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Wassily Kandinsky - Institut für Soziologie - Leibniz Universität ...

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<strong>Leibniz</strong> Universität Hannover<br />

Wintersemester 2009/2010<br />

Philosophische Fakultät<br />

<strong>Institut</strong> für <strong>Soziologie</strong> und Sozialpsychologie<br />

Forschungslernseminar Kultur<br />

Dozent: Lutz Hieber<br />

Student: Benjamin Müller<br />

Matrikelnummer: 2624560<br />

Vortrag der Forschungsergebnisse<br />

Diagonale (1923)<br />

<strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong><br />

1


1. Einleitung:<br />

Ziel dieses Vortrags ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bild Diagonale<br />

aus dem Jahr 1923, gemalt von <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong>, basierend auf einem von Erwin Panofsky<br />

entwickelten Verfahren des Bildverstehens und der Bildinterpretation aus der Kunst- und Sozialwissenschaft.<br />

Um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu gewährleisten, wurden<br />

mehrere theoretische Werke des Künstlers sowie anerkannter Experten in die Analyse miteinbezogen.<br />

Im Folgenden wird zunächst auszugsweise die Biographie <strong>Kandinsky</strong>s vorgestellt.<br />

Im Anschluss daran folgt die vorikonographische Beschreibung der Diagonale in Bezug auf<br />

<strong>Kandinsky</strong>s Farben- und Formenlehre sowie die ikonographische Beschreibung, abschließend<br />

folgt die Ikonologie.<br />

2. Biographie:<br />

Aufgrund der begrenzten Länge dieses Vortrags werde ich im Folgenden die wichtigsten<br />

Eckpunkte der Biographie <strong>Kandinsky</strong>s nennen, insbesondere in Bezug auf die Diagonale von<br />

1923. Ich halte es für unablässig, sich mit der Biographie des<br />

Künstlers zu beschäftigen, um zu erkennen, was ihn beeinflusste<br />

und um eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten.<br />

<strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> wurde am 4. Dezember 1866 in Moskau<br />

geboren und gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten<br />

abstrakten Maler. Bereits als Kind entwickelte <strong>Kandinsky</strong> ein<br />

starkes Empfinden und Gedächtnis für Farben. Diese Fähigkeit<br />

verlor <strong>Kandinsky</strong> Zeit seines Lebens nicht mehr und sie wurde<br />

zu einer schöpferischen Inspirationsquelle für ihn (vgl. Düchting<br />

2007: 7).<br />

1886 begann <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> das wissenschaftliche Studium der Rechte und Nationalökonomie<br />

in Moskau, das ihm leicht fiel und zudem seinen Sinn für abstrakte Zusammenhänge<br />

schulte. Drei Ereignisse führten dazu, dass <strong>Kandinsky</strong> den unsicheren Weg des Künstlers einschlug<br />

und nicht eine rechtswissenschaftliche Karriere. Ersteres war eine Ausstellung französischer<br />

Impressionisten in Moskau, in der <strong>Kandinsky</strong> ein Heuhaufenbild von Claude Monet<br />

sah, was ihn zutiefst bestürzte und verwirrte, denn <strong>Kandinsky</strong> erkannte den Heuhaufen nicht.<br />

Er empfand, dass der Maler kein Recht hatte derart unpräzise zu malen. Jedoch packte ihn das<br />

Bild und ihm wurde klar, welche ausserordentlich verborgene Kraft in der Palette sich verbarg<br />

(vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1913: 32). Unbewusst wurde für <strong>Kandinsky</strong> der Gegenstand als unvermeidli-<br />

3


ches Element des Bildes diskreditiert. Das zweite Ereignis war der Besuch der Wagner Oper<br />

„Lohengrin“. Beim Zuhören sah <strong>Kandinsky</strong> im Geist Linien und Farben passend zu den<br />

Klängen. Diese Möglichkeit synästhetischen Erlebens zeigte <strong>Kandinsky</strong> die Kraft der Musik<br />

und ließ ihn erahnen, welches Potential noch in der Malerei lag. Die Korrespondenz der<br />

Künste wurde zu einem Grundstein seiner künstlerischen Überzeugung und einem entscheidenden<br />

Ausgangspunkt seiner Malerei (vgl. Düchting 2007: 10). Das dritte und letztendlich<br />

entscheidende Erlebnis ereignete sich 1896. Die Entdeckung des Elektrons erschütterte das<br />

gesamte Weltbild <strong>Kandinsky</strong>s. „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der<br />

ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und<br />

weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und<br />

unsichtbar geworden wäre.“ (<strong>Kandinsky</strong> 1913: 33). Ab diesem Moment erschien <strong>Kandinsky</strong><br />

die Wissenschaft nur als leerer Wahn. Die Kunst bot für ihn den einzigen Weg, in dieser Welt<br />

voller Widersprüche eine weiterschauende Position einzunehmen. So zog er 1896 in eines der<br />

damaligen Zentren der Kunst, nach München.<br />

Claude Monet<br />

Heuhaufen (1884)<br />

Dort widmete sich <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> dem Kunststudium. Sein Erfolg war eher mäßig und<br />

man stempelte ihn als „Koloristen“ ab. Während seiner Murnauer-Phase in der Nähe von<br />

München arbeitete <strong>Kandinsky</strong> immer stärker mit Farben und Formen und das Gegenständliche<br />

in seinen Bildern nahm immer mehr ab. Er begann seine Bilder in drei Gruppen einzuteilen,<br />

Impressionen, Improvisationen und Kompositionen. Impressionen waren direkte Eindrücke<br />

der äußeren Natur, Improvisationen hauptsächlich unbewusste, plötzliche Ausdrücke der<br />

4


Vorgänge des inneren Charakters und Kompositionen ebenfalls Ausdrücke des inneren Charakters,<br />

die jedoch einen längeren, inneren und reflektierten Vorgang erforderten (vgl. <strong>Kandinsky</strong><br />

2009: 146). Zusammenfassend zeigen die Bildern der Münchener Zeit von 1896 bis<br />

1911 einen inneren Zusammenhang, nämlich die schrittweise Annäherung an eine autonome<br />

Farb- und Formsprache (vgl. Düchting 2007: 13ff.).<br />

Im Jahr 1911 planten <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> und Franz Marc den „Blauen Reiter“, der die nächste<br />

Periode von <strong>Kandinsky</strong>s Leben von 1911 bis 1914 prägte. Ziel des „Blauen Reiters“ war<br />

eine Heilung der Kunst durch tief empfundene geistige Kunst. Zeitgleich erschien <strong>Kandinsky</strong>s<br />

theoretisches Hauptwerk Über das Geistige in der Kunst, in dem er versuchte, die neuen Aufgaben<br />

der Kunst darzustellen. Schon zu der damaligen Zeit postulierte <strong>Kandinsky</strong> ein Grundthema<br />

seiner Kunst, das auch über seine Bauhaus-Zeit hinaus reicht, das Thema des Kampfes<br />

und der Auseinandersetzung, denn das sei die Harmonie seiner Zeit gewesen. Als <strong>Kandinsky</strong>s<br />

Hauptwerke dieser Zeit sind die Kompositionen VI und VII zu nennen. Der Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs stellte das Ende dieser Periode <strong>Kandinsky</strong>s dar. Als führender Kopf der abstrakten<br />

Malerei kehrte <strong>Kandinsky</strong> 1914 nach Moskau zurück (vgl. Düchting 2007: 37ff.).<br />

Komposition VI<br />

(1913)<br />

5


Kompsition VII<br />

(1913)<br />

Die Russland- Periode bis 1921 lässt eine zunehmende Geometrisierung einzelner Bildelemente<br />

bei <strong>Kandinsky</strong> erkennen, was zum Teil auf den eigenen Klärungsprozess zurückzuführen<br />

ist sowie auf das avantgardistische Kunstklima Moskaus, das vom Konstruktivismus und<br />

Suprematismus 1 bestimmt wurde. Insgesamt sind die Bilder dieser Periode als mehr rational<br />

orientierte Kompositionen zu bezeichnen, aufgrund der stärkeren Formanalyse. Dass <strong>Kandinsky</strong><br />

1922 nach Deutschland zurückkehrte hing von den ständigen Anfeindungen seiner<br />

russischen Künstlerkollegen ab, die eine andere Kunstauffassung als er vertraten (vgl. Düchting<br />

2007: 57ff.).<br />

1 Der Konstruktivismus baut als streng gegenstandslose Stilrichtung der Malerei der Moderne auf dem Suprematismus<br />

des ukrainischen Malers Kasimir Malewitsch auf. Der konzeptionelle Ansatz bestand darin, malerisch<br />

grundlegende geometrische Formen und gleichmäßige Farbflächen zu malen.<br />

6


Kasimir Malewitsch<br />

Schwarzes Quadrat (1915)<br />

Piet Mondrian<br />

Komposition mit Rot, Gelb und Blau (1927)<br />

7


1922 bekam <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> von Walter Gropius, dem Gründer des Bauhauses, das Angebot<br />

als Lehrkraft für Wandmalerei nach Weimar zu kommen. Die Vorstellung einer gemeinsamen<br />

Grundlage der Künste musste <strong>Kandinsky</strong> auch in die geistige Nähe zumindest der<br />

expressionistischen Frühphase des Bauhauses bringen. „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit<br />

ist der Bau!“ (Gründungsmanifest des Bauhauses zit. nach Düchting 2007: 66). <strong>Kandinsky</strong>s<br />

Bilder dieser Zeit lassen sich als „kühle Periode“ bezeichnen. Das Bauhaus Programm<br />

steuerte nach der Entlassung Johannes Ittens 1923 einen rational-technischen Kurs.<br />

<strong>Kandinsky</strong> schuf stark konstruktive Bilder wie z.B. das Hauptwerk dieser Zeit Komposition<br />

VIII von 1923. Im selben Jahr stellte er auch die Diagonale fertig. In seinen Bildern treten<br />

immer mehr einzelne geometrische Elemente in den Vordergrund. Der Kreis wird für ihn zum<br />

Sinnbild der vollkommenen Formgebung und steht im Mittelpunkt der Bilder dieser Phase<br />

(vgl. Düchting 2007: 65ff.). 1925 ging die erste Phase des Bauhauses zu Ende, bedingt durch<br />

Angriffe der rechtsextremen Parteien. In Dessau begann die zweite Phase unter etwas besseren<br />

Rahmenbedingungen. Aus <strong>Kandinsky</strong>s Farben- und Formenlehre am Bauhaus ging dann<br />

auch 1926 sein zweites großes theoretisches Werk Punkt und Linie zu Fläche hervor. Um<br />

1931 setzte eine verstärkte Hetzkampagne der Nationalsozialisten gegen das Bauhaus ein, die<br />

1933 mit der endgültigen Schließung des Bauhauses endete. Infolge dessen ging <strong>Kandinsky</strong><br />

nach Paris. Zusammenfassend lässt sich seine Bauhaus-Phase als durchdringende rationale<br />

Analyse des Kunstwerks bezeichnen. (vgl. Düchting 2007: 70ff. ebenso Blok 1975: 29ff.).<br />

<strong>Kandinsky</strong> starb am 13. Dezember 1944 in Paris.<br />

Komposition VIII<br />

(1923)<br />

8


3. Vorikonographische Beschreibung/ <strong>Kandinsky</strong>s Farben- und Formenlehre:<br />

Nach <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> beruht die Komposition in der abstrakten Kunst auf zwei Mitteln,<br />

der Farbe und der Form. Die Analyse dieser beiden Mittel hat <strong>Kandinsky</strong> in Über das Geistige<br />

in der Kunst sowie Punkt und Linie zu Fläche ausgearbeitet und soll im Folgenden kurz<br />

dargestellt und in Bezug zur Diagonale gesetzt werden.<br />

Die Form allein<br />

kann selbstständig<br />

existieren, die<br />

Farbe nicht, da sie<br />

sich nicht grenzenlos<br />

ausdehnen<br />

lässt. Die Begrenzung<br />

findet sie<br />

z.B. durch eine<br />

andere Farbe oder<br />

eine Form, was<br />

die subjektive<br />

Charakteristik der<br />

Farbe verändert<br />

und ihr einen objektiven<br />

Beiklang<br />

gibt. Somit haben<br />

Farben und Formen<br />

einen inneren<br />

Klang, der sich je<br />

nach Zusammenstellung<br />

unterscheidet,<br />

wie z.B.<br />

ein gelbes von einem blauen Dreieck oder Kreis. Es zeigt sich, dass manche Farbe durch manche<br />

Form in ihrem Wert unterstrichen wird und durch andere abstumpft (vgl. <strong>Kandinsky</strong><br />

2009: 70ff.).<br />

<strong>Kandinsky</strong> unterscheidet zwei Hauptresultate bei der Wirkung der Farbe, eine rein Physische<br />

und eine Psychische. Die physische Wirkung entsteht durch Empfindungen beim Betrachten<br />

9


der Farbe, wie z.B. Freude. Die psychische Wirkung hingegen ruft seelische Vibrationen bedingt<br />

durch Assoziationen hervor. Für <strong>Kandinsky</strong> stellt die Farbe somit ein Mittel dar, um<br />

einen direkten Einfluss auf die Seele auszuüben. Seine Farbenharmonie beruht somit nur auf<br />

dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der Seele, was er als Prinzip der inneren Notwendigkeit<br />

bezeichnet (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 2009: 63ff.).<br />

Um sich über die Wirkung der Farbe Klarheit zu verschaffen, muss man sich mit der elementaren<br />

Darstellung der einfachen Farbe beschäftigen. Zunächst muss man die vier Hauptklänge<br />

jeder Farbe betrachten. Entweder ist sie warm und hell oder dunkel, oder sie ist kalt und hell<br />

oder dunkel. Wärme oder Kälte der Farbe ist letztendlich abhängig von der Neigung zu Gelb<br />

oder Blau, dem ersten großen Gegensatz. Gelb bewirkt, dass sich das Warme zum Betrachter<br />

bewegt, wohingegen sich das Blaue entfernt. Der zweite große Gegensatz ist der Unterschied<br />

zwischen Weiß und Schwarz, den Farben, die die Neigung der Farbe zu Hell oder Dunkel<br />

ausmachen (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 2009: 91f.).<br />

Jede Form an sich ist nichts weiter als die Abgrenzung einer Fläche von der anderen. Das ist<br />

ihre äußere Beziehung. Jedoch hat jede äußere Beziehung eine innere Beziehung. „Die Form<br />

10


ist also die Äußerung des inneren Inhalts.“ (<strong>Kandinsky</strong> 2009: 73). Ergo ist die Formenharmonie<br />

<strong>Kandinsky</strong>s ebenfalls durch das Prinzip der inneren Notwendigkeit determiniert.<br />

Der geometrische Punkt ist laut <strong>Kandinsky</strong> mit einer Null zu vergleichen. Er ist die Form<br />

höchster Knappheit. Die Größe und Form des Punkts ist variabel, sein relativer Klang veränderbar.<br />

Seine Spannung ist konzentrisch und er hat keine Neigung zur Bewegung, weder horizontal<br />

noch vertikal. Er ist das Urelement der Malerei und das Element der Zeit ist in ihm fast<br />

vollkommen ausgeschlossen (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 21ff.).<br />

Wirkt eine Kraft auf den Punkt und schiebt ihn auf der Fläche in eine Richtung, wird seine<br />

konzentrische Spannung aufgehoben und es entsteht ein neues Wesen, die Linie. Sie ist somit<br />

das Erzeugnis des sich bewegenden Punkts, die Vernichtung der Ruhe und ein Sprung aus<br />

dem Statischen in das Dynamische. Die Linie ist der größte Gegensatz zum Punkt. Die Verschiedenheit<br />

der Linien ist von der Zahl der Kräfte und ihren Kombinationen abhängig. Es<br />

gibt zwei Fälle, erstens die Anwendung einer Kraft und zweitens die Anwendung von zwei<br />

Kräften (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 56f.). Wirkt nur eine Kraft auf den Punkt entsteht die Gerade.<br />

Es gibt drei typische Arten von Geraden, die Horizontale, die Vertikale und die Diagonale.<br />

Die Horizontale ist kalt, wohingegen die Vertikale warm ist. Die Diagonale stellt die Vereinigung<br />

der Kälte und Wärme dar. Sämtliche weiteren Geraden sind lediglich Abweichungen<br />

von den Diagonalen mit einer Neigung zu Kalt oder Warm, was ihren inneren Klang bestimmt<br />

(vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 57ff.).<br />

Wirken zwei Kräfte abwechselnd, entstehen „Eckige Linien“. Wirken zwei Kräfte gleichzeitig<br />

entstehen „Gebogene Linien“. Ihre Hauptspannung steckt im Bogen, das Stechende des Winkels<br />

entfällt und die eingeschlossene Kraft bewirkt eine größere Ausdauer (vgl. <strong>Kandinsky</strong><br />

1926: 85ff.). Zusammenfassend ist die Urquelle jeder Linie die Kraft, etwas Lebendiges und<br />

Dynamisches. Die Länge der Linie beinhaltet einen Zeitbegriff, ein weiterer Gegensatz zum<br />

Punkt.<br />

Nach Punkt und Linie ist die Grundfläche zu erläutern. Laut <strong>Kandinsky</strong> ist sie als die materielle<br />

Fläche zu verstehen, welche den Inhalt des Werks aufnimmt. Die schematische Grundfläche<br />

ist von zwei horizontalen und zwei vertikalen Linien begrenzt. Aus diesen vier Linien<br />

ergibt sich ein Grundklang. Die Horizontalen bewirken den Eindruck von Kälte, die Vertikalen<br />

den von Wärme. Sind die Längen gleich entsteht ein objektiver Klang der Grundfläche,<br />

das Quadrat. Überwiegt eines der beiden Linienpaare bewirkt dies eine Neigung zu einem<br />

kalten oder warmen Grundklang, der sich auch auf die einzelnen Elemente im Bild auswirkt.<br />

Im Falle der Diagonale gibt es eine Neigung zum warmen Grundklang, aufgrund der längeren<br />

11


Vertikalen. Dennoch hat jede der vier Seiten (oben, unten, rechts, links) einen eigenen Klang<br />

(vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 129ff.).<br />

Das Oben erweckt den Eindruck von Leichtigkeit und Freiheit. Die einzelnen Elemente, die<br />

sich dem Oben nähern, verlieren an Gewicht und wirken weiter voneinander entfernt. Schwere<br />

Formen sowie das Steigen und Fallen gewinnen an Intensität. Das Unten wirkt entgegengesetzt<br />

durch Verdichtung, Schwere und Gebundenheit. Schwere Formen gewinnen an Leichtigkeit,<br />

das Steigen wird erschwert und die Bewegung wird immer mehr begrenzt. Das Links<br />

der Grundfläche erweckt die Vorstellung eines Lockerseins, die Charakteristik des Oben wird<br />

in abgeschwächter Form wiederholt. Je weiter sich das Links dem Oben oder Unten nähert,<br />

desto mehr wirken deren Eigenschaften. Das Rechts stellt die Abschwächung der Charakteristik<br />

des Unten dar und verhält sich bei Annäherung an das Oben und Unten entsprechend dem<br />

Links (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 131ff.). Zusammenfassend ergeben sich bei Annäherung an die<br />

vier Grenzseiten gewisse Widerstandskräfte (vgl. Bild 78 <strong>Kandinsky</strong> 1926: 139).<br />

Die Grundfläche ist mittels Teilung durch Horizontale und Vertikale mit Schnittpunkt im<br />

Zentrum in vier Teile aufzuteilen, mit unterschiedlich starken Widerständen. Aus diesem Gewichtsschema<br />

ergeben sich zwei Diagonalen, die Harmonische (BC) und die Disharmonische<br />

(AD). Die harmonische Diagonale hat eine lyrische, die disharmonische Diagonale eine dramatische<br />

Spannung (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 144ff.). Im Fall der Diagonale liegt <strong>Kandinsky</strong>s<br />

Hauptaugenmerk bei seiner Darstellung auf der harmonischen Diagonalen (BC).<br />

Die Diagonale ist ein hochformatiges Gemälde, dass wie bereits erwähnt dadurch einen warmen<br />

Klang erhält und sich erheblich von <strong>Kandinsky</strong>s Werken der frühen 1910er Jahre unterscheidet.<br />

Der freie Pinselgestus ist strengen geometrischen Formen gewichen. Statt gegenständlichen<br />

Andeutungen finden sich elementare Formen von Kreis, Dreieck und Viereck. Die<br />

symbolische Gestaltung hat das narrative Element abgelöst.<br />

Im Zentrum der Diagonale steht eine harmonische Diagonale (BC) von links unten nach<br />

rechts oben. Die geometrischen Elemente arrangieren sich auf einem grau und hell-blau gemischten<br />

Hintergrund. Sie bilden ein komplexes Gefüge aus Kreisen, Vierecken, Dreiecken,<br />

Linien und Punkten. Auf der Fläche gruppieren sich vier komplexe Formgebilde. Das Hauptaugenmerk<br />

liegt auf der Diagonalen (BC), die in die Bildmitte stößt, eine Art Ballungszentrum,<br />

aus dem mehrere Formen und Linien hervorstoßen. Hier sind insbesondere die zwei Gebogenen<br />

in der Bildmitte zu nennen, die eine Sogwirkung auszuüben scheinen. Dies zeigt sich<br />

z.B. an der orangefarbigen Gebogenen, die ins Zentrum hinab gezogen wird. Mehrere Elemente<br />

schießen jedoch zeitgleich aus dem Zentrum hervor, wie z.B. die mehreckige Linie, die<br />

fast bis zur rechten oberen Bildecke reicht, jedoch mittels Krafteinwirkung in das Zentrum<br />

12


zurück gelangt, was sich am Nachdruck der Linie festmachen lässt. Das zweite komplexe<br />

Formengebilde findet sich links oben in Form des blauen Kreises. Er strahlt eine konzentrische<br />

Kraft sowie Ruhe aus. Blau ist für <strong>Kandinsky</strong> die typisch himmlische Farbe. Die Wirkung<br />

des blauen Kreises wird durch den schwarzen Kreis, auf dem er liegt, verstärkt. Grund<br />

dafür, dass <strong>Kandinsky</strong> in den Werken dieser Zeit so oft den Kreis als Element verwendet, ist,<br />

dass er mit den unzähligen Variationen des Kreises ein starkes Empfinden einer inneren Kraft<br />

verband (vgl. Elger 2008: 46). Das dritte komplexe Formgebilde in der Diagonale befindet<br />

sich rechts oben an der rechten Seite in Form zweier azentraler Geraden, die in eine Gebogene<br />

mit Tendenz zur Kreisbildung stoßen und sich in eine andere Sphäre zu bewegen scheinen.<br />

Diese Wirkung wird gerade dadurch verstärkt, dass es sich um azentrale Geraden handelt,<br />

denn sie haben kein gemeinsames Zentrum und vermitteln generell den Eindruck sich von der<br />

Fläche zu entfernen (vgl. <strong>Kandinsky</strong> 1926: 62ff.). Diese Wirkung wird durch das Eintauchen<br />

in die Gebogene extrem verstärkt. Das vierte komplexe Formgebilde findet sich rechts unten.<br />

Es besteht aus mehreren sich teilweise überlappenden Vierecken, in den Farben Gelb, Grau<br />

und Schwarz, wobei die Überlappungen deutlich hervorgehoben sind durch die Farben Blau<br />

und Violett. Zudem bewegen sich um diesen Komplex drei Geraden und zwei Gebogene.<br />

In <strong>Kandinsky</strong>s Gemälden dieser Zeit geht es um Stimmung und Spannung. Jeder Form und<br />

Farbe hat <strong>Kandinsky</strong> spezifische Eigenschaften zugeordnet. Der Kreis symbolisiert Vollkommenheit,<br />

das Dreieck Aktivität und exzentrische Energie. Gelb ist für <strong>Kandinsky</strong> die typisch<br />

irdische Farbe, die keine Tiefe erreicht und ziellos in alle Richtungen strömt. Grün ist<br />

die Vernichtung von Bewegung, Ruhe entsteht, ähnlich dem Grau, das jedoch keine lebendige<br />

Möglichkeit mehr besitzt, da es aus Farben besteht, die keine aktive Kraft besitzen. Weiß ist<br />

die Farbe des Schweigens voller Möglichkeiten, vor der Geburt. Schwarz hingegen steht für<br />

ein ewiges Schweigen, etwas Totes. Rot ist eine charakteristisch warme Farbe, die trotz ihrer<br />

Energie die Fähigkeit besitzt ihre Kraft zu bündeln, hauptsächlich in sich. Mit Blau gemischt<br />

ergibt sie Violett, eine Farbe die etwas Trauriges und Krankhaftes in sich trägt. Orange hingegen<br />

ist eine kraftvolle Farbe mit einem ernsten Beiklang. Daraus resultiert für <strong>Kandinsky</strong> ein<br />

Kreis der Farben zwischen den zwei Möglichkeiten des Schweigens, Schwarz die Farbe des<br />

Todes und Weiß die Farbe der Geburt (vgl. Tabelle III in <strong>Kandinsky</strong> 2009: 109 ebenso <strong>Kandinsky</strong><br />

2009: 92ff.).<br />

13


Weitere Beispiele für harmonische Diagonalen:<br />

Peter Paul Rubens<br />

Venus und Adonis (1615)<br />

14


5. Ikonographie:<br />

Die Diagonale ist 1923 in der Frühphase des Bauhauses entstanden. <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> war<br />

erst ein Jahr zuvor an das Bauhaus gekommen. Die Diagonale kann als ein Übergang von der<br />

Russland-Periode zur Bauhaus-Phase begriffen werden. Nachdem <strong>Kandinsky</strong> unter Einfluss<br />

des russischen Kunstklimas bereits zunehmend einzelne Bildelemente geometrisiert hatte,<br />

zeigt die Diagonale bereits die durchdringende rationale Analyse des Kunstwerks, die im<br />

Zentrum der Bauhaus-Phase <strong>Kandinsky</strong>s steht. Das, was <strong>Kandinsky</strong> in Punkt und Linie zu<br />

Fläche festhielt, die Analyse einzelner geometrischer Elemente und deren Wirkung, zeigt sich<br />

in der Diagonale. Sie steht eindeutig für den Entwicklungsschritt von der Russland-Periode<br />

zur kühlen und rationalen Bauhaus-Ästhetik, welche <strong>Kandinsky</strong> ebenfalls 1923 in der Komposition<br />

VIII, vom Empfinden fast wie am Zeichenbrett entworfen, präsentiert.<br />

Die Diagonale insgesamt steht für Dynamik, Bewegung und Spannung. <strong>Kandinsky</strong>s Thema<br />

des Kampfes und der Auseinandersetzung als Harmonie der Zeit scheint sich auch in diesem<br />

Werk widerzuspiegeln. Ebenso steht das Thema der Dynamik in <strong>Kandinsky</strong>s Bilder in einem<br />

direkten Zusammenhang zu dem, was ihn tief beeinflusst hatte, die Teilung des Atoms, denn<br />

15


für <strong>Kandinsky</strong> war alles in Bewegung geraten. Die Diskreditierung des Gegenstandes und<br />

generelle Unsicherheit bedingt durch die Entdeckung des Elektrons liefern einen weiteren<br />

Anhaltspunkt, um sich der Diagonale inhaltlich zu nähern.<br />

6. Ikonologie:<br />

<strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong>s Anliegen war eine Transfiguration des Geistigen in die Malerei. Die Mittel,<br />

die ihm die gegenständliche Kunst in die Hand gab, konnten diesen Wunsch nicht verwirklichen.<br />

Die von <strong>Kandinsky</strong> betonte Empfindung des Heiligen erlaubte keine naturalistische<br />

Wiedergabe (vgl. Brion 1956: 70).<br />

Die russische Kunst, welche <strong>Kandinsky</strong> prägte, bediente sich vieler abstrakter Elemente. Insbesondere<br />

die mittelalterliche Kunst Russlands nutzte häufig die menschliche Figur nur als<br />

einen symbolischen Wert, quasi ein Aufruf an die Vorstellungskraft des Betrachters. Jene<br />

Künstler ebenso wie <strong>Kandinsky</strong> wussten, dass nur eine abstrakte Form ihre Gedanken und<br />

Empfindungen, die um die Ordnung der Welt kreisten, auszudrücken vermochte (vgl. Brion<br />

1956:70).<br />

Die Abstraktion <strong>Kandinsky</strong>s ist vom Gefühl und nicht vom Intellekt beherrscht. Bereits zu<br />

seiner figurativen Zeit fühlt man <strong>Kandinsky</strong>s Drang sich von diesen beengenden Formen zu<br />

befreien. <strong>Kandinsky</strong>s Schritt zur Abstraktion ist keine Wandlung, sondern das folgerichtige<br />

Ergebnis seiner Entwicklung. Er selbst räumt ein, dass er viele Jahre benötigte, um zu begreifen,<br />

dass Natur und Kunst zwei voneinander getrennte Bereiche sind (vgl. Blok 1975: 16).<br />

Damit wurde für <strong>Kandinsky</strong> deutlich, dass es nicht Ziel der Kunst sei die Natur abzubilden.<br />

Somit handelt es sich bei <strong>Kandinsky</strong> nicht um eine schrittweise Abstrahierung eines naturalistischen<br />

Gegenstandes, wie z.B. bei Mondrian, sondern um ein plötzliches Begreifen, dass jegliche<br />

Art von Gegenstand seiner Malerei schaden würde. <strong>Kandinsky</strong> kam von erledigter Arbeit<br />

nach Hause als er plötzlich ein „von einem inneren Glühen durchtränktes Bild“ (<strong>Kandinsky</strong><br />

1913: 38) sah. Er sah auf dem Bild nichts als Formen und Farben, der Inhalt war unverständlich,<br />

da das Bild auf der Seite lag. Ab diesem Moment beschäftigte sich <strong>Kandinsky</strong><br />

mit der ersten und grundsätzlichen Frage für einen abstrakten Maler, wodurch man den Bildgegenstand<br />

ersetzen könnte (vgl. Brion 1956: 71ff. ebenso <strong>Kandinsky</strong> 1913: 36ff.).<br />

In der Diagonale spielt die Dynamik die entscheidende Rolle. Nahezu alles ist in Bewegung<br />

und steht unter Einfluss von Kräften. Dem Betrachter ergibt sich ein wenig harmonisches Bild<br />

und genau dies nahm <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> in der Gesellschaft seiner Zeit wahr. Konflikte symbolisierten<br />

für ihn die Harmonie seiner Zeit und dies zeigt er dem Betrachter des Werkes. Das<br />

Bild der frühen 1920er Jahre war von den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs geprägt, in<br />

16


Form von Arbeitslosigkeit, Hungersnot sowie Kriegsversehrten. Hinzu kam eine zunehmende<br />

Inflation, die sich im Jahr 1923 zu einer Hyperinflation entwickelte. Die Folge waren mehrere<br />

Putschversuche wie u.a. der Kapp-Lüttwitz und der Hitler-Ludendorff-Putsch sowie blutige<br />

Niederschlagungen von Massenstreiks, wie z.B. die des Mitteldeutschen Aufstands im März<br />

1921. Ab 1924 kam es zu einer Stabilisierung der Verhältnisse mittels Einführung der Rentenmark,<br />

wodurch die Hyperinflation gestoppt werden konnte. Bedingt durch große Kredite<br />

aus dem Ausland, insbesondere der USA, entwickelte sich eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung<br />

sowie politische Stabilisierung in Deutschland. Auch innerhalb der Gesellschaft<br />

fanden starke Umwälzungen statt, die als die Goldenen Zwanziger in die Geschichte eingingen.<br />

Es kam u.a. zur beruflichen Emanzipation der Frauen, bedingt durch den Frauenüberschuss<br />

in Folge des Ersten Weltkriegs, die „Neue Sachlichkeit“ als Kunstausrichtung entstand,<br />

mit führenden Künstlern wie z.B. Otto Dix, die das Leben in der Großstadt, die Emanzipation<br />

der Frau sowie die Kluft zwischen Arm und Reich thematisierten. Zudem wurde<br />

Deutschland auf dem Filmsektor zur führenden Nation Europas und produzierte mehr Filme<br />

als alle anderen europäischen Staaten zusammen. Dennoch erwies sich dieser Aufschwung als<br />

trügerisch. Es handelt sich bei den Goldenen Zwanzigern nicht um eine absolute Stabilisierung<br />

der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur eine vorübergehende.<br />

Bedingt durch das zunehmende Übergewicht der Konservativen und das letztendlich nicht<br />

ausreichende Vertrauen der Bürger in die Weimarer Republik reichte der Börsen Crash 1929<br />

sowie die daraus resultierende Weltwirtschaftskrise aus, um soziale Spannungen wieder aufbrechen<br />

zu lassen. Daraus resultierten eine politische Radikalisierung und der Aufstieg des<br />

Nationalsozialismus.<br />

<strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> selbst wurde Opfer dieser Konflikte und in der Braunschweiger Presse als<br />

aus Russland zurückgekehrter Kommunist und gefährlicher Agitator von den Rechtsextremen<br />

diffamiert (vgl. Grohmann 1961: 175ff.). Die geschilderten Konflikte der 1920er Jahre und<br />

ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft müssen zwangsläufig in die Interpretation der Diagonale<br />

mit einfließen, denn in der Diagonale sieht man eindeutig den Drang nahezu aller Elemente<br />

sich zu bewegen, ähnlich der globalen Welt der 1920er Jahre.<br />

Einen weiteren Ansatz zur Analyse der Diagonale bietet sicherlich auch die Physik auf Basis<br />

der Teilung des Atoms. Denn letztendlich hatte sich das Weltbild aller, nicht nur <strong>Kandinsky</strong>s,<br />

maßgebend verändert. Wie es <strong>Kandinsky</strong> selbst in Rückblicke formulierte, war plötzlich alles<br />

in Bewegung geraten. Nichts war mehr gewiss und das Statische an sich existierte nicht mehr,<br />

denn es war physikalisch nicht mehr zu begründen. Diese Erkenntnis ist definitiv in Kandins-<br />

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kys Bilder und somit auch in die Diagonale mit eingeflossen und zeigt sich in der Dynamik<br />

des Bildes.<br />

Letztendlich war die Kunstfrage für <strong>Kandinsky</strong> nur auf Basis des Prinzips der inneren Notwendigkeit<br />

zu lösen. Dementsprechend darf man in seinen Bildern weder Mathematik noch<br />

Geometrie suchen, denn alles ist Atmosphäre und Stimmung. Er stand dem Geometrischen<br />

zwar nicht misstrauisch gegenüber, dennoch waren für ihn nur Formen zulässig, die aus einem<br />

inneren Impuls (Sensibilität) hervorgingen. Ansonsten sah <strong>Kandinsky</strong> die Gefahr, dass die<br />

Kunst nicht die innere Sensibilität des Betrachters erreichen könne. Damit man <strong>Kandinsky</strong><br />

versteht muss man die gewohnte Welt aufgeben, um in seine gemalte Welt einzutreten, sodass<br />

man von der Atmosphäre seiner Bilder eingefangen wird. Das meinte er, wenn er sagte, dass<br />

er den Betrachter in seinen Bildern spazieren gehen lassen möchte. Alles steht unter dem Zeichen<br />

der Ergriffenheit und der Weg zur Abstraktion hat dies nicht gemindert, sondern entwickelt<br />

(vgl. Brion 1956: 75ff.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kunst <strong>Kandinsky</strong>s<br />

in erster Linie eine intuitive und erst dann eine reflektierende ist. Hinzu kommt eine absolute<br />

Freiheit in Idee und Ausführung, denn wie <strong>Kandinsky</strong> es selbst sagt, entsteht jedes Werk wie<br />

der Kosmos, aus Katastrophen. „Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener<br />

Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die<br />

das Werk heißt.“ (<strong>Kandinsky</strong> 1913: 41). Werkschöpfung ist bei ihm Weltschöpfung, wobei<br />

die seelischen Erlebnisse im Vordergrund stehen (vgl. Brion 1956: 75ff. ebenso <strong>Kandinsky</strong><br />

1913: 38ff.). Sein Ziel war mittels der Erschaffung seiner abstrakten Welten eine neue und<br />

bessere Kultur zu schaffen. Dies konnte nur auf Basis der Freiheit des Denkens geschehen.<br />

Durch den zunehmenden Druck des Konservativismus, bedingt durch den steigenden Einfluss<br />

der Völkischen sowie der Nationalsozialisten in den 1920er Jahren, wurde die Freiheit aller<br />

massiv eingeschränkt und das Spießertum etablierte seine Vormachtstellung. Anstelle einer<br />

neuen Kultur, die <strong>Kandinsky</strong> mittels seiner Kunst zu etablieren versuchte, entwickelte sich<br />

das genaue Gegenteil in Deutschland. Inmitten des Spießertums gab es weder für seine Ideen<br />

noch für die der Avantgarde einen Platz. Die Folge war die Vertreibung der geistigen Elite<br />

des Landes, was zum einen damals die Etablierung des Nationalsozialismus förderte und zum<br />

anderen eine noch heute wahrzunehmende konservative Haltung in Deutschland.<br />

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Verwendete Literatur:<br />

Blok, Cor (1975): Geschichte der abstrakten Kunst 1900-1960. Verlag M. DuMont Schauberg,<br />

Köln<br />

Brion, Marcel (1956): Geschichte der abstrakten Malerei. Verlag M. DuMont Schauberg,<br />

Köln<br />

Düchting, Hajo (2007): <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong> 1866-1944. Revolution der Malerei. TASCHEN<br />

GmbH, Köln<br />

Elger, Dietmar (2008): Abstrakte Kunst. TASCHEN GmbH, Köln<br />

Grohmann, Will (1961): <strong>Wassily</strong> <strong>Kandinsky</strong>. Leben und Werk. 2. Auflage. Verlag M. Du-<br />

Mont Schauberg, Köln<br />

<strong>Kandinsky</strong>, <strong>Wassily</strong> (1913): Rückblicke S. 27-50. In: Die Gesammelten Schriften. Band I.<br />

1980. Benteli Verlag, Bern<br />

<strong>Kandinsky</strong>, <strong>Wassily</strong> (1926): Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse malerischer<br />

Elemente. 10. Auflage, mit einer Einführung von Max Bill. Benteli Verlag, Bern<br />

<strong>Kandinsky</strong>, <strong>Wassily</strong> (2009): Über das Geistige in der Kunst. 3. Auflage der 2004 revidierten<br />

Neuauflage. Benteli Verlag, Bern<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Marotzki, Winfried; Niesyto, Horst (2006): Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische<br />

Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive. Verlag<br />

für Sozialwissenschaften, Wiesbaden<br />

Panofsky, Erwin (1978): Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der<br />

Renaissance. S. 16-67. In: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Du Mont. Köln<br />

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