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Formen der Tragödie in der Moderne - Klassik Stiftung Weimar

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<strong>Formen</strong> <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne 345<br />

Publikum und Held erkennt Mutter Courage die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>in</strong> ihrer eigenen<br />

Haltung nicht, son<strong>der</strong>n stellt sie e<strong>in</strong>fach nur da.<br />

Der Held <strong>der</strong> <strong>Tragödie</strong> des Eigens<strong>in</strong>ns gelangt entwe<strong>der</strong> selbst zur E<strong>in</strong>sicht<br />

<strong>in</strong> die Unhaltbarkeit se<strong>in</strong>er Position, o<strong>der</strong> das Drama demonstriert die<br />

mit <strong>der</strong> Position des Helden verbundene Selbstaufhebung. Zweifellos entsteht<br />

e<strong>in</strong>e größere Spannung, wenn wir Elemente des Erkennens erleben,<br />

wenn <strong>der</strong> Held zögert und se<strong>in</strong>e Haltung zu h<strong>in</strong>terfragen beg<strong>in</strong>nt o<strong>der</strong> wenn<br />

er Alternativen erwägt, welche dann durchaus wie<strong>der</strong> verworfen werden können.<br />

Im letzten Augenblick erkennt Posa den Wert des Lebens, was ihn jedoch<br />

nicht daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>t, sich selbst zum Instrument se<strong>in</strong>es Ideals zu machen.<br />

Gelegentlich kann die Erkenntnis des eigens<strong>in</strong>nigen Helden diesen zu<br />

e<strong>in</strong>er Umkehr bewegen. Karl Moor etwa macht sich zuletzt Gedanken über<br />

Reue und e<strong>in</strong>e Rückkehr <strong>in</strong> den Gerichtssaal. Die E<strong>in</strong>sichten von König Skule<br />

<strong>in</strong> Ibsens Die Kronprätendenten s<strong>in</strong>d so bedeutend, dass <strong>der</strong> Monarch aus<br />

e<strong>in</strong>er Eigens<strong>in</strong>nstragödie herauswächst und diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Selbstaufopferungstragödie<br />

verwandelt. Interessanterweise kann sich das Motiv des Eigens<strong>in</strong>ns<br />

über fünf Akte erstrecken, woh<strong>in</strong>gegen die Selbstaufopferung auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige,<br />

allerd<strong>in</strong>gs bee<strong>in</strong>druckende Szene beschränkt ist.<br />

E<strong>in</strong>e Form des tragischen Eigens<strong>in</strong>ns kommt dem Konzept <strong>der</strong> tragischen<br />

Kollision beson<strong>der</strong>s nahe. Sie erwächst aus <strong>der</strong> Verabsolutierung e<strong>in</strong>er Tugend<br />

auf Kosten an<strong>der</strong>er Tugenden, sodass es zu e<strong>in</strong>er Asymmetrie zwischen<br />

konkurrierenden Tugenden kommt. Shakespeares Romeo etwa sieht sich<br />

selbst nur noch als Liebhaber, h<strong>in</strong>gegen nicht mehr als Sohn und Bürger.<br />

Goethes Egmont legt Ehrlichkeit und Vertrauen an den Tag, ist sich aber <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit von Vorsicht und Berechnung nicht bewusst. Doktor Stockmann<br />

<strong>in</strong> Ibsens E<strong>in</strong> Menschenfe<strong>in</strong>d vertritt die Tugenden <strong>der</strong> Wahrheit, Ehrlichkeit<br />

und Furchtlosigkeit auf Kosten von Pragmatismus, Zurückhaltung<br />

und überlegtem Handeln und stellt damit ebenso e<strong>in</strong>e Variante des eigens<strong>in</strong>nigen<br />

Helden dar. Wenn Gregers Werle <strong>in</strong> Ibsens Die Wildente Ehrlichkeit<br />

<strong>der</strong> Sensibilität voranstellt, wird auch er zum tragischen Helden des Eigens<strong>in</strong>ns,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Tugend zuungunsten e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en verabsolutiert. Gerade<br />

<strong>in</strong> diesen Fällen steht die Größe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dialektischen Beziehung zum traditionellen<br />

Konzept des tragischen Fehltritts.<br />

In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die zu e<strong>in</strong>er Auflösung objektiv anerkannter Werte führt,<br />

gew<strong>in</strong>nen subjektive Weltentwürfe und <strong>in</strong>dividuelles Glücksstreben zunehmend<br />

an Bedeutung. Diese Entwicklung reflektiert die <strong>Tragödie</strong> des Eigens<strong>in</strong>ns,<br />

<strong>in</strong>dem sie Menschen und Figuren zeigt, die auf besessene Art und Weise<br />

ihre eigenen, dabei oft abwegigen Ziele verfolgen. E<strong>in</strong> solcher Prozess fortschreiten<strong>der</strong><br />

Individualisierung setzt bereits im Sturm und Drang e<strong>in</strong> und f<strong>in</strong>det<br />

im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mit Werken wie Camus’ Caligula o<strong>der</strong> John Ardens<br />

Der Tanz des Sergeanten Musgrave se<strong>in</strong>e Fortsetzung. Eigens<strong>in</strong>n muss nicht<br />

immer auch Autonomie implizieren; er kann sich so äußern, dass e<strong>in</strong> Prot-<br />

In: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hrsg.): Die <strong>Tragödie</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berl<strong>in</strong>, New York 2010, S. 339–354.

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