lesefrüchte und Formen der Intertextualität,<br />

Erkenntnisse z.B. über produktionsästhetische Zusammenhänge.<br />

Sie sind wiederum, in statistisch sinnvoller Menge, z.B. Ausgangspunkt<br />

zur Erforschung von Epochenwechseln, unabhängig<br />

von der Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung und, zumindest<br />

partiell, unabhängig vom ästhetischen Urteil. Ja, hier kommt den<br />

Archiven eine herausragende Aufgabe zu: um mit Peter Sloterdijk<br />

zu sprechen: jedes Archiv bekundet Geschichte, zählt aber nicht<br />

nur die Siege, sondern grundsätzlich das Gesamt von Ereignissen,<br />

um »geistesgegenwärtig zu bezeugen, was ihm begegnet ist«.<br />

4.<br />

Archive leisten potentiellen Widerstand und bilden einen entscheidenden<br />

Latenzfaktor für die Umdeutungen von Geschichte. In<br />

ihnen wird im besten Falle auch das aufbewahrt, was nicht der<br />

aktuellen Mode und dem herrschenden System folgt, sondern das,<br />

was möglicherweise gegen die geltenden Normen gerichtet ist. Als<br />

Beispiel ließe sich die konkrete Kunst nennen, die z.B. in der DDR<br />

in Zeiten des Sozialistischen Realismus einen schlechten Stand hatte.<br />

Dazu gehören im Bereich der Ideologien etwa auch anarchistische<br />

Strömungen, deren Denkbilder und die sie tragenden Persönlichkeiten<br />

außer Mode gekommen zu sein scheinen. Die Geschichte<br />

der Archive ist voller Wiederentdeckungen, die diese definitive<br />

Potenz bestätigen. Es ließe sich auch ein durchaus aktuelles Problem<br />

nennen: im Umgang mit Nazikünstlern haben wir uns an<br />

moralische Urteile gewöhnt. Tatsächlich aber haben wir es in der<br />

gesamten Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was<br />

die Weltanschauungen der Künstler angeht, mit einem Spektrum<br />

von antiaufklärerischen Tendenzen zwischen rechts und links zu<br />

tun. In der Expressionismusforschung und ihren irrationalen Denkbildern<br />

sind wir noch nicht sehr weit gekommen und die Band -<br />

breite im Spannungsfeld von Avantgarde und völkischen Mustern,<br />

die sich zwischen dem Proletkult und der Massenästhetik der Nazis<br />

ausmachen lässt, werden wir niemals differenzierter analysieren<br />

können, wenn wir nach der Methode »Die Guten ins Töpfchen<br />

und die Schlechten ins Kröpfchen« verfahren.<br />

5.<br />

Künstler-Archive, die auch die privaten Nachlässe meinen, sind,<br />

anders als für die Literatur und ihre Wissenschaft, für die Kunstgeschichte<br />

unabdingbar, sichern sie doch auch die Politizität der<br />

Kunst, die im Bild selbst nur bedingt aufbewahrt werden kann;<br />

z.B. kann der Diskurs um die Gegenständlichkeit in der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit nur angemessen aufgearbeitet werden,<br />

wenn über die Werke hinaus andere Quellen zur Verfügung<br />

stehen. Hier ist aber grundsätzlich die gesamte kultursoziologische<br />

Forschung auf den Plan gerufen, ihre Interessen an einer<br />

möglichst weitläufigen Anlage solcher Archive einzuklagen.<br />

In diesem Sinne tragen Archive, die sich auch solche Bestände<br />

in ihren Kompetenzbereich wünschen, zur Fundierung einer<br />

Gegenwartsanalyse bei, die sich den Maximen der Kritischen<br />

Theorie nicht verschließt. In diesem Sinne, und nur in diesem,<br />

haben Archive auch eine moralische Funktion.<br />

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