Prof. Albrecht Roser Puppenspieler im Gespräch mit Dr. Ernst - 1
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http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0304/20030414.shtml<br />
Sendung vom 14.04.2003, 20.15 Uhr<br />
<strong>Prof</strong>. <strong>Albrecht</strong> <strong>Roser</strong><br />
<strong>Puppenspieler</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>mit</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Ernst</strong> Emrich<br />
Emrich: Grüß Gott, verehrte Zuschauer, herzlich willkommen be<strong>im</strong> Alpha-Forum.<br />
Unser Gast <strong>im</strong> Studio ist heute <strong>Prof</strong>essor <strong>Albrecht</strong> <strong>Roser</strong>. <strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong>,<br />
wir kennen uns aus einer Zeit, in der es noch keinen <strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong> gab.<br />
Darauf kommen wir aber später noch zurück. Ich habe zunächst eine<br />
Frage, die ich etwas umständlich einleiten möchte. Jedermann weiß heute,<br />
was der Kulturbetrieb ist: Theater, Konzerte, Oper, Staatstheater usw.<br />
Haben Sie denn eine Erklärung dafür, warum <strong>im</strong> vergangenen Jahr <strong>im</strong><br />
Staatstheater Stuttgart das Theater <strong>mit</strong> seiner Riesenbühne vor nationalen<br />
und internationalen Gästen für einen einzelnen Mann und eine hölzerne<br />
Puppe zur Verfügung stand? Gibt es eine Erklärung für so etwas<br />
Sparsames in dem sonst so aufwändigen Kulturbetrieb?<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, es gibt eine Erklärung dafür. Aber das war bereits <strong>im</strong> Jahr 2001: Damals<br />
wurde 50 Jahre "Gustav" bzw. "Gustav und sein Ensemble" gefeiert.<br />
Gustav ist eine Puppe, eine Clownspuppe, die vor nun 52 Jahren<br />
entstanden ist. 2001 hatte sie also 50-jähriges Jubiläum. Dies hat Herr<br />
Schirmer, dieser hervorragende Theatermann, nicht nur registriert, sondern<br />
auch äst<strong>im</strong>iert und gesagt: "Wenn es jemand fertig bringt, <strong>mit</strong> einer Puppe<br />
oder wenn eine Puppe es fertig bringt, <strong>mit</strong> einem Menschen 50 Jahre auf<br />
der Bühne durchzustehen, dann verdient er eine Vorstellung <strong>im</strong><br />
Staatstheater!" Und genau das hat er dann veranlasst.<br />
Emrich: Das war Ihre Jubiläumsfeier zum 50-jährigen Bestehen Ihrer<br />
<strong>Puppenspieler</strong>-Existenz.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das st<strong>im</strong>mt.<br />
Emrich: Wie hat denn das Ganze angefangen? Was waren Ihre Eltern von Beruf?<br />
Gab es denn da eine künstlerische Beziehung ihrerseits, sodass Sie dann<br />
diesen Weg gegangen sind?<br />
<strong>Roser</strong>: Nein, meine Eltern waren ganz normale und anständige Bürgersleute, die<br />
zwar Verständnis hatten, aber nicht selbst in dieser Richtung tätig waren.<br />
Ich hätte es auch ohne das Kriegsende gegen eine solche bürgerliche<br />
schwäbische Tradition nicht durchsetzen können, als einer aus dieser<br />
Familie einen Beruf zu ergreifen, der für die pietistische schwäbische<br />
Verwandtschaft kein Beruf ist, sondern nur eine etwas anrüchige<br />
Beschäftigung, die man nach Feierabend ohne Weiteres duldet und<br />
vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad äst<strong>im</strong>iert.<br />
Emrich: Aber als lebenserfüllende Tätigkeit lehnt man das ab.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das war kein Beruf, bitte. Nach Feierabend ist das in Baden-<br />
Württemberg ohne Weiteres möglich, aber nicht als Beruf.<br />
Emrich: Sie sind Jahrgang 1922 und waren auch selbst <strong>im</strong> Krieg. Sie gehören da<strong>mit</strong><br />
einem Jahrgang an, der in diesem Krieg am meisten "geblutet" hat. Aus
diesem Jahrgang sind nämlich die meisten nicht mehr nach Hause<br />
gekommen.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das ist einer von diesen Jahrgängen.<br />
Emrich: Wie ist das weitergegangen? Wie sind Sie nach Hause gekommen? Was<br />
haben Sie angefangen, als dann nichts mehr da war?<br />
<strong>Roser</strong>: Ich habe wirklich alles angefangen – so, wie man das damals eben<br />
gemacht hat. Das heißt, ich habe alles probiert. Ich habe auch versucht zu<br />
studieren. Ich habe nämlich auch zwei Tage auf der Kunstakademie<br />
zugebracht: In diesen beiden Tagen habe ich aber festgestellt, dass das für<br />
mich nicht das Richtige ist. So etwas hätte ich nie und n<strong>im</strong>mer aushalten<br />
können: Ich kann diese Richtung der theoretischen Erwägung, was man<br />
jetzt vielleicht tun könnte, nicht aushalten. Das war nichts für mich. Ich habe<br />
dann wirklich alles Mögliche gemacht: vom Artisten bis zum eigenen<br />
Varieteunternehmen, vom Innenarchitekten bis zum Graphiker und zum<br />
Fabrikanten von Kunsthandwerk.<br />
Emrich: Das war dann aber die Brücke, die zu den Puppen geführt hat.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das hat dazu geführt, dass das Kunsthandwerk schließlich einmündete<br />
in das Herstellen von solchen Puppen. Mit "Gustav" hat dann eben auch<br />
das Spielen begonnen.<br />
Emrich: Wenn wir hier schon von diesem Clown namens Gustav sprechen, sollten<br />
wir auch gleich noch hinzufügen, dass sie nicht die Hauptperson eines<br />
<strong>Dr</strong>amas darstellt: Stattdessen ist das eine Einzelpersönlichkeit.<br />
<strong>Roser</strong>: Genau.<br />
Emrich: Sie sind ja auch kein <strong>Puppenspieler</strong>, der ganze Theaterstücke auf der<br />
Bühne spielt, sondern Sie sind ein Einzelspieler, der <strong>mit</strong> der Puppe umgeht.<br />
<strong>Roser</strong>: Nein, nein, wir machen schon auch große Vorstellungen. In diesem Buch<br />
hier wird z. B. beschrieben, was wir damals als große Vorstellung<br />
herausgebracht haben. Ich habe nämlich <strong>im</strong>mer wieder versucht,<br />
Ensembles zu bilden. Auf die Dauer habe ich das aber nicht geschafft.<br />
Unsere schönste Geschichte war trotz allem ein "Don Juan" von Gluck: <strong>mit</strong><br />
<strong>im</strong>merhin sieben Menschen und vielen, vielen Figuren. Das waren<br />
Marionetten und auch Schattenfiguren und Masken usw. Das waren<br />
wirklich ganz verschiedene Figuren auf der Bühne. Das ist 17 Mal <strong>mit</strong><br />
großem Erfolg auf der Bühne gelaufen, aber dann ist das nicht mehr<br />
weitergegangen. Das hatte u. a. den Grund, dass wir <strong>mit</strong> Eurythmistinnen<br />
gearbeitet haben. Diese Eurythmistinnen bringen nämlich eine ganz<br />
wichtige Voraussetzung für unseren Beruf <strong>mit</strong>, wie ich ihn auffasse. Sie<br />
lehren erstens ein ganzes Jahr lang das Gehen auf der Bühne: Was das<br />
wert ist, habe ich erst später schätzen gelernt, als ich dann in Stuttgart<br />
selbst ab 1983 ausgebildet habe. Ich habe erst da zu schätzen gelernt, was<br />
es bedeutet, wenn jemand schon mal auf der Bühne gehen kann. Darüber<br />
hinaus lehrt die Eurythmie auch die Technik der Bewusstseinsverlagerung.<br />
Das ist ein Begriff, den bei uns eigentlich kaum jemand kennt. Es ist aber<br />
notwendig, das Bewusstsein verlagern zu können, wenn man <strong>mit</strong> einer<br />
Puppe wirklich spielen will. Dabei ist es egal, ob das nun eine Marionette<br />
oder eine Handpuppe oder eine Stockpuppe usw. ist. Immer braucht man<br />
eigentlich eine Bewusstseinsverlagerung als Voraussetzung für das<br />
Spielen.<br />
Emrich: Der Spieler muss also aus seinem Bewusstsein heraus und in die Puppe<br />
hineinkommen.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, man muss dabei das eigene Bewusstsein in die Puppe hinein verlegen.<br />
Emrich: Heißt das, dass die Puppe kein Requisit ist? Ist die Puppe so etwas wie ein<br />
Instrument für den <strong>Puppenspieler</strong>?
<strong>Roser</strong>: Sie ist wie ein Instrument, auf dem er spielt. Im Grunde genommen ist das<br />
die engste Beziehung, die eine Marionette oder überhaupt eine Theaterfigur<br />
gegenüber dem Spielenden haben kann: Die gleiche Bedeutung, die ein<br />
Musikinstrument hat, hat die Puppe für den <strong>Puppenspieler</strong>, wenn er wirklich<br />
Puppentheater oder -spiel macht. Heute ist das schwierig, weil das Wort<br />
"Figurentheater" heute <strong>im</strong> Grunde genommen ein solches Sammelsurium<br />
bezeichnet, dass man eigentlich schon wieder betonen müsste, man sei<br />
aber, bitte schön, <strong>Puppenspieler</strong>. Denn Figurentheater kann ja alles<br />
Mögliche sein.<br />
Emrich: Sie sprechen gerade vom Verhältnis des <strong>Puppenspieler</strong>s zur Puppe. Was<br />
ist denn eigentlich eine Marionette? Ich habe irgendwo gelesen, dass eine<br />
Marionette nichts anderes als ein Pendel sei. Ist das richtig?<br />
<strong>Roser</strong>: Eine Marionette hat <strong>mit</strong> einem Pendel zumindest ganz viel zu tun. Das hier<br />
ist eine ganz einfache Marionette, aber es ist eben bereits eine Marionette.<br />
(<strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong> hält eine rote Kugel, die an einem Faden hängt, in der<br />
Hand.) Denn sie hat alles, was eine Marionette haben muss: nämlich einen<br />
Körper und einen Faden. Mit diesem Faden kann man bereits ganz viel<br />
machen. Man kann da<strong>mit</strong> vor allem phantastisch üben. Denn das Pendel<br />
alleine reicht nämlich nicht. Man muss das Pendel auch anhalten können!<br />
Man muss es also in Schwung setzen und <strong>im</strong> nächsten Moment auch<br />
wieder anhalten können. Wenn man das erst einmal perfekt kann, auch aus<br />
der runden Pendelbewegung heraus, dann hat man da<strong>mit</strong> den ersten<br />
Schritt zum <strong>Puppenspieler</strong> getan. Wenn jemand <strong>mit</strong> so einer Kugel spielt,<br />
dann sieht man auch schon sofort, ob er es fertig bringt, sich in diese Kugel<br />
hineinzuversetzen. Oder ob er diese Kugel nur mechanisch bewegt. Dies<br />
kann man alles bereits an der Kugel feststellen. Der nächste Schritt ist diese<br />
Figur hier. (<strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong> zeigt eine Marionette, bestehend aus zwei<br />
Tüchern, die vier kleinere und eine größere Holzkugel verbinden. Die vier<br />
kleinen Holzkugeln bilden das Ende der Arme und der Beine, die größere<br />
Holzkugel ist der Kopf. Die einzelnen Kugeln wiederum sind über Fäden<br />
<strong>mit</strong> einem Spielkreuz verbunden.) Das ist hier wirklich eine fast schon<br />
vollständige Marionette. Die Kugel am Faden vorher war die einfachste<br />
Marionette: Sie kann jedoch bereits eine ganze Menge. Diese hier nun <strong>mit</strong><br />
dem Tuch geht aber doch schon einen kleinen Schritt weiter. (<strong>Prof</strong>essor<br />
<strong>Roser</strong> erweckt die Marionette zum Leben, lässt sie laufen, knien, sitzen und<br />
tanzen.) Das sind nämlich hier schon mehrere Kugeln und genannt wird<br />
das Ganze die so genannte Tüchermarionette. Diese Kugeln sind durch<br />
zwei sehr leichte Perlontücher <strong>mit</strong>einander verbunden. Diese Marionette<br />
kann jedoch bereits alles, was eine richtige Marionette können muss. Jede<br />
Bewegung kann man da<strong>mit</strong> machen. Das ist ganz erstaunlich, obwohl das<br />
eigentlich ein ganz, ganz einfaches Instrument ist.<br />
Emrich: Da werden nur bei den Kugeln die Ecken abgebunden und dann gibt es<br />
hier noch diesen Kopf.<br />
<strong>Roser</strong>: Der Kopf ist durchbohrt, durch ihn wird das Tuch hindurchgezogen. Hier<br />
hinten dran ist bereits die Aufhängung, die ganz, ganz wichtig ist. Die<br />
Aufhängung ist also das Versehen dieses Geschöpfes <strong>mit</strong> Fäden, sodass<br />
man diese Figur dann auch wirklich bewegen kann. Aber was heißt<br />
"bewegen": Genauer ausgedrückt müsste man sagen, dass man <strong>mit</strong> diesen<br />
Fäden die Bewegungen der Marionette veranlassen kann. Denn das<br />
Merkwürdige bei der Marionette ist ja, dass bei ihr der Mensch keine<br />
Bewegung “macht”, sondern die Bewegungen der Marionette nur<br />
veranlasst.<br />
Emrich: Das heißt, hierbei lebt alles aus der Schwerkraft heraus. Die Puppe kann ja<br />
ihre Arme nur sinken lassen. Der Spieler muss sie dann wieder hochheben.<br />
All das, was die Puppe macht, ist ein Reagieren auf Anregungen des<br />
Spielers.
<strong>Roser</strong>: Ja. Und er kann wiederum nur anregen, weil es die Schwerkraft gibt, die<br />
alles Gewicht nach unten zieht. Er kann das bisschen Gewicht, das er in der<br />
Hand hat, veranlassen, sich zu bewegen. Das ist das eigentlich sehr<br />
Komplizierte.<br />
Emrich: Es gibt so etwas wie eine Philosophie, die <strong>mit</strong> dem Puppenspiel<br />
zusammenhängt. Von der Bewusstseinsverlagerung haben wir bereits<br />
gesprochen. Wie kommt es denn eigentlich, dass die Menschen so<br />
fasziniert sind von den Puppen? Wie kommt es, dass Sie auf der Bühne<br />
stehen, in voller Leibesgröße sichtbar sind, zu Ihren Füßen auf dem Podium<br />
eine Puppe agiert und alle, wirklich alle Zuschauer nur und ausschließlich<br />
wie gebannt auf diese Puppe und nicht auf Sie schauen? Niemand schaut<br />
dabei auf die interessanten Manipulationen, die Sie <strong>mit</strong> dem Spielkreuz und<br />
<strong>mit</strong> den Fäden veranstalten. Nein, stattdessen schauen auch die<br />
Erwachsenen wie die Kinder <strong>im</strong> Kasperltheater nur auf diese Puppe. Denn<br />
bei den Kindern ist es ja auch so: Wenn man da eine Kasperlepuppe in der<br />
Hand hält und <strong>mit</strong> ihr spielt, dann schauen die Kinder ja auch nur noch auf<br />
diese Puppe und nicht mehr auf mich als Spieler. Woher kommt das?<br />
<strong>Roser</strong>: Das ist nur sehr schwer zu erklären. Eigentlich ist das der Vorgang, dass<br />
man sich als Spieler in einen Gegenstand hineinversetzt. Das ist diese<br />
Sache <strong>mit</strong> der Bewusstseinsverlagerung. Dadurch macht der Spieler diesen<br />
Gegenstand zu etwas, das es eigentlich nicht gibt und das es heute schon<br />
gleich gar nicht mehr gibt: Für denjenigen, der zusieht, ist es nämlich so,<br />
dass der Spieler aufgrund seines Spiels ein Stück Materie lebendig werden<br />
lässt. Derjenige, der zusieht, erlebt in diesem Vorgang, dass der Spieler<br />
eigentlich totes Material in Leben verwandelt durch seine eigene Leistung.<br />
Das ist das, was die Amerikaner und Engländer "make believe" nennen.<br />
Das heißt, man "macht etwas glauben". Dies hat also, wie ich zu behaupten<br />
wage, auch eine religiöse Komponente. Man bringt es da<strong>mit</strong> nämlich in der<br />
Tat fertig, dass ein moderner Mensch – dies gilt wirklich nicht nur für die<br />
Kinder, sondern genauso gut für die Erwachsenen – diesen Schritt<br />
vollziehen kann. Denn ansonsten können die Menschen ja in ihrem<br />
normalen Leben diesen Schritt nie mehr vollziehen: weil sie das nicht mehr<br />
fertig bringen.<br />
Emrich: Weil sie es verlernt haben?<br />
<strong>Roser</strong>: Hm, das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass sie es verlernt haben. Ich<br />
glaube vielmehr, dass sie einfach nicht mehr so weit gebracht werden. Der<br />
<strong>Puppenspieler</strong>, der ohne Prätention auftritt, der also offen zeigt, wie er es<br />
macht, vertieft ja diese ganze Geschichte noch mehr. Denn der Zuschauer<br />
sieht ja, wie es gemacht wird, weiß also, wie es gemacht wird: Obwohl er<br />
das weiß, glaubt er, dass diese Puppe lebendig ist. Genau dies macht <strong>im</strong><br />
Grunde genommen die Faszination aus, die genauso wie bei Kindern auch<br />
bei Erwachsenen zu erreichen ist: Diese Faszination bringt es auch be<strong>im</strong><br />
Erwachsenen fertig, dass er dabei ein ganz eigenartiges Glücksgefühl hat.<br />
Nennen wir das ruhig mal "Glücksgefühl". Er hat dieses Glücksgefühl, weil<br />
er von sich weggekommen ist, weil er von seinem verkopften Dasein einen<br />
Schritt weg getan hat: in einen Bereich hinein, nach dem er sich ständig<br />
sehnt und den er doch nur ganz selten erreicht.<br />
Emrich: Kann man sagen, dass die Puppe daraus lebt, dass sie von der Seele des<br />
<strong>Puppenspieler</strong>s etwas übern<strong>im</strong>mt und ebenso etwas von der Seele des<br />
Publikums? Denn das Publikum legt ja auf seine Weise genauso wie der<br />
<strong>Puppenspieler</strong> auch etwas in diese Puppe hinein. Sie haben das vorhin <strong>mit</strong><br />
Worten umschrieben, dass die Zuschauer dabei etwas in umgekehrter<br />
Richtung nachvollziehen, was der <strong>Puppenspieler</strong> an Leben, an<br />
"Hineingabe" in die Puppe aus sich herauslässt.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, man trifft sich wirklich <strong>mit</strong> dem Zuschauer. Im Grunde genommen ist es<br />
so: Der <strong>Puppenspieler</strong> bildet die eine Seite, das Publikum die andere. Die
Puppe selbst steht in der Mitte. Sie steht dort in einer merkwürdigen<br />
Objektivität und sagt quasi: "Ich bin hier, bitte!" Wenn sich dann beide<br />
Seiten bei dieser Puppe treffen, dann ist das wirklich eine ganz besondere<br />
Geschichte, eine Geschichte, die Sie ja selbst auch schon mehrmals erlebt<br />
haben. Diese Geschichte funktioniert zwar keineswegs <strong>im</strong>mer, aber sie<br />
funktioniert doch sehr oft. Sie erklärt auch, warum man <strong>mit</strong> nur einer Puppe<br />
50 Jahre lang ohne jegliche Ermüdung spielen kann: weder auf meiner<br />
Seite, noch auf Seiten der Puppe. Die Puppe ermüdet ja eh weniger als<br />
ich, denn Holzköpfe haben nun einmal in der Regel eine gewisse Konstanz.<br />
Sie werden nie müde. Obwohl, wenn der Wurm in sie fährt, dann ist auch<br />
<strong>mit</strong> ihnen eines Tages Schluss.<br />
Emrich: Sie haben mich soeben gerade noch einmal auf den Gustav gebracht.<br />
Bedeutet denn dieser Gustav für Sie mehr als die anderen Puppen? Ist er<br />
als Ihr erstes Kind jemand, dem Sie besondere Liebe entgegenbringen? Es<br />
gibt ja auch Leute, die sagen, er wäre das andere Ich von Ihnen. Manchmal<br />
würde er sogar <strong>mit</strong> Ihnen rivalisieren.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das kann durchaus sein. Es ist auf alle Fälle so, dass er diese erste<br />
Manifestation verkörpert: Diese Puppe ist eigentlich das, was mich<br />
überhaupt von diesem schwierigen Nachkriegsdasein herübergerettet hat in<br />
ein ziviles Dasein. Sie hat mein Leben wirklich völlig erfüllt. Gut, ich habe ihn<br />
gemacht, aber – so merkwürdig das auch klingen mag – letztlich ist das wie<br />
bei Kindern: Wenn sie mal auf der Welt sind, dann sind sie auch<br />
selbständig.<br />
Emrich: Sie bekommen ein Eigenleben.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, sie bekommen ein Eigenleben und fungieren dann als selbständige<br />
Persönlichkeiten, wenn sie nur genügend <strong>mit</strong>bekommen haben. Dieser<br />
Gustav hat das zweifellos. Er hat sich herumgedreht und mich dann zum<br />
Spielen gezwungen. Das heißt, ich habe die Wirkungsmöglichkeiten dieser<br />
Marionette nicht ausgehalten: Ich musste sie also anderen Menschen<br />
zeigen. Denn ich habe das alleine für mich nicht ausgehalten. Ich musste es<br />
also anderen zeigen und habe das auch so gemacht. Ich hatte natürlich<br />
keine Ahnung davon, dass ich da<strong>mit</strong> schön puppenspiele. Ich habe zu den<br />
Leuten nur gesagt: "Ihr müsst das unbedingt sehen!" Und so habe ich das<br />
jedem gezeigt. Ich hatte <strong>im</strong>mer eine stinkende Plastiktasche <strong>mit</strong> dabei, in<br />
der der Gustav drin war: damals noch ohne Farbe, ohne Kleider, ohne alles.<br />
Dennoch war er schon damals so stark, dass alle Leute geschrieben<br />
haben: "Mach nichts mehr an dieser Puppe! Lass sie so, wie sie ist!" Ich<br />
habe nur gemeint: "Ihr spinnt! Wenn ich sie so weit selbst gemacht habe,<br />
dann kann ich sie auch fertig machen." So habe ich den Gustav also <strong>im</strong><br />
Laufe der Zeit fertig gemacht: Und so ist er bis heute derselbe geblieben.<br />
Emrich: Spricht Gustav oder ist er stumm?<br />
<strong>Roser</strong>: Nein, er ist absolut stumm. Es ist auch so, dass ich durch die Technik, die<br />
ich bei Fritz Herbert Bross, meinem Lehrer <strong>im</strong> Marionettenbau, gelernt<br />
habe, einen Schritt weiter gegangen bin. Ich habe damals all das gelernt,<br />
was er an Technik und auch an Bewusstsein für die Marionetten entwickelt<br />
hatte. Er hat es ermöglicht, dass die Marionette heute ein modernes<br />
Instrument der Darstellung geworden ist. Sie ist auch nicht mehr darauf<br />
angewiesen, Geschichten zu erzählen. Denn durch diese Art des Spielens,<br />
die ich Bewegungstheater nenne, kommt erst die eigentliche Funktion der<br />
Marionette zum Tragen. Diese Funktion ist, Leute zum Glauben zu<br />
veranlassen. Erst dadurch, durch diese neue Form des Spielens <strong>mit</strong> der<br />
Marionette, wird diese eigentliche Funktion bewusst.<br />
Emrich: Ich habe jetzt direkt Lust darauf. Können wir das vielleicht in einer kleinen<br />
Etüde, nur in ein paar Schritten, in ein paar Bewegungen <strong>mit</strong> einer Puppe<br />
noch einmal zeigen?
<strong>Roser</strong>: Natürlich, das kann ich gut zeigen. Es steht ja hier in unserem <strong>Gespräch</strong><br />
noch eine andere Geschichte an, nach der Sie mich best<strong>im</strong>mt noch fragen<br />
werden. Sie wissen nämlich, dass ich von Anfang an nur Erwachsene<br />
gespielt habe. Ich konnte das zunächst einmal nicht unbedingt erklären.<br />
Heute kann ich das besser, weil ich mich nun schon so lange da<strong>mit</strong> befasst<br />
habe. Es ist nämlich erstens so, dass man Kunstrichtungen nur für<br />
Erwachsene entwickeln kann. Man kann sie für Kinder gebrauchen, aber<br />
entwickeln lassen sich Kunstrichtungen nur für Erwachsene und <strong>mit</strong><br />
Erwachsenen. So ging es mir damals auch. Ich habe daher eine Puppe<br />
<strong>mit</strong>gebracht, die diese moderne Version einer Bewegungspuppe, also einer<br />
Marionette, zeigt. Daran kann man auch erkennen, dass die Themen, die<br />
mich interessiert haben, durchaus erwachsene Themen sind und nicht<br />
mehr für das geeignet sind, was das Kind <strong>mit</strong> Recht fordert. Denn das Kind<br />
fordert ja be<strong>im</strong> Spielen, dass man auf seine Psyche und die in ihm<br />
vorhandenen Möglichkeiten eingeht. Mit dieser Puppe gehe ich nun<br />
eindeutig über das, was das Kind möchte und kann, weit hinaus. (<strong>Prof</strong>essor<br />
<strong>Roser</strong> bewegt nun eine Marionettenpuppe, die eine Bauchtänzerin<br />
darstellt.) Wir bräuchten jetzt natürlich auch Musik, da<strong>mit</strong> man sie wirklich<br />
spielen könnte, d. h. da<strong>mit</strong> man zeigen könnte, was <strong>mit</strong> ihr alles möglich ist.<br />
Emrich: Sie tanzt wirklich. Wie heißt sie denn?<br />
<strong>Roser</strong>: Das ist die Schwarze Bauchtänzerin, weil sie eben so schwarze Haare hat.<br />
Emrich: Kann sie wirklich <strong>mit</strong> dem Bauch wackeln?<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, natürlich. Sie ist auch sehr gut <strong>mit</strong> Menschen zusammen. (<strong>Prof</strong>essor<br />
<strong>Roser</strong> setzt die Marionette auf den Schoß von Doktor Emrich und lässt sie<br />
ihren Arm um seinen Hals legen und sich an ihn schmiegen.) Sie kann<br />
wirklich <strong>mit</strong> Menschen umgehen.<br />
Emrich: Ja, tatsächlich. Sie kann auch sehr schamhaft sein und sich verhüllen.<br />
<strong>Roser</strong>: Hier in dieser Puppe ist eine ganze Menge an Wissenschaft drinnen, die<br />
von diesem Fritz Herbert Bross kommt. Es fließt in diese Puppe aber auch<br />
viel von den Anschauungen ein, die wir heute über die Modernität einer<br />
Marionette haben. Ich habe also genau deswegen solche Themen wie z. B.<br />
den Bauchtanz gewählt. Diese Puppe hat ihren Schwerpunkt jedenfalls<br />
wirklich <strong>im</strong> Bauch. Alles zwischen ihrem Bauch und ihren Armen bzw. ihrem<br />
Kopf hängt ja nur an zwei Fäden: Sie hat keinen durchgehenden Körper, ist<br />
also nicht in sich geschlossen. Stattdessen ist sie in sich beweglich, weil sie<br />
komplett an Fäden aufgehängt ist. Das ist eine der Sachen, die mich<br />
natürlich bis heute faszinieren, und zwar restlos faszinieren. Sie fesseln<br />
mich heute noch genauso wie vor 50 Jahren.<br />
Emrich: Nun müssen wir aber einen kleinen Sprung machen und klären, wie viele<br />
Figuren Sie eigentlich auf die Bühne bringen, wenn sie als Gastspiel einen<br />
kompletten Abend bestreiten.<br />
<strong>Roser</strong>: Ein Dutzend, denn ein voller Abend dauert ungefähr zwei Stunden.<br />
Emrich: Und diese Bauchtänzerin braucht natürlich, wie Sie schon angedeutet<br />
haben, auch ihre Musik dazu, um ihre Möglichkeiten auszuspielen. Mit all<br />
Ihren Puppen sind Sie ja nicht nur in Deutschland und in Europa<br />
herumgereist, sondern in allen Erdteilen <strong>mit</strong> Ausnahme von Afrika.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, ich war nur in Nordafrika.<br />
Emrich: Sie sind bei Ihren Reisen und Gastspielen natürlich auch anderen<br />
<strong>Puppenspieler</strong>n begegnet, denn Sie haben dabei an Festivals, an<br />
Symposien usw. <strong>mit</strong>gewirkt.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, ich habe natürlich an vielen, vielen Festivals in aller Welt teilgenommen.<br />
Ich habe ja interessanterweise auch zuerst <strong>im</strong> Ausland <strong>mit</strong> meiner<br />
Lehrtätigkeit begonnen. Heute, <strong>im</strong> Alter, spielt diese Lehrtätigkeit in meinem
Leben natürlich eine <strong>im</strong>mer größer werdende Rolle. Das Studium dieser<br />
Fachrichtung in Stuttgart an der Hochschule für Musik und darstellende<br />
Kunst ist 1983 auf meine Initiative hin gegründet worden. Dieser<br />
Studiengang läuft sehr schön. In Berlin an der <strong>Ernst</strong>-Busch-Schule gibt es<br />
noch einen ähnlichen Studiengang, der allerdings ein wenig traditioneller<br />
angelegt ist. Dort hat man 16, 17 Jahre eher als in Stuttgart bereits da<strong>mit</strong><br />
angefangen. Letztlich ist es ja so, dass die <strong>Puppenspieler</strong> <strong>im</strong> Grunde<br />
genommen eine weltweite Gemeinschaft sind: Sie kennen sich fast überall<br />
in der Welt. Es ist <strong>im</strong>mer sehr, sehr amüsant, anderen <strong>Puppenspieler</strong>n aus<br />
anderen Gegenden der Welt zu begegnen. Dies gilt vor allem dann, wenn<br />
man auf asiatische <strong>Puppenspieler</strong> trifft. Das Puppenspiel hat in Asien<br />
nämlich eine ungeheuere Tradition, die z. T. 2000 Jahre und älter ist. In<br />
Asien ist ja sowohl das Schattentheater wie das Marionettentheater und<br />
natürlich auch das Maskentheater wie z. B. das No-Theater in Japan sehr<br />
verbreitet. Das hat dort eine so große Tradition und auch Entwicklung<br />
durchlaufen, von der wir hier bei uns nur träumen können.<br />
Emrich: Ist denn die Begegnung <strong>mit</strong> solchen Kollegen für Sie interessant, weil das<br />
einen netten Meinungsaustausch gibt, oder können Sie von diesen<br />
Kollegen auch etwas lernen? Haben diese Kollegen gar schon etwas von<br />
Ihnen gelernt?<br />
<strong>Roser</strong>: Ich glaube, dass das <strong>im</strong>mer gegenseitig ist. Wenn man sich auf einer<br />
best<strong>im</strong>mten Qualitätshöhe trifft, dann ist die Anregung auch <strong>im</strong>mer<br />
gegenseitig. Das heißt, ich schaue z. T. voller Neid auf die No-Maske. Ich<br />
habe einen Freund, <strong>mit</strong> dem ich zwar kein Wort sprechen kann, <strong>mit</strong> dem ich<br />
mich aber umso besser verstehe. Er ist ein buddhistischer Mönch und lebt<br />
in Japan. Mit ihm tausche ich mich <strong>im</strong>mer wieder aus. Er hat von mir eine<br />
Bauchtänzerin und ich habe von ihm eine No-Maske bekommen. Ich lege<br />
diese No-Maske bis heute <strong>im</strong>mer wieder neben meine neu gemachten<br />
Puppen, um deren Qualität an ihr zu messen. Ich sehe dann jedes Mal,<br />
dass mir noch mindestens 150 Jahre fehlen, bis ich auch nur annähernd an<br />
die No-Maske herankomme, die mein Freund heute herstellt. Sein "Credo"<br />
als Buddhist, das ich natürlich aufgrund von Übersetzungen schon auch<br />
<strong>mit</strong>bekomme, besteht aber darin, dass der Weg das Wesentliche sei und<br />
nicht das Ergebnis: Der Weg ist das Ziel. Dies wird mir tatsächlich <strong>im</strong> Alter<br />
<strong>im</strong> klarer.<br />
Emrich: Mir fällt <strong>im</strong> Moment eine Frage ein, die hier anschließt und doch noch<br />
einmal auf das Wesen der Marionette zurückgreift. Wie kommt es denn,<br />
dass bei Ihren Vorstellungen und auch bei Auftritten anderer <strong>Puppenspieler</strong><br />
der aufmerksame Zuschauer verschiedene Gemütsbewegungen einer<br />
Puppe wahrnehmen kann? Ein und dieselbe Puppe ist nicht <strong>im</strong>mer nur<br />
lustig, nicht <strong>im</strong>mer nur der Clown usw., sondern oft auch traurig, wie das z.<br />
B. be<strong>im</strong> Pierrot der Fall ist. Eine Puppe kann also ihre St<strong>im</strong>mung wandeln,<br />
obwohl sie doch die ganze Zeit über das gleiche Gesicht, den gleichen<br />
Holzkopf hat. Wie ist das möglich?<br />
<strong>Roser</strong>: Da<strong>mit</strong> haben Sie erneut ein spannendes Thema angesprochen, ein Thema<br />
freilich, das nur sehr schwer zu erklären ist. Eine gute Maske für das<br />
Theater ist entgegen dem Wortsinn, den wir ihr unterlegen, nicht starr,<br />
sondern etwas, das durch Bewegung und Licht sofort zu einem Eigenleben<br />
erwacht. Das ist zwar nur unglaublich schwer zu erklären, aber das ist<br />
definitiv etwas, das ich bei Herrn Bross gelernt habe. Er hat mir gezeigt,<br />
dass man bei der Herstellung eines Puppenkopfes keinen Ausdruck bis zu<br />
seinem Ende führen darf. Stattdessen muss man <strong>im</strong> Grunde genommen so<br />
weit vorher aufhören <strong>mit</strong> dem lachenden Mund, dass er auch noch weinen<br />
kann! Das ist wirklich sehr schwer zu erklären, weil die Wörter hier natürlich<br />
nicht so furchtbar viel sagen. Jedenfalls ist das eine eigene Wissenschaft für<br />
sich und gute Masken sind <strong>im</strong>mer daran zu erkennen, dass sie in ein<br />
eigenartiges Leben verfallen, sowie Sie sie in die Hand nehmen und
anfangen, sie <strong>im</strong> Licht zu bewegen. Wenn ich jetzt mehrere Masken <strong>mit</strong> ins<br />
Studio gebracht hätte, dann könnte man das leicht zeigen. Man kann das<br />
aber auch hier an der "Oma" zeigen. (<strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong> n<strong>im</strong>mt eine<br />
Marionette, die eine ältere, bebrillte Frau darstellt: die "Oma".) Wenn sich ihr<br />
Kopf bewegt, dann entwickelt sich dabei eine ganz eigenartige und<br />
eigengesetzliche M<strong>im</strong>ik. Sie entsteht nur allein aufgrund der offenen Form<br />
der Maske, durch das Licht und durch die Bewegung.<br />
Emrich: Bei dieser Marionette kommt freilich hinzu, dass sie spricht: Die "Oma" ist<br />
die Einzige in Ihrem Ensemble, die spricht.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das ist richtig.<br />
Emrich: Nehmen Sie sie auch <strong>mit</strong>, wenn Sie meinetwegen nach Japan, nach Indien<br />
oder nach China reisen?<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, und ich lerne überall die Sprache. Genauer gesagt ist es so, dass die<br />
Oma die Sprache lernt. Gut, das sind natürlich jedes Mal nur so an die 50<br />
Worte. Überall ist mir das eigentlich gelungen, bis auf China. In China habe<br />
ich das nicht geschafft. China ist nämlich in jeder Beziehung ein ganz<br />
besonderes Pflaster. China hat nämlich auf dem Gebiet der Marionette<br />
ebenfalls eine unglaubliche und uralte Kultur. Wir haben ja zu diesem<br />
Jubiläum vor zwei Jahren für das Symposium auch einen Chinesen<br />
eingeladen, den ich ein Jahr davor bei einem Aufenthalt in China kennen<br />
gelernt hatte. Es war hochinteressant, uns auszutauschen. Direkt konnten<br />
wir zwar keine Unterhaltung führen, aber über Dolmetscher haben wir uns<br />
sehr gut verstanden. Noch besser haben wir uns freilich verstanden, wenn<br />
wir uns gegenseitig unsere Puppen in die Hand gaben. Denn es hat<br />
natürlich jeder ganz interessiert versucht herauszubekommen, was dabei<br />
entsteht, wenn er <strong>mit</strong> der Puppe des anderen spielt. Die Chinesen haben<br />
also eine wahnsinnig alte Tradition auf diesem Gebiet, die allerdings nicht<br />
ohne Entwicklung und Dynamik verläuft. Denn auch darüber haben wir<br />
gesprochen: Die Entwicklung ist jetzt <strong>im</strong> Moment z. B. etwas festgefahren in<br />
den Themen, also in dem, was sie darstellen. Heute besteht tatsächlich die<br />
Gefahr, dass sie <strong>im</strong> Hinblick auf die Themen ein wenig erstarrt.<br />
Emrich: Dass sie museal wird.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, es geht einfach nicht so recht weiter und deshalb fragen sie auch, was<br />
sie jetzt machen sollen. Wir hatten eine richtige Tagung dort zu diesem<br />
Thema, wo wir lang und ausführlich darüber sprechen konnten. Dort auf<br />
dieser Tagung waren die 17 bedeutendsten Puppentheater versammelt.<br />
Das sind jeweils Theater <strong>mit</strong> 100 bis 300 Angestellten. Das sind riesige<br />
Apparate <strong>im</strong> Vergleich zu unseren winzigen Truppen. Im Vergleich zu ihnen<br />
sind wir nur arme Komödianten, denn das sind wirklich alles richtiggehende<br />
Intendanten. Bei uns ist so etwas nicht möglich, jedenfalls nicht in den<br />
westlichen, den alten Bundesländern. Hier ist es nie zu großen Ensembles<br />
gekommen, außer in Köln, wo es ja das "Kölsche Hänneschen" gibt. Auch<br />
in München hat es zumindest eine Zeit lang ein solches Ensemble<br />
gegeben. Auch in Augsburg gibt es natürlich bis heute ein<br />
Puppentheaterensemble: Bei der "Augsburger Puppenkiste" hat es Herr<br />
Oehmichen <strong>mit</strong> einem ausgeprägten Theatersinn nach dem Krieg<br />
geschafft, ein solches Ensemble aus der Taufe zu heben. Diese Truppe<br />
dort ist zwar an das städtische Theater angeschlossen. Dies geht aber nur<br />
bis zum Vorhang: Hinter dem Vorhang fing seine eigene Initiative an. Er hat<br />
dort wirklich sehr, sehr gute Arbeit geleistet. Betrieben hat er dieses Theater<br />
aber gemäß der traditionellen Auffassung, dass Marionetten eine<br />
Geschichte zu erzählen haben. Ich dagegen habe etwas völlig anderes<br />
angefangen: Ich habe demgegenüber die Marionette als Instrument, als<br />
Soloinstrument begriffen und versucht herauszubekommen, was in diesem<br />
Gefüge aus Holz, Stoff, Material und Faden einerseits und Technik<br />
andererseits an Möglichkeiten drin ist. Dabei habe ich völlig neue Dinge
ausprobiert und herausbekommen. Ich bin wirklich bis heute jeden Tag<br />
dabei zu entdecken, wie sehr ich noch am Anfang stehe <strong>mit</strong> diesem<br />
Bemühen. Ich bin nach wie vor geradezu davon besessen, diese Richtung<br />
weiter zu verfolgen und zu schauen, was alles möglich ist.<br />
Emrich: Und siehe, es unterhält und drückt so viel aus, wie ansonsten nur in<br />
erzählten Geschichten drinnen ist: Es steht wirklich für sich alleine. Denn es<br />
hätte ja auch jemand sagen können, dass das alles nur Exper<strong>im</strong>ente und<br />
Etüden sind, die gerade mal für eine Selbstbeschäftigung und für Fachleute<br />
ausreichen. Nein, das, was Sie entwickelt haben, ist eine gültige<br />
künstlerische Art der Aussage und der Darstellung, die das Publikum auch<br />
regelrecht erfasst. Das Publikum wird durch Ihr Spiel eben nicht nur lustig<br />
unterhalten, sondern wird in allen Nuancen in wirklichen Tiefen ergriffen. Sie<br />
müssen uns hier aber noch eine ganz best<strong>im</strong>mte Sache erzählen. Wir<br />
haben ja schon von Ihren Kontakten ins Ausland gesprochen und ebenso<br />
von dieser "Oma", die ja <strong>im</strong> Übrigen eine Stuttgarter Oma ist, wie wir<br />
vielleicht noch zu hören bekommen werden. Diese Stuttgarter Oma lernt<br />
also überall ein paar Brocken der jeweiligen Landessprache. 1976 ist Ihnen<br />
dabei <strong>im</strong> Komsomolzenpalast in Moskau etwas Interessantes passiert, das<br />
Sie uns hier bitte erzählen sollten.<br />
<strong>Roser</strong>: Die Intuition spielt ja bei uns eine große Rolle. Ich hatte 1958 den Obraszow<br />
in Bukarest getroffen.<br />
Emrich: Wer war das?<br />
<strong>Roser</strong>: Obraszow war der geniale Puppenpapst und -<strong>im</strong>perator aus Moskau. Er<br />
bekam damals sogar ein fabelhaftes eigenes Theater gebaut. Er war also<br />
auf unserem Gebiet der große Mann des Ostens. Er hat in seiner Arbeit<br />
übrigens auf Täschner, einen tschechisch-österreichischen Künstler<br />
zurückgegriffen, der um die Jahrhundertwende herum die asiatische Art der<br />
Marionette hierher zu uns gebracht hatte. Diese Marionette ist die so<br />
genannte Stockmarionette, also eine von unten geführte Marionette. Diese<br />
Marionette hatte Täschner bei uns zu einer ungeheuren Blüte geführt. Diese<br />
Art des Umgangs <strong>mit</strong> der Marionette hat sich bereits in Gebiete vorgewagt,<br />
die ich dann weiter ausgebaut habe. Er hat in Bildern gesprochen, <strong>mit</strong> ganz<br />
sparsamen Bewegungen. Genannt hat er das Ganze "Figurenspiegel".<br />
Obraszow hat das alles also aufgegriffen und diese von unten geführte<br />
Marionette zu der Darstellungsform ausgebaut, die dann <strong>im</strong> Osten alles<br />
beherrscht hat. Diesen Mann hatte ich, wie gesagt, 1958 in Bukarest<br />
getroffen.<br />
Emrich: Bitte, bitte, nicht zu weit ausholen, weil uns sonst ein wenig die Zeit<br />
davonläuft.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das st<strong>im</strong>mt schon, aber diesen Bogen muss man zuerst spannen, da<strong>mit</strong><br />
man versteht, was damals in Moskau los war. Denn in Bukarest schon war<br />
es so gewesen, dass wir nur zwei Mal spielen sollten, aber aufgrund der<br />
großen Nachfrage insgesamt sechs Mal spielen mussten. Denn schon<br />
damals hatte die Oma dort ein paar Sätze auf Rumänisch gesagt, die ganz<br />
Bukarest aufgeregt haben. Niemand von der Obrigkeit konnte jedoch etwas<br />
dagegen machen, weil wir das ja <strong>im</strong> Vorfeld ganz, ganz genau austariert<br />
hatten: Wir hatten genau ausgelotet, wie weit wir gehen konnten. Dasselbe<br />
habe ich dann 17 Jahre danach in Moskau gemacht. Obraszow hatte mich<br />
zwar <strong>im</strong>mer wieder nach Moskau eingeladen, dabei aber <strong>im</strong>mer darauf<br />
bestanden, dass ich die Oma zu Hause lasse. Ich hatte jedoch <strong>im</strong>mer<br />
geantwortet: "Entweder <strong>mit</strong> der Oma oder eben gar nicht!" Also wurde ich<br />
eben letztlich 17 Jahre lang gar nicht eingeladen.<br />
Emrich: Heißt das, dass sie dort Angst vor der Oma hatten? Wir müssen das jetzt<br />
wohl ein bisschen erklären. Die Oma ist bei aller Dezenz in ihrer Sprache<br />
gelegentlich auch ganz schön frech. Sie hatte vermutlich in Bukarest etwas<br />
gesagt, wovor man in Moskau Manschetten hatte.
<strong>Roser</strong>: Ja, genau, und nun passen Sie auf. Ich habe das Ganze natürlich auch für<br />
die russische Sprache vorbereitet, als ich dann endlich eingeladen wurde.<br />
Ich habe also vor meinem Auftritt in Moskau die Oma hier dahe<strong>im</strong><br />
zusammen <strong>mit</strong> Russen darauf vorbereitet. Ich habe also das Übliche<br />
einstudiert in Russisch wie z. B. "Guten Abend. Wie geht es euch? Könnt ihr<br />
Deutsch? Warum nicht?..." Ich habe also nur ein paar Sätze auf Russisch<br />
eingeübt. Nun gibt es aber <strong>im</strong> Russischen die Gewohnheit, dass man<br />
Dinge, die wichtig sind, auch wiederholt. Ich kannte diese Gewohnheit recht<br />
gut, weil ich ja selbst drei Jahre <strong>im</strong> Krieg in Russland gewesen bin und<br />
dabei auch ganz gut Russisch gelernt hatte. Aus diesem Grund hat also die<br />
Oma gefragt: "Könnt ihr Deutsch?" Und die Zuschauer haben darauf<br />
natürlich <strong>mit</strong> "Nein" geantwortet. "Schade", hat dann die Oma gesagt, "was<br />
wollen wir dann machen? Lernen!" Dieses Wort "lernen" habe ich auf<br />
Russisch drei Mal wiederholt: "Lernen! Lernen! Lernen!" Die Menge tobte.<br />
Ich wusste allerdings nicht warum. Ich hatte keine Ahnung. Es stellte sich<br />
dann heraus, dass Lenin genau in dem Saal, in dem wir gespielt haben,<br />
dieses Wort als die berühmte Richtschnur für die Komsomolzen genannt<br />
hatte: "Lernen! Lernen! Lernen!"<br />
Emrich: Die Oma hatte das jedoch vorher nicht gewusst.<br />
<strong>Roser</strong>: Ich schwöre, ich habe nicht gewusst, dass der Lenin dieses Wort dort als<br />
Richtschnur für die Komsomolzen genannt hat. Im Zuschauerraum haben<br />
das natürlich alle gewusst. Der Auftritt der Oma hatte dort also einen quasi<br />
explosionsartigen Erfolg. Das war furchtbar komisch.<br />
Emrich: Wir müssen nun ein wenig auf die Uhr schauen und uns klar machen, dass<br />
wir noch ein weiteres Thema deutlich anzusprechen haben. Sie machen bis<br />
heute Kurse, nämlich Kurse für Puppenbau usw. Welche Menschen<br />
kommen denn da zu Ihnen und zahlen Geld dafür, um von Ihnen darüber<br />
etwas zu lernen?<br />
<strong>Roser</strong>: Das sind ganz unterschiedliche Menschen. Das sind meistens so genannte<br />
Multiplikatoren, also Lehrer, die selbst etwas machen, die selbst auf diesem<br />
oder einem ähnlichen Gebiet tätig sind, die z. B. an der Schule selbst etwas<br />
Musisches ver<strong>mit</strong>teln wollen. Sie sind also stark daran interessiert, die<br />
Schritte kennen zu lernen, die wir machen. Wir üben dabei alle zusammen<br />
am Anfang <strong>mit</strong> der Kugel. Da denkt dann jeder zunächst einmal: "Na, das<br />
ist aber doch ein bisschen merkwürdig und ein bisschen arg wenig." Wenn<br />
man das jedoch ernsthaft betreibt, dann merkt man sehr wohl, dass das<br />
Instrument hierbei anfangen kann. Das hat auch da<strong>mit</strong> zu tun, dass man<br />
bereits <strong>mit</strong> diesem Instrument Geräusche machen kann, wenn man es z. B.<br />
<strong>im</strong>mer wieder leicht auf den Boden aufschlagen lässt. Man kann diese<br />
Kugel freilich auch bereits tanzen lassen. Es geht so weit, dass man diese<br />
Kugel auch dekorieren und ohne Weiteres ein ganzes Programm da<strong>mit</strong><br />
gestalten kann. Man kann das machen, wenn man nicht bei einem Faden<br />
bleibt, an dem die Kugel aufgehängt ist, sondern zu drei Fäden übergeht.<br />
Dies ist nun das Prinzip, das der Bross damals eingeführt hat: <strong>Dr</strong>ei Punkte<br />
fixieren einen Körper <strong>im</strong> Raum. Das heißt, sie machen ihn kontrollierbar.<br />
Aus diesem Grund sind eben alle unsere Figuren auf dieses <strong>Dr</strong>eipunkte-<br />
System aufgebaut. Wir haben das ja vorhin bei der Tücherpuppe gesehen,<br />
die leicht herzustellen ist.<br />
Emrich: Das kann jeder selbst machen.<br />
<strong>Roser</strong>: Ja, das kann jeder machen. Nur muss er es ganz, ganz genau machen.<br />
Wenn er das nicht genau macht, dann funktioniert sie nicht wirklich. Und<br />
dann geht natürlich auch die Lust, da<strong>mit</strong> zu spielen, sehr schnell verloren.<br />
Emrich: Ich habe gehört, dass auch viele Theaterleute wie Bühnenbildner oder auch<br />
Bildhauer bei Ihnen in den Kursen sind.<br />
<strong>Roser</strong>: Das geht querbeet. Wer sich interessiert, kommt. Im Laufe der Jahre sind
das <strong>im</strong>mer mehr Menschen geworden. Unsere Sommerakademien sind<br />
ebenfalls sehr gut für Interessierte. Wir haben nun bereits vier, fünf dieser<br />
Sommerakademien auch in den USA – an meiner alten Uni – gemacht.<br />
Das ist jeweils in Connecticut an der State University. Wir waren jetzt aber<br />
auch schon mal in Kroatien, in Varazdin. Dort war es sehr, sehr lustig und<br />
nett, weil die Lebensart der Kroaten uns doch sehr entgegenkommt: Sie<br />
sind z. B. nicht sehr genau am Morgen. Aber auch abends nicht. Das ist<br />
jedenfalls eine Lebensart, die mir sehr zusagt. Im Hinblick auf die Arbeit<br />
muss man sich zwar erst ein wenig daran gewöhnen, aber diese<br />
leidenschaftliche Lust am Tun, am Schaffen, am Kreieren usw. ist dort in<br />
großem Maße vorhanden. Das macht einfach Spaß.<br />
Emrich: Und das alles machen Sie in Ihrem Alter! Bitte wiederholen Sie doch noch<br />
mal kurz, wie alt Sie sind.<br />
<strong>Roser</strong>: Na ja, ich bin Jahrgang 1922, da kann man sich mein Alter leicht<br />
ausrechnen. Ich bin also 81 Jahre alt.<br />
Emrich: Sie sind also schon beinahe so alt wie die "Oma". Deshalb hätte ich die<br />
Bitte, dass Sie unser <strong>Gespräch</strong> durch einen kleinen Kommentar oder eine<br />
kleine Überlegung der Oma beenden.<br />
<strong>Roser</strong>: Gut, das können wir machen. (<strong>Prof</strong>essor <strong>Roser</strong> holt die Oma aus dem<br />
Requisitenständer, setzt sie auf seinen Stuhl und beginnt, sie <strong>mit</strong> zwei<br />
Stricknadeln stricken zu lassen.) Die Oma ist natürlich alt geboren, das ist<br />
schon etwas Besonderes. Sie ist nicht geklont, sondern echt alt geboren.<br />
Auch sie ist in diesem Jahr nun bereits 50 Jahre auf der Welt. Sie ist also<br />
eine Respektsperson. Darauf legt sie großen Wert: Sie ist ja auch sehr<br />
schwäbisch, was seine besondere Bewandtnis hat. Sie schwätzt natürlich<br />
am liebsten Schwäbisch, "aber ich kann auch Hochdeutsch, wenn's<br />
unbedingt sein muss. Und die Herren hier sind ja jetzt so g'scheid gewesen<br />
und haben so bedeutende Sachen von der Marionette erzählt und vom<br />
Puppenspiel <strong>im</strong> Allgemeinen, sodass man sagen muss, sie haben wirklich<br />
gesprochen, während ich eben nur schwätze. Ich begnüge mich, weise wie<br />
ich nun mal bin, <strong>mit</strong> dem, was man auf Schwäbisch 'schwätze' nennt.<br />
Haben Sie das begriffen, Herr <strong>Dr</strong>. Emrich?"<br />
Emrich: Ich bemühe mich täglich weiter darum, Ihrer Weisheit angemessen folgen<br />
zu können.<br />
<strong>Roser</strong>: "Ich danke Ihnen für die Bemühung. Obwohl ich weiß, dass Sie eigentlich<br />
nahezu... No, jetzt is' mir eine Masche hinuntergefallen!"<br />
Emrich: Sehr schön, liebe Oma. Herr <strong>Roser</strong>, da<strong>mit</strong> sind wir am Ende unserer<br />
Sendung, unseres <strong>Gespräch</strong>s angelangt. Ich bedanke mich bei Ihnen. Ich<br />
bedanke mich auch bei Ihnen fürs Zuschauen. Das war für heute das<br />
Alpha-Forum. Unser Gast war <strong>Prof</strong>essor <strong>Albrecht</strong> <strong>Roser</strong>, der <strong>Puppenspieler</strong><br />
aus Stuttgart.<br />
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