pdf-file
pdf-file
pdf-file
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
Modelle und Realismus<br />
66 Unvollständigkeit von Theorien<br />
66.1 Wissenschaft und Wirklichkeit (Wiederholung)<br />
∗ “Weder die Wissenschaft noch die naiv-sinnliche Wahrnehmung stellen die Wirklichkeit so dar, wie sie «an<br />
sich» ist, sondern «erschaffen» sie jeweils neu ...” (Freese 1990, p. 46)<br />
in wissenschaftlichen Theorien werden nur bestimmte Aspekte ‘betrachtet’<br />
Abbildungsaspekt ist entscheidend für die jeweilige Einzelwissenschaft<br />
∗ Die Theorie bzw. das Modell beziehen sich auf nur bestimmte Aspekte der realen Welt, andere Aspekte<br />
bleiben ‘unbeachtet’<br />
Wirklichkeiten von denen die Wissenschaften handeln, sind Konstruktionen des Denkens, die zu den<br />
«wirklichen» Wirklichkeiten nicht in einem direktem Abbildungsverhältnis stehen.<br />
∗ viele Theorien sind damit unvollständig<br />
66.2 Definition<br />
vermutlich sind Theorien fast ausnahmslos unvollständig<br />
Unvollständigkeit ist ein Beziehung zwischen einer Hypothese oder Theorie T und einem mit ihrer Hilfe zu<br />
erklärenden Sachverhalt E.<br />
T nennt zur Erklärung von E eine Reihe von Faktoren, aber tatsächlich hat man/frau die Vermutung, daß E<br />
noch von weiteren Faktoren abhängt, darunter solche die man/frau nicht genau angeben kann.<br />
66.3 Conclusio<br />
Bsp: Leistungsmotivationstheorie von Atkinson betrachtet nur die intrinisischen Motive<br />
❶ Theorien beschäftigen sich mit den ‘relevanten’ Faktoren<br />
Stichwort: ideale Modelle (z.B. homo oeconomicus, vollkommener Markt)<br />
die relevanten Faktoren unterscheiden sich je nach Einzelwissenschaft<br />
❷ Theorien gelten für den ‘Normalfall’<br />
z.B. daß das betrachte System nicht zerstört oder zu sehr gestört wird<br />
66.3.1 Umgang mit externen Faktoren<br />
(extern soll ausdrücken, daß der Faktor in der Theorie, um die es jeweils geht, nicht vorkommt)<br />
1. externe Faktoren zu erfassen versuchen, abzuschätzen und ihren Einfluß ‘herauszurechnen’<br />
Voraussetzungen:<br />
Kenntnis und Meßbarkeit der externen Faktoren<br />
Wissen um die Verbindung mit der von der Theorie betrachteten internen Faktoren<br />
Aldo VISINTIN Seite 44
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
2. externe Faktoren sind vernachlässigbar klein, daher brauchen sie nicht berücksichtig werden<br />
das wird häufig durch den Ausdruck CETERIS PARIBUS (alles übrige bleibt gleich) bezeichnet<br />
CP ist nicht wortwörtlich gemeint<br />
CP bedeutet: die kausal relevanten Faktoren verändern sich nicht wesentlich<br />
67 Warum ist die Struktur von Theorien von Interesse?<br />
2 Ansichten:<br />
L Wissenschaftstheorie kann Einzelwissenschaften bzw WissenschaftlerInnen ‘nichts’ anbieten<br />
so to say - philosophy of science is useless<br />
J Wissenschaftstheorie kann Einzelwissenschaften bzw WissenschaftlerInnen ‘etwas’ anbieten<br />
(if this is true then) - philosophy of science can provide useful insights<br />
da Theorien zentral und wichtig für Wissenschaften sind, ist ein wissenschaftstheoretisch-philosophisches<br />
Verständnis von Theorien von besonderer Bedeutung!<br />
Wichtigkeit des Wissens um Theorie-Strukturen<br />
➥ ein «philosophisch-wissenschaftstheoretisches Verständnis» von Theorien sowie deren Strukturen scheint<br />
zentral und wichtig und kann helfen im Anwendungskontext weniger ‘Fehler’ zu machen<br />
➥ ‘… since our understanding of theories today is substantial but seriously incomplete (…) it is particularly<br />
important that philosophical understanding of theories advance.’ (Frederick SUPPE, 1979:330)<br />
Obiges Statement von F. Suppe scheint besonders für die social sciences angebracht<br />
68 Evaluierung von wissenschaftlichen Hypothesen<br />
• Ziel von Understanding Scientific Reasoning (1979, 1984, 1991) ist das Entwickeln einer Fähigkeit<br />
• die Fähigkeit des konsistenten Argumentierens<br />
Giere entwickelt ein Programm, mit dessen Hilfe theoretische Hypothesen auf ihre Wissenschaftlichkeit,<br />
Plausibilität, empirische Bewährung usw. hin geprüft werden können.<br />
68.1 Vorteile des Schemas von Giere<br />
⇒ Beachtet den Unterschied zwischen Modellen und die realen Dinge die modelliert/abgebildet werden<br />
⇒ liefert die Basis, ob ein vorgeschlagenes wissenschaftliches Modell ‘fits to the real world’<br />
⇒ der im Schema skizzierte Prozeß ist näher dem Denken realer WissenschaftlerInnen als der Prozeß der<br />
logischen Deduktion<br />
⇒ trotzdem läßt das Schema jede Art von logischer Rekonstruktion zu<br />
Aldo VISINTIN Seite 45
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
68.2 Theorienentwicklung anhand einer Fallstudie<br />
68.2.1 Fallstudie: Die ‘Entdeckung’ der Doppelhelix<br />
anhand einer Fallstudie versucht Ronald N. Giere zu zeigen, wie Theorien entwickelt werden.<br />
68.2.2 Theorieentwicklung<br />
1 Wähle ein Problem bezüglich eines Aspektes der Welt (finding a problem)<br />
2 Konstruiere ein Modell bezüglich dieses gewählten Aspektes der Welt (constructing models)<br />
3 Kontrolliere ob das konstruierte Modell einigermaßen paßt (reasonably good fit to the real world)<br />
4 Überzeuge Andere (convinicing others)<br />
5 Publiziere Deine Arbeit (spread the word)<br />
68.3 Exkurs: Mögliche Modelle - non-taxativ<br />
(Beispiele in Klammer)<br />
68.3.1 Arten von Modellen<br />
Muster oder Vorbild (DN-Modell der Erklärung)<br />
Modelle als Darstellungs und Hilfsmittel für Untersuchungen<br />
anschauliche, maßstabgetreue Modelle (DNA-Modell)<br />
Analogiemodelle (Solarsystem als (falsches) Modell für das Atom)<br />
theoretische Modelle (überwiegende Anzahl im wissenschaftlichen Kontext)<br />
68.3.2 nach ihrem *Zweck*:<br />
• ideale Modelle (ideales Gas, homo oeconomicus)<br />
• Analogiemodelle (Sonnensystem für Atom)<br />
• maßstabsgetreue Modelle (Flugzeugmodelle)<br />
• Musterexemplare (ausgestopftes Frettchen)<br />
• Problemlösungsmodelle (DNA-Modell)<br />
68.3.3 nach ihrer Existenz:<br />
• physische (DNA-Modell)<br />
• nicht-physische (theoretische Modelle, ideale Modelle)<br />
68.3.4 nach ihrer Funktion:<br />
• Modelle zur Demonstration (Frettchen im Museum)<br />
• Modelle zur Veranschaulichung/Illustration (DNA-Modell)<br />
• Modelle für Experimente/Simulation (Windkanalmodelle, Computermodelle)<br />
• Modelle für Lehrzwecke (einfaches Pendel)<br />
68.3.5 nach ihrer Dimension:<br />
• 2-dimensionale Modelle (Landkarten, Diagramme)<br />
• 3-dimensionale Modelle (DNA-Modell)<br />
• mehr-dimensionale Modelle (Computermodelle<br />
Aldo VISINTIN Seite 46
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
68.4 Landkarten als ‘Denkveranschaulichung formale Ähnlichkeiten’<br />
◊ Landkarten repräsentieren räumliche Relationen des von ihnen abgebildeten Gebietes<br />
◊ für die Konstruktion und das ‘Lesen’ der Landkarten haben wir gut verstandene soziale Konventionen<br />
◊ alle Landkarten sind unvollständig, sie bilden NICHT ALLE Merkmale des Gebietes ab<br />
69 Theoretische Begriffe und Beobachtungsbegriffe<br />
Theoretische Begriffe beziehen sich nicht auf Beobachtbares, sondern auf theoretisch postulierte Dinge bzw.<br />
Eigenschaften<br />
Operationalismus unhaltbar bzw. als nicht zweckmäßig verworfen<br />
theoretische Begriffe sind nicht gänzlich auf Beobachtungsbegriffe rückführbar<br />
69.1.1 Verfahren der hinreichenden Bestimmung von theoretischen Begriffen<br />
❶ ein neuer theoretischer Begriff wird mit Hilfe verfügbarer Begriffe umschrieben<br />
keine Definition der vollen Bedeutung<br />
ein erstes Verständnis des Begriffs<br />
❷ Bedeutung des theoretischen Begriffes durch das Studium der gesamten Theorie<br />
theoretische Begriffe weisen Beziehungen zueinander auf<br />
❸ theoretische Begriffe werden durch Musterbeispiele in ihrer Bedeutung näher bestimmt<br />
zuerst lernen wir Musterbeispiele<br />
mit der Zeit lernen wir die theoretischen Begriffe auf konkrete Fälle anzuwenden<br />
❹ anschauliche Analogien und Modelle<br />
Achtung: Welche Aspekte des Modells (Analogie) dienen dazu, die von der Theorie gemeinte Sache darzustellen?<br />
70 Aussagenkonzeption versus modelltheoretische Konzeption<br />
Symposium:<br />
Ausgangspunkte:<br />
26. - 28. 3. 1969 in Urbana (USA)<br />
Kritik durch Thomas Kuhn, Rom Harré, Hilary Putnam, William O. von Quine<br />
71 Aussagenkonzeption (Statement View)<br />
Theorien sind Systeme von Aussagen<br />
Theorien werden als Axiomensysteme aufgefaßt<br />
zwischen den Ableitungsbeziehungen (Folgerungsbeziehungen) bestehen<br />
Untersuchung ob: es zentrale Annahmen (Axiome) gibt, aus denen die restlichen Annahmen ableitbar sind?<br />
Aldo VISINTIN Seite 47
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
(logically entails)<br />
a b<br />
A 1<br />
A 2<br />
A 3<br />
A 4<br />
A 5<br />
A 6<br />
…Statement<br />
A i …Axiom<br />
Relation<br />
Relation<br />
A B<br />
(causal relation)<br />
71.1 Grafische Darstellung: Aussagenkonzeption<br />
Theorien werden re-konstruiert als:<br />
Aussagensysteme, zwischen diesen Aussagen bestehen Ableitungsbeziehungen, damit sind Axiome<br />
rekonstruierbar<br />
71.2 Definition: Aussagenkonzeption<br />
♦ Theorien sind uninterpretierte formale Systeme (mit empirischen Regeln zur Interpretation)<br />
♦ formale Systeme sind eine Menge von Aussagen (Aussagensystem, Axiome) in einer formalen Sprache<br />
• Elemente der formalen Sprache werden syntaktisch aufgefaßt<br />
• logische Beziehungen (zB gültige Schlüsse) werden ebenfalls rein syntaktisch<br />
aufgefaßt<br />
72 Modelltheoretische Konzeption (Non-Statement View)<br />
Theorien sind Strukturen (Modellfamilien – Systeme von Modellen)<br />
Theorie wird als Struktur aufgefaßt<br />
für die Angabe der Struktur:<br />
Definition von Modellfamilien<br />
Aldo VISINTIN Seite 48
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
72.1 Grafische Darstellung: Modelltheoretische Konzeption<br />
Theorien werden re-konstruiert als:<br />
Modellfamilien, deren Struktur durch die Theorie ‘definiert’ wird und diese Modelle ‘repräsentieren’ Ausschnitte<br />
der Realität<br />
(logically entails)<br />
a b<br />
(H a) b<br />
A B<br />
(causal relation)<br />
72.2 Definition: Modelltheoretische Interpretation<br />
Struktur<br />
und Modell<br />
(1) Aussagen (‘Axiome’) formuliert in einer Sprache L (zB: Prädikatenlogik)<br />
(2) eine Menge von Objekten O (zB: mathematische Entitäten - ganze Zahlen, physische Objekte<br />
- Planeten)<br />
(3) eine STRUKTUR für eine Sprache L – ist eine Funktion die Teilmengen der Objektmenge O<br />
Prädikate in L zuschreibt<br />
(1) ein MODELL einer Theorie T – ausgedrückt als ‘Axiome’ in L – ist jede Struktur in welcher<br />
die ‘Axiome’ von T erfüllt (true) sind<br />
(2) da Modelle ‘nicht-sprachliche’ Entitäten sind – können sie mit Hilfe vieler unterschiedlicher<br />
Sprachen charakterisiert werden<br />
(3) die Identifikation einer Theorie geschieht daher nicht mit einer speziellen sprachlichen<br />
Formulierung, sondern mit einer Menge von Modellen charakterisiert durch alle möglichen<br />
Sprachen<br />
73 Theorien in der modelltheoretischen Konzeption<br />
❏ Theorien bestehen aus 2 Elementen:<br />
1. Populationen von Modellen (Modellfamilien)<br />
2. verschiedene theoretische Hypothesen, die diese Modelle mit Systemen in der Realität verbinden<br />
Aldo VISINTIN Seite 49
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
73.1 Modelle<br />
Modelle sind nicht-linguistische Entitäten<br />
¢ Musterbeispiele sind: freier Fall, linearer Oscillator, homo oeconomicus, freier Markt, rationaler Entscheider<br />
¢ Modelle sind sozial konstruiert durch die Gemeinschaft der WissenschaftlerInnen<br />
¢ theoretische Modelle sind die Mittel mit deren Hilfe die WissenschaftlerInnen die Welt repräsentieren<br />
73.2 Theoretical Hypothesis<br />
theoretische Hypothesen sind sprachliche Entitäten (im Gegensatz zu den Modellen und der Realität)<br />
sie sind Aussagen die eine Art Beziehung zwischen Modellen und Ausschnitten der Realität behaupten<br />
eine theoretische Hypothese ist entweder wahr oder falsch,<br />
je nachdem ob die behauptete Beziehung hält<br />
73.3 Theorien und Lehrbücher<br />
in den Lehrbüchern steht nicht wortwörtlich die Theorie sondern<br />
Aussagen die Modelle definieren – diese Modelle sind Teil der Theorie<br />
Formulierungen theoretischer Hypothesen – die auch Teil der Theorie sind<br />
73.4 Modellfamilien und ihre Hierarchie<br />
gereihte Struktur von Modellen<br />
legt den Anstieg der Komplexität in den Modellen offen<br />
• die Struktur der Hierarchie ‘zeigt’ die ‘Cognitive Map’ eines/er typischen WissenschaftlerIn<br />
• die erhöhte Komplexität der Modelle wird erhöht um physische Systeme besser repräsentieren zu können<br />
74 Exkurs: Modelle contra Axiome<br />
74.1.1 Modelle<br />
74.1.2 Axiome<br />
Modelle sind nicht-linguistische Entitäten<br />
Mengen von Objekten nicht Mengen von Aussagen<br />
Axiome sind Aussagen also linguistische Entitäten<br />
Axiome sind Mengen von Sätzen (Aussagen) nicht Mengen von Objekten<br />
74.1.3 Modelle versus Axiome<br />
Aber:<br />
• Giere bestreitet nicht, daß Familien von Modellen axiomatisiert werden können (Giere 1988:20)<br />
• für jede Theorie ausgedrückt als eine Menge von Axiomen (in einer formalen Sprache) existiert<br />
eine Menge von Strukturen, die Modelle dieser Theorie sind<br />
¢ Theorien werden nicht in Form interpretierter formaler Systeme von WissenschaftlerInnen ausgedrückt<br />
¢ die Aussagenkonzeption benötigt daher eine ‘axiomatisierte Rekonstruktion’ in einer angemessenen<br />
(i.e. sufficiently rich) Sprache<br />
¢ die Konzentration auf Modelle macht eine ‘axiomatisierte Rekonstruktion’ überflüssig - Modelle können<br />
auch in der Sprache der WissenschaftlerInnen ausgedrückt werden (cf. Giere [Explaining Science] p.48)<br />
Aldo VISINTIN Seite 50
Handout<br />
Wissenschaftsphilosophie für WIWI<br />
74.1.4 Giere’s Gegenargumente zur Aussagenkonzeption<br />
− Giere bestreitet, daß eine axiomatisierte Präsentation die reale bzw. korrekte Struktur einer Theorie erfaßt<br />
− Lehrbücher sind nicht axiomatisiert aufgebaut - sondern beginnen mit Basic-Level-Modellen<br />
− auch Schachspiel-Experten denken nicht in axiomatisierten Regeln - sondern in erinnerten Mustern<br />
− Problemlösung in Wissenschaften erfolgt realerweise mithilfe von Modellen<br />
Stichwort: Rechtfertigungsstruktur ist NICHT Problemlösungsstruktur<br />
74.1.5 Giere’s Advice<br />
(1) look first for the models<br />
(2) then for the hypothesis employing these models<br />
Aldo VISINTIN Seite 51