Vorlesung Anamnese, psychopathologischer Befund - Klinik und ...
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<strong>Vorlesung</strong><br />
<strong>Anamnese</strong>, <strong>psychopathologischer</strong><br />
<strong>Bef<strong>und</strong></strong>, Gesprächsführung<br />
<strong>Klinik</strong> <strong>und</strong> Poliklinik für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie,<br />
Psychosomatik <strong>und</strong> Psychotherapie,<br />
Pettenkoferstr. 8a, 80336 München<br />
http://www.kjp.med.uni-muenchen.de
Gestaltung einer<br />
Untersuchungssituation
Untersuchung eines Kindes<br />
• Begrüßung<br />
• Kontaktaufnahme<br />
• Erklärung: was kommt<br />
• Kleine Schritte<br />
• Rückmeldung<br />
• „Du kannst es“
Ethische Prinzipien<br />
• Nicht schaden<br />
• Fürsorge - bestes Interesse<br />
• Autonomie des Patienten<br />
• Gerechtigkeit<br />
Beauchamp & Childress, 2001
Heilbehandlung von Kindern:<br />
Besonderer Schutz Minderjähriger<br />
• Wesen, Bedeutung <strong>und</strong> Tragweite der<br />
Maßnahme für Kinder verständlich<br />
machen: Aufklärungspflicht!<br />
• Einwilligung (informed consent) <strong>und</strong><br />
• Einwilligung durch gesetzliche Vertreter<br />
• Schweigepflicht!
Basisvariablen der Gesprächsführung<br />
• Definiert von Carl R. Rogers:<br />
o<br />
Begründer der Gesprächpsychotherapie in den 40er<br />
Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in den USA<br />
• Empathie:<br />
o<br />
einfühlendes Verstehen, Sichhineinversetzen in den<br />
Patienten<br />
• Akzeptanz:<br />
o<br />
Wertschätzung unabhängig von Bedingungen<br />
• Kongruenz:<br />
o<br />
Echtheit, kein Verstecken hinter professioneller Rolle
Autonomie geben im Gespräch:<br />
Beispiele<br />
• Bitte fühlen Sie sich frei, mir mitzuteilen,<br />
wenn ich Fragen stelle, die für Sie zu<br />
schwierig oder zu persönlich zu beantworten<br />
sind.<br />
• Ich möchte es ganz Ihnen überlassen, zu<br />
entscheiden, ob Sie diese Themen in<br />
Gegenwart Ihrer Kinder besprechen wollen<br />
oder nicht.<br />
Hegemann et al., 2000
Klärungsprozesse unterstützen<br />
im Gespräch<br />
• Ich habe den Eindruck, dass dies eine<br />
unangenehme Frage für Sie ist. Meinen<br />
Sie, dass Ihnen ein Gespräch darüber<br />
weiterhelfen könnte?<br />
• Sie sehen immer so traurig aus, wenn<br />
wir auf Ihren Vater zu sprechen<br />
kommen. Woran könnte das liegen?<br />
Hegemann et al., 2000
Kinder- <strong>und</strong> jugendpsychiatrische<br />
Diagnostik: Bestandteile<br />
• <strong>Anamnese</strong><br />
• Körperliche Untersuchung<br />
• Neurologische Untersuchung<br />
• Psychischer / <strong>psychopathologischer</strong> <strong>Bef<strong>und</strong></strong><br />
• Psychologische Diagnostik<br />
• Familiendiagnostik<br />
• Apparative Untersuchungen <strong>und</strong> Labordiagnostik
<strong>Anamnese</strong>
<strong>Anamnese</strong>: Gliederung<br />
• Vorstellungsanlass <strong>und</strong> Aufnahmemodus<br />
• Eigenanamnese<br />
• Familienanamnese
Vorstellungsanlass<br />
<strong>und</strong> Aufnahmemodus<br />
• Tag, Zeit, Begleitung, einweisender<br />
Arzt, Zuweisungsgr<strong>und</strong><br />
• Aktuelle Symptomatik: Beginn, situativer<br />
Kontext, Intensität, Maßnahmen,<br />
Verlauf, Exazerbation
Eigenanamnese I<br />
• Entwicklung<br />
◦ Schwangerschaftsverlauf, Geburt, Neugeborenenperiode,<br />
Säuglings- <strong>und</strong> Kleinkindentwicklung, Entwicklung in<br />
Vorschulalter / Schulalter / Adoleszenz<br />
• Schule <strong>und</strong> Beruf<br />
◦ Einschulung, Schulstand, Leistungen, Schularbeitssituation,<br />
Berufspläne, Ausbildung in Lehre <strong>und</strong> Beruf<br />
• Soziale Situation<br />
◦ Fre<strong>und</strong>schaftsbeziehungen, soziale Stellung in der<br />
Gleichaltrigengruppe, Interaktionen <strong>und</strong> Aktivitäten<br />
außerhalb der Familie, soziale Auffälligkeiten,<br />
Freizeitunternehmungen
Eigenanamnese II<br />
• Sexualität<br />
◦ Sexueller Entwicklungsstand, Einstellung zur<br />
Sexualität, sexuelle Aktivitäten<br />
• Frühere Krankheiten<br />
◦ Beginn, Maßnahmen <strong>und</strong> Verlauf<br />
• Primärpersönlichkeit, Hobbys <strong>und</strong><br />
Interessen
Eigenanamnese III<br />
• Genussmittel, Drogen <strong>und</strong> Medikamente<br />
◦ Koffein, Nikotin, Alkohol, Rauschmittel <strong>und</strong><br />
Arzneimittel: Art, Dosis, Frequenz <strong>und</strong> Dauer<br />
der Einnahme<br />
• Familiendynamik<br />
◦ Beziehungen des Patienten zu den übrigen<br />
Familienmitgliedern, Interaktionen <strong>und</strong> Aktivitäten<br />
innerhalb der Familie
Familienanamnese I<br />
• Standardangaben zu den Verwandten<br />
(Eltern, Geschwister, ggf. Großeltern):<br />
◦ Alter<br />
◦ Krankheiten (Fehlbildungen, chronische<br />
Krankheiten, psychische Auffälligkeiten,<br />
psychiatrische Krankheiten,<br />
<strong>Klinik</strong>aufenthalte)<br />
◦ Soziale Stellung <strong>und</strong> Beruf
Familienanamnese II<br />
• Persönlichkeit <strong>und</strong> Entwicklung der Eltern<br />
<strong>und</strong> Geschwister, Geschwisterkonstellation<br />
• Sozioökonomische Lage der Familie<br />
• Gesprächseindruck von den Eltern bzw. der<br />
Begleitperson
Körperliche Untersuchung
Körperliche Untersuchung<br />
• Inspektion, Gesamteindruck<br />
• Größe, Gewicht Somatogramm<br />
• Pubertätsstadium<br />
• Blutdruck, Sehvermögen, Gehör<br />
• Bei Bedarf internistischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong>
Neurologische Untersuchung
Neurologische Untersuchung<br />
• Motorische Funktionen,<br />
Bewegungskoordination,<br />
• Kopfumfang: Makro-, Mikrozephalie<br />
• Hirnnerven<br />
• Reflexe<br />
• Muskeltonus<br />
• Grobe Kraft<br />
• Sensibilität
Psychischer /<br />
<strong>psychopathologischer</strong> <strong>Bef<strong>und</strong></strong>
Psychischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong>:<br />
Untersuchungsmethoden<br />
• Exploration<br />
• Verhaltensbeobachtung<br />
• Strukturierte Interviews<br />
• Fragebogenmethoden <strong>und</strong> Skalen
Psychischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong>:<br />
zu prüfende psychische Funktionen<br />
• Äußerliches Erscheinungsbild<br />
• Kontakt- <strong>und</strong> Beziehungsfähigkeit<br />
• Emotionen<br />
• Denkinhalte<br />
• Kognitive Funktionen<br />
• Sprache<br />
• Motorik<br />
• Soziale Interaktion<br />
• Andere <strong>Bef<strong>und</strong></strong>e
Psychischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong> I<br />
• Äußerliches Erscheinungsbild<br />
◦ Attraktivität, Größe, Gewicht, Reife,<br />
Fehlbildungen, Minor-Anomalien, erworbene<br />
körperliche Entstellungen, Kleidung, Sauberkeit<br />
• Kontakt- <strong>und</strong> Beziehungsfähigkeit<br />
◦ Abhängigkeit von der Begleitperson, Aufnahme<br />
der Beziehung zum Untersucher, Rapport,<br />
Selbstsicherheit, Kooperation<br />
• Emotionen<br />
◦ Stimmung, Affekte, Angst, psychomotorischer<br />
Ausdruck
Psychischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong> II<br />
• Denkinhalte<br />
◦ Ängste, Befürchtungen, Phantasien, Träume,<br />
Denkstörungen, Selbstkonzept, Identität<br />
• Kognitive Funktionen<br />
◦ Aufmerksamkeitssteuerung, Orientierung,<br />
Auffassung, Wahrnehmung, Gedächtnis <strong>und</strong><br />
Merkfähigkeit, allgemeine Intelligenz<br />
• Sprache<br />
◦ Umgang, Intonation, Artikulation, Vokabular,<br />
Komplexität, Sprachverständnis, Gesten
Psychischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong> III<br />
• Motorik<br />
◦ Antrieb <strong>und</strong> Aktivität, qualitative Auffälligkeiten:<br />
z.B. Tics, Stereotypien, Automutilation, Jaktationen<br />
• Soziale Interaktion<br />
◦ Position / Beziehungen innerhalb von Familie /<br />
Schulklasse / Gleichaltrigengruppe / Fre<strong>und</strong>eskreis<br />
• Andere <strong>Bef<strong>und</strong></strong>e<br />
◦ Oppositionell-dissoziales Verhalten, Zwang<br />
◦ Essverhalten, körperliche Beschwerden,<br />
Substanzmissbrauch, Suizidalität, Sexualität
Psychologische Diagnostik
Psychologische Diagnostik: Ablauf<br />
• Untersuchungsanlass<br />
• Fragestellung<br />
• Auswahl der Verfahren<br />
• Durchführung<br />
• Auswertung<br />
• Beurteilung der Ergebnisse, diagnostische<br />
Schlussfolgerungen<br />
• Integration aller vorhandenen <strong>Bef<strong>und</strong></strong>e<br />
• Ableitung weiterführender Maßnahmen
Psychologische Diagnostik:<br />
Gütekriterien<br />
• Objektivität<br />
◦ Durchführung<br />
◦ Auswertung<br />
◦ Interpretation<br />
• Reliabilität (Zuverlässigkeit)<br />
• Validität (Gültigkeit)
Psychologische Diagnostik:<br />
Einteilung der Testverfahren<br />
• Intelligenztests / Leistungstests<br />
• Tests zur Erfassung von<br />
Teilleistungsstörungen<br />
• Neuropsychologische<br />
Untersuchungsverfahren<br />
• Entwicklungstests<br />
• Persönlichkeitstests<br />
• Projektive Persönlichkeitstests
Psychologische Diagnostik:<br />
Beispiel Symptomtagebuch<br />
• Baselineerhebung vor Interventionen!<br />
◦ Ausprägung<br />
◦ Begleitende Umstände<br />
◦ Was geht voraus?<br />
◦ Was folgt danach?<br />
◦ Wann tritt das Verhalten nicht auf?<br />
◦ Hypothesen dazu?
Familiendiagnostik
Familiendiagnostik<br />
• Familienstruktur <strong>und</strong> -interaktionen<br />
• Entwicklungsphase der Familie im<br />
Lebenszyklus<br />
• Soziokultureller Kontext der Familie<br />
• Entwicklung der Eltern in der Herkunftsfamilie<br />
• Umgang mit dem Symptom des Kindes,<br />
Bedeutung des Symptoms für die Familie<br />
• Problemlösungsmöglichkeiten in der Familie
Apparative Untersuchungen <strong>und</strong><br />
Labordiagnostik
Apparative Diagnostik <strong>und</strong><br />
Labordiagnostik: Beispiele<br />
• Elektrophysiologie (z.B. EEG)<br />
• Bildgebende Verfahren (z.B. CT, MRT)<br />
• Untersuchung des Liquors<br />
• Sonographie (Ultraschalldiagnostik)<br />
• Chromosomenanalyse
Weitere Informationsquellen<br />
• Schule<br />
◦ Zeugnisse<br />
◦ Tests, Schreibproben etc.<br />
• Vorbef<strong>und</strong>e
Diagnostischer Prozess –<br />
Weg zur Diagnose<br />
• Die wichtigsten Beobachtungen<br />
von Krankheitserscheinungen<br />
werden analog zu anderen<br />
medizinischen Disziplinen in Form<br />
einer oder mehrerer Diagnosen<br />
zusammengefasst.
Diagnostischer Prozess –<br />
Weg zur Diagnose<br />
• Von einer psychischen Störung mit<br />
Krankheitswert spricht man nur,<br />
wenn das Verhalten / Erleben<br />
bei Berücksichtigung des<br />
Entwicklungsalters<br />
◦ abnorm ist <strong>und</strong> / oder<br />
◦ zu einer Beeinträchtigung führt
Diagnostischer Prozess –<br />
Weg zur Diagnose<br />
• Passt das klinische Bild zu einem<br />
definierten Störungsbild? Erfüllt das<br />
Kind die Diagnosekriterien für eine<br />
psychiatrische Erkrankung?
Diagnostischer Prozess –<br />
Weg zur Diagnose<br />
<strong>Bef<strong>und</strong></strong>erhebung<br />
(Untersuchung)<br />
Symptome<br />
Diagnose<br />
Allgemeinzustand<br />
Neurologischer <strong>Bef<strong>und</strong></strong><br />
Kinderpsychiatrischer<br />
<strong>Bef<strong>und</strong></strong><br />
- <strong>Anamnese</strong><br />
-Exploration<br />
-Tests<br />
Einzelsymptome<br />
Leitsymptome<br />
Syndrome<br />
(Symptomkomplexe)<br />
Kinder- <strong>und</strong><br />
jugendpsychiatrische<br />
Krankheitsbilder<br />
Symptomgewinnung<br />
Symptomzuordnung
Funktionen von Diagnosen<br />
• Gemeinsame Bezeichnung für ein Störungsbild:<br />
Zusammenfassung von gleichartigen psychischen<br />
Auffälligkeiten <strong>und</strong> Abgrenzung von andersartigen<br />
• Erleichterung der Kommunikation<br />
• Zuweisung zu geeigneter Therapie<br />
• Zentral für die Forschung, z.B. bzgl. Ursachen <strong>und</strong><br />
Prognose<br />
• Erster Schritt jeglicher wissenschaftlicher Klassifikation
Kinder- <strong>und</strong> jugendpsychiatrische<br />
Klassifikation
Klassifikation: Definition<br />
• Ordnungssystem<br />
• Systematik<br />
• Krankheitslehre
Klassifikationssysteme<br />
• Zwei Klassifikationssysteme sind für die<br />
Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie besonders<br />
relevant:<br />
◦ Multiaxiales Klassifikationsschema<br />
für psychische Störungen des Kindes<strong>und</strong><br />
Jugendalters nach ICD-10<br />
der WHO<br />
(MAS, Remschmidt et al., 2006)<br />
◦ Diagnostic and Statistical Manual<br />
of Mental Disorders (DSM-IV)<br />
der APA (dt. Saß et al., 1996)
Von der Diagnose zur Behandlung<br />
• Welche individuellen biologischen <strong>und</strong><br />
psychologischen, familiären <strong>und</strong><br />
soziokulturellen Faktoren wirken bei der<br />
Entstehung des Störungsbildes mit?<br />
◦ Wie groß ist deren relativer Einfluss?
Von der Diagnose zur Behandlung<br />
• Was erhält die Störung aufrecht?<br />
• Was begünstigt die normale Entwicklung?<br />
• Welches sind die Stärken von Kind <strong>und</strong><br />
Familie?<br />
• Wie verläuft das Störungsbild ohne<br />
Behandlung?<br />
• Welche Behandlung ist bei diesem<br />
Störungsbild erforderlich?<br />
• Welche Behandlungsart ist am effektivsten?
Von der Diagnose zur Behandlung<br />
• Globale Anpassung<br />
◦ Zu Hause<br />
◦ Schule / Kindergarten<br />
◦ Fre<strong>und</strong>e
Literatur: Basislehrbücher<br />
• Steinhausen HC (2006). Psychische<br />
Störungen bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />
Lehrbuch der Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
<strong>und</strong> -psychotherapie (6. Auflage). München:<br />
Elsevier, Urban & Fischer.<br />
• Remschmidt H, Quaschner K, Theisen FM<br />
(Hrsg.) (2008). Kinder- <strong>und</strong><br />
Jugendpsychiatrie. Eine praktische<br />
Einführung (5., aktualisierte Auflage).<br />
Stuttgart: Thieme.
Zitierte Literatur<br />
• Beauchamp TL, Childress JF (2001). Principles of<br />
biomedical ethics. New York: Oxford University Press.<br />
• Hegemann T, Asen E, Tomson P (2000).<br />
Familienmedizin für die Praxis. Stuttgart: Schattauer.<br />
• Remschmidt H et al. (2006). Multiaxiales<br />
Klassifikationsschema für psychische Störungen des<br />
Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Bern:<br />
Huber.<br />
• Saß H et al. (1996) Diagnostisches <strong>und</strong> Statistisches<br />
Manual Psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen:<br />
Hogrefe.