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Formen der Tragödie in der Moderne - Klassik Stiftung Weimar

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<strong>Formen</strong> <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne 351<br />

schen ermitteln. Erstens <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong>, so wie die vorliegenden Ausführungen<br />

sie def<strong>in</strong>ieren. Obgleich me<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition und die drei tragischen <strong>Formen</strong><br />

überzeitlich s<strong>in</strong>d, entwickelt jedes Zeitalter gewisse eigene Merkmale <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong>,<br />

sodass <strong>Tragödie</strong>n unseres Zeitalters ausgeprägt mo<strong>der</strong>ne Formierungen<br />

erkennen lassen. So ist zum Beispiel die Tilgung <strong>der</strong> Katharsis e<strong>in</strong>e weit<br />

verbreitete Eigentümlichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Tragödie</strong>, die jedoch mit <strong>der</strong> organischen<br />

Verb<strong>in</strong>dung von Größe und Leiden vollkommen kompatibel ist.<br />

Innerhalb je<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei <strong>Tragödie</strong>nformen hat die mo<strong>der</strong>ne <strong>Tragödie</strong> ihre eigenen<br />

Merkmale entwickelt. Die <strong>Tragödie</strong> <strong>der</strong> Selbstaufopferung etwa tendiert<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dazu, auf geschichtliche Fälle zurückzugreifen o<strong>der</strong> moralische<br />

Konflikte <strong>der</strong> jeweils zeitgenössischen Epoche zu thematisieren. Außerdem<br />

ist sie oftmals am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft situiert. In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

werden subjektive Entschiedenheit und persönliche Authentizität, unabhängig<br />

von objektiven Normen und oft ohne jeden Bezug auf irgende<strong>in</strong> vorhergehendes<br />

Unrecht, aufgewertet, und diese Aufwertung schafft die Bed<strong>in</strong>gungen,<br />

unter denen dann die <strong>Tragödie</strong> des Eigens<strong>in</strong>ns gedeiht, mit Figuren, die<br />

ihre unverwechselbare Individualität verwirklichen wollen, selbst wenn dadurch<br />

an<strong>der</strong>en Menschen schweres Leid zugefügt wird. Anzutreffen s<strong>in</strong>d auch<br />

beson<strong>der</strong>s pathologische Ersche<strong>in</strong>ungsformen, die als e<strong>in</strong>e Zuspitzung dessen<br />

erachtet werden können, was schon <strong>in</strong> Keimen bei Euripides zu f<strong>in</strong>den<br />

ist. Ich denke etwa an Hofmannsthals Elektra, <strong>der</strong>en Protagonist<strong>in</strong> ihre Identität<br />

nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehung zu e<strong>in</strong>em An<strong>der</strong>en hat, sodass die Destruktion<br />

des An<strong>der</strong>en, die ja ihr Ziel ist, auch zur Auflösung des eigenen Ichs führen<br />

muss. In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verdrängt die <strong>Tragödie</strong> des Bewusstse<strong>in</strong>s zunehmend<br />

die <strong>Tragödie</strong> <strong>der</strong> Opposition, da die Psyche des Helden mehr und mehr <strong>in</strong><br />

den Vor<strong>der</strong>grund rückt.<br />

In e<strong>in</strong>em Zeitalter, <strong>in</strong> dem die <strong>Tragödie</strong> als solche nicht mehr im Zentrum<br />

<strong>der</strong> literarischen Produktion steht, entdecken wir Spuren des Tragischen<br />

zunehmend im Gewand an<strong>der</strong>er <strong>Formen</strong>. An zweiter Stelle s<strong>in</strong>d daher solche<br />

Dramen zu nennen, <strong>in</strong> denen konstitutive Elemente des Tragischen zum Vorsche<strong>in</strong><br />

kommen, allerd<strong>in</strong>gs ohne die organische Verb<strong>in</strong>dung von Größe und<br />

Leiden, die ich als wesentliches Element <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong> betrachte. In diesem<br />

Kontext gew<strong>in</strong>nt das Drama des Leidens e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung, da es die<br />

tragische Größe und den tragischen Konflikt durch die Betonung <strong>der</strong> sozialen,<br />

ökonomischen und politischen Katalysatoren sowie durch die Akzentuierung<br />

<strong>der</strong> psychologischen Konsequenzen und rhetorischen Folgeersche<strong>in</strong>ungen<br />

des Leidens ersetzt. Das Drama des Leidens steht <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong> nah<br />

und wird von den meisten Literaturwissenschaftlern als solche bezeichnet.<br />

Man könnte es jedoch auch, wie hier vorgeschlagen, als e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Gattung<br />

betrachten o<strong>der</strong> als <strong>Tragödie</strong> <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es umfangreichen Feldes von Familienähnlichkeiten<br />

deuten und als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> für die Gegenwart geeignetsten<br />

<strong>Formen</strong> des Tragischen ansehen.<br />

In: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hrsg.): Die <strong>Tragödie</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berl<strong>in</strong>, New York 2010, S. 339–354.

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