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Heft #5 Deine moralische Anstalt - Schauspiel Hannover

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<strong>Heft</strong> <strong>#5</strong><br />

00 01.01<br />

03 Editorial 04 Friedrich Schiller: Die Schaubühne als <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong> betrachtet 06 Kulturpreis für »Moschee DE«<br />

08 Lars-Ole Walburg im Gespräch mit Oskar Negt 12 Rückblick auf das Projekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert«<br />

16 Interview mit der Technikphilosophin Jutta Weber 18 »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« – Versuch einer Annäherung<br />

20 Szenenfoto: »Kampf des Negers und der Hunde« 22 Interview mit dem Regisseur Mirko Borscht 26 Albrecht Hirche: Notizen<br />

zu »Chronik eines angekündigten Todes« 28 Ballhof backstage: Fotos aus »Neverland« 30 Gastbeitrag: Sigurd Hermes<br />

über das Kommunale Kino 32 Was kommt: Die Höhepunkte von Dezember bis März 2011<br />

schauspiel<br />

hannover<br />

<strong>Deine</strong><br />

<strong>moralische</strong><br />

anstalt


»Was mich an Schillers Rede berührt, ist<br />

seine Theatertrunkenheit und Euphorie,<br />

die mir heute so oft im Theater fehlt. Was<br />

wir aus seinen Worten in die Jetztzeit<br />

übernehmen sollten, ist die Rauschhaftigkeit<br />

und Begeisterung für das<br />

Medium.« Mirko Borscht, Regisseur


02.03<br />

Liebe Zuschauer,<br />

wenn Spaßmacher und Spitzbuben die Bühnenbretter verlassen und ihr Glück in der weiten Welt suchen, wird es<br />

schwer für uns Theaterleute: Welcher erfundene Marinelli oder Mephisto, muss man sich zum Beispiel fragen,<br />

nimmt es mit der realen Lobby auf, die ihren verantwortungslosen Umgang mit hochgiftigen und radioaktiven Abfällen<br />

im Endlager Asse gerade so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat und uns nun mit Engelsmiene von der<br />

Unbedenklichkeit deutscher Kernenergie zu überzeugen versucht? Welcher Schwank, welche Posse, muss man sich<br />

fragen, kann mit der parlamentarischen Anfrage (Verschwendung von Steuergeldern!) konkurrieren, die im niedersächsischen<br />

Landtag unser erfolgreiches Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« in Misskredit zu<br />

bringen versucht?<br />

Um unserem Unterhaltungsanspruch gerecht zu werden, bleibt uns in solchem Umfeld geradezu nichts anderes<br />

übrig, als die schwersten Geschütze bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses in Stellung zu bringen: Friedrich<br />

Schiller! Unser Theater, <strong>Deine</strong> <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong>! Schillers alter und eigentlich auch altbekannter Text »Die Schaubühne<br />

als <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong> betrachtet« hat uns in seinem Idealismus und seiner Emphase so begeistert, dass wir<br />

ihm gleich unser ganzes <strong>Heft</strong> <strong>#5</strong> gewidmet haben und ihn – leicht gekürzt – hier präsentieren (Seiten 4 und 5).<br />

Intendant Lars-Ole Walburg und der Sozialphilosoph Oskar Negt, Gastgeber unserer Gesprächsreihe »Weltausstellung<br />

Prinzenstraße«, unterhalten sich über das Verhältnis von Moral und Ethik, Politik und Theater und versuchen<br />

die Bedeutung des schillerschen Textes für ein heutiges Theaterverständnis auszuloten (Seiten 8 bis 11).<br />

Mirko Borscht, Regisseur von »komA«, bescheinigt dem Theater eine eher rauschhafte denn moralisch bildende<br />

Wirkung und zeigt sich doch im Interview zu seinem neuen Projekt »Kristus – Monster of Münster« über den Führer<br />

der Münsteraner Wiedertäuferbewegung Jan von Leyden als geradezu eingefleischter Moralist...<br />

In seiner Laudatio zum Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche bescheinigt Jurysprecher und Superintendent<br />

i. R. Hans Werner Dannowski unserer Produktion »Moschee DE«, bei dem schwierigen Thema der Integration<br />

des Islam in Deutschland »Denkanstöße zu vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten<br />

zu versuchen« (Seiten 6 und 7). Viel mehr hätte wohl auch Schiller nicht gewollt ...<br />

Christian Tschirner<br />

Dramaturg und Regisseur<br />

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Moralische <strong>Anstalt</strong> – was fällt Ihnen dazu ein?<br />

Wir haben <strong>Hannover</strong>aner im Theater und auf der Straße gefragt, was sie sich spontan unter einer »Moralischen<br />

<strong>Anstalt</strong>« vorstellen. Die Antworten fielen naturgemäß unterschiedlich aus – mal erheiternd, mal fantasievoll, mal<br />

verständnislos. Sie ziehen sich als Fußleiste durch das gesamte <strong>Heft</strong> und werden Sie bei der Lektüre begleiten.<br />

Die Redaktion


Die Schaubühne als <strong>moralische</strong><br />

<strong>Anstalt</strong> betrachtet<br />

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Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784<br />

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Von Friedrich Schiller<br />

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Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche <strong>Anstalt</strong> des Staats<br />

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eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche<br />

Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der<br />

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menschlichen Seele.<br />

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Wenn die Gerechtigkeit für Gold erblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn<br />

die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der<br />

Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster<br />

vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte,<br />

Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Verbrecher, die<br />

längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst<br />

jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein<br />

schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln<br />

die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem<br />

Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. --------------------------------------------<br />

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Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein<br />

Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen<br />

des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer<br />

werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen<br />

preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht<br />

und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So<br />

gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toter Buchstabe und kalte Erzählung,<br />

so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze. ---------<br />

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Aber hier unterstützt sie die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres<br />

Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden,<br />

wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit<br />

und die Religion. Aus dieser reinen Quelle schöpft sie ihre Lehren und Muster<br />

und kleidet die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand. Mit welch herrlichen<br />

Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie unsere Seele, welche<br />

göttlichen Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus! – Wenn der gütige August<br />

dem Verräter Cinna, der schon den tödtlichen Spruch auf seinen Lippen zu lesen<br />

meint, groß wie seine Götter, die Hand reicht: »Laß uns Freunde sein, Cinna!« – wer<br />

unter der Menge wird in dem Augenblick nicht gern seinem Todfeind die Hand drücken<br />

wollen, dem göttlichen Römer zu gleichen? – Wenn Franz von Sickingen, auf<br />

dem Wege, einen Fürsten zu züchtigen und für fremde Rechte zu kämpfen, unversehens<br />

hinter sich schaut und den Rauch aufsteigen sieht von seiner Feste, wo Weib und Kind<br />

hilflos zurückblieben, und er weiter zieht, Wort zu halten – wie groß wird mir da der<br />

Mensch, wie klein und verächtlich das gefürchtete unüberwindliche Schicksal! Eben so<br />

häßlich, als liebenswürdig die Tugend, malen sich die Laster in ihrem furchtbaren<br />

Spiegel ab. Wenn der hilflos kindische Lear in Nacht und Ungewitter vergebens an<br />

das Haus seiner Töchter pocht, wenn sein wütender Schmerz zuletzt in den schrecklichen<br />

Worten von ihm strömt: »Ich gab euch alles!« – wie abscheulich zeigt sich uns<br />

da der Undank? Wie feierlich geloben wir Ehrfurcht und kindliche Liebe! - ----------<br />

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Aber der Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter aus. Auch da, wo Religion<br />

und Gesetze es unter ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ist<br />

sie für unsere Bildung noch geschäftig. Das Glück der Gesellschaft wird eben so sehr<br />

durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört. Eine Erfahrung lehrt es, die so<br />

alt ist als die Welt, daß im Gewebe menschlicher Dinge oft die größten Gewichte an<br />

den kleinsten und zartesten Fäden hangen und, wenn wir Handlungen zu ihrer Quelle<br />

zurück begleiten, wir zehnmal lächeln müssen, ehe wir uns einmal entsetzen. Mein<br />

Verzeichnis von Bösewichtern wird mit jedem Tag, den ich älter werde, kürzer und<br />

mein Register von Thoren vollzähliger und länger. Wenn die ganze <strong>moralische</strong> Verschuldung<br />

des einen Geschlechtes aus einer und eben der Quelle hervorspringt,<br />

wenn alle die ungeheuren Extreme von Lastern, die es jemals gebrandmarkt haben,<br />

nur veränderte Formen, nur höhere Grade einer Eigenschaft sind, die wir zuletzt alle<br />

einstimmig belächeln und lieben, warum sollte die Natur bei dem andern Geschlecht<br />

nicht die nämlichen Wege gegangen sein? Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen<br />

vor Verschlimmerung zu bewahren, und dieses ist – sein Herz gegen Schwächen<br />

zu schützen. -------------------------------------------------------------------<br />

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Einen großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten. Sie ist<br />

es, die der großen Klasse von Thoren den Spiegel vorhält und die tausendfachen<br />

Formen derselben mit heilsamem Spott beschämt. Was sie oben durch Rührung und<br />

Schrecken wirkt, leistet sie hier (schneller vielleicht und unfehlbarer) durch Scherz<br />

und Satire. Wenn wir es unternehmen wollten, Lustspiel und Trauerspiel nach dem<br />

Maß der erreichten Wirkung zu schätzen, so würde vielleicht die Erfahrung dem ersten<br />

den Vorrang geben. Spott und Verachtung verwunden den Stolz der Menschen<br />

empfindlicher, als Verabscheuung sein Gewissen foltert. Vor dem Schrecklichen verkriecht<br />

sich unsere Feigheit, aber eben diese Feigheit überliefert uns dem Stachel der<br />

Satire. Gesetz und Gewissen schützen uns oft vor Verbrechen und Lastern – Lächerlichkeiten<br />

verlangen einen eigenen, feinern Sinn, den wir nirgends mehr als vor dem<br />

Schauplatz üben. Vielleicht, daß wir einen Freund bevollmächtigen, unsre Sitten und<br />

unser Herz anzugreifen, aber es kostet uns Mühe, ihm ein einziges Lachen zu vergeben.<br />

Unsere Vergehungen ertragen einen Aufseher und Richter, unsre Unarten kaum<br />

einen Zeugen. – Die Schaubühne allein kann unsre Schwächen belachen, weil sie<br />

unsrer Empfindlichkeit schont und den schuldigen Thoren nicht wissen will. Ohne rot<br />

zu werden, sehen wir unsre Larve aus ihrem Spiegel fallen und danken insgeheim für<br />

die sanfte Ermahnung. --------------------------------------------------------------<br />

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Aber ihr großer Wirkungskreis ist noch lange nicht geendigt. Die Schaubühne ist<br />

mehr als jede andere öffentliche <strong>Anstalt</strong> des Staats eine Schule der praktischen Weisheit,<br />

ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den<br />

geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. Ich gebe zu, daß Eigenliebe und Ab-<br />

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04.05<br />

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härtung des Gewissens nicht selten ihre beste Wirkung vernichten, daß sich noch<br />

tausend Laster mit frecher Stirne vor ihrem Spiegel behaupten, tausend gute Gefühle<br />

vom kalten Herzen des Zuschauers fruchtlos zurückfallen – ich selbst bin der Meinung,<br />

daß vielleicht Molières Harpagon noch keinen Wucherer besserte, daß Karl<br />

Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen<br />

wird – aber wenn wir auch diese große Wirkung der Schaubühne einschränken,<br />

wenn wir so ungerecht sein wollen, sie gar aufzuheben – wie unendlich viel bleibt<br />

noch von ihrem Einfluß zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch<br />

vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? – Mit diesen Lasterhaften,<br />

diesen Thoren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen;<br />

wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie<br />

uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das<br />

Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler<br />

die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten.<br />

Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labyrinthen hervor und zeigte ihr<br />

schreckliches Angesicht dem Tag. ---------------------------------------------------<br />

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Nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die<br />

Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen. Im Gewebe<br />

unsers Lebens spielen Zufall und Plan eine gleich große Rolle; den letztern lenken<br />

wir, dem ersten müssen wir uns blind unterwerfen. Gewinn genug, wenn unausbleibliche<br />

Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden, wenn unser Muth, unsre<br />

Klugheit sich einst schon in ähnlichen übten und unser Herz zu dem Schlag sich<br />

gehärtet hat. Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden<br />

vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche<br />

Leiden mit wollüstigen Tränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und<br />

Erfahrung. Mir ihr folgen wir der verlassenen Ariadne durch das wiederhallende Naxos,<br />

betreten mit ihr das entsetzliche Blutgerüst und behorchen mit ihr die feierliche<br />

Stunde des Todes. Hier hören wir, was unsre Seele in leisen Ahnungen fühlte, die<br />

überraschte Natur laut und unwidersprechlich bekräftigen. Im Gewölbe des Towers<br />

verläßt den betrogenen Liebling die Gunst seiner Königin. – Jetzt, da er sterben soll,<br />

entfliegt dem geängstigten Moor seine treulose sophistische Weisheit. Die Ewigkeit<br />

entläßt einen Toten, Geheimnisse zu offenbaren, die kein Lebendiger wissen kann,<br />

und der sichere Bösewicht verliert seinen letzten gräßlichen Hinterhalt, weil auch<br />

Gräber noch ausplaudern. ----------------------------------------------------------<br />

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Aber nicht genug, daß uns die Bühne mit Schicksalen der Menschheit bekannt macht,<br />

sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über<br />

ihn richten. Dann nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir<br />

das Urteil über ihn aussprechen... Selbstmord wird allgemein als Frevel verabscheut;<br />

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wenn aber, bestürmt von den Drohungen des wütenden Vaters, bestürmt von Liebe,<br />

von der Vorstellung schrecklicher Klostermauern Mariane Gift trinkt, wer von uns will<br />

der Erste sein, der über dem Schlachtopfer einer verruchten Maxime den Stab bricht?<br />

– Menschlichkeit und Duldung fangen an, der herrschende Geist unsrer Zeit zu werden.<br />

Wie viel Anteil an diesem göttlichen Werk gehört unsern Bühnen? Sind sie es<br />

nicht, die den Menschen mit dem Menschen bekannt machten und das geheime Räderwerk<br />

aufdeckten, nach welchem er handelt? ------------------------------------<br />

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Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen und ewig auf der Folter der<br />

Geschäfte zu liegen, die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung. Der Mensch,<br />

überladen von tierischem Genuß, der langen Anstrengung müde, vom ewigen Triebe<br />

nach Tätigkeit gequält, dürstet nach bessern auserleseneren Vergnügungen, oder<br />

stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die<br />

Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend<br />

Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber<br />

diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß. Der Mann von Geschäften ist in<br />

Gefahr, ein Leben, das er dem Staat so großmütig hinopferte, mit dem unseligen<br />

Spleen abzubüßen – der Gelehrte zum dumpfen Pedanten herabzusinken – der Pöbel<br />

zum Tier.----------------------------------------------------------------------------<br />

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Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung,<br />

Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern<br />

gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. Wenn Gram an<br />

dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsere einsamen Stunden vergiftet, wenn uns<br />

Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre<br />

Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne<br />

– in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns<br />

selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern<br />

unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen.-<br />

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Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eignen aus – der Glückliche<br />

wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum<br />

Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. Und dann<br />

endlich – welch ein Triumph für dich, Natur! – wenn Menschen aus allen Kreisen und<br />

Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen<br />

aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert,<br />

in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und<br />

ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen<br />

aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine<br />

Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. ------<br />

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»Sensibilität, Intelligenz<br />

und Offenheit für<br />

elementare religiöse<br />

Fragen«<br />

Am 2. November wurden Robert Thalheim und Kolja Mensing für ihr Stück »Moschee<br />

DE«, das den realen Streit beim Bau einer Moschee szenisch rekonstruiert,<br />

mit dem Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche <strong>Hannover</strong>s<br />

ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Laudatio.<br />

Von Hans Werner Dannowski, Stadtsuperintendent i. R. und Sprecher der Kulturpreis-Jury<br />

»Keine der Positionen, so wird es am Ende des<br />

Stückes vermutlich allen Zuschauern klar,<br />

bietet eine tragfähige und zukunftsweisende<br />

Lösung der angesprochenen Probleme. Die<br />

wirkliche Begegnung der Kulturen und Religionen<br />

wird sich auf einer tieferen Ebene ereignen<br />

müssen.«<br />

Am Ende der Aufführung sind viele der Zuschauer erkennbar<br />

konsterniert. Denn das Stück »Moschee DE«<br />

über die Auseinandersetzungen beim Bau einer Moschee<br />

in Deutschland verweigert sich mit Konsequenz<br />

den einfachen Lösungen des Pro oder Contra wie auch<br />

den verschiedenen Vermittlungsstrategien, die dazwischen<br />

liegen könnten.<br />

Robert Thalheim und Kolja Mensing haben authentisches<br />

Interviewmaterial, das sie bei der Planung und<br />

dem Bau einer muslimischem Ahmadiyya-Moschee in<br />

Berlin-Heinersdorf in den Jahren 2006 bis 2008 sammelten,<br />

zu einer szenischen Collage zusammengefügt.<br />

Das Stück macht einerseits das hohe Konfliktpotenzial<br />

begreifbar, das sich in der deutschen Integrationsdebatte<br />

schon seit Jahren verbirgt. Die »szenische Rekonstruktion«<br />

wird aber zugleich überzeugend dem Anspruch<br />

des Theaters gerecht, weitergehende Denkanstöße zu<br />

vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten<br />

zu versuchen.<br />

Da ist in der Collage von Thalheim und Mensing der<br />

Vorsitzende einer Bürgerinitiative gegen den Bau der<br />

Moschee, der durchaus zwischen dem Totalanspruch<br />

des Islam auf den Menschen und der Lebenswirklichkeit<br />

des einzelnen Muslim zu unterscheiden weiß. Dessen<br />

»Feldzug gegen den Islamismus« aber erkennbar<br />

gebrochen wird durch die unverhoffte Möglichkeit, in<br />

seine schwierige Biografie noch einmal eine große Rolle<br />

einzufügen. Da ist der Imam der Gemeinde, dessen<br />

Offenheit und Überzeugungskraft die innere Selbstgewissheit<br />

nicht versteckt, dass dem Islam – schon allein<br />

infolge der numerischen Entwicklung – die Zukunft<br />

auch in Deutschland gehören wird. Da ist der Konvertit,<br />

dessen Hinwendung zum Islam sich wie eine analoge<br />

pietistische Bekehrungsgeschichte liest. Und da sind<br />

die Vermittlungsbemühungen der »Zugezogenen« und<br />

des Pfarrers, die beide – aus unterschiedlichen Gründen<br />

– Ausdruck der eigenen Schwäche sind.<br />

Keine der Positionen, so wird es am Ende des Stückes<br />

vermutlich allen Zuschauern klar, bietet eine tragfähige<br />

und zukunftsweisende Lösung der angesprochenen Probleme.<br />

Die wirkliche Begegnung der Kulturen und Religionen<br />

wird sich auf einer tieferen Ebene ereignen müssen.<br />

Positionsklarheit wird sich mit Selbstbegrenzung,<br />

Selbstbewusstsein mit Hör- und Dialogfähigkeit verbinden<br />

müssen. Nur so kann, im Zuspiel von allen Seiten,<br />

das Gegeneinander zu einem Miteinander werden.<br />

Indem die Jury der Evangelisch-lutherischen Landeskirche<br />

<strong>Hannover</strong>s der szenischen Collage »Moschee DE«<br />

den Kulturpreis der Landeskirche 2010 verleiht, würdigt<br />

sie mit hoher Anerkennung die Sensibilität und Intelligenz,<br />

mit der die Autoren das schwierige Thema der<br />

Integration des Islam in Deutschland bearbeitet haben.<br />

Sie dankt damit zugleich dem <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong> für<br />

die Offenheit, mit der dort häufig elementare religiöse<br />

Fragen (Beispiel: »Adams Äpfel« von Anders Thomas<br />

Jensen) in Aufführungen zur Geltung kommen.<br />

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»Moschee DE«: 22.12.*, 30.01.11, jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche<br />

Bühne; 28.01.11 Gastspiel in der Niedersächsischen<br />

Landesvertretung in Berlin<br />

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* 2:1 einmal zahlen und zu zweit ins <strong>Schauspiel</strong> gehen!<br />

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»Eine <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong>? Sagt mir gar nix.« Mirko (34), Aktuar


06.07<br />

Foto: Katrin Ribbe<br />

Szene aus »Moschee DE« mit Aljoscha Stadelmann als Konvertit und Sandro Tajouri als Imam (rechte Seite)


»Theater ist ein Rastplatz<br />

der Reflexion«<br />

<strong>Schauspiel</strong>intendant Lars-Ole Walburg im Gespräch mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt<br />

»Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und<br />

Verteidiger und Richter in unserem Inneren.«<br />

Lars-Ole Walburg Sie haben Schillers Text »Die Schaubühne<br />

als <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong> betrachtet« erst jüngst<br />

wieder zur Hand genommen. Wie empfinden Sie diesen<br />

über 200 Jahre alten Text, wenn Sie ihn heute lesen?<br />

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Oskar Negt Er ist sehr lehrreich und modern, weil er<br />

die kulturell-gesellschaftliche Funktion des Theaters reflektiert:<br />

Was kann auf der Bühne gemacht werden?<br />

Und natürlich ist diese Aussage über die <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong><br />

bezogen auf die Emanzipationsmöglichkeiten des<br />

Menschen. Die Bühne hat aufgrund der Unbegrenztheit<br />

von Fantasie die Funktion, den Vorgriff zu riskieren, einen<br />

Zustand zu kennzeichnen und dramatisch zu entwickeln,<br />

den es in der Realität so nicht gibt. Da drin<br />

steckt eben die utopische Funktion: das Freisetzen von<br />

Fantasie und menschlichen Eigenschaften, bis hin zum<br />

abgründig Bösen und Hässlichen. Es ist ja ein sehr kurzer<br />

Text, den man eigentlich auch im Zusammenhang<br />

mit den »Ästhetischen Briefen« lesen muss, weil sehr<br />

viel Kant darin aufgenommen ist: das Weltbürgertum<br />

und die Weltbegriffe, die eigentlich das betreffen, was<br />

alle angeht. Ja, ich finde den Text nach wie vor lesens-<br />

wert.--------------------------------------------------<br />

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Walburg Schiller hat ihn ja vor der Kurfürstlichen Deutschen<br />

Gesellschaft als Vortrag gehalten. Man hat ein<br />

bisschen das Gefühl, der Autor möchte sich hier seiner<br />

eigenen Bedeutung rückversichern. Und gleichzeitig<br />

blitzt da auch ein Anspruch von Fürstenerziehung auf,<br />

also ein Appell an die Mächtigen im Umgang mit der<br />

Bühnenkunst.-----------------------------------------<br />

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Negt Ja, ich bin absolut sicher, dass dieser Appell an<br />

seinen Fürsten, an den Herzog, gerichtet ist. Ich meine,<br />

Schiller ist nicht besonders gut behandelt worden,<br />

wenn Goethe nicht dauernd gemahnt hätte, die Gelder<br />

etwas zu erhöhen, wäre er vom Hof gar nicht wahrgenommen<br />

worden. Aber der Appell ist 1784 erschienen,<br />

es ist ein vorrevolutionärer Text. Und Schillers vorrevolutionäre<br />

Texte haben alle die Tendenz von Ermahnungen:<br />

Wenn ihr euch nicht ändert, dann wird es eine<br />

Revolution geben. Jedenfalls habe ich den Schiller dieser<br />

Zeit immer so gelesen. Es ist schon der Appell an die<br />

bestehenden Herrschaftsstrukturen, sich zu reformieren,<br />

und die Bühne hat eine große Bedeutung für diesen<br />

menschlichen Emanzipationsprozess.------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Schiller schreibt: »Wenn wir unsere Laster<br />

auch vielleicht nicht bessern können, so werden wir<br />

zumindest darüber aufgeklärt.« Man ist beim Lesen nicht<br />

ganz sicher: Ist er tatsächlich überzeugt, dass das Theater<br />

in der Lage ist, den Menschen moralisch zu erheben,<br />

also wirklich besser zu machen? Aber er schreibt<br />

hier zumindest, dass unsere Fehler und Makel eben<br />

über das Theater emotional erfahrbar werden. Was<br />

denken Sie über das Theater als <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong>?--<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Naja, das Brecht‘sche Theater will ja auf der einen<br />

Seite immer die Verhältnisse richtigstellen, also die Verkehrtheit<br />

der Welt zurechtrücken, auf der anderen Seite<br />

ist es natürlich auch in einem sehr penetranten Sinn<br />

Lehrtheater. Wie aber kann eine <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong><br />

heute aussehen? Sie kann nicht mehr belehrend wirken<br />

im Sinne der Moralisierung der Menschen. Das Theater<br />

muss die Differenziertheit dieser Welt, auch in <strong>moralische</strong>r<br />

Hinsicht, sichtbar machen. Wie es bei Kant heißt:<br />

Die Menschen werden nicht besser, die Moralisierung<br />

ist nicht unter den Begriff des Fortschritts zu bringen.<br />

Aber die objektive Vorkehrung, dass die Menschen weniger<br />

Zwistigkeiten haben, dass sie rechtlicher denken,<br />

also in den äußeren Handlungen besser werden – davon<br />

geht Kant aus, und davon geht auch Schiller aus. Es<br />

ist den Menschen möglich, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

zu verändern, bis hin zu dem, was er<br />

einen ästhetischen Staat nennt, in dem Lebensnot und<br />

Spiel in einem versöhnenden Maßverhältnis zueinander<br />

stehen; aber die Möglichkeit, aus einem charakterlich<br />

niederträchtigen Menschen einen guten zu machen, das<br />

hat, glaube ich, auch Schiller skeptisch betrachtet.----<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Er beschreibt ja auch die Negativbeispiele, aus<br />

denen wir viel eher bereit sind zu lernen als aus den<br />

positiven, der Unterhaltungswert eines Verbrechens ist<br />

natürlich höher, als der einer guten Tat. Das bringt mich<br />

auf Ihr neues Buch, in dem Sie eine emotionale Bereitschaft<br />

beschreiben, überhaupt wieder politisch denken<br />

zu wollen. Das Emotionale in diesem Bereich muss<br />

überhaupt erst wieder ausgeprägt werden. Damit hat<br />

die Bildung des Herzens und des Geistes bei Schiller ja<br />

auch zu tun.-------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Ja, das ist ganz richtig. Und deshalb ist es mir<br />

auch nie in den Sinn gekommen, in einem Buch mit<br />

dem Titel: »Der politische Mensch« einfach Prädikate<br />

des Menschen aufzuzählen, dem das Etikett »politisch«<br />

angeheftet wird. Das ist ja nicht so einfach. Wie entsteht<br />

er, wie entwickelt er sich, welche Elemente von<br />

Urteilskraft müssen mitbeteiligt sein, damit die Menschen<br />

aufmerken, was mit ihnen geschieht, in welcher<br />

Welt sie leben? Ich versuche eben, diesen Strang der<br />

Aufklärung weiterzuverfolgen. Es geht darum, die emotionalen<br />

Seiten, das Pathos, das Ethos und die Bestandteile<br />

der alten Rhetorik wiederzugewinnen, und das<br />

wäre natürlich auch etwas für das Theater. Nirgendwo<br />

sonst dürfen sich Emotionen so unverstellt ausdrücken.<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Sie beschreiben so etwas wie eine kulturelle<br />

Öffentlichkeit, die innerhalb der Gesellschaft notwendig<br />

ist, um einen Dialog überhaupt in Gang zu setzen. Mir<br />

fällt dabei auf, dass Sie zwar sehr viel über Bildung<br />

schreiben, Theater aber gar nicht vorkommt. Welche<br />

Rolle spielt denn Theater in diesem Kontext für Sie?---<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Naja, das Theater gehört eigentlich auch in dieses<br />

Kapitel Fünf: »Öffentliche Erfahrungsräume, kollektive<br />

Erlebniszeiten – unverkäufliche Güter der Demokratie«.<br />

Das Buch wurde ja gekürzt von über 1.100 Seiten im<br />

Ursprungsmanuskript auf 600 Seiten, da ist das Theaterkapitel<br />

weggefallen. Unter dem Titel »Was wir vom<br />

Theater lernen können« habe ich für das <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

vor einigen Jahren einen Text verfasst, den ich<br />

Ihnen in erweiterter Fassung zuschicken werde. Die ästhetische<br />

Fantasie hat in meiner Sicht der Dinge eine<br />

prägende Bedeutung für das Lebensgefühl der Menschen<br />

und für Ihre emotionalen Bindungen. Vaclav Havel,<br />

der spätere tschechische Präsident, hat 1962 auf<br />

dem Schriftstellerkongress gesagt: »Wenn ich die Fassaden<br />

Prags sehe, dann bin ich sicher, dass diese Lebensform<br />

des Sozialismus nicht haltbar ist.« Also, wer die<br />

Umwelt ästhetisch ruiniert, die Dingwahrnehmung so<br />

verkommen lässt, dass die Menschen sich darin nicht<br />

wiedererkennen, dessen Ordnung muss zusammenbrechen.<br />

Und natürlich gehört die Freiheit des Theaters in<br />

der Fantasieproduktion, in der Grenzüberschreitung<br />

auch zu diesen Zusammenhängen, in denen die Menschen<br />

die Möglichkeit haben müssen, sich in dem, was<br />

dargestellt ist oder wahrgenommen wird, wiederzuerkennen.<br />

Ein Element des Nichtentfremdeten gerade im<br />

Bestätigen der Wahrnehmung des Fremden, des Ent-<br />

fremdeten.--------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Eine Institution, die sich um Werte wie Moral kümmert? Ich finde, die braucht es nicht, weil jeder selbst eine solche<br />

Institution ist.« Klaus (59), Betriebswirt


08.09<br />

Foto: Katrin Ribbe<br />

Walburg Sie gehen ja häufig ins Theater und in die<br />

Oper. Stoßen Sie oft auf diese Momente?---------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Oper ist eine alte Liebe von Alexander Kluge und<br />

mir, wir haben ja viel mit der Oper zu tun gehabt. Wissenschaft<br />

ist eine trockene Welt, empirische Wissenschaft<br />

sowieso. So ist meine Proklamation der Entwicklung<br />

soziologischer Fantasie zu verstehen – das bedeutet,<br />

wir müssen uns erlauben, die Dinge so zu wenden<br />

und zu drehen, dass die verdeckten und unterschlagenen<br />

Potenziale besser sichtbar werden. Adornos Satz:<br />

Wer nicht weiß, was über die Dinge hinausgeht, weiß<br />

auch nicht, was sie sind – dieser Satz hat meine erkenntnistheoretische<br />

Sichtweise von der Welt maßgeblich<br />

geprägt. So geht es mir auch mit dem Begriff der<br />

Utopie, als der Negation eines als unerträglich betrachteten<br />

Zustands mit dem Willen, mit der Entschlossenheit,<br />

diesen Zustand zu ändern. Theater ist im Grunde<br />

für mich ein Rastplatz der Reflektion, der konstitutiv<br />

notwendig ist für eine freie Gesellschaftsordnung. Für<br />

freie Subjekte ist Theater einfach eine Lebensnotwen-<br />

digkeit.------------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Da fällt mir ein Satz von Ihnen ein, den ich<br />

ganz toll finde: »Nur wenn wir uns der Vergangenheit<br />

versichern, sind wir in der Lage, den Blick nach vorne<br />

zu richten, eine Utopie des Alltagsgebrauchs zu entwickeln.«<br />

------------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Ja, und damit meine ich das Theater. Sie haben<br />

mit »Parzival« und »Simplicissimus«, deren Aufführungen<br />

ich mit höchster Zustimmung wahrgenommen habe,<br />

gewissermaßen die deutsche Geschichte auf einer Ebene<br />

eingeholt, die offiziell eigentlich gar nicht existiert.<br />

Für mich sind Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit<br />

wesentliche Freisetzungspotenziale von Zukunftsentwürfen.<br />

Ich glaube, dass der Energieverzehr<br />

der Menschen so groß ist, weil er mit Verdrängungen<br />

verknüpft ist, so dass ihre Entwurfsfantasie verloren<br />

geht. Ich will es an meinen Gewerkschaftsdiskussionen<br />

erläutern: »Soziologische Fantasie und exemplarisches<br />

Lernen« war mein erstes Buch, in dem ich versuchte,<br />

diese Fantasiepotenziale im Zusammenhang der Arbeiterbildung<br />

zu entwickeln. Die Lust, ein anderes Leben<br />

zu fantasieren, aber auch eine andere Gesellschaft zu<br />

entwerfen, ist verknüpft mit der Freisetzung von Triebenergie.<br />

Der schlimmste Verzehr von Energien besteht<br />

-----------------------------------------------<br />

Oskar Negt<br />

»die neue Spielzeit in <strong>Hannover</strong>?«<br />

Julian (24), Student


darin, es in diesem Zustand auszuhalten. Bei diesen Gewerkschaftsdiskussionen<br />

stoße ich immer wieder darauf.<br />

Jedesmal meldet sich einer und sagt, du kannst dir<br />

ja gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, nichts mehr<br />

über die Mandatserweiterungen der Gewerkschaften<br />

hören zu müssen, wenn ich abends nach Hause komme.<br />

Wir kommen gerade so über den Tag mit unseren Energien.<br />

Dann sage ich, das ist ja mein Argument, ihr<br />

kommt über den Tag und verbraucht alle Fantasie, um<br />

etwas auszuhalten. Aber dass Fantasien für die Veränderung<br />

der Verhältnisse verfügbar sein könnten, wenn<br />

sie nicht von dieser Verdrängungsarbeit abgezogen<br />

würden, das seht ihr nicht. Das betrifft nicht nur die<br />

Gewerkschaften, sondern auch die Jammerei der Lehrer<br />

in Schulen. Sie haben das Gefühl, man müsste was machen,<br />

sie tun es aber nicht. Dadurch igeln sie sich in<br />

einem Zustand ein, in dem die Klage über die schlechten<br />

Verhältnisse ihre ganze Fantasie besetzt und verbraucht.<br />

Mehr haben sie nicht. Und gegen das Niederlassen<br />

und Einrichten in unerträgliche (jedenfalls subjektiv<br />

so empfundene) Verhältnisse rebelliere ich.-----<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Um nochmal auf die <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong> zurückzukommen:<br />

Warum hat Moral heutzutage eine fast<br />

negative Konnotation, Ethik aber nicht? Es gibt immer<br />

Ethikkommissionen, wenn irgendetwas anbrennt innerhalb<br />

der Gesellschaft, aber Moral hat schon fast einen<br />

negativen Beigeschmack.-------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Es gibt moralphilosophische Vorlesungen von<br />

Adorno, in denen er freier mit dem Gedanken umgegangen<br />

ist. Das gilt auch für Kant zum Beispiel, und das gilt<br />

auch für mich, dass man in den sprechenden Veranstaltungen<br />

frei ist. Ethos ist ja aus griechischem Ursprung<br />

verknüpft mit etablierten Haltungen und Einstellungen<br />

der Menschen, Ethik ist doch eher konventionell, und<br />

Adorno plädiert eben für den Begriff der Moral, weil er<br />

die Unbedingtheit des Willens enthält. Es sind andere<br />

Ansprüche an den Menschen, Selbstverpflichtungen,<br />

die wenig Kompromisse zulassen.---------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Welche Ansprüche meinen Sie?--------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit<br />

allgemeines Gesetz werden kann. Das ist das<br />

Grundprinzip der Moralphilosophie. Eine konkretere<br />

Form des Kategorischen Imperativs lautet: Handle so,<br />

dass du den anderen Menschen nie bloß als Mittel, sondern<br />

immer zugleich als Selbstzweck nimmst. Wenn<br />

man den <strong>moralische</strong>n Rigorismus Kants in den Alltag<br />

übersetzt, sind es ganz andere Anforderungen, als zu<br />

sagen: Ethos besteht in einer ausgeglichenen integrierten<br />

Situation meines Lebens in der Gemeinschaft.<br />

Das heißt, die Kompromissfähigkeit der Ethik ist viel<br />

größer als die Kompromissfähigkeit der Moral.---------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Das beantwortet meine Frage aber noch nicht.<br />

Warum ist denn Moral – wenn Sie es so beschreiben,<br />

klingt es ja eher positiv – so in Verruf gekommen?-----<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Die Moralisierung des Politischen, also die Aufteilung<br />

der Welt in Gut und Böse (die berüchtigte »Achse<br />

des Bösen«) könnte dazu beigetragen haben, die Moral<br />

zu diskreditieren. Dann überwuchern Gesinnungsfragen<br />

natürlich alles andere. Ein Politiker, sagt Max Weber,<br />

muss kein guter Mensch sein. Er muss Verantwortung<br />

übernehmen für sein Handeln und sein Nichthandeln.<br />

Innerhalb der Gesinnungsethik gilt etwas anderes. Da<br />

muss die Qualität der Handlungsmotive in Ordnung sein.<br />

Das muss durchaus nicht für einen Politiker so sein.<br />

Wenn ich eine Antwort auf Ihre Frage geben sollte,<br />

dann enthält die Moral Anforderungen an den Menschen,<br />

die eben mehr bedeuten, als bloße Verantwortung<br />

für Handlungen zu übernehmen – nämlich die Motive.<br />

Schiller, der sich hartnäckig an Kant abgearbeitet<br />

hat, hat sich im übrigen ja über diesen <strong>moralische</strong>n Rigorismus<br />

lustig gemacht. Es gibt den Vers, ich glaube in<br />

den Xenien: »Gern hülf ich den Freunden, doch tu ich es<br />

leider aus Neigung und so wurmt es mir oft, dass ich<br />

nicht tugendhaft sei.« Das ist ein schöner Satz. Sobald<br />

Neigung im Spiel ist, ist für Kant die <strong>moralische</strong> Qualität<br />

des guten Willens in Frage gestellt. Aber das ist wahrscheinlich<br />

immer noch nicht die richtige Antwort auf<br />

Ihre Frage.--------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Naja, es klingt durch, dass die Ethik einen<br />

doch stärker in Ruhe lässt, als es eine Forderung, die<br />

aus einer <strong>moralische</strong>n Verhaltensweise kommt, vermag.<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt So kann man es sagen. Warum herrschen zum<br />

Beispiel in Afrika südlich der Sahara die schlimmsten<br />

Zustände der Weltgeschichte? Der ganze Kontinent<br />

südlich der Sahara ist abgekoppelt vom Weltmarkt, und<br />

trotzdem wird viel Geld reingesteckt. Die Friedensmissionen<br />

dort fassen sieben bis acht Milliarden im Jahr.<br />

Wenn es nur um das Geld ginge, das da reingesteckt<br />

wird in Spenden und europäisch-amerikanischen Hilfsleistungen<br />

der Staaten, dann müsste das ein blühender<br />

Kontinent sein. Ist es aber nicht, weil Investitionen im<br />

Grunde nur um die Rohstoffquellen stattfinden, und<br />

zwar in allen diesen Ländern, die sehr rohstoffreich<br />

sind. Das heißt, die Motive sind so, da zu investieren,<br />

dass das den Menschen überhaupt nicht zugute kommt.<br />

Der gute Wille reicht nicht aus; die Hilfsleistungen sind<br />

nicht vom Prinzip der Verantwortung angeleitet.-------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Auf jeden Fall nicht nachhaltig. Ich möchte<br />

noch einmal kurz auf das Moralische kommen. Sie zitieren<br />

in Ihrem Buch auch eine Maxime von Goethe: »Der<br />

Handelnde ist immer gewissenlos.« Man hört raus, dass<br />

Sie dem misstrauen, dass Sie nicht der gleichen Meinung<br />

sind wie Goethe. Warum nicht?------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Weil diese Aussage »Der Handelnde ist immer gewissenlos«<br />

ein Problem zuspitzt, aber die Komplexität<br />

der Handelnden nicht in den Handlungszusammenhang<br />

einbezieht. Die Gewissenlosigkeit kann man in Zusammenhängen,<br />

die mit Handlungen verknüpft sind, nicht<br />

als ein zureichendes Motiv für Handlungen annehmen.<br />

Sondern man muss es wirklich so sehen, wie es Kant<br />

gesehen hat: »Betrachten wir das Gewissen einmal als<br />

inneren Gerichtshof.« Das ist nicht einfach eine Naturqualität<br />

des einzelnen Menschen, sondern Entscheidungen<br />

sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger<br />

und Verteidiger und Richter in unserem Inneren.--<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Das ist ein schönes Bild. Diese Ingredenzien in<br />

uns sind ja vielleicht dann die Voraussetzung für das<br />

<strong>moralische</strong> Verhalten des Einzelnen?------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt So sehe ich das. Nehmen Sie das Gewissen: Im<br />

Altgriechischen heißt Gewissen Syneidesis. Das bedeutet,<br />

da ist immer jemand, der zusieht, zusammen sehen.<br />

Jedenfalls ein Blick von oben. Und im Lateinischen heißt<br />

es conscientia, wir haben immer Mitwisser. Was immer<br />

wir entscheiden, es wird mit dem Gewissen verknüpft<br />

werden. Aber diese Vorstellung von Gewissen, dass eigentlich<br />

immer einer oder mehrere dabei sind bei diesen<br />

Entscheidungen, bedeutet, dass Gewissensentscheidungen<br />

nie völlig isolierte subjektive Entscheidungen<br />

sind; das Innere des Menschen ist dabei im Spiel, ge-<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Moral ist klar, aber <strong>Anstalt</strong>? Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass es sich vielleicht um ein Theaterstück<br />

handelt.« Peter (51), Angestellter im öffentlichen Dienst


10.11<br />

wiss. Aber in letzter Instanz wissen wir nicht, wann und<br />

wie der Richter im Innern sagt, das mache ich oder das<br />

mache ich nicht. Freud würde sagen, da funktioniert<br />

das Über-Ich. Aber das Über-Ich ist ja für Freud, so würde<br />

Kant sagen, praktisch eine empirische Instanz. Also,<br />

dein Vater hat schon so entschieden und übrigens, der<br />

erwartet das von dir, demzufolge entscheide ich das.<br />

Sehr vereinfacht ausgedrückt. Das wäre für Kant eine<br />

empirische Zufälligkeit, während für ihn die Moralität<br />

gleichsam eine erfahrungsunabhängige, das heißt:<br />

transzendentale Gegebenheit ist.----------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Glauben Sie daran, dass diese Gewissensbildung,<br />

aber auch vielleicht die Bildung von Moral tatsächlich<br />

vom Theater ausgehen kann? Es heißt ja zum<br />

Beispiel, im Theater wird keine Revolution gemacht.<br />

Welche Bedeutung können dann Theaterabende überhaupt<br />

für diese Vorgänge haben?----------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Das stimmt ja auch gar nicht. Vom Theater gehen<br />

häufig Impulse aus, gerade vom guten Theater, die kollektive<br />

Einstellungen verändern. Ich glaube, das Theater<br />

ist ein entscheidender Rastplatz der Reflexion und<br />

der Ausdrucksmöglichkeiten der Gefühle der Menschen;<br />

vielleicht nicht unbedingt eine Einrichtung der Besserung,<br />

der Zivilisierung, aber die Menschen werden mit<br />

den eigenen Gefühlen konfrontiert, sie werden sichtbar<br />

gemacht in einer kollektiveren Form, als das anderswo<br />

passieren könnte. Natürlich werden starke Gefühle angeregt,<br />

wenn eine Bergwerkskatastrophe wie die in<br />

Chile stattfindet, auch Gefühle der Hilfe, der Fürsorge,<br />

der Schuldzuweisungen. Aber die Komplexität der Gefühle,<br />

also Angst, Zorn, Neid, wurde wirklich in den<br />

griechischen Tragödien so gesehen, dass demokratische<br />

Gesellschaftsstrukturen nur existieren können, wenn<br />

die Gefühle ihren öffentlichen Ausdruck haben. Wenn<br />

sie privat verkapselt bleiben, sind sie gefährlich, jedenfalls<br />

für eine Gesellschaft freier Bürger. Dann ist derjenige,<br />

der kollektive Gefühle privatisiert, für das Gemeinwesen<br />

ein potenzieller Rebell. Und deshalb ist es notwendig,<br />

die Waffen für einen Tag oder zwei ruhen zu<br />

lassen, damit die Reflexionsruhe des dramatischen Geschehens<br />

nicht gestört wird, damit wirklich Ödipus oder<br />

Antigone ihre Gefühle komplett ausdrücken können, bis<br />

zum Selbstopfer. Ein bisschen hatte ich im übrigen bei<br />

dem Stück von Koltès...--------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg ...»Kampf des Negers und der Hunde«...-------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt ...ja, dieses Antigone-Motiv im Kopf. Ich meine, es<br />

geht einfach darum, dass der Ermordete nach den Ritualen<br />

der Schwarzen angemessen beerdigt wird. Und<br />

die Verweigerung der Leiche bedeutet eine Verneinung<br />

oder Achtungslosigkeit gegenüber ihren Gepflogenheiten<br />

und Sitten.-------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Es ist genauso wie bei »Antigone« das althergebrachte<br />

Recht, und so beschreibt Koltès auch, wie die<br />

Mutter die Nacht durchschreit, solange ihr Sohn nicht<br />

unter der Erde ist. Hier bestimmt noch das Matriarchat,<br />

und dagegen tritt dann das Patriarchalische als neue<br />

Kraft auf, das ist dann Kreon als der Staat oder das Geld<br />

in Form einer französischen Baustelle bei Koltès.------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Ah ja, sehen Sie das auch so. -------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Ja, es ist das gleiche Recht, das gefordert<br />

wird.--------------------------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Das Recht des Grabes und der Beerdigung, das<br />

Naturrecht also gegenüber dem, was die Herrschaftskriege<br />

anrichten auf allen Ebenen, auf der Baustellenebene<br />

genauso wie anderswo.------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Ich habe Ihnen im Zusammenhang mit der<br />

moralisch-gesellschaftlichen Verantwortung des Theaters<br />

davon erzählt, dass einzelne CDU-Landtagsabgeordnete<br />

gerade unser Projekt »Republik Freies Wendland<br />

– Reaktiviert« attackieren. Ich kriege natürlich<br />

auch Briefe von Abonnenten, die fragen, warum wir so<br />

viel politisches Zeug machen und nicht einfach nur<br />

Theater spielen. Was würden Sie darauf antworten?---<br />

-------------------------------------------------------<br />

Negt Dass Politik nicht mehr so einfach als isolierte Materie<br />

betrachtet werden kann. Es ist nachweisbar, dass<br />

wir alltäglich in politische Zusammenhänge einbezogen<br />

sind, ob wir wollen oder nicht. Die Ghettoisierung des<br />

Politischen, die Vorstellung von Politik als Sonderforschungsbereich,<br />

mit dem sich nur Politiker beschäftigen<br />

– das geht nicht mehr. Das sieht man an allen<br />

Ecken und Enden unserer Gesellschaft, das sieht man<br />

an Stuttgart 21 und an Gorleben oder der Asse. Wer<br />

dann sagt, das ist was Unpolitisches, das ist ein Sachbereich,<br />

der Sachbereich Gorleben, der überhebt sich in<br />

seinem Politikverständnis und versucht die Bevölkerung<br />

aus entscheidenden Fragen herauszuhalten. Das sind<br />

Fragen mit politischen Folgen, mit Gemeinwesen-Folgen,<br />

die unsere gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen<br />

zentral berühren. Und wer da als Privatmann sagt, das<br />

gehört nicht zu meinen Überlegungen, das gehört nicht<br />

zu meinem Gemeinwesen, der wird am Ende selbst Opfer<br />

eben dieses Gemeinwesens, wenn es verrottet und<br />

kaputt gerissen ist. Ich habe in anderen Zusammenhängen<br />

in Bezug auf Bildung gesagt: »Alle Bildung ist politische<br />

Bildung«, aber nicht im Sinne parteipolitischer<br />

Verengung. Wenn man den Begriff des Politischen so<br />

eng fasst, dass man sagt, da gibt es Politik, da gibt es<br />

eine Ingenieurswissenschaft, und dann gibt es einen<br />

Sachbereich Radioaktivität, dann bezeichnet es ja im<br />

Grunde, dass man überhaupt gar keine Vorstellung von<br />

der gegenwärtigen Welt hat. Und das zu bekämpfen, ist,<br />

glaube ich, sehr legitim. Und auch Wesensbestandteil<br />

des modernen Theaters.-------------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Walburg Haben Sie vielen Dank. ---------------------<br />

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»Parzival«: 15. (Wiederaufnahme) und 22.01.11, jeweils 19:30<br />

Uhr, <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

-------------------------------------------------------<br />

»Kampf des Negers und der Hunde«: 23.12. und 09.01.11,<br />

jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne<br />

-------------------------------------------------------<br />

Oskar Negt: Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform,<br />

Steidl Verlag, Göttingen 2010, 29 €.<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Ich möchte meinen, dass es eine Art <strong>Anstalt</strong> ist, wie man sich eine Psychiatrie vorstellt – nur für Leute, die von der<br />

staatlich vorgeschriebenen Moral abweichen.« Henrik (22), Gamedesigner


Dreams reloaded<br />

Ein rückblick auf das Projekt »Republik freies wendland –<br />

reaktiviert«<br />

»Rats-CDU: Hüttendorf muss weg!« <strong>Hannover</strong>sche Allgemeine<br />

Von aljoscha begrich, fotos: katrin ribbe, Aljoscha Begrich<br />

schulklassen besuchten die veranstaltungen<br />

der republik ebenso<br />

wie politisch aktive jugendliche,<br />

bürgerliche intellektuelle,<br />

kinder, nachbarn und politiker.<br />

»Noch geht es ziemlich unauffällig zu im mit öffentlichen Mitteln geförderten<br />

Ausbildungslager für zivilen Ungehorsam.« nachtkritik.de<br />

»Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines<br />

Theaters.« Presseerklärung von Dirk Toepffer, CDU Niedersachsen<br />

Das Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« wurde vom 17. bis 26.<br />

September auf dem Ballhofplatz durchgeführt. 50 junge und 25 nicht mehr ganz so<br />

junge Menschen lebten hier mitten im Herzen <strong>Hannover</strong>s neun Tage lang eine utopische<br />

Republik. Anfangs versammelten sich nur wenige auf dem leeren Platz und<br />

begannen damit, ein paar Holzlatten zusammenzubauen, doch mit jeder Minute nahm<br />

die »Republik« mehr Gestalt an, und täglich stießen neue Leute zu. Tagsüber kamen<br />

Nachbarn und Schulklassen vorbei, um sich den neuen Freistaat anzugucken, und an<br />

den Abenden nahmen über 2.000 Besucher an den Veranstaltungen teil – vom Ton<br />

Steine Scherben-Eröffnungskonzert bis zur Abschlußdiskussion mit Oskar Negt.<br />

-------------------------------------------------------------------------------------<br />

Die Dorfbewohner bauten hier zusammen Puppen für das Straßentheater von Bread &<br />

Puppet, kletterten auf Bäume oder begrünten angrenzende Baumscheiben, hörten<br />

Vorträge, führten Theaterstücke und Konzerte auf, diskutierten, aßen und schliefen –<br />

kurzum lebten dort. Doch gleichzeitig agierten sie die ganze Zeit auf einer Bühne: Sie<br />

wurden von Besuchern und Journalisten bei ihrem Tun beobachtet. Innerhalb dieser<br />

grundlegenden theatralen Situation konnte das Theater seine Kraft entfalten, denn<br />

nur in dieser künstlich errichteten »Republik« war es möglich, dass ganz gewöhnliche<br />

Elftklässler, streng dogmatische Jungaktivisten, liberale Althippies und Theaterfreaks<br />

eine Woche lang solidarisch zusammenleben konnten. Und nur dieses Theaterdorf<br />

ermöglichte es, die Fragen zur Atomkraft und nach unseren gesellschaftlichen Lebensentwürfen<br />

über Partei- und Gruppengrenzen hinweg in die Mitte der Gesellschaft<br />

zu tragen und ein heterogenes Publikum zu erreichen. Schulklassen besuchten<br />

die Veranstaltungen in der Republik ebenso wie politisch aktive Jugendliche, bürgerliche<br />

Intellektuelle, Kinder, Nachbarn und Politiker.<br />

-------------------------------------------------------------------------------------<br />

Die reaktivierte »Republik Freies Wendland«<br />

war eine gelebte Utopie, bei der jeder sehen<br />

konnte, welche Möglichkeiten die Demokratie<br />

bietet und was gesellschaftspolitisches<br />

Engagement bedeuten kann. Es gab<br />

Kritik und Aufregung um die Aktion, aber<br />

auch <strong>Hannover</strong>aner, die Essen, alte Bilder<br />

und Plakate vorbeibrachten, Anwohner<br />

und Polizeibeamte, die ihre Solidarität<br />

bekundeten.<br />

-----------------------------------------<br />

Das Dorf wuchs über sich hinaus. Auch<br />

wer nur kurz in der »Republik Freies<br />

Wendland« war, wird sie wohl nie wieder<br />

vergessen, denn auch wenn auf<br />

dem Ballhofplatz längst wieder der<br />

Weihnachtsmarkt die Szene bestimmt,<br />

lebt der Freistaat in den Köpfen und<br />

Herzen vieler für immer fort: »Turm<br />

und Dorf könnt ihr zerstören, nicht<br />

aber die Kraft, die es schuf!« --------<br />

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»Theater! Jedenfalls hat es den Anspruch und möchte ab und zu Moralische <strong>Anstalt</strong> sein.« Hans-Peter (67), Rentner


12.13<br />

»Wenn das Theater ein Hüttendorf bauen will, dann muss es sich die Freiheit<br />

dafür nicht nehmen. Die hat es schon.«<br />

Ronald Meyer-Arlt, <strong>Hannover</strong>sche Allgemeine<br />

»Ja, ja. Die Jugend.« taz<br />

»Da werden Jugendliche verführt, sich in die falsche Richtung zu engagieren.«<br />

Nils Tilsen, FDP <strong>Hannover</strong><br />

»So ist das mit der <strong>moralische</strong>n <strong>Anstalt</strong>: Man spürt, wann sie wehtut.«<br />

Evelyn Beyer, Neue Presse<br />

»Anti-Atom-Dorf spaltet die Stadt« Bild-Zeitung<br />

»Die Kunst kam in <strong>Hannover</strong> bei so viel Erinnerung nicht zu kurz.«<br />

Deutschlandradio Kultur<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Klingt ja furchtbar. Früher waren das Erziehungsheime für Töchter.« Angelika (57), Lehrerin


Foto: Katrin Ribbe<br />

»Republik Freies Wendland – Reaktiviert«, Ballhofplatz <strong>Hannover</strong> (September 2010)


14.15


»Der Roboter wird zum Gefährten«<br />

Die technikphilosophin jutta weber über tendenzen der sozialen robotik und die normierung unseres miteinanders<br />

interview: judith gerstenberg<br />

»muss es bei der lösung gesellschaftlicher probleme immer ein a priori<br />

der technischen lösung geben?«<br />

Freude Ekel Angst<br />

wut<br />

Der Großmeister des britischen Humors, Alan Ayckbourn,<br />

entwarf 1987 in seiner Science-Fiction-Komödie<br />

»Ab jetzt« eine imaginäre Zukunft, in der sich ein Dienstleistungsroboter<br />

als Spiegel unserer Verfasstheit erweist.<br />

Seit 20. November läuft das Stück auf der Cumberlandschen<br />

Bühne. Ein Gespräch mit der Philosophin<br />

und Technikforscherin Jutta Weber über Geschichte,<br />

Wunsch und Wirklichkeit gegenwärtiger Roboterträume.<br />

-------------------------------------------------------<br />

Frau Weber, Sie sind Technikphilosophin und -forscherin<br />

mit besonderem Schwerpunkt »Robotertechnik«.<br />

Womit genau beschäftigen Sie sich?___<br />

Jutta Weber Ich führe Gespräche mit Robotikern,<br />

gehe ins Labor, um zu prüfen, wie der Stand der Forschung<br />

tatsächlich ist. Der ist meist weit unter dem, was<br />

in die Öffentlichkeit getragen wird, sei es durch Clips<br />

auf Webseiten oder Fernsehberichte. Das, was dort in<br />

einem Zwei-Minuten-Ausschnitt präsentiert wird, erfordert<br />

monatelange Arbeit. Noch gibt es massive, einfachste<br />

Fehlerquellen, die die Nutzungsmöglichkeiten<br />

von Robotern im Alltag sehr in Frage stellen. Auf Kongressen<br />

der traditionellen Technikphilosopie wird zu<br />

häufig die Frage erörtert: Was passiert, wenn die Maschine<br />

intelligent wird? Ich kann nur sagen: Wir müssen<br />

uns darum keine Sorgen machen. Auch seriöse Robotiker<br />

geben dies zu, wenn sie nicht gerade vor einer<br />

Fernsehkamera stehen. Außerdem betrachte ich die Geschichte<br />

der Technik, schaue, wo es Wendepunkte gab,<br />

an welcher Stelle die Forschung nicht weiterkam, wann<br />

und wohin sie ihr Interesse verlagerte. Früher, beispielsweise,<br />

haben sich Techniker nur für Maschinen<br />

mit rational-kognitiven Fähigkeiten interessiert. Seit einiger<br />

Zeit findet aber eine verstärkte Entwicklung hin<br />

zu so genannten sozialen, vermenschlichten und teilweise<br />

vergeschlechtlichten Artefakten statt. Die so genannte<br />

»Soziale Robotik« konzipiert die Maschine als<br />

Gefährten des Menschen in verschiedenen Rollen: als<br />

Altenpfleger, Therapeut, Kinderbetreuer, Haushaltshilfe,<br />

Kuschelersatz bis hin zum Liebesobjekt.---------------<br />

ekel<br />

Ein solcher Dienstleistungsroboter, genannt GOU<br />

300F, spielt auch in der Science-Fiction-Komödie<br />

»Ab jetzt« von Alan Ayckbourn eine Rolle. Die Situationskomik<br />

entsteht durch eine fehlerhafte Software<br />

und den Versuch der Hauptfigur, die als Kindermädchen<br />

programmierte Maschine in seine Lebenspartnerin<br />

zu verwandeln. Das Stück entstand<br />

1987. Viele der dort entworfenen Zukunftsvisionen<br />

wie Vollverkabelung, Überwachungstechnik, Bildtelefon<br />

etc. haben wir längst eingeholt. Die Idee<br />

von GOU 300F aber nicht. Dennoch wirkt sie auf<br />

mich wie ein längst überholter Traum der Science-<br />

Fiction-Literatur. Welches Menschenbild steht hinter<br />

der Idee der Sozialen Robotik? Das einer sich<br />

selbst steuernden Mechanik ist doch eines des 18.<br />

Jahrhunderts.___Weber Das mechanistische Bild ist<br />

in den Techno-Wissenschaften durchaus noch dominierend.<br />

Der Großteil der Robotik wird von Informatikern<br />

und Ingenieuren bestückt (ich wähle hier bewusst die<br />

männliche Form). Ihr Denken ist auf eine bestimmte<br />

Weise trainiert, und sie haben nun mal die Aufgabenstellung,<br />

bestimmte Konzepte auf Maschinen zu<br />

übertragen. Dafür müssen sie diese Konzepte in Algorithmen<br />

umsetzen. Ganz schnell wird klar, was umsetzbar<br />

ist und was nicht. Die ganze Geschichte der Künstlichen<br />

Intelligenz und Robotik lässt sich letztlich als einen<br />

permanent weiterentwickelten Versuch beschreiben,<br />

herauszufinden, was sich in Algorithmen umsetzen lässt.<br />

Von der Mitte des 20. Jahrhundert bis in die 1980er<br />

Jahre hinein hatte man ein emphatisches Konzept von<br />

Intelligenz als Repräsentation von Welt. Welt wurde als<br />

logisch geordnet begriffen. Aus diesem Ansatz hat sich<br />

der Schachcomputer entwickelt, der einen ganz rationalen,<br />

kognitiven Zugang zur Welt widerspiegelt. Man<br />

hat in einigen Bereichen damit sehr gute Erfahrungen<br />

gemacht, nämlich dort, wo genau diese Fähigkeiten gefragt<br />

sind: beim Rechnen – der Computer rechnet<br />

schneller als der Mensch –, aber andere, simpelste Tätigkeiten<br />

wie Treppensteigen, Trompete spielen, mit<br />

angst<br />

den Hüften wackeln konnten diese Maschinen noch<br />

nicht. In den 80er Jahren gab es da tatsächlich eine<br />

Wende: »Interaktion« wurde die Leitmetapher – insofern<br />

passt die Entstehungszeit des Stückes genau.-----<br />

-------------------------------------------------------<br />

Die Soziale Robotik bemüht sich um eine Vermenschlichung<br />

der Maschine, um emotionale Reaktionen,<br />

Spontaneität, Unvorhersehbarkeit. Das heißt<br />

doch, sie versucht eigentlich genau, die möglichen<br />

Fehlerquellen des Menschen auf den Roboter zu<br />

übertragen. Ist das lediglich eine sportive Herausforderung,<br />

weil das bislang noch nicht gelang, oder<br />

gibt es noch andere Gründe?___Weber Ingenieure<br />

sind sehr findig im Hinblick auf die so genannten hot<br />

spots der Gesellschaft – es geht schließlich auch um<br />

Forschungsgelder. Ich möchte gar nicht bezweifeln,<br />

dass sich auch Imaginationen und Wünsche ändern,<br />

aber wichtig scheint mir: Mit dem alten Ansatz konnte<br />

man bestimmte Tätigkeiten rationalisieren – Stichwort<br />

»Automobilfabrik«, wo man aber bald an Grenzen gestoßen<br />

ist, weil es doch noch weite Bereiche gab, die sich<br />

nicht automatisieren ließen. Das hat man lange auf sich<br />

beruhen lassen, aber neulich präsentierte VW ein Konzept<br />

von Co-botics, die den nun zunehmend älter werdenden<br />

Arbeitnehmern bei der Ausführung ihrer Arbeit<br />

helfen sollen. Ob das die wahre Motivation ist? Wahrscheinlicher<br />

scheint mir, dass wir uns der nächsten<br />

großen Welle der Rationalisierung gegenübersehen.<br />

Nur, darüber spricht man nicht gerne – und schon gar<br />

nicht auf Arbeitgeberseite. Das in meinen Augen etwas<br />

zu hoch gekochte Thema der Überalterung ist ein solcher<br />

hot spot. Daher die Forschung an den Pflegerobotern,<br />

die den Altenpflegern angeblich die monotonen<br />

Tätigkeiten abnehmen sollen, damit diese sich wieder<br />

mehr dem Zwischenmenschlichen widmen können. Ich<br />

denke, viele Ingenieure nutzen diese gesellschaftlichen<br />

Problemfelder, um Lösungsvorschläge durch Automatisierung<br />

zu suggerieren; der Markt dafür wächst an. Ob<br />

sich die Ingenieure tatsächlich so sehr um die Pflege<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Das ist ein Begriff, den es heute nicht mehr gibt.« Anonym


16.17<br />

Wut Traurigkeit Überraschung<br />

Freude<br />

Traurigkeit<br />

Überraschung<br />

hilfloser Menschen sorgen oder darin einen guten Anlass<br />

sehen, unter anderer Überschrift weiter an der Verfeinerung<br />

von Sensoren, Aktoren etc. zu arbeiten, stelle<br />

ich dahin. In dieser Diskussion wird jedenfalls versäumt<br />

zurückzufragen, ob es bei der Lösung gesellschaftlicher<br />

Probleme immer ein a priori der technischen Lösung geben<br />

muss. Sicher haben manche Robotiker wirklich den<br />

Traum vom Gegenüber. So hat Hiroshi Ishiguro erstaunliche<br />

»Kopien« von konkreten Menschen gebaut. Sein<br />

erstes Modell war seine fünfjährige Tochter. Zuletzt<br />

baute er sich selbst nach. Und tatsächlich: Während die<br />

Konstruktion einer menschenähnlichen Wahrnehmung<br />

noch Zukunftsmusik ist, sind die äußere Gestaltung und<br />

die Mikrobewegungen der von einem externen Rechner<br />

gesteuerten Androiden schon so gut, dass sie teilweise<br />

die Illusion von einem echten Menschen erzeugen. Zumindest<br />

fiel vielen vor allem älteren Probanden die Unterscheidung<br />

zwischen dem Original und der Kopie auf<br />

den ersten Augenschein schwer.----------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Der kopierte Mensch war schon immer eine Angstgestalt<br />

in der Literatur oder im Film. Warum aber<br />

versucht man gerade das zu kreieren, was die Maschine<br />

schwächt? Ihr Vorteil gegenüber dem Menschen<br />

besteht doch gerade in ihrer Berechenbarkeit,<br />

Emotionslosigkeit, ihrer Unabhängigkeit von<br />

Stimmungen. Ist das tatsächlich der alte Traum,<br />

Schöpfer zu sein?___Weber Es wurden seit den<br />

1980er Jahren neue Ansätze des Programmierens wie<br />

etwa genetische Algorithmen entwickelt, mit denen<br />

man hoffte, autonomes Verhalten zu erzeugen. Der Roboter<br />

soll zum Teil wieder das unbekannte, aber auch<br />

kreative Wesen werden. Es gibt sogar bereits Diskussionen<br />

unter Robotikern und Philosophen, ob es nicht<br />

bald eine Ethik für den Umgang mit Maschinen bräuchte,<br />

da diese dann ja auch Vergleichbares wie Gefühle und<br />

eine Psyche entwickelten. Hier geht es dann nicht um<br />

die Krankenpflege- oder Therapieroboter, sondern eher<br />

um den Compagnion, den Robotergefährten. Beim Gefährten<br />

schwingt ja das Versprechen mit, man könne<br />

ihn erziehen. Aber begrenzte Konditionierung ist keine<br />

Erziehung, und ein Roboter kann seine ursprüngliche<br />

Programmierung nicht überschreiten. -----------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

Reagiert die Entwicklung der Sozialen Robotik auf<br />

die Vereinsamung der Gesellschaft?___Weber: In<br />

Japan wurde PARO entwickelt, ein Kuschelroboter, der<br />

in Altenpflegeheimen eingesetzt wird, auch bereits in<br />

einem hier im Norden <strong>Hannover</strong>s. Er sieht aus wie ein<br />

Seehundbaby, ist schon für 1.000 Euro zu erwerben<br />

und ist pflegeleichter als ein echtes Tier. Er besitzt<br />

Lichtsensoren, taktile Sensoren und kann Geräusche lokalisieren<br />

sowie rudimentär Sprache erkennen. Er reagiert<br />

auf Berührungen und gibt zugleich Heultöne von<br />

sich. Sein Einsatz hat laut seinem Entwickler therapeutischen<br />

Erfolg gezeigt: Die alten Leute hätten ein Gesprächsthema<br />

gehabt und seien beschäftigt gewesen.<br />

Allerdings wurde diese Studie von dem Entwickler des<br />

Roboters selbst angestellt – in einem Heim, dessen<br />

Stimmung er als sehr gedrückt beschrieb, in dem keine<br />

Kommunikation mehr stattfand und ein burn out des<br />

Pflegepersonals vorlag. Da lassen sich solche Erfolge<br />

natürlich relativ leicht erzielen.------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

In den 60er Jahren entwickelte Joseph Weizenbaum<br />

ein Computerprogramm mit dem Namen ELIZA, das<br />

psychotherapeutische Gespräche führte und zwar<br />

durch den einfachen Trick, bestimmte Schlüsselworte<br />

zu erkennen und als Frage zurückzuspielen.<br />

Zum Erschrecken des Erfinders, der daraufhin ein<br />

vehementer Gesellschafts- und Technikkritiker wurde,<br />

hatte das Programm großen Erfolg.___Weber<br />

Das Phänomen ELIZA stellt uns die Frage, wie unsere<br />

menschlichen Beziehungen verfasst sind, dass so ein<br />

Programm überhaupt greifen kann. Sie müssen schon<br />

auf eine Art normiert sein, damit wir solch ein Programm<br />

überhaupt interessant finden. Das gleiche kann man<br />

bezüglich der Pflegerobotik sagen. Man konnte es ja<br />

überall in den Zeitungen lesen: Die Krankenkassen zahlen<br />

einen bestimmten Satz, der genau festlegt, wie viel<br />

Zeit dem Pflegepersonal fürs Bettenmachen, Rückenwaschen,<br />

Haare kämmen, das Gespräch bleibt. Jede emotionale<br />

Zuwendung ist eine Dienstleistung und kann<br />

abgerechnet werden. Da findet bereits die Standardisierung<br />

und Automatisierung statt. Die Maschine kann<br />

erst da greifen, wo dieses Denken bereits bestimmend<br />

ist. Umgekehrt: Wenn der Roboter da ist, zum Beispiel in<br />

der Kinderbetreuung bzw. -bespaßung, hat das auch<br />

rückwirkend Folgen: vom Verhalten Mensch-Maschine<br />

auf das Verhalten Mensch-Mensch. Um dem Roboter<br />

Lebendigkeit zu verleihen, implementiert man ihm<br />

sechs Basisemotionen – Ärger, Ekel, Furcht, Freude,<br />

Trauer und Überraschung. Das ist zwar ein vereinfachtes<br />

Schema, aber bei der Modellierung von sozialem Verhalten<br />

werden statische Modelle bevorzugt, da stereotype<br />

Kommunikationsmuster leichter in Roboter zu implementieren<br />

sind. Die Kommunikation ist mühsam, da<br />

der Roboter nur eindeutige Gesichtsausdrücke lesen<br />

kann, d. h. das Kind wird stereotyp immer wieder die<br />

gleichen Grimassen schneiden, um mit dem Computer<br />

zu kommunizieren. Das ist vergleichbar mit den frühen<br />

Übersetzungsprogrammen, wo man die Sekretärinnen<br />

anwies, nur ganz einfache, nicht doppeldeutige Formulierungen<br />

zu wählen, damit das Programm die Sätze<br />

klar erkennen kann. Wir stellen unser Verhalten auf die<br />

Maschinen ab, damit eine Kommunikation möglich wird,<br />

aber entscheidender ist die Erkenntnis, dass es bereits<br />

eine Gleichförmigkeit und Normierung unseres Miteinanders<br />

gibt, die durch den Roboter sichtbar wird.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Jutta Weber ist Philosophin, Technikforscherin<br />

und Medientheoretikerin. Aktuell lehrt sie<br />

als Gastprofessorin am Zentrum für Gender<br />

Studies der TU Braunschweig.<br />

---------------------------------------------------------------------------<br />

»Ab jetzt«: 10., 31.12. und 07.01., jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche<br />

Bühne<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Oh Gott, <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong>!? Dafür ist es zu spät.« Franziska (29), Juristin


Foto: Katrin Ribbe<br />

Brot, Blut und Torfboden –<br />

die Affäre von Tiszaeszlár<br />

Im Dezember läuft der zweite Vorstellungsblock von Kornél Mundruczós Inszenierung<br />

»Eszter Solymosi von Tiszaeszlár«. Es ist die Geschichte einer verstörenden<br />

Anklage, basierend auf einem historischen Fall des ausgehenden 19.<br />

Jahrhunderts. Der Bericht eines Zuschauers<br />

Von David Kolosska<br />

Der Geist der Aufklärung hat in Tiszaeszlár, dem ungarischen<br />

Dorf an der Theiß, keinen Fuß fassen können.<br />

Knöcheltief stecken die Dorfbewohner fest im Morast<br />

<strong>moralische</strong>n Versagens. Nachdem ein christliches Bauernmädchen<br />

spurlos verschwunden ist, bestimmen Verzweiflung,<br />

Feindseligkeit, Machthunger und rohe Gewalt<br />

die Gemeinschaft von Ungarn und Juden. Der<br />

anschließende Ritualmordprozess gegen die verdächtigten<br />

Juden bereitete den Boden für antisemitische<br />

Ausschreitungen, die Ende des 19. Jahrhunderts ganz<br />

Ungarn erfassten. -------------------------------------<br />

Mein Besuch der Uraufführung des Theaterstücks »Eszter<br />

Solymosi von Tiszaeszlár« liegt nun schon einige Wochen<br />

zurück, die dargestellten Ereignisse rund um die<br />

verschwundene Dienstmagd beschäftigen mich seitdem.<br />

Die Frage nach der Relevanz des Themas ließe<br />

sich mit der Deutung der Ereignisse als Aufflammen<br />

eines bereits schwelenden Antisemitismus beantworten.<br />

Die hyperrealistische Inszenierung von Kornel<br />

Mundruczó könnte somit als Darstellung menschlicher<br />

Immoralität verstanden werden, als eine regendurchnässte<br />

»Matzeparabel«, ein kulturpessimistischer Gegenentwurf<br />

zur Toleranzidee Lessings. Wer den aktuellen<br />

Integrationsdiskurs verfolgt, wird wahrscheinlich<br />

einen Bezug zur historischen Affäre von Tiszaeszlár herstellen<br />

können. Engstirnigkeit, Ressentiments und kulturelle<br />

Hegemonie haben wieder Saison. Zweifelhafte<br />

Leitkulturdebatten, offener Rechtspopulismus und nationale<br />

Egoismen sind in vielen europäischen Gesellschaften<br />

mittlerweile Ausdruck eines Konflikts um das<br />

angemessene Miteinander bzw. Nebeneinander verschiedener<br />

Kulturen und Gemeinschaften. ------------<br />

Irritation. Mundruczós Werk hat mich irritiert, ließ mich<br />

während der Aufführung abschweifen, um über Alltägliches,<br />

Menschliches nachzudenken. Dieser Erfahrungsbericht<br />

kann also ausschließlich den Versuch darstellen,<br />

vom sprichwörtlichen Elfenbeinturm hinabzusteigen,<br />

den wissenschaftlich-analytischen Blick auf Wirklichkeit<br />

aufzugeben, um die eigenen Empfindungen und<br />

Erkenntnisse beim Betrachten von »Eszter Solymosi von<br />

Tiszaeszlár« nochmals zu reflektieren. -----------------<br />

Rekonstruktion. Die Recherche verläuft unproduktiv.<br />

Gewohnheitsmäßig zapfe ich das digitale Weltwissen<br />

an. Über Nebensächliches strauchele ich, benommen<br />

vom Krach – das Internet ist voll ungefragter Meinungen.<br />

Soviel Partizipation verlangt nach einem Filter,<br />

wohltuend soufflierte Information statt reißerischem<br />

Geschwätz. Aber wer soll dann entscheiden über das<br />

Gute, Schöne, Wahre? Die Entscheidungskompetenz<br />

verteilt sich hier auf mehrere Kanäle. Und mir scheint,<br />

es wird aus allen Rohren geschossen! Schließlich finde<br />

ich dann doch Vertrauenswürdiges, um meine bisherigen<br />

Gedanken an bereits Ausformuliertem zu überprüfen.<br />

Ob dahinter die Befürchtung steht, Irrelevantes<br />

oder gar Nonsens zu produzieren? Ich wüsste gern, seit<br />

wann ich meinem eigenen Geschmacksurteil nicht mehr<br />

hinreichend trauen mag. Ein paar quer gelesene Rezensionen<br />

später stelle ich fest, dass ich es faszinierend<br />

finde, wie über die legitimen Formen von Kunst gestritten<br />

wird. Manche Links zum bildungsbürgerlichen Wissensrepertoire<br />

bleiben mir allerdings verwehrt, dafür ist<br />

mein Geschmack eindeutig zu populär, zu wenig kanonisiert.<br />

Aber auch so komme ich nicht weiter, entmutigt<br />

kehre ich zurück in die analoge Welt. Dort finde ich das<br />

Programmheft, sehe die Probenfotos. Mir ist, als kann<br />

ich den Schlamm riechen... ---------------------------<br />

Schlamassel. Es regnet. Die Kälte kriecht einem von der<br />

Bühne in die Socken. Du wirst ins Geschehen hineingezogen,<br />

ob du willst oder nicht. Die Bühne bleibt nicht<br />

länger Spielort, sie ist »das Dorf«. Unmöglich, sich dem<br />

Geschehen gleichgültig zu entziehen, keine kontemplative<br />

Betrachtung absehbarer Handlungsstränge. You are<br />

watching the Historical Research Channel. Eine Dokumentation<br />

in Sepia-Color©. (Als Kind war ich davon<br />

überzeugt, mit Großvaters ausrangiertem Volksempfänger<br />

könne man auch nur veraltete Musik empfangen.)<br />

Ob sich die Ereignisse weiter dramatisch zuspitzen werden,<br />

ob die zu Unrecht Beschuldigten sich erheben, es<br />

bleibt ungewiss. Das hier ist keine perfekt geschmierte<br />

theatralische Inszenierung, die Handlungen geschehen<br />

einfach, sie schreiten asynchron voran. Regen und<br />

Schlamm verschlucken gesprochenes Wort, heiser gebrüllte<br />

Befehle und der alberne Gesang der Verliebten<br />

gesellen sich zu bäuerlicher Dumpfheit und beißender<br />

Ironie. Und überall dieser Schlamm. Kaum verwunderlich,<br />

dass der Sohn zum Verräter wird, indem er seinen<br />

Vater des Mordes beschuldigt, Misstrauen allerseits. Als<br />

assimilierter Ungar glaubt der Junge frei von religiösen<br />

Bevormundungen leben zu können. Anerkennung und<br />

Brot statt Dogmen und Hunger. Doch die Hoffnungslosigkeit<br />

ist auch den Ungarn nicht fremd. Eigentlich will<br />

niemand an diesem unsäglichen Ort bleiben. Der Ritualmordprozess<br />

allerdings verspricht neue Perspektiven<br />

für die Ungarn, sei es die politische Karriere oder den<br />

-------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Bundestag?« Doris (70), Rentnerin


18.19<br />

sozialen Aufstieg durch promiskes Anbiedern an den<br />

schneidigen Herrn aus der Stadt. Die Situation gerät außer<br />

Kontrolle, und es schwinden die Chancen, dem<br />

Schlamm zu entfliehen, als der Hauptbelastungszeuge<br />

nicht auffindbar ist. In diesem Moment wird sogar die<br />

Selbstbezichtigung des Mordes zum Akt der Vernunft.<br />

Kein Lichtblick, nur dunkle Agonie?-------------------<br />

Erkenntnisverwertung. Theaterbesuche sollten wohl<br />

überlegt sein, schließlich gilt es die »Relation zwischen<br />

materiellen Kosten und veranschlagtem kulturellen Gewinn«<br />

zu vermessen. Theater wird im trockenen Soziologenjargon<br />

als Ort kultureller Bildung und sozialer Praxis<br />

beschrieben. Manchmal verdichtet die Theaterkunst<br />

mein diffuses Interesse an einem Thema, meine Neugier<br />

an einem Gegenstand, oder die Suche nach neuen Eindrücken<br />

wird zu einer intensiven Empfindung, zur elementaren<br />

Erkenntnis. Dieser »Gewinn« lässt sich schwer<br />

verbalisieren und nicht valide messen. Denn Theater<br />

berührt mich, unmittelbar oder in nachträglicher Betrachtung.<br />

Theater bildet, und mit diesem Anspruch<br />

nervt es mich auch manchmal. Lange war das Theater<br />

in meinen persönlichen Erfahrungshorizont ein weißer<br />

Fleck. Mein individuelles Menschwerden vollzog sich<br />

auch ohne »<strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong>«. Mittlerweile stelle ich<br />

allerdings an mir ein Bedürfnis nach Orientierung fest,<br />

trotz aufrichtigen Strebens nach persönlicher Emanzipation.<br />

Die Selbstbestimmung ist mir ein hohes Gut. Gelegentlich<br />

fühle ich mich allerdings überfordert, auf<br />

mich selbst zurückgeworfen vom beständigen Auftrag<br />

der selbst initiierten Meinungs- und Geschmacksbildung.<br />

Unregelmäßig suche ich dann das Theater auf,<br />

ohne konkrete Erwartungen, nur wenn das Thema mir<br />

zusagt. Manchmal werde ich auch einfach nur mitgeschleppt.<br />

Und dann kann es passieren, dass ich wirklich<br />

verstehe. Mundrudzós Werk hat mich irritiert, das »schöne«<br />

Bühnenbild und die historischen Kostüme ließen<br />

mich ein anderes Theater erwarten. Ob ich alles »verstanden«<br />

habe, wage ich zu bezweifeln. Aber ich fühle<br />

mich in meiner Skepsis gegenüber selbst ernannten<br />

»Leitkulturen« bestätigt und der Vernunft des Widerstands<br />

dagegen verpflichtet.---------------------------<br />

-------------------------------------------------------<br />

»Eszter Solymosi von Tiszaeslár«: 15., 16., 17. und 18.12., jeweils<br />

20 Uhr, Cumberlandsche Bühne<br />

---------------------------------------------------------------------------<br />

David Kolosska studiert Politologie und Niederlandistik<br />

an der Universität Oldenburg.<br />

-----------------------------------------------<br />

»Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« mit Martin Vischer, Hanna Scheibe und Aljoscha Stadelmann, v. l. n. r.<br />

»Das Parlament jedenfalls nicht!«<br />

Gert (73), Rentner


Foto: Katrin Ribbe<br />

Szene aus »Kampf des Negers und der Hunde« mit Andreas Schlager als Baustellenleiter Horn


20.21


»Das Monster ist der Mensch selbst«<br />

Nach dem stationentheater »komA« in der tellkampfschule bringt der Regisseur Mirko Borscht im Januar 2011 »Kristus<br />

– Monster of Münster« nach einem roman von Robert Schneider über die wiedertäuferbewegung in münster auf die Bühne<br />

des Ballhof Eins. Erinnerungen und Gedanken über Gewalt und Moral, Religion und Revolution<br />

Interview: Volker Bürger<br />

»Das Scheitern an nicht erreichbaren Moralansprüchen bestimmt<br />

wesentlich meine heutige Arbeit.«<br />

Seit 1536 hängen oben an der Lambertikirche zu<br />

Münster die Käfige der exekutierten Wiedertäufer.<br />

Der Turm wurde längst erneuert, die Käfige blieben.<br />

Sie stehen bis heute am Pranger. Was brachte<br />

Jan van Leyden, den Anführer der Wiedertäufer,<br />

und seine Anhänger dorthin? __ Mirko Borscht<br />

Infolge der Abspaltung der Protestanten von der katholischen<br />

Kirche entstand um 1524 die Wiedertäuferbewegung.<br />

Ihnen ging Luthers Reformation nicht weit<br />

genug, sie forderten die Erwachsenentaufe und ein<br />

christliches Miteinander, wie es in der Urkirche der<br />

Apostel gelebt wurde. Gleichzeitig interpretierten sie<br />

die Wirren der Zeit als endzeitliche Symbole, wie sie in<br />

der Johannesoffenbarung beschrieben wurden. Sie bereiteten<br />

sich auf das Ende der Welt vor. In Münster bekamen<br />

die Täufer, aufgrund unklarer Machtverhältnisse,<br />

plötzlich die Oberhand im Stadtrat. Sie riegelten die<br />

Stadt ab und zwangen alle, die sich ihnen nicht anschließen<br />

wollten, Münster zu verlassen. Die Gütergemeinschaft<br />

wurde eingeführt, es gab kein Arm und<br />

Reich mehr, alles gehörte allen. Das kann man das Himmelreich<br />

auf Erden nennen oder auch gelebte kommunistische<br />

Utopie. Interessant war auch die Einführung<br />

der Polygynie (Vielweiberei), die sich an den alttestamentarischen<br />

Patriarchen orientierte und vermutlich<br />

eine Reaktion auf den massiven Frauenüberschuss in<br />

Münster war. Dieses radikale Vorgehen konnten die<br />

weltlich-christlichen Machthaber natürlich nicht durchgehen<br />

lassen. Die Stadt wurde eineinhalb Jahre belagert,<br />

bis sie im Sommer 1535 durch Verrat eingenommen<br />

werden konnte. Denn auch innerhalb der Mauern<br />

hatte sich das Himmelreich in eine Hölle verwandelt.<br />

Jan van Leyden hatte sich inzwischen zum wiedergekehrten<br />

Christus erklärt, zum König der Könige, der versuchte,<br />

durch immer härtere Gesetze der Hungersnot<br />

und Verzweiflung der Bevölkerung Herr zu werden. Jedes<br />

Zuwiderhandeln gegen die neuen Gesetze wurde<br />

mit dem Tode bestraft. Gott hatte die »Auserwählten«<br />

nicht erlöst, sondern in ihrer eigenen Selbstüberschätzung<br />

verrotten lassen. Jan van Leyden und zwei seiner<br />

Getreuen wurden öffentlich zu Tode gequält und in Käfigen<br />

an die Lambertikirche gehängt. Zur Abschreckung<br />

und Mahnung für die einen und als Zeichen einer Sehnsucht<br />

nach Gleichheit und Gerechtigkeit für die anderen.<br />

Und diese Sehnsucht ist bis heute nicht gestillt.<br />

Und daher weiterhin gefährlich. Gott sei dank.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Du nennst deine Fassung, die den Roman von Robert<br />

Schneider adaptiert, »Kristus – Monster of<br />

Münster«. Wer oder was ist das Monster? __<br />

Borscht Das Monster ist der Mensch selbst. Er hat es<br />

bis heute nicht geschafft, eine gerechte Welt zu errichten.<br />

Noch immer leben wenige Fette auf Kosten einer<br />

unterdrückten, ausgemergelten Mehrheit. Global gesehen,<br />

verhält sich eine Demokratie da nicht anders als<br />

eine Diktatur. Eine Demokratie kann nur eine Demokratie<br />

sein, weil irgendwo anders die Sklaven dafür schuften.<br />

So haben wir guten Christenmenschen die Idee ja<br />

von den alten Griechen übernommen. Und in diesem<br />

Zusammenhang erscheint das Münsteraner Experiment<br />

der Errichtung eines Gottesstaates als moralisch ernstzunehmender,<br />

ehrlicher Versuch, eine gerechtere Gesellschaftsordnung<br />

zu schaffen. Gescheitert sind sie<br />

aber nicht nur, weil sie von außen bedroht und angegriffen<br />

wurden, sondern weil sie es nicht geschafft haben,<br />

ihr eigenes Ideal zu leben. Die ewige Unzulänglichkeit<br />

des Menschen, die bisher alle Versuche einer<br />

gelebten Utopie hat scheitern lassen. Und obwohl wir<br />

wissen, dass bisher jede Revolution ihre Kinder fraß<br />

und Macht korrumpiert, als wäre es ein Naturgesetz, ist<br />

der Traum einer gerechten Welt allgegenwärtig. Wer ist<br />

im Falle von »Kristus« das größere Monster? Der äußere<br />

oder der innere Feind? Oder ist es egal, weil der Mensch<br />

gar nicht in der Lage ist, wahrhaftig und gut zu sein?<br />

Weil er sonst Gott selbst wäre? Das sind die Fragen, denen<br />

wir uns in der Arbeit stellen müssen. Die Meinungen<br />

werden auseinander gehen. Also lasst uns streiten.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Du bist in Cottbus aufgewachsen. Dort warst du<br />

Messdiener und gleichzeitig Punk – scheinbar unvereinbare<br />

Dinge. Irgendwie ist Jan van Leyden so<br />

etwas wie ein fundamentalchristlicher Punk, oder?<br />

__ Borscht (lacht): Das kommt darauf an, wie heilig<br />

man Punk empfindet. Aus meiner damaligen pubertären<br />

Perspektive würde ich das ganz klar mit ja beantworten.<br />

Das hat aber auch damit zu tun, dass die logische<br />

Konsequenz meiner katholische Erziehung – oder vielmehr<br />

des damit verbundenen <strong>moralische</strong>n Menschenbildes<br />

– mich eigentlich erst zum Punk gemacht hat. Ich<br />

wollte an etwas glauben und war bereit, fast jede Konsequenz<br />

zu ziehen, mich auszuliefern, einer größeren<br />

Sache zu opfern. Das ging so weit, dass ich als etwa<br />

Zehnjähriger nach einem Fernsehfilm über den heiligen<br />

Franz von Assisi, der die Wundmale Christi bekam,<br />

plötzlich auch starke Schmerzen hatte und mir sofort<br />

der Blinddarm rausgenommen werden musste. Wäre ich<br />

in Jan van Leydens Zeit aufgewachsen, wäre das todsicher<br />

ein Zeichen Gottes gewesen. So blieb es bei einem<br />

Zufall. Dennoch konnte ich als Jugendlicher die Doppelmoral<br />

der erwachsenen Gemeindemitglieder schlichtweg<br />

nicht ertragen. Ich habe sie zutiefst verachtet, ihr<br />

Leben als Verrat am Glauben empfunden, mich mehr<br />

und mehr distanziert. Unsere Kirche war damals in Form<br />

einer riesigen stilisierten Dornenkrone angelegt, und<br />

während der Messe habe ich mich bald nur noch außerhalb<br />

der Krone bewegt, weil ich nicht mit diesen katholischen<br />

Heuchlern in einem Raum sein wollte. Kurze<br />

Zeit später trug ich in einer so genannten Jugendmesse<br />

als Ministrant die Hostien nach vorn. Der Bischhof, der<br />

zufällig an diesem Tag die Messe hielt, nahm sie mir mit<br />

entsetztem Gesicht ab. Ich hatte einen roten Iro, und<br />

das hat dem Herrn wohl gar nicht gefallen. Das Ergebnis:<br />

ein Ministrierverbot in der gesamten Diozöse. Meine<br />

prompte Reaktion war die Verweigerung der Firmerneuerung,<br />

was wiederum meinen Eltern gar nicht gefiel.<br />

Aber da ich wegen »Gewissenskonflikten« die Jugendweihe<br />

und den Eintritt in die FDJ verweigert hatte,<br />

mussten sie den gleichen Grund nun auch ihrem Glauben<br />

gegenüber akzeptieren. Ich stand plötzlich zwischen<br />

allen Stühlen, die Pickel sprossen, und auf meiner<br />

Lederjacke stand neben dem Anarchiezeichen bald<br />

auch »We‘re already dead«. Na, wenn das kein Endzeitszenario<br />

ist. Aber leider ist aus mir kein Jan geworden.<br />

Schade eigentlich...<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Jan van Leyden will Christus werden. Er schreibt<br />

seinem Lehrer den Berufswunsch auf einen Zettel:<br />

»Kristus«, mit K. Damals blasphemisch, eine Todsünde.<br />

Jan lässt trotzdem nicht ab, er stellt sich gegen<br />

die Welt mit seinem sündhaften Wunsch. Später<br />

schreien die Wiedertäufer »Buße, Buße, Buße!«<br />

durch die Gassen Münsters. Kannst du etwas mit<br />

den zentralen christlichen Kategorien des<br />

(ur)sündhaften Menschen und der Reinigung durch<br />

Buße anfangen? __ Borscht Und ob. Wenn man sich<br />

als Zwölfjähriger stundenlang nicht in den Beichtstuhl<br />

traut, weil man dem Priester gestehen muss, dass man<br />

unter der Bettdecke onaniert hat und neulich da was<br />

raus kam, und dass man jetzt Angst hat, krank zu sein<br />

und natürlich bei der Beichte kein Wort über die Lippen<br />

bringt, weiß man plötzlich, was Verzweiflung ist und<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Schule und Lehre.« Fabienne (28), Opernsängerin


22.23<br />

Leiden. Wir haben euch was mitgebracht: Angst! Angst!<br />

Angst! Es gibt nur zwei Möglichkeiten, da rauszukommen:<br />

Heuchler werden oder sich radikalisieren. Diese<br />

lustigen Kindheitsprobleme haben mein ganzes weitere<br />

Leben bestimmt. Das Scheitern an nicht erreichbaren<br />

Moralansprüchen bestimmt wesentlich meine heutige<br />

Arbeit. Und diese Nichterreichbarkeit führt jeden Gottesfürchtigen<br />

immer wieder in seinen Glauben zurück.<br />

Ein perfektes System. Wie dankbar muss ich Bischof<br />

Huhn für sein engstirniges Verhalten sein, er hat mich<br />

sozusagen frei gelassen, sonst wäre ich vermutlich immer<br />

noch in der Katholikenmühle gefangen. Die Zweifel<br />

und das regelmäßige Scheitern an meinen eigenen <strong>moralische</strong>n<br />

Grundsätzen allerdings werden mir wohl erhalten<br />

bleiben, ein Leben lang. Amen.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Gott übt Gewalt aus – zumindest der Gott in den<br />

Köpfen der apokalyptisch denkenden Wiedertäufer,<br />

die der Meinung waren, dass der Jüngste Tag unmittelbar<br />

bevorsteht. Auch die Wiedertäufer selbst<br />

geraten irgendwann in den Sog von Gewalt. Um die<br />

Regeln der Gemeinschaft oder die Macht zu erhalten,<br />

wird ein erster Mensch hingerichtet – in deiner<br />

Fassung der Schmied, ein abtrünniger Mitstreiter<br />

der ersten Stunde. Ist Gewaltanwendung für dich<br />

mit <strong>moralische</strong>m Handeln vereinbar? __ Borscht<br />

Auf jeden Fall. Ich bin kein Pazifist. Und natürlich wäre<br />

es richtig gewesen, Hitler oder Stalin zu eliminieren, um<br />

zumindest vorübergehend das Sterben zu stoppen. Leider<br />

wird immer jemand nachwachsen, der das Grauen<br />

weiterführt. Man muss nur ein bisschen warten. Ich<br />

glaube nicht daran, dass man Gewalt überwinden kann,<br />

aber man kann sie verteilen, im besten Fall vorübergehend<br />

aussetzen. Meist mit Gegengewalt. Die aktuellen<br />

Beispiele zum Thema Atomkraft oder Stuttgart 21 sprechen<br />

da eine deutliche Sprache, auch wenn das in unserem<br />

Zusammenhang vielleicht zynisch klingt. Gewalt<br />

ist die instiktivste und einfachste Antwort der Konfliktbewältigung.<br />

Zivilisierte Menschen üben sie in der Regel<br />

psychisch aus. Aber wir lösen die meisten unsere<br />

Konflikte dennoch mit Gewalt. Im Falle der Münsteraner<br />

Täufer war die erste Hinrichtung auch der erste sichtbare<br />

Beweis ihres Scheiterns. Alle haben es gesehen.<br />

Alle haben es gewusst. Ihr Moralbegriff muss nun abgewandelt,<br />

gedehnt werden. Das Ideal muss der Realität<br />

angepasst werden. Der Betrug beginnt. Und an die Stelle<br />

des utopischen Gedankens rückt die Angst. Der Anfang<br />

vom Ende. Um mit den Worten Gerrit Tom Kloisters,<br />

einem »Mentor« Jan van Leydens im Stück, zu sprechen:<br />

»Aus dem nichtlebbaren Ideal aber« wächst »alles Missverständnis<br />

und Leid, unter dem Menschen je gelitten<br />

haben, denn das Ideal bleibt fern der Wirklichkeit, fern<br />

des Chaos, fern von Gott«.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Viele deiner Arbeiten kreisen um Gewaltfragen –<br />

»komA« etwa, dein letztjähriges Projekt in <strong>Hannover</strong><br />

mit Schülern in der Tellkampfschule, um das<br />

Thema Amoklauf. Auch deine Filme. Was fasziniert<br />

dich an Gewalt? __ Borscht Mich interessieren<br />

Grauzonen, Orte, die im Schatten liegen, das Zwielicht,<br />

schwarze Löcher, weil sie zwar täuschen können, aber<br />

nicht lügen oder betrügen. Ich vertraue dem Intellekt<br />

nicht, weil er von Distanz lebt und Emotionen ausblendet.<br />

Er ist vielleicht objektiver, aber er ist nicht ehrlicher.<br />

Ich vertraue der Sprache nicht, ich bin misstrauisch<br />

gegenüber der Diplomatie von Worten, deshalb<br />

suche ich nach der Wahrhaftigkeit und Authentizität in<br />

Zuständen und Grenzsituationen, in Momenten, wo der<br />

Mensch sich selbst nicht kontrollieren und zensieren<br />

kann. Und dabei ist Gewalt oft ein wesentlicher Bestandteil,<br />

gegen andere oder gegen sich selbst. Ein anderer<br />

wesentlicher Punkt ist Gewalt als mediales Kommunikationsmittel,<br />

als Ausdrucksform im künstlerischen<br />

Sinne. Gewalt, auf die ich in Kino oder Fernsehen reagiere,<br />

gibt mir die Möglichkeit, die Situation extrem<br />

subjektiv wahrzunehmen, weil ich mich fürchte, mich<br />

ekle oder auch angezogen werde. Ich verliere die analytische,<br />

distanzierte Betrachtungsweise und werde<br />

plötzlich Teil des Geschehens. Ich glaube auch an die<br />

Authentizität und Unmittelbarkeit des Spiels, wie sie<br />

nur im Theater erfahren werden kann. Ich glaube an<br />

echte Gefühle in einem künstlichen Raum. Und Gewalt<br />

ist dabei ein sehr geeignetes Mittel der Stimulanz, wenn<br />

man sie als Mittel ernst nimmt.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Moral ließe sich beschreiben als Handlungsprinzip<br />

einer bestimmten Gesellschaft. Wenn nun eine neue<br />

Gesellschaft gegründet wird, wie bei den Wiedertäufern<br />

in Münster, muss man auch Moral und<br />

Handlungsprinzipien neu erfinden. Wie sollen die<br />

entstehen, wie kann Moral neu erfunden werden?<br />

__ Borscht Wohl nur, indem man sich selbst neu erfindet.<br />

Wenn man es schaffen könnte, seine eigenen<br />

Prägungen und anerzogenen Wertesysteme nach ihrer<br />

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

»Irrenhaus!« Emil (28), Sozialarbeiter


Tauglichkeit zu prüfen und allen Ballast über Bord zu<br />

werfen. Vor allem aber müsste man diese »neue« Moral<br />

den Notwendigkeiten der neuen Gesellschaft unterordnen.<br />

Und da ist der Schritt zum Faschismus nicht mehr<br />

weit. Ich glaube, das Hauptproblem besteht darin, dass<br />

jeder Utopist die Utopie noch erleben will und an seiner<br />

eigenen Ungeduld scheitert. Neue Regeln müssen nicht<br />

nur neu erlernt, sondern zu Instinkten werden. Eine<br />

neue Sprache beherrsche ich auch erst dann, wenn ich<br />

in ihr denke, manche sagen auch: träume. Und da wir<br />

noch nicht so weit sind, unsere utopischen Träume isoliert<br />

auf dem Mond entwickeln zu können, müssen wir<br />

wohl lernen, nicht in Menschenzeitaltern zu denken,<br />

sondern in Erdzeitaltern – wenn es die Menschheit<br />

dann noch gibt.<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Das Titelthema dieses <strong>Heft</strong>es, »<strong>Deine</strong> <strong>moralische</strong><br />

<strong>Anstalt</strong>«, ist einer Rede Schillers aus dem Jahr 1784<br />

entlehnt. Euphorisch sprach Schiller damals von<br />

der Potenz des Theaters, <strong>moralische</strong> <strong>Anstalt</strong> sein zu<br />

können, weil der Zuschauer im Theater den Menschen<br />

erkennen kann, weil er dort sogar selbst den<br />

»kühnen Verbrecher« kennenlernt, dessen Leben<br />

und Untaten »heilsame Schauer« auslösen. Dass die<br />

Schaubühne also »den Menschen mit dem Menschen<br />

bekannt macht und das geheime Räderwerk<br />

aufdeckt, nach welchem er handelt«. Funktioniert<br />

Theater so für dich? __ Borscht Nein. Leider nicht.<br />

Den erzieherischen, <strong>moralische</strong>n Mehrwert kann das<br />

Theater genauso wenig liefern wie die öffentlich rechtlichen<br />

Fernsehanstalten. Das anzunehmen, wäre vermessen<br />

und naiv. In unserer Zeit führt das Theater ein<br />

Nischendasein und versucht leider allzuoft, mit den<br />

großen Medien der Gegenwart – Kino, Games, Multimedia<br />

– mitzuhalten, anstatt sich auf seine ureigene Kraft<br />

zu berufen. Ich glaube, Schillers Wünsche sind leider<br />

inzwischen an andere Medien abgewandert, was uns<br />

nicht traurig machen muss, weil es ungeahnte Freiräume<br />

schafft. Denn die Unmittelbarkeit und »künstliche<br />

Echtheit« kann dem Theater niemand nehmen. Und<br />

ganz besonders nicht seine Autonomie. Kaum ein Medium<br />

genießt formal und inhaltlich so viel Freiheit. Kaum<br />

ein anderes Medium ist heutzutage so wenig Regeln<br />

und wirtschaftlichen Abhängigkeiten unterworfen, auch<br />

wenn man derzeit latent versucht, diese Unabhängigkeit<br />

zu beschneiden. Dennoch läuft das Theater Gefahr,<br />

sich mit einer kleinbürgerlichen intellektuellen Elite zu<br />

kaschieren, die es gar nicht nötig hat. Wo ist der Mut zu<br />

großen Gefühlen geblieben, vor dem Schillers Worte nur<br />

so strotzen? Kaum ein anderes Medium hat die Chance,<br />

so nah an sein Publikum heranzukommen. Nirgends<br />

sonst ist der Grad an Identifikation mit dem Spieler so<br />

groß. Nirgends sonst kann man auf sein Publikum direkt<br />

und unmittelbar reagieren. Was mich heute an Schillers<br />

Rede berührt, ist seine Theatertrunkenheit und Euphorie,<br />

die mir heute so oft im Theater fehlt. Was wir aus<br />

seinen Worten in die Jetztzeit übernehmen sollten, ist<br />

die Rauschhaftigkeit und Begeisterung für das Medium.<br />

Die Schaubühne als Narkomanische <strong>Anstalt</strong> – das würde<br />

mir gefallen. Und die <strong>moralische</strong> Aufgabe besteht<br />

dann genau darin, das eigene Selbstbewusstsein anhand<br />

der Qualität dieser Droge zu optimieren. Und bei<br />

der Qualität, die uns da von Seiten des deutschen Kinos<br />

und Fernsehens entgegenkommt, hat das Theater wahrlich<br />

gute Karten.<br />

---------------------------------------------------------------------------<br />

»Kristus – Monster of Münster«: 07. (Uraufführung), 13. und<br />

23.01., jeweils 19:30 Uhr, Ballhof Eins, ab 16<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Mirko Borscht, 1971 in Cottbus geboren, inszenierte<br />

nach zwei Co-Regiearbeiten am Theater<br />

ab 1992 die Kurzfilme »Mäuseboxen« und »Bastard!«,<br />

Seine Arbeit wurde entscheidend durch<br />

die Zusammenarbeit mit jugendlichen Laien bestimmt.<br />

So entstand 2005 sein erster Spielfilm<br />

»Kombat Sechzehn« und 2007 das Theaterstück<br />

»Opferpopp«, das er für das Thalia Theater Halle<br />

mit so genannten »Problemkids« entwickelte.<br />

2008 erhielt er dafür den Hans-Götzelmann-<br />

Preis für Streitkultur und 2009 den BKM-Preis<br />

für kulturelle Bildung des Beauftragten der<br />

Bundesregierung für Kultur und Medien. Am<br />

Centraltheater Leipzig sind derzeit seine inszenierungen<br />

»Sweet Dreams« und »deutschland<br />

tanzt« zu sehen. Am Jungen <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong><br />

inszenierte er 2010 »komA« nach Volker<br />

Schmidt / Georg Staudacher (mit Schülern, Lehrern<br />

und <strong>Schauspiel</strong>ern).<br />

+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

yaroslaw schwarzstein, 1975 in tula (Russland)<br />

geboren, ist grafiker, illustrator und<br />

musiker. Seine zeichnungen sind zentraler bestandteil<br />

des Bühnenbildes von »kristus –<br />

monster of münster«.<br />

Zeichnungen: Yaroslaw Schwarzstein<br />

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»<strong>Anstalt</strong> für Moral: Theater!« Anke (54), Dozentin für Deutsch als Fremdsprache


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Erstmals gibt die Gesellschaft der Freunde des hannoverschen<br />

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Inszenierungen des <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>, die<br />

von der Theaterfotografin Katrin Ribbe stammen.<br />

Der Kalender kostet 20 Euro und ist im <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

erhältlich. Der Erlös kommt dem Jungen <strong>Schauspiel</strong><br />

<strong>Hannover</strong> zugute.<br />

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und am Bücherkiosk im Pausenfoyer käuflich erworben<br />

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c/o Angelika Nauck, Vorsitzende<br />

Wallmodenstr. 72, 30625 <strong>Hannover</strong><br />

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Dienstag, 22. März 2011<br />

Romeo und Julia<br />

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Der Morgen<br />

vor dem Chaos<br />

Am 15. Januar hat Gabriel García Márquez’ »Chronik eines angekündigten Todes«<br />

Premiere auf der Cumberlandschen Bühne. Vorab gewährt uns der Regisseur<br />

dieses Theaterabends einen Einblick in seine szenische Fantasie.<br />

Von Albrecht Hirche<br />

Nach einer rauschenden Hochzeit bringt der wütende<br />

Bräutigam seine Jungvermählte zurück zu ihren Eltern –<br />

sie ist keine Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande<br />

verantwortlich? Unter den Schlägen ihrer Mutter nennt<br />

das Mädchen einen Namen. Ihre Brüder schwören Rache<br />

und machen sich mit Schlachtermessern auf die<br />

Suche nach dem Beschuldigten. Jedem, dem sie begegnen,<br />

offenbaren sie ihren Plan. Und doch wird der<br />

Mord nicht verhindert.--------------------------------<br />

Gabriel Garcia Marquez’ »Chronik eines angekündigten<br />

Todes« könnte ein düster-betroffenes Drama um überkommene<br />

Traditionen und kollektive Schuld sein. Doch<br />

Regisseur Albrecht Hirche legt einen anderen Schwerpunkt:<br />

Wenn das Ereignis die Menschen verändert,<br />

wie verändert seine Erzählung das Ereignis? Seine<br />

Spieler sind Chronisten. Irgendwo zwischen Hollywood-Schreiblabor<br />

und südamerikanischem Schachcafé<br />

ordnen, beschreiben und erkunden sie in detektivischer<br />

Akribie und individuellem Gestaltungswillen<br />

das Erzählte und die Erzählung selbst. Einen Vorgeschmack<br />

auf seine erste Inszenierung am <strong>Schauspiel</strong><br />

<strong>Hannover</strong>, die am 15. Januar 2010 Premiere auf der<br />

Cumberlandschen Bühne hat, geben Hirches Notizen,<br />

in die er uns hier einen Blick gewährt. ---------------<br />

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»chronik eines angekündigten todes«: 15. (premiere), 16. und<br />

29.01., jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne-----------<br />

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26<br />

26.27<br />

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238 Tage Neverland<br />

making of »Neverland« – bilder einer Popmärchenrecherche zu Michael Jackson und Peter Pan mit Jugendlichen aus<br />

<strong>Hannover</strong> im und um den ballhof<br />

fotos: Roxana Rios<br />

»Neverland« – vom Casting zur Premiere: 8. April 2010 Kick-off zum Projekt »Neverland«<br />

mit Regisseur Robert Lehniger und Team + 26. April bis 2. Mai Auswahlworkshops,<br />

in denen die 21 Jugendlichen gefunden wurden, die am Projekt teilnehmen +<br />

10. Mai bis 4. Juni 1. Block: Abendproben nach der Schule + 12. Juli bis 4. August<br />

2. Block: Ganztagsproben im Ballhof Zwei während der Sommerferien + August bis<br />

September 3. Block: Wochenendproben + 27. September bis 23. Oktober Endproben<br />

im Ballhof Eins + 24. Oktober Uraufführung im Ballhof Eins -------------------<br />

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Roxana Rios (15), steht zusammen mit anderen Jugendlichen aus hannover<br />

in »Neverland« auf der Bühne.<br />

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Kooperationspartner: enercity-------------------------------------------------------<br />

27. Juli<br />

6. Oktober 6. Oktober<br />

11. Oktober 11. Oktober<br />

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»Das habe ich auf einem Plakat gelesen.« Carsten (45), Technischer Angestellter


28.29<br />

3. August 30. September<br />

7. Oktober 15. Oktober<br />

12. Oktober<br />

16. Oktober<br />

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»Öffentlich-rechtliches Fernsehen.« Hendrik (52), Online-Spezialist


»Ohne die Kommunalen Kinos hätte<br />

es Fassbinder und Schlingensief nicht<br />

gegeben«<br />

Sigurd Hermes, Leiter des kommunalen Kinos im Künstlerhaus, über ein Leben für den Film, die Geschichte des KoKi in <strong>Hannover</strong><br />

und die Eigenheiten der Filmsprache<br />

gastbeitrag<br />

»Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte<br />

erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater.«<br />

An meinem sechsten Geburtstag durfte ich das erste Mal<br />

allein ins Kino gehen. Meine Großmutter hat mir drei<br />

Groschen geschenkt, und dann bin ich zum Haus der<br />

Jugend gegangen, wo es für zwei Groschen einen Film<br />

für Kinder gab: »Das Wunder von Mailand« von de Sica.<br />

Ein Märchen eigentlich, aber ich war so berührt – erst<br />

einmal vom Inhalt, und dann habe ich natürlich mit<br />

meinem kindlichen Bewusstsein reflektiert, dass ich so<br />

etwas zum ersten Mal gesehen habe. Fernsehen gabs<br />

nicht bei uns in der Familie. Ich fand das faszinierend<br />

und wollte immer mehr davon haben. ----------------<br />

Damals haben Kinder- und Jugendzentren Kinovorführungen<br />

für Kinder organisiert, aber auch in den gewerblichen<br />

Kinos gab es Veranstaltungen nur für Kinder. Ich<br />

habe alles gesehen, was ich mir mit meinen paar Groschen<br />

leisten konnte: »Zorro«, »Fuzzy«, Karl May. Aber<br />

ich fing damals schon an zu differenzieren. Ich konnte<br />

darüber streiten und sagen: »Diesen Film finde ich miserabel,<br />

und zwar deshalb...«, oder: »Diesen Film finde<br />

ich gut, und zwar deshalb...« --------------------------<br />

Ich habe von 1967 bis 1974 in Kassel Grafikdesign und<br />

Kunst studiert, mit den Hauptfächern Film, Fotografie<br />

und Malerei. Kassel ist meine Geburtsstadt, und noch<br />

als Student habe ich dort an der Hochschule für bildende<br />

Künste einen Filmclub gegründet, das »Andere Kino«.<br />

Hier war es das erste Mal möglich, zunächst einmal für<br />

die Kommilitonen, aber auch für die Leute in der Stadt,<br />

europäische Filmkunst der klassischen Moderne kennenzulernen,<br />

einen Fellini zu sehen, einen Pasolini, einen<br />

Godard, einen Truffaut, darüber hinaus natürlich<br />

auch Beispiele der internationalen Filmgeschichte: Eisenstein,<br />

Bergmann.-----------------------------------<br />

Kassel ist ja die Documenta-Stadt. Und ich bin noch als<br />

Student zu Harald Szeemann gegangen und habe ihm<br />

gesagt, dass er ja jetzt die V. Documenta ausrichtet und<br />

diese ja eigentlich die wichtigste Kunstausstellung der<br />

Welt sei, die sich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts<br />

auseinandersetzt. Ich würde jetzt aber schon vier Documenten<br />

lang die wichtigste Kunst des Jahrhunderts –<br />

wie Lenin sie übrigens schon nannte – vermissen. Harald<br />

Szeemann hat sich zurückgelehnt und so in der Art,<br />

wie es die Berner tun, lange überlegt, und dann hat er<br />

gesagt: »Sie haben Recht, machen Sie. Sie kriegen einen<br />

Arbeitsvertrag. Machen Sie eine Sektion Film!«<br />

Eine Kunstausstellung ist auch Kino, und gutes Kino ist<br />

auch immer eine Kunstausstellung. In diesem Fall haben<br />

wir entsprechend der konzeptionellen Fragestellung<br />

unter anderem die Avantgarde des New American<br />

Cinema sowie die opulenten Opernfilme aus China zum<br />

ersten Mal in Deutschland gezeigt. Deutsche Filmkünstler<br />

waren mit Werner Nekes, Dore O. und Werner Schröter<br />

vertreten. 1968, während der Documenta IV, bin ich<br />

erstmals Joseph Beuys begegnet. Ich war als Hilfskraft<br />

bei Christo beschäftigt und hatte die Aufgabe, nachts<br />

sein riesiges, penisartiges Objekt zu bewachen. Eines<br />

Tages in der Morgendämmerung versuchte ein etwas<br />

merkwürdig wirkender Mann mit Hut und Anglerweste,<br />

die Absperrungen zu überklettern. Unter Androhung<br />

von Gewalt hielt ich ihn davon ab. Erst später wurde ich<br />

aufgeklärt, dass ich mich mit dem wohl bedeutendsten<br />

deutschen Künstler angelegt hatte. Er hat es mir aber<br />

verziehen.---------------------------------------------<br />

1974 bewarb ich mich aufgrund einer Zeitungsausschreibung<br />

in <strong>Hannover</strong>, das Kommunale Kino zu leiten.<br />

Und bin genommen worden. Damals habe ich damit begonnen,<br />

was ich jetzt seit 36 Jahren mit großer Leidenschaft<br />

und Liebe tue. Das Kommunale Kino, das in <strong>Hannover</strong><br />

gegründet wurde, hatte als einziges der deutschen<br />

Kollegenkinos kein eigenes Haus. Wir tingelten zwar<br />

nicht von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wie in den Anfängen<br />

des Kinos, aber wir zogen von einem Freizeitheim dieser<br />

Stadt zum anderen, bis wir 1979 in den Raschplatzkinos<br />

als Untermieter eine Bleibe fanden. Dort machten<br />

wir erstmals ein volles Wochenprogramm.-------------<br />

Diese Kinos waren die erste und einzige Möglichkeit für<br />

viele Filmschaffende, ihr erstes Publikum zu finden, die<br />

erste Auseinandersetzung mit dem Publikum. Später<br />

waren sie etabliert, also in dem Sinne, dass ihre Arbeit<br />

auch gewerblich umsetzbar war. Aber die ersten Schritte<br />

all dieser Künstler fanden in den Kommunalen Kinos<br />

statt, und das kann man auch auf den Dokumentarfilm<br />

beziehen. Es hätte nie einen Fassbinder gegeben oder<br />

einen Wim Wenders oder einen Werner Herzog oder<br />

auch einen Christoph Schlingensief, wenn nicht diese<br />

Kinos gewesen wären.--------------------------------<br />

Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es,<br />

Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte<br />

und dem Theater. Darüber hinaus ist es natürlich<br />

sehr wichtig, die Augen offen zu halten: Was<br />

passiert Neues in diesem Medium? Wo sind neue formale<br />

Ansätze, wie werden neue Inhalte umgesetzt?<br />

Werden neue Formen für neue Inhalte gefunden? Da ist<br />

dieses Kino immer Avantgarde gewesen, und zwar von<br />

Anfang an. Ein Auge für die Avantgarde zu haben, heißt<br />

natürlich auch, über die Landesgrenzen hinauszugucken:<br />

Was passiert in Europa, was passiert ansonsten in<br />

der Welt, vor allem auf den Kontinenten, die filmarchäologisch<br />

schwer zugänglich waren? Afrika oder Lateinamerika<br />

sind ja noch relativ unbekannte Filmländer.<br />

Darüber hinaus ist es natürlich auch wichtig, sich den<br />

Genres zu widmen, die im kommerziellen Kino gar keine<br />

Chance haben: dem Dokumentarfilm, dem Kurzfilm,<br />

dem ganzen Bereich des Experimentalfilms bis hin zu<br />

den Anfängen der Videokunst. Das sind Bereiche, um<br />

die sich die kommerziellen Kinos nicht kümmern können,<br />

einfach, weil das merkantile Risiko für sie zu groß<br />

ist. Das Kino im Künstlerhaus in <strong>Hannover</strong> hat wahrscheinlich<br />

deutschlandweit den höchsten Anteil an Dokumentarfilmen.<br />

Deshalb ist es eine Einrichtung, die<br />

subventioniert werden muss, so wie andere Kultureinrichtungen<br />

auch. Film ist Kultur, Kultur ist ein Lebensmittel,<br />

und Lebensmittel müssen zur Verfügung stehen,<br />

und zwar so, dass jeder sie sich leisten kann. Indem es<br />

Filmgeschichte erfahrbar macht, wird so ein Kino auch<br />

zur Bildungseinrichtung, und zwar für alle Generationsstufen,<br />

angefangen bei der Kinderfilmarbeit, bis zu den<br />

Gruppen der silver surfer, also der Senioren, die zu uns<br />

kommen. ---------------------------------------------<br />

Stichwort Bildung: Der Film hat seine eigenständige<br />

Sprache. Sie besteht eben nicht aus linguistischen Zeichen,<br />

sondern es ist die Filmsprache. Sie hat ihre eigene<br />

Grammatik, und die muss man lernen. Und man kann<br />

sie nur in Einrichtungen wie unserer lernen. Das ist die<br />

Voraussetzung, um mit Film umgehen und letztlich unterscheiden<br />

zu können, was hohe Qualität hat oder irgendein<br />

Mist ist.---------------------------------------<br />

Für die Zukunft wünsche ich mir auch weiterhin so ein<br />

großartiges Publikum, das dieses einmalige Programmangebot<br />

wertzuschätzen weiß. Das die »Schule des Sehens«<br />

als Werkstatt der Träume nutzt und immer wieder<br />

neu erfindet. ------------------------------------------<br />

Ich wünsche mir weiterhin die Unterstützung von Kulturverwaltung<br />

und Politik, dass diese wertvolle und<br />

einzigartige Einrichtung, die nicht mehr aus dem kulturellen<br />

Leben der Stadt wegzudenken ist, weitergeführt<br />

wird. Die Pflege des globalen filmkulturellen Erbes und<br />

dessen Vermittlung ist auch in Zukunft der tragende<br />

kulturpolitische Auftrag – ein Bildungsauftrag.<br />

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Protokoll: Friederike Trudzinski------------------------<br />

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»Kirche.« Stefan (47), Angestellter


30.31<br />

Foto: Jaika Harms<br />

Sigurd Hermes<br />

FilmTheater – Theatermacher zu Gast im Künstlerhaus<br />

Regisseure, <strong>Schauspiel</strong>er, Autoren und Bühnenbildner, die am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong><br />

arbeiten, stellen in der gleichnamigen Veranstaltungsreihe ihre Lieblingsfilme, Juwelen<br />

des unkommerziellen Kinos, aber auch eigene Werke vor – und damit sich selbst.<br />

Sie geben Einblick in ihre Sicht der Dinge, ihre Leidenschaft, ihr Interesse, ihre gegenwärtige<br />

Arbeit. Denn viele Theatermacher sind offenkundige oder versteckte Cineasten.<br />

Ihre Kinoerlebnisse prägen nicht selten ihre Bühnenästhetik, und immer<br />

mehr von ihnen pendeln ohnehin zwischen diesen beiden Welten. So waren in der<br />

letzten Spielzeit unter anderem der Film- und Theaterregisseur Mirko Borscht mit<br />

seinem Film »Kombat Sechzehn«, der Bühnenbildner Mihal Galinski mit Robert Thalheims<br />

preisgekröntem Film »Am Ende kommen Touristen«, der Autor Kolja Mensing<br />

mit dem interaktiven Videoprojekt »13ter Shop«, die <strong>Schauspiel</strong>erin Sandra Hüller mit<br />

Helene Hegemanns Debüt »Torpedo« und der Performer Jürgen Kuttner mit einer Perle<br />

des japanischen Independentfilms zu Gast. Nach Kornél Mundruczó (»Delta«), Florian<br />

Fiedler (»Palindrome von Todd Solondz«) und Albrecht Hirche (»Blow up« von Michelangelo<br />

Antonioni) stellt sich als Nächster am 30. Januar um 17:30 Uhr der Dokumentartheaterspezialist<br />

Hans-Werner Kroesinger mit »The Wild Bunch – Sie kannten kein<br />

Gesetz« und »Opening Night« vor.<br />

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Jeden letzten Sonntag im Monat um 17:30 Uhr im Kino Künstlerhaus<br />

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»Dass man uns vielleicht doch etwas über die Moral beibringen will.« Georg (53), Bankkaufmann


Die Programm-Höhepunkte<br />

Dezember 2010 bis März 2011<br />

05.12.10 <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

07.01.11 Ballhof Eins<br />

08.01.11 <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

09. / 15.01.11 <strong>Schauspiel</strong>haus / Ballhof Zwei<br />

DIE BAKCHEN ODER DER<br />

EINDRINGLING<br />

von Euripides<br />

PREMIERE<br />

Unter den Frauen der Stadt Theben breitet<br />

sich Wahnsinn aus. Ein schöner Fremder,<br />

heißt es, raube ihnen mit seinen<br />

Reizen den Verstand. König Pentheus<br />

droht die Kontrolle zu verlieren. Theiresias,<br />

der blinde Seher, warnt ihn vor der<br />

Macht eines neuen Gottes: Bakchios oder<br />

Dionysos sei es, der in Menschengestalt<br />

in der Stadt Einzug gehalten habe. Mit<br />

Gewalt versucht Pentheus, dem Wahnsinn<br />

Einhalt zu gebieten und setzt so die<br />

Tragödie in Gang.<br />

KRISTUS –<br />

MONSTER OF MÜNSTER<br />

nach dem Roman von Robert Schneider,<br />

bearbeitet von Mirko Borscht<br />

URAUFFÜHRUNG<br />

Jan hat einen Berufswunsch: Kristus.<br />

Was als Missverständnis auf einer Prozession<br />

beginnt, entwickelt sich zur Bestimmung<br />

seines Lebens. Der feinsinnige<br />

und gerechtigkeitsliebende Junge findet<br />

bei den Wiedertäufern in Münster Gleichgesinnte,<br />

die auf das Ende der dunklen<br />

Zeit hoffen. Gemeinsam gründen sie ein<br />

Reich – mit Jan an der Spitze. Doch die<br />

schöne Utopie scheitert. Zweite Arbeit<br />

von Regisseur Mirko Borscht (»komA«) am<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>.<br />

DON JUAN<br />

von Molière<br />

PREMIERE<br />

Hemmungslos hedonistisch verschwendet<br />

sich Don Juan an die Frauen, die Lust<br />

und das Leben – dies macht ihn gleichermaßen<br />

anziehend wie abstoßend.<br />

Der Mythos des großen Verführers lebt<br />

auch von unserer Lust an der Unmoral.<br />

Molière zeigt ihn uns als zynischen Freigeist,<br />

dessen Kraft aus seiner völligen<br />

Ungebundenheit rührt. Frei von jedem<br />

Glauben, hat Don Juan nichts zu fürchten<br />

und nichts zu verlieren. Nach »Yerma«<br />

zweite Regiearbeit von Sebastian Schug<br />

am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>.<br />

GRAFFITIMUSEUM<br />

Skripte unbekannter Autoren (V)<br />

Wir sammeln weiter. Graffiti ist unser<br />

Material. Es steht schon da, es drängt<br />

sich auf. Jetzt widmen wir uns Graffiti<br />

auf Güterzügen. Hier schlägt der Zufall<br />

den Takt. Eine sehnsuchtsvolle, fast<br />

schon kitschige Grundmelodie pfeift die<br />

Gleise entlang, wenn die blinden Passagiere<br />

uns ihre Geschichte erzählen. Am<br />

9. Januar wird das Skript eingelesen<br />

(Treffpunkt: 14 Uhr, <strong>Schauspiel</strong>haus). Am<br />

15. Januar kommt es auf die Bühne des<br />

Ballhof Zwei (20 Uhr).<br />

15.01.11 <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

15.01.11 Cumberlandsche Bühne<br />

30.01.11 11 Uhr Foyer <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

30.01.11 17:30 Uhr Kino im Künstlerhaus<br />

PARZIVAL<br />

von Lukas Bärfuss<br />

nach Wolfram von Eschenbach<br />

WIEDERAUFNAHME<br />

Die Parzival-Dichtung Wolfram von<br />

Eschenbachs gehört zu den bedeutendsten<br />

literarischen Texten des deutschen<br />

Mittelalters. Lukas Bärfuss, derzeit einer<br />

der profiliertesten Autoren im deutschen<br />

Sprachraum, hat für das <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong><br />

eine neue, eigene Bearbeitung erstellt.<br />

Zur Wiederaufnahme kommt es zu<br />

einer Umbesetzung der Titelfigur: Für<br />

Sandra Hüller spielt Sebastian Kaufmane<br />

den Parzival.<br />

CHRONIK EINES ANGEKÜN-<br />

DIGTEN TODES<br />

von Gabriel García Márquez<br />

PREMIERE<br />

Nach einer rauschenden Hochzeit bringt<br />

der wütende Bräutigam seine Jungvermählte<br />

zurück zu ihren Eltern: Sie ist keine<br />

Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande<br />

verantwortlich? Ihre Brüder schwören<br />

blutige Rache... Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger<br />

Gabriel García<br />

Márquez entwirft in »Chronik eines angekündigten<br />

Todes« ein vielstimmiges<br />

Dorfpanorama. Erste Regie von Albrecht<br />

Hirche am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>.<br />

WELTAUSSTELLUNG<br />

PRINZENSTRASSE (XII):<br />

DAS DRAMA DER EVOLUTION<br />

Oskar Negt im Gespräch mit dem Paläontologen<br />

Björn Kröger<br />

Wie unser Lebensstil das Gesicht der Erde<br />

möglicherweise irreversibel verändert und<br />

welche langfristigen Folgen unseres Handelns<br />

möglich sind – dazu befragt Oskar<br />

Negt den deutschen Paläontologen Björn<br />

Kröger in Folge XII der Gesprächsreihe<br />

»Weltausstellung Prinzenstraße«. Es geht<br />

um die erdgeschichtliche Tiefenzeit und<br />

die Akteure der Evolution. Mit freundlicher<br />

Unterstützung der TUI Stiftung<br />

LANGE FILMNACHT<br />

MIT HANS-WERNER<br />

KROESINGER<br />

FilmTheater – Theatermacher zu Gast im<br />

Künstlerhaus<br />

Der Dokumentartheaterspezialist Hans-<br />

Werner Kroesinger, der am 26. Februar im<br />

Ballhof Zwei sein Projekt »Unternehmen<br />

Hunger« auf die Bühne bringt, zeigt in der<br />

Reihe »FilmTheater« zwei seiner Lieblingsfilme:<br />

den Spätwestern »The Wild Bunch«<br />

von Sam Peckinpah, der 1914 während<br />

der Revolution in Mexiko spielt, und »Opening<br />

Night«, die Geschichte einer alkoholkranken<br />

<strong>Schauspiel</strong>erin. Beide Filme<br />

können auch einzeln besucht werden!<br />

11.02.11 Ballhof Eins<br />

12.02.11 <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

26.02.11 Ballhof Zwei<br />

19.03.11 <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

CLAVIGO<br />

von Johann Wolfgang von Goethe<br />

PREMIERE<br />

Der 25-jährige Johann Wolfgang von<br />

Goethe schrieb »Clavigo« in einer einzigen<br />

Woche nieder. Mit dem Konflikt<br />

zwischen der Sehnsucht nach Familie<br />

und den Verheißungen von Karriere und<br />

Ruhm schrieb er sich sein eigenes Dilemma<br />

von der Seele. »Clavigo« diente ihm<br />

als »poetische Beichte«, nachdem er Friederike<br />

Brion, Pfarrerstochter aus einfachem<br />

Hause, für seine Juristenkarriere<br />

in Strasbourg verlassen hatte.<br />

BAUERN, BONZEN, BOMBEN<br />

nach einem Roman von Hans Fallada<br />

UNTERNEHMEN HUNGER<br />

von Hans-Werner Kroesinger<br />

DER SILBERSEE<br />

von Georg Kaiser mit Musik von Kurt Weill<br />

PREMIERE<br />

Hans Fallada gehörte zu den bekanntesten<br />

deutschen Schriftstellern der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Roman<br />

»Bauern, Bomben und Bonzen« knüpft an<br />

die Ereignisse des Landvolk-Prozesses<br />

im holsteinischen Neumünster an und<br />

entwirft das Panorama einer Gesellschaft,<br />

die zum Spielfeld politischer und wirtschaftlicher<br />

Einzelinteressen geworden<br />

ist. Politikverdrossenheit, Denunziation<br />

und politische Intrigen sind die Folge.<br />

PREMIERE<br />

Wieso haben die meisten Menschen<br />

nicht genug zu essen? Wieso können wir<br />

zum Mond fliegen, sind aber unfähig, Lebensmittel<br />

gerecht zu verteilen? Warum<br />

haben 50 Jahre Entwicklungshilfe die<br />

Lage nur noch verschlimmert? Entstehen<br />

Hungersnöte aus Mangel an Lebensmitteln<br />

oder durch ihre planvoll gesteuerte<br />

Fehlverteilung? Wie entstand eigentlich<br />

die Dritte Welt und die Erste, ihr Elend<br />

und unser Wohlstand? »Unternehmen<br />

Hunger« – ein Projekt mit Zukunft!<br />

PREMIERE<br />

In seiner am 18. Februar 1933 uraufgeführten<br />

<strong>Schauspiel</strong>oper »Der Silbersee«<br />

nutzt Kurt Weill, der Komponist der »Dreigroschenoper«,<br />

wie in anderen seiner<br />

Werke auch, eine Vielzahl musikalischer<br />

Formen. Und obwohl es sich um ein Theaterstück<br />

handelt – der weitaus größte<br />

Teil des Textes wird gesprochen –, ist die<br />

musikalische Ausarbeitung ausgesprochen<br />

anspruchsvoll. Intendant Lars-Ole<br />

Walburg begibt sich in dieses genresprengende<br />

Wagnis.<br />

IMPRESSUM <strong>Heft</strong> <strong>#5</strong> HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater <strong>Hannover</strong> GmbH, <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>, Spielzeit 2010/11 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION<br />

Björn Achenbach, Aljoscha Begrich, Vivica Bocks, Volker Bürger, Judith Gerstenberg, Friederike Trudzinski, Christian Tschirner GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit<br />

Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim

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