Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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Studien zur Re<strong>ch</strong>tsphilosophie<br />
und Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
24<br />
Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Rationales Ents<strong>ch</strong>eiden, Diskursethik und prozedurales Re<strong>ch</strong>t
Studien zur Re<strong>ch</strong>tsphilosophie<br />
und Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
herausgegeben von<br />
Prof. Dr. Robert Alexy und<br />
Prof. Dr. Ralf Dreier<br />
Band 24<br />
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Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Rationales Ents<strong>ch</strong>eiden, Diskursethik und<br />
prozedurales Re<strong>ch</strong>t<br />
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Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Rationales Ents<strong>ch</strong>eiden, Diskursethik und<br />
prozedurales Re<strong>ch</strong>t<br />
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Meinen Eltern<br />
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Vorwort<br />
Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1998/99 von <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Fakultät <strong>der</strong> Christian-Albre<strong>ch</strong>ts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen.<br />
I<strong>ch</strong> habe sie im Juni 1998 abges<strong>ch</strong>lossen; später ers<strong>ch</strong>ienene Literatur konnte nur im<br />
Einzelfall berücksi<strong>ch</strong>tigt werden. Na<strong>ch</strong>dem die Erstauflage vergriffen war, habe i<strong>ch</strong><br />
diesen Na<strong>ch</strong>druck genutzt, um Druck- und Formatierungsfehler zu beseitigen. Inhaltli<strong>ch</strong><br />
ist die Arbeit ni<strong>ch</strong>t verän<strong>der</strong>t worden. Au<strong>ch</strong> die Seitengrenzen wurden abgesehen<br />
von einzelnen Wortvers<strong>ch</strong>iebungen beibehalten.<br />
Mein Dank gilt zunä<strong>ch</strong>st Herrn Prof. Dr. Robert Alexy, <strong>der</strong> diese Arbeit betreut<br />
hat. Sein wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Werk war mir Anregung und Ausgangspunkt für das<br />
Dissertationsprojekt. Beson<strong>der</strong>er Dank gebührt sodann Herrn Prof. Dr. Horst Dreier,<br />
als dessen Mitarbeiter i<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st in Hamburg und später in Würzburg arbeiten<br />
durfte. Sein Enthusiasmus in Fors<strong>ch</strong>ung und Lehre dient mir bis heute als Vorbild.<br />
Ohne seine Rücksi<strong>ch</strong>tnahme auf die Belastung, die eine Dissertation in <strong>der</strong> Endphase<br />
mit si<strong>ch</strong> bringt, wäre es mir ni<strong>ch</strong>t gelungen, die Arbeit pünktli<strong>ch</strong> abzus<strong>ch</strong>ließen.<br />
Die anglo-amerikanis<strong>ch</strong>e Literatur hätte ohne ein Studienjahr an <strong>der</strong> Cornell University<br />
(New York) ni<strong>ch</strong>t angemessen berücksi<strong>ch</strong>tigt werden können. Für die Betreuung<br />
während dieser Zeit danke i<strong>ch</strong> beson<strong>der</strong>s Herrn Prof. Dr. Robert Summers. An<br />
<strong>der</strong> philosophis<strong>ch</strong>en Fakultät <strong>der</strong> Cornell University konnte i<strong>ch</strong> von Prof. David Lyons<br />
profitieren; au<strong>ch</strong> ihm sei hier gedankt.<br />
Herr Prof. Dr. Jörn Eckert hat si<strong>ch</strong> freundli<strong>ch</strong>erweise <strong>der</strong> Mühe des Zweitguta<strong>ch</strong>tens<br />
unterzogen. Herrn Prof. Dr. Ralf Dreier danke i<strong>ch</strong> für die Zustimmung zur Aufnahme<br />
in die S<strong>ch</strong>riftenreihe. Finanzielle und ideelle För<strong>der</strong>ung habe i<strong>ch</strong> als Stipendiat<br />
<strong>der</strong> Studienstiftung des Deuts<strong>ch</strong>en Volkes und <strong>der</strong> Rotary Foundation sowie<br />
dur<strong>ch</strong> eine Druckkostenbeihilfe <strong>der</strong> Deuts<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ungsgemeins<strong>ch</strong>aft erhalten.<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gilt mein beson<strong>der</strong>er Dank Frau Miriam Min<strong>der</strong>, die die Arbeit für den<br />
Na<strong>ch</strong>druck korrekturgelesen hat.<br />
Einen erhebli<strong>ch</strong>en Anteil an <strong>der</strong> Verwirkli<strong>ch</strong>ung des Vorhabens hatte Frau Prof.<br />
Dr. Susan Emmenegger, LL.M. Sie hat jede Phase <strong>der</strong> langjährigen Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>en und<br />
Entwürfe miterlebt und war für die s<strong>ch</strong>wierigsten Fragen meine geduldige Diskussionspartnerin.<br />
Aussagen zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zwis<strong>ch</strong>en Nationen, Generationen, Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern<br />
und Naturentitäten gehen maßgebli<strong>ch</strong> auf ihre Anregungen zurück – für<br />
Fehler bin i<strong>ch</strong> allein verantwortli<strong>ch</strong>.<br />
Gewidmet ist dieses Bu<strong>ch</strong> meinen lieben Eltern, Helga und Wolfgang Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er,<br />
ohne die ni<strong>ch</strong>ts ges<strong>ch</strong>rieben worden wäre.<br />
Bern, im August 2009<br />
Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er<br />
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Inhaltsübersi<strong>ch</strong>t<br />
Einleitung: Aufgabenstellung und Gang <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung......................................... 21<br />
Erster Teil: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t ..................................................................... 27<br />
Zweiter Teil: Begriff und Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ........ 45<br />
A. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ......................................................................................................... 45<br />
B. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ......................................................................................... 76<br />
C. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>................................................................................. 118<br />
D. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ................................................................ 132<br />
Dritter Teil: Einige <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.............................................................. 143<br />
A. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................ 143<br />
B. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition................................................... 152<br />
C. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................... 167<br />
D. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition ......................................................... 198<br />
Vierter Teil: Analyse und Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ...................................... 261<br />
A. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................ 261<br />
B. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition................................................... 267<br />
C. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................... 270<br />
D. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition ......................................................... 284<br />
Fünfter Teil: Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>............................... 309<br />
A. Vorüberlegungen ................................................................................................ 309<br />
B. Zur unmittelbaren Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und<br />
Demokratie .......................................................................................................... 317<br />
C. Zur Institutionalisierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.................................................... 333<br />
D. Zur mittelbaren Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts............................................. 334<br />
E. Zur Erweiterbarkeitsthese in <strong>der</strong> Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>........... 358<br />
S<strong>ch</strong>luß: Die Untersu<strong>ch</strong>ungsergebnisse im Überblick .................................................... 363<br />
Anhang: Definitionen, Theoreme und Prinzipien ......................................................... 369<br />
Literaturverzei<strong>ch</strong>nis ........................................................................................................... 375<br />
Sa<strong>ch</strong>register.......................................................................................................................... 407<br />
Personenregister ................................................................................................................. 413<br />
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Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Einleitung: Aufgabenstellung und Gang <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung .................................. 21!<br />
Erster Teil: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t............................................................ 27!<br />
A.! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft............................................................. 27!<br />
B. Gibt es einen analytis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts? ........................ 29<br />
C. Der normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts .............................................. 32<br />
I.! Re<strong>ch</strong>tfertigung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung (Legitimationsbedarf)................... 33!<br />
II. Interpretierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Orientierungsbedarf) ................. 34<br />
III. Konkretisierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Umsetzungsbedarf).................. 35<br />
IV. Zum notwendigen Anspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit ..................... 37<br />
D.! Die spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ................................ 38!<br />
I.! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie............................................................ 38!<br />
II. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik....................................................... 40<br />
III. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aus juristis<strong>ch</strong>er Perspektive .............................. 41<br />
E.! Ergebnisse .............................................................................................................. 43!<br />
Zweiter Teil: Begriff und Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ...... 45!<br />
A.! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ......................................................................................................... 45!<br />
I.! Zur Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ................................................................ 45!<br />
1.! Die suum cuique-Formel...................................................................... 45!<br />
2.! Die Erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition......................... 47!<br />
3.! Die Gegenstände des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
(Transponierbarkeitsthese) .................................................................. 48!<br />
4.! Eine handlungsbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 1 ) .......... 50!<br />
II.! Fünf begriffli<strong>ch</strong> notwendige Bezüge des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats ...... 50!<br />
1.! Der Handlungsbezug ........................................................................... 51!<br />
2.! Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug .......................................................................... 51!<br />
3.! Der Sollensbezug (D 1D D 1A ).................................................................. 52!<br />
4.! Der Sozialbezug..................................................................................... 55!<br />
5.! Der Glei<strong>ch</strong>heitsbezug ........................................................................... 56!<br />
a)! Zum aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff.................................. 56!<br />
b)! Zur Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit........................................................ 58!<br />
c)! Zum normalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff ........................ 59!<br />
d)! Zur Kritik am Glei<strong>ch</strong>heitsbezug ................................................... 60!<br />
e)! Ergebnisse ........................................................................................ 62!<br />
11
III.! Zu einigen an<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen........................................... 62!<br />
1.! Der formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff...................................................... 62!<br />
2.! Die engeren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe.................................................... 63!<br />
3.! Der idealistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff.............................................. 66!<br />
4.! Die holistis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe ............................................. 68!<br />
5.! Ungere<strong>ch</strong>tigkeit als Grundbegriff?..................................................... 69!<br />
IV.! Die Normen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> .................................................................. 71!<br />
1.! Der Begriff <strong>der</strong> Norm (D N )................................................................... 71!<br />
2.! Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (D NG ) ........................................ 72!<br />
3.! Formale, prozedurale und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen ......... 74!<br />
4.! Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen .............. 74!<br />
5.! Eine normbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 1N ).................. 75!<br />
V.! Ergebnisse..................................................................................................... 76!<br />
B.! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ......................................................................................... 76!<br />
I.! Eine Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie (D 2 D 2N ).................................. 76!<br />
1.! Ein s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Begriff des Begründens.............................................. 77!<br />
2.! Die politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (S<strong>ch</strong>werpunktthese, D 1P ) .................... 78!<br />
3.! Die Umstände <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D. Hume) ..................................... 79!<br />
II.! Zur Klassifizierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien..................................... 80!<br />
1.! Vier Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie (R. Alexy) ....... 81!<br />
a)! Die nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition ........................................... 82!<br />
b)! Die aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition.................................................. 83!<br />
c)! Die hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition.............................................. 83!<br />
d)! Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition ........................................................ 83!<br />
e)! Ein abs<strong>ch</strong>ließendes S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> Grundpositionen .................... 84!<br />
2.! Zu einigen ergänzenden Differenzierungen..................................... 87!<br />
a)! Empiris<strong>ch</strong>e, analytis<strong>ch</strong>e und normative <strong>Theorien</strong> ..................... 87!<br />
b)! Begründungs- und Erzeugungstheorien..................................... 88!<br />
c)! Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien .................................. 89!<br />
d)! <strong>Theorien</strong> na<strong>ch</strong> Vernunftgebrau<strong>ch</strong>? (J. Habermas) ....................... 92!<br />
aa)! Pragmatis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong>....................................... 92!<br />
bb)! Ethis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong>................................................ 94!<br />
cc)! Moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong> ........................................... 95!<br />
dd)! Ergebnisse............................................................................... 96!<br />
e)! Vertrags-, Beoba<strong>ch</strong>ter-, Diskurstheorien ..................................... 97!<br />
aa)! Darstellungsmittel und Rationalitätskonzept<br />
(Divergenzthese).................................................................... 97!<br />
bb)! Der Vertrag............................................................................. 98!<br />
cc)! Der Beoba<strong>ch</strong>ter..................................................................... 100!<br />
dd)! Der Diskurs .......................................................................... 101!<br />
ee)! Zur Ungeeignetheit <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien als<br />
<strong>Theorien</strong>klasse (Indifferenzeinwand) .............................. 102!<br />
12
3.! Zu an<strong>der</strong>en Klassifizierungen ........................................................... 103!<br />
a)! Reine Typen legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft (M. Weber) .......................... 103!<br />
b)! Das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en dem Re<strong>ch</strong>ten und dem Guten<br />
(T. Nagel)......................................................................................... 105!<br />
c)! Effizienz, Re<strong>ch</strong>tfertigung, Wertorientierung (A. Hamlin/P.<br />
Pettit)............................................................................................... 106!<br />
d)! Deontologis<strong>ch</strong>e und teleologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> (M. Sandel/S.<br />
Kagan) ............................................................................................. 106!<br />
e)! Ergebnisse ...................................................................................... 107!<br />
III.! Zum Gegenstand <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien....................................... 107!<br />
1.! Die Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien .......................... 108!<br />
a)! Zur politis<strong>ch</strong>en Inkommensurabilität (J.P. Sterba) ................... 108!<br />
b)! Zur konzeptuellen Inkommensurabilität.................................. 110!<br />
aa)! Mikro-, Meso- und Makrotheorien ................................... 110!<br />
bb)! Die Skalierbarkeitsthese als Ausweg (B. Barry) .............. 111!<br />
c)! Ergebnisse ...................................................................................... 113!<br />
2.! Die Vollständigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ............................ 113!<br />
a)! Die Ergänzbarkeitsthese .............................................................. 113!<br />
b)! Die Erweiterbarkeitsthese............................................................ 114!<br />
c)! Die Mindestgehaltsthese.............................................................. 117!<br />
IV.! Ergebnisse................................................................................................... 118!<br />
C.! <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>................................................................................. 118!<br />
I.! Eine Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D M D 3 )...................... 119!<br />
II. Der Begriff <strong>der</strong> Fairneß (D 3 ' D F )............................................................... 121<br />
III. Vier Formen prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Enumerationsthese)......... 124<br />
1.! Formen <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit ........................... 125!<br />
a)! Vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3a )........................ 125!<br />
b)! Unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3b )................... 126!<br />
2.! Formen <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit.................... 127!<br />
a)! Reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3c )....................................... 127!<br />
b)! Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3d )............................ 128!<br />
IV.! Die Funktionen prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Multifunktionsthese).. 129!<br />
1.! Dienende Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit................................................... 129!<br />
2.! Definitoris<strong>ch</strong>e Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit ........................................... 130!<br />
V.! Ergebnisse................................................................................................... 131!<br />
D.! <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ................................................................ 132!<br />
I.! Eine Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie (D 4 ) .............. 132!<br />
II.! Zu prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien (D 4E ) ................ 133!<br />
13
III.! Zur Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien .................. 134!<br />
1.! Die Klassifizierung bei A. Kaufmann ................................................ 134!<br />
2.! Die Klassifizierung bei R. Dreier ....................................................... 136!<br />
3.! Die Klassifizierung in Anlehnung an R. Alexy ............................... 137!<br />
4.! Eine erweiterte Klassifizierung ......................................................... 137!<br />
IV.! Die Grenzziehung zwis<strong>ch</strong>en materialen und prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> ...................................................................................................... 139!<br />
1.! Die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en Begründung und Ergebnis .......... 139!<br />
2.! Die Unters<strong>ch</strong>eidung na<strong>ch</strong> dem S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung... 140!<br />
V.! Das Vertragsmodell und das Geri<strong>ch</strong>tsmodell (R. Dreier) .................... 141!<br />
VI.! Ergebnisse................................................................................................... 142!<br />
Dritter Teil: Einige <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ..................................................... 143!<br />
A.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis) .. 143!<br />
I.! Charakteristika ............................................................................................ 143!<br />
II. Theorie des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus (H. Kelsen).......................... 145<br />
III. Theorie <strong>der</strong> spontanen sozialen Ordnung (F.A. Hayek) ....................... 146<br />
IV. Theorie <strong>der</strong> sozialen Systeme (N. Luhmann).......................................... 148<br />
V. Theorie <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne (K.-H. Ladeur)................................................ 150<br />
VI. Ergebnisse................................................................................................... 152<br />
B.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition (Konzeption des Guten) ....... 152!<br />
I.! Charakteristika ............................................................................................ 152!<br />
II. <strong>Theorien</strong> des (ontologis<strong>ch</strong>en) Naturre<strong>ch</strong>ts ............................................ 154<br />
III. <strong>Theorien</strong> des Utilitarismus....................................................................... 154<br />
IV. <strong>Theorien</strong> des Kommunitarismus............................................................. 157<br />
1.! Epistemologis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus (M.J. Sandel)...................... 159!<br />
2.! Neoaristotelis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus (A. MacIntyre) ................... 161!<br />
3.! Multikultureller Kommunitarismus (C. Taylor) ............................. 163!<br />
4.! Lokaler Kommunitarismus (M. Walzer)........................................... 164!<br />
V.! Ergebnisse................................................................................................... 167!<br />
C.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
(Ents<strong>ch</strong>eidungsrationalität) ............................................................................... 167!<br />
I.! Charakteristika (T RC D 1RC D 4RC ) ................................................................. 167!<br />
II.! <strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren.......................... 171!<br />
1.! Theorie <strong>der</strong> unglei<strong>ch</strong>en Verhandlungsma<strong>ch</strong>t (J.F. Nash)............... 173!<br />
2.! Theorie <strong>der</strong> Verhandlungsführung (J.C. Harsanyi) ........................ 174!<br />
3.! Theorie <strong>der</strong> relevanten Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustände (R. Selten)......... 175!<br />
4.! Ergebnisse ............................................................................................ 175!<br />
14
III.! <strong>Theorien</strong> zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt (nonagreement basepoint) ........... 176!<br />
1.! Theorie des hypothetis<strong>ch</strong>en Drohspiels (R.B. Braithwaite)............ 176!<br />
2.! Theorie <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Wahl (J.M. Bu<strong>ch</strong>anan) .............................. 177!<br />
a)! Das Ideal einer geordneten Anar<strong>ch</strong>ie ........................................ 177!<br />
b)! Das Drohspiel als Sozialvertrag.................................................. 178!<br />
3.! Theorie <strong>der</strong> realistis<strong>ch</strong>en Verhaltenshypothesen (J.R. Lucas) ....... 179!<br />
4.! Ergebnisse ............................................................................................ 180!<br />
IV.! <strong>Theorien</strong> des neohobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertrags ................................ 180!<br />
1.! Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl? (J. Rawls) ............................................ 180!<br />
2.! Theorie des libertären Minimalstaats (R. Nozick) ........................... 183!<br />
a)! Anerkennung persönli<strong>ch</strong>er Integrität<br />
(S<strong>ch</strong>utzvereinigungen)................................................................. 184!<br />
b)! Anerkennung <strong>der</strong> Güterzuordnung (Anspru<strong>ch</strong>stheorie) ....... 184!<br />
c)! Moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie.................................................. 185!<br />
3.! Theorie <strong>der</strong> Moral dur<strong>ch</strong> Vereinbarung (D.P. Gauthier)................ 186!<br />
a)! Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt und Lockes<strong>ch</strong>e Provisio ........................ 187!<br />
b)! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als minimax relative Konzession (D 1G ) ............. 189!<br />
c)! Moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie.................................................. 191!<br />
4.! Theorie des transzendentalen Taus<strong>ch</strong>es (O. Höffe)......................... 193!<br />
a)! Natürli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ............................................................. 193!<br />
b)! Institutionalisierte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>................................................ 195!<br />
c)! Subsidiäre Legitimität des Staates.............................................. 195!<br />
d)! Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t aus Eigennutz .................................................... 196!<br />
V.! Ergebnisse................................................................................................... 197!<br />
D.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition (Universalität)............................... 198!<br />
I.! Charakteristika (T K D 1K D 4K ) ...................................................................... 198!<br />
II.! Sozialvertragstheorien .............................................................................. 199!<br />
1.! Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß (J. Rawls 1971).................... 199!<br />
a)! Der faire Urzustand (original position)........................................ 200!<br />
b)! Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (N 1 N 2 ) ............................... 203!<br />
c)! Das Vierstufenmodell................................................................... 204!<br />
d)! Die Funktion prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>................................. 204!<br />
e)! Ergebnisse ...................................................................................... 205!<br />
2.! Theorie des politis<strong>ch</strong>en Liberalismus (J. Rawls 1993)..................... 205!<br />
a)! Die Bausteine <strong>der</strong> Theorie ........................................................... 206!<br />
b)! Die S<strong>ch</strong>lüsselstellung des übergreifenden Konsenses............. 207!<br />
c)! Die neuen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien (N 1 ' N 2 ')........................... 209!<br />
d)! Ergebnisse ...................................................................................... 210!<br />
3.! Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unabweisbarkeit (T.M. Scanlon) ... 211!<br />
a)! Das Scanlon-Kriterium (T S ) ......................................................... 211!<br />
b)! Die Voraussetzung <strong>der</strong> Unerzwungenheit ............................... 211!<br />
15
III.! Beoba<strong>ch</strong>ter- und an<strong>der</strong>e Standpunkttheorien....................................... 211!<br />
1.! Theorie des unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters (T. Nagel)........................ 212!<br />
a)! Der interne und <strong>der</strong> externe Standpunkt .................................. 212!<br />
b)! Das Nagel-Kriterium (T N )............................................................ 213!<br />
c)! Zur 'vernünftigen' Parteili<strong>ch</strong>keit ................................................ 214!<br />
2.! Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit (B. Barry) ............. 215!<br />
a)! Die Unparteili<strong>ch</strong>keit zweiter Ordnung...................................... 215!<br />
b)! Die Notwendigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln.......................... 215!<br />
c)! Zur Anwendbarkeit des Scanlon-Kriteriums (T S ).................... 216!<br />
d)! <strong>Prozedurale</strong> und substantielle Verfassungsregeln .................. 216!<br />
IV.! Diskurstheorien ......................................................................................... 217!<br />
1.! Charakteristika .................................................................................... 217!<br />
a)! Die Diskursarten ........................................................................... 218!<br />
aa)! Die Definitionen des Diskurses (D Di D Dr )......................... 218!<br />
bb)! Der innere Diskurs .............................................................. 219!<br />
cc)! Der handlungsentlastete Diskurs...................................... 220!<br />
dd)! Der reale Diskurs als diskursive Kontrolle...................... 220!<br />
ee)! Der ideale Diskurs als regulative Idee (T Dr ) .................... 221!<br />
ff)! Ein Anwendungsdiskurs? (K. Günther)............................ 222!<br />
b)! Die Diskursregeln ......................................................................... 222!<br />
aa)! Regeln <strong>der</strong> Konsistenz und Kohärenz.............................. 223!<br />
bb)! Regeln <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit und Freiheit................................... 224!<br />
cc)! Regeln <strong>der</strong> Argumentationslast ........................................ 224!<br />
c)! Die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln........................................... 225!<br />
aa)! Das transzendentale Argument ........................................ 225!<br />
bb)! Die Begründungspfli<strong>ch</strong>t ..................................................... 227!<br />
cc)! Der Einwand <strong>der</strong> Zirkularität............................................ 228!<br />
dd)! Die Letztbegründung als Variante.................................... 229!<br />
ee)! Ergebnisse............................................................................. 230!<br />
d)! Der Konsens und das Diskursprinzip (T Ko D) .......................... 230!<br />
e)! Die Argumentation als Gegensatz zur Verhandlung<br />
(arguing vs. bargaining) .............................................................. 232!<br />
f)! Ergebnisse ...................................................................................... 233!<br />
2.! Theorie <strong>der</strong> Transzendentalpragmatik (K.-O. Apel)....................... 233!<br />
a)! Die transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e Letztbegründung................ 233!<br />
b)! Das Handlungsprinzip (U h ) ........................................................ 235!<br />
c)! Das Ergänzungsprinzip (E) ......................................................... 236!<br />
d)! Die Legitimation <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Zwangsbefugnisse.............. 238!<br />
3.! Theorie <strong>der</strong> diskursiven Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts<br />
(J. Habermas) ......................................................................................... 238!<br />
a)! Die universalpragmatis<strong>ch</strong>e Begründung (U)............................ 239!<br />
b)! Das Paradoxon <strong>der</strong> Legitimation dur<strong>ch</strong> Legalität (D H )........... 239!<br />
c)! Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in Re<strong>ch</strong>tsform ............................ 241!<br />
16
d)! Die deliberative Politik ................................................................ 242!<br />
e)! Das prozedurale Re<strong>ch</strong>tsparadigma............................................ 245!<br />
f)! Ergebnisse ...................................................................................... 246!<br />
4.! Theorie des analytis<strong>ch</strong>en Liberalismus (R. Alexy).......................... 247!<br />
a)! Die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln........................................... 247!<br />
aa)! Teilnahme an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des<br />
Mens<strong>ch</strong>en (T L ) ...................................................................... 248!<br />
bb)! Nutzenmaximierung und Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit ........ 249!<br />
cc)! Ergebnisse (T R )..................................................................... 250!<br />
b)! Die Begründung <strong>der</strong> Freiheit ...................................................... 250!<br />
aa)! Das Autonomieprinzip (A) ................................................ 250!<br />
bb)! Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Autonomie............................................................................ 252!<br />
cc)! Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit konkreter<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te (R F ) .............................................................. 253!<br />
c)! Die Begründung <strong>der</strong> Demokratie............................................... 254!<br />
d)! Die Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.................................................. 254!<br />
e)! Die Begründung von Re<strong>ch</strong>tsnormen (S).................................... 255!<br />
f)! Ergebnisse ...................................................................................... 256!<br />
5.! Theorie des neutralen Dialogs (B. Ackerman).................................. 257!<br />
a)! Die Gesprä<strong>ch</strong>sbes<strong>ch</strong>ränkungen im neutralen Dialog.............. 257!<br />
b)! Die Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie ..................................... 258!<br />
c)! Ergebnisse ...................................................................................... 260!<br />
Vierter Teil: Analyse und Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ................................ 261!<br />
A.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................ 261!<br />
I.! Zur Analyse <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis ('Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma',<br />
H. Albert) ..................................................................................................... 261!<br />
II. Zur Kritik an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis ................................................ 265<br />
III. Ergebnisse................................................................................................... 267<br />
B.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition................................................... 267!<br />
I.! Die neoaristotelis<strong>ch</strong>en Konzeptionen des Guten ................................... 267!<br />
II. Zur Kritik des Kommunitarismus .......................................................... 268<br />
III. Zur Kritik des Utilitarismus..................................................................... 269<br />
IV. Ergebnisse................................................................................................... 269<br />
C.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition ............................................... 270!<br />
I.! Zur Kritik spieltheoris<strong>ch</strong>er Grundlegung ............................................... 270!<br />
1.! Einige Anwendungsbedingungen <strong>der</strong> Spieltheorie....................... 270!<br />
a)! Die Skalierbarkeitsthese in <strong>der</strong> Spieltheorie ............................. 270!<br />
b)! Der spieltheoretis<strong>ch</strong>e Fairneßbegriff.......................................... 271!<br />
17
c)! Die rationale Kooperation ........................................................... 272!<br />
d)! Zwei Bedingungen rationalen Verhandelns............................. 273!<br />
2.! Die Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Spieltheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ..... 273!<br />
3.! Die Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ............... 274!<br />
a)! Die immanenten Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie............................... 274!<br />
b)! Das Gefangenendilemma ............................................................ 276!<br />
c)! Das Beitragsdilemma bei öffentli<strong>ch</strong>en Gütern (D. Parfit) ....... 276!<br />
d)! Das Wählerparadoxon (Condorcet, K.J. Arrow) ......................... 277!<br />
4.! Ergebnisse ............................................................................................ 279!<br />
II.! Zur Kritik am neohobbesianis<strong>ch</strong>en Nutzenkalkül................................ 279!<br />
III. Zur Kritik an D.P. Gauthiers Moral dur<strong>ch</strong> Vereinbarung .................... 281<br />
IV. Zur Kritik an O. Höffes transzendentalem Taus<strong>ch</strong>................................ 281<br />
V. Ergebnisse................................................................................................... 284<br />
D.! <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition ......................................................... 284!<br />
I.! Zur Kritik <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien...................................................... 284!<br />
1.! Zur Kritik an J. Rawls ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>em Ansatz ......... 285!<br />
2.! Zur Kritik an J. Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß............................. 285!<br />
3.! Zur Kritik an J. Rawls politis<strong>ch</strong>em Liberalismus ............................ 286!<br />
4.! Zur Kritik an T.M. Scanlon, B. Barry und T. Nagel .......................... 288!<br />
II.! Zur Kritik <strong>der</strong> Standpunkttheorien......................................................... 288!<br />
III.! Zur Kritik <strong>der</strong> Diskurstheorien ............................................................... 290!<br />
1.! Zur Kritik des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>s .............................................. 291!<br />
2.! Zur Kritik an K.-O. Apels Transzendentalpragmatik ..................... 295!<br />
3.! Zur Kritik an J. Habermas Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts ................... 295!<br />
a)! Zur Übertragbarkeit des Diskursprinzips auf das Re<strong>ch</strong>t........ 295!<br />
b)! Zur Begründungslücke bei J. Habermas ..................................... 297!<br />
c)! Zur Illustration <strong>der</strong> Begründungslücke: Können China,<br />
Singapur und <strong>der</strong> Iran na<strong>ch</strong> Habermas Begründung gere<strong>ch</strong>t<br />
sein? ................................................................................................ 299!<br />
4.! Zur Kritik an R. Alexys analytis<strong>ch</strong>em Liberalismus ....................... 302!<br />
a)! Zur Notwendigkeit <strong>der</strong> geheu<strong>ch</strong>elten genuinen<br />
Diskursteilnahme.......................................................................... 302!<br />
b)! Zur Konkretisierung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te................................ 306!<br />
IV.! Ergebnisse................................................................................................... 307!<br />
Fünfter Teil: Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> .......................... 309!<br />
A.! Vorüberlegungen ................................................................................................ 309!<br />
I.! Die fünf Fragen politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Mindestgehaltsthese) ....... 309!<br />
II.! Zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen........................................ 310!<br />
18
1.! Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit von Normen .................. 311!<br />
2.! Die diskursive Notwendigkeit von Normen .................................. 312!<br />
3.! Die diskursive Mögli<strong>ch</strong>keit von Normen........................................ 312!<br />
4.! Die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong> ergänzte Normbegründung ......... 313!<br />
III.! Zu kombinativen Begründungsstrategien............................................. 314!<br />
1.! Die Begründungsstrategie bei J. Habermas ...................................... 314!<br />
2.! Die Begründungsstrategie bei R. Alexy............................................ 314!<br />
3.! Die hier verfolgte Begründungsstrategie ........................................ 315!<br />
IV.! Ergebnisse................................................................................................... 317!<br />
B.! Zur unmittelbaren Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und<br />
Demokratie .......................................................................................................... 317!<br />
I.! Der universelle Geltungsberei<strong>ch</strong>............................................................... 318!<br />
II.! Die diskurstheoretis<strong>ch</strong> notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen ............. 321!<br />
1.! Eine Modifikation <strong>der</strong> Argumentationsfolge Alexys ..................... 321!<br />
2.! Die notwendig vorausgesetzten Prinzipien (N S N M N E N G ) ......... 322!<br />
3.! Die inhaltli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Prinzipien......................................... 325!<br />
4.! Zu mögli<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Prinzipien................................ 325!<br />
5.! Ergebnisse ............................................................................................ 326!<br />
III.! Die diskursiv notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen ............................. 326!<br />
1.! Zur Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit........................................................ 326!<br />
2.! Zur Begründung <strong>der</strong> Freiheit ............................................................ 327!<br />
a)! Ein Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten (N F ) ........................ 327!<br />
b)! Die diskursiv notwendigen Einzelfreiheiten ............................ 328!<br />
c)! Zu den Grenzen einer Eigentumsbegründung ........................ 329!<br />
3.! Zur Begründung <strong>der</strong> Güterordnung................................................ 330!<br />
4.! Zur Begründung <strong>der</strong> Demokratie (N D )............................................ 330!<br />
5.! Zu mögli<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te............................ 332!<br />
IV.! Ergebnisse................................................................................................... 332!<br />
C.! Zur Institutionalisierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Trittbrettfahrerproblem) ...... 333!<br />
D.! Zur mittelbaren Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts............................................. 334!<br />
I.! Der verfassungsrelative Geltungsberei<strong>ch</strong>................................................ 334!<br />
1.! Die Merkmale des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates ............... 335!<br />
2.! Das relative Primat des <strong>Prozedurale</strong>n ............................................. 335!<br />
3.! Zu einigen realen Verfahren: Diskurs, Abstimmung,<br />
Verhandlung, Ents<strong>ch</strong>eidung.............................................................. 337!<br />
4.! Zu den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfunktionen realer Verfahren....................... 338!<br />
II.! Zur Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts.................................................................... 339!<br />
1.! Die Son<strong>der</strong>fallthese (R. Alexy) ........................................................... 339!<br />
2.! Die Verfassungsnormsetzung als realer Diskurs ........................... 340!<br />
19
a)! Die materielle Verfassungsordnung .......................................... 340!<br />
b)! Die Verfassunggebung als realer Diskurs................................. 341!<br />
c)! Die Verfassungsän<strong>der</strong>ung als realer Diskurs ........................... 342!<br />
d)! Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Ewigkeitsklauseln................................. 343!<br />
e)! Ergebnisse ...................................................................................... 344!<br />
3.! Die parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung als realer Diskurs................ 345!<br />
4.! Die Verwaltungs- und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren als reale Diskurse....... 346!<br />
5.! Ergebnisse ............................................................................................ 347!<br />
III.! Zur Diskursivität <strong>der</strong> Politik.................................................................... 347!<br />
1.! Zum Begriff <strong>der</strong> Politik ...................................................................... 347!<br />
a)! Der strategis<strong>ch</strong>e Charakter <strong>der</strong> Politik ...................................... 348!<br />
b)! Der ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Charakter <strong>der</strong> Politik.............................. 349!<br />
2.! Eine erweiterte Son<strong>der</strong>fallthese (S RP )................................................ 350!<br />
3.! Der Wahlkampf als realer Diskurs ................................................... 351!<br />
4.! Die deliberative Politik....................................................................... 353!<br />
a)! Die 'legislative Politik' (J. Habermas)........................................... 353!<br />
b)! Die 'Re<strong>ch</strong>tspolitik' als realer Diskurs ......................................... 354!<br />
c)! Zur Wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>keit als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgebot .............. 355!<br />
d)! Die 'deliberative Abstimmung' (J.S. Fishkin)............................. 355!<br />
5.! Ergebnisse ............................................................................................ 356!<br />
IV.! Zur Wirts<strong>ch</strong>aft............................................................................................ 357!<br />
1.! Die Wirts<strong>ch</strong>aft als Kontrapunkt zu Diskursen................................ 357!<br />
2.! Das Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft ................................................................... 358!<br />
V.! Ergebnisse................................................................................................... 358!<br />
E.! Zur Erweiterbarkeitsthese in <strong>der</strong> Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>........... 358!<br />
I.! Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur.................................................. 359!<br />
II. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber zukünftigen Generationen................... 360<br />
III. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft ...................................... 360<br />
IV. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern .......................................... 361<br />
V. Ergebnisse................................................................................................... 362<br />
S<strong>ch</strong>luß: Die Untersu<strong>ch</strong>ungsergebnisse im Überblick............................................. 363!<br />
I.! <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t................................................................ 363!<br />
II. Begriff und Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien..... 363<br />
III. Einige <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.......................................................... 364<br />
IV. Analyse und Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien................................... 365<br />
V. Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>............................. 366<br />
Anhang: Definitionen, Theoreme und Prinzipien.................................................. 369!<br />
Literaturverzei<strong>ch</strong>nis ........................................................................................................... 375!<br />
Sa<strong>ch</strong>register.......................................................................................................................... 407!<br />
Personenregister ................................................................................................................. 413!<br />
20
Einleitung:<br />
Aufgabenstellung und Gang <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
Juristinnen und Juristen vermögen eine vernünftige und gere<strong>ch</strong>te Ordnung <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
in dem von ihnen besetzten Teilgebiet ni<strong>ch</strong>t isoliert zu verwirkli<strong>ch</strong>en; sie<br />
können aber zur Realisierung von Vernunft und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beitragen 1 . Do<strong>ch</strong> wie<br />
soll dieser Beitrag aussehen – wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein? Dieser Frage ist die vorliegende<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung gewidmet. Ihr Ziel besteht darin, den Beitrag näher zu<br />
bestimmen, den prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong><br />
Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t leisten können.<br />
S<strong>ch</strong>on die Leitfrage 'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' wird bei vielen Juristen die Gegenfrage<br />
provozieren, was denn Re<strong>ch</strong>t mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu tun habe 2 . Immerhin besteht<br />
ein kaum zu unters<strong>ch</strong>ätzen<strong>der</strong> Vorteil darin, daß die Normenwelten des Re<strong>ch</strong>ts<br />
und <strong>der</strong> Moral weitgehend unabhängig voneinan<strong>der</strong> existieren, wir also bei aller Unwägbarkeit<br />
des moralis<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tigen Handelns dur<strong>ch</strong>weg si<strong>ch</strong>er sein können, was re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
von uns verlangt wird. Ist also die Frage 'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' nur für<br />
diejenigen von Interesse, die einen Mindestgehalt an Moralität bereits im Begriff des<br />
Re<strong>ch</strong>ts verankert sehen? Diese Frage wird im ersten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung verneint.<br />
Dort wird zu zeigen sein, daß <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t selbst dann Bedeutung<br />
zukommt, wenn <strong>der</strong> Begriff des Re<strong>ch</strong>ts frei von aller Moral bestimmt wird.<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – also vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en sol<strong>ch</strong>e, die<br />
eine Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter Rückgriff auf Verfahrensüberlegungen<br />
betreiben – verspre<strong>ch</strong>en am ehesten, eine befriedigende Antwort auf die Frage na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t zu bieten. Ihr beson<strong>der</strong>er Reiz liegt darin, daß sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t von vornherein dur<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong>e Annahmen präjudizieren, also ni<strong>ch</strong>t<br />
eine bestimmte Religion, ein Statusbewußtsein gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, eine Tradition,<br />
eine Rollenverteilung <strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter, eine kulturelle Identität o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Sozialsubstanzen voraussetzen. Abgesehen von dieser inhaltli<strong>ch</strong>en Unvoreingenommenheit<br />
sind die Begriffsmerkmale, die eine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie prägen,<br />
indes no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end untersu<strong>ch</strong>t. Zwar ist die Klasse <strong>der</strong> prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> als sol<strong>ch</strong>e anerkannt 3 , do<strong>ch</strong> ergibt si<strong>ch</strong> aus den bisherigen Arbeiten ni<strong>ch</strong>t,<br />
1 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 359. Zur Zitierweise: Für die bessere<br />
zeitli<strong>ch</strong>e Zuordnung wird bei abgekürzt zitierten Werken in Anlehnung an die internationalen Zitierkonventionen<br />
in den Sozial- und Geisteswissens<strong>ch</strong>aften (Chicago-Style) zusätzli<strong>ch</strong> eine Jahreszahl<br />
angegeben, und zwar regelmäßig diejenige <strong>der</strong> Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten<br />
Neuauflage, bei öffentli<strong>ch</strong>en Reden die des Vortragsjahres, bei Übersetzungen die des Jahres <strong>der</strong><br />
Originalausgabe, bei Zitaten aus einem Na<strong>ch</strong>trag die des Jahres <strong>der</strong> unverän<strong>der</strong>ten Neuausgabe,<br />
die den Na<strong>ch</strong>trag enthält.<br />
2 Vgl. F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 111 f.: Die Annahme, Re<strong>ch</strong>t<br />
habe mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>ts zu tun, werde bereits Studienanfängern suggeriert und wirke si<strong>ch</strong><br />
langfristig prägend auf das Denken vieler Juristen aus.<br />
3 Zu den Autoren, die ausdrückli<strong>ch</strong> die 'prozeduralen' bzw. 'prozeduralistis<strong>ch</strong>en' <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
erörtern, gehören beispielsweise A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1989), S. 7 ff. – allerdings im Ergebnis (S. 20) die prozeduralen <strong>Theorien</strong> bis auf einen 'heuristis<strong>ch</strong>en<br />
Wert' ablehnend; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 111 ff.; J. Habermas, Fak-<br />
21
was genau eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zu einer prozeduralen ma<strong>ch</strong>t 4 . Die Arbeiten behandeln<br />
zwar einen unumstrittenen Kernbestand <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Theorien</strong>gruppe,<br />
zu dem die Ents<strong>ch</strong>eidungs- und Diskurstheorien sowie einige Vertragstheorien gehören<br />
5 . Sie konkretisieren aber ni<strong>ch</strong>t die Grenzen <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong>klasse. Ist eine Theorie<br />
s<strong>ch</strong>on dann 'prozedural', wenn sie, wie im Utilitarismus, ein inhaltsunabhängiges,<br />
rein formales Kriterium für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bestimmt – 'Das größte Glück <strong>der</strong> größten<br />
Zahl'? 6 Liegt eine 'prozedurale' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie vor, wenn eine Theorie für die<br />
Erzeugung gere<strong>ch</strong>ter Ergebnisse auf Verfahren abstellt, etwa auf den Geri<strong>ch</strong>tsprozeß<br />
o<strong>der</strong> das Gesetzgebungsverfahren? Müssen wir von 'prozeduralen' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
au<strong>ch</strong> dort spre<strong>ch</strong>en, wo in grundlegen<strong>der</strong> Vernunftskepsis die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
als unents<strong>ch</strong>eidbar gelten und auf Verfahren nur als Notlösung zurückgegriffen<br />
wird?<br />
Alle diese Fragen sind mit 'Nein' zu beantworten. Um aber eine sol<strong>ch</strong>e Antwort<br />
geben zu können, muß erst einmal <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> prozeduralen Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
bestimmt werden. Das geht nur innerhalb eines analytis<strong>ch</strong>en Rahmens zu den Begriffen<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie und prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, <strong>der</strong><br />
trotz zahlrei<strong>ch</strong>er Einzelstudien zu Theoriegruppen erst no<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>affen werden<br />
will 7 . Sol<strong>ch</strong>en terminologis<strong>ch</strong>en und klassifikatoris<strong>ch</strong>en Fragen ist <strong>der</strong> zweite Teil<br />
tizität und Geltung (1992), S. 564; R. Hoffmann, Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit (1992), S. 166 ff.; M.R. Deckert,<br />
Folgenorientierung in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995), S. 194; H. Klenner, Über die vier Arten<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien gegenwärtiger Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1995), S. 138 ff. Parallelen finden<br />
si<strong>ch</strong> in den Begriffen 'prozedurale Ethik', 'prozedurale Methodik' und 'prozedurale Re<strong>ch</strong>tfertigung',<br />
vgl. H. Kits<strong>ch</strong>elt, Moralis<strong>ch</strong>es Argumentieren und Sozialtheorie (1980), S. 391 ff.; S. Benhabib,<br />
The Methodological Illusions of Mo<strong>der</strong>n Political Theory (1982), S. 49; J.-R. Sieckmann, Justice and<br />
Rights (1995), S. 110 f.<br />
4 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 111 ff. spri<strong>ch</strong>t beispielsweise von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungs-<br />
und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien, während A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 13 ff. allein die Beispiele <strong>der</strong> Begründungstheorien von J. Rawls<br />
und J. Habermas heranzieht. Dazu unten S. 132 ff. (Begriff <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie).<br />
5 Zu alledem später ausführli<strong>ch</strong> S. 167 ff. (Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien), S. 217 ff. (Diskurstheorien); zum<br />
Problem <strong>der</strong> Vertragstheorien als <strong>Theorien</strong>klasse außerdem S. 102.<br />
6 Vgl. J. Bentham, Fragment of Government (1776), S. 242: »As a basis for all su<strong>ch</strong> operations ... may<br />
be seen setting up accordingly, the greatest happiness of the greatest number, in the <strong>ch</strong>aracter of<br />
the proper, and only proper and defensible, end of government« sowie S. 271, Anm.: »[T]he greatest-happiness<br />
principle [is] a principle whi<strong>ch</strong> lays down, as the only right and justifiable end of Government,<br />
the greatest happiness of the greatest number« (Hervorhebung bei Bentham). Vgl. <strong>der</strong>s.,<br />
Codification Proposal (1822), S. 537 ff. – die 'greatest happiness of the greatest number' for<strong>der</strong>e eine<br />
umfassende Institutionalisierung von Re<strong>ch</strong>t, das im einzelnen mit <strong>der</strong> Glücksför<strong>der</strong>ung begründet<br />
sein müsse; <strong>der</strong>s., Constitutional Code (1827), S. 5: »The right and proper end of government in<br />
every political community is the greatest happiness of the greatest number.«<br />
7 Der Vortrag von A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 13 ff. bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
si<strong>ch</strong> auf eine verglei<strong>ch</strong>ende Darstellung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> von Habermas und Rawls. Die zahlrei<strong>ch</strong>en<br />
neueren Studien zu Sozialvertragstheorien beziehen Diskursmodelle ni<strong>ch</strong>t mit ein; vgl. etwa P.<br />
Koller, <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts als Re<strong>ch</strong>tfertigungsmodelle politis<strong>ch</strong>er Institutionen (1984), S.<br />
241 ff.; <strong>der</strong>s., Neue <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts (1987), S. 11 ff.; V. Medina, Social Contract Theories<br />
(1990), S. 11 ff. (<strong>Theorien</strong> von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Rawls mit einer Gegenüberstellung<br />
zu Hume und Hegel); R. Kley, Vertragstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. VIII ff. (Rawls, Nozick,<br />
Bu<strong>ch</strong>anan); W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 11 ff.<br />
Die Arbeit von J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992) konzentriert si<strong>ch</strong> auf eine Abgrenzung<br />
zur Theorie von Rawls. Die verglei<strong>ch</strong>enden Arbeiten zu Vertrag und Diskurs, etwa die ents<strong>ch</strong>ei-<br />
22
dieser Untersu<strong>ch</strong>ung gewidmet. Sein Umfang ist einerseits <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> vorfindli<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe und Theoriearten ges<strong>ch</strong>uldet, an<strong>der</strong>erseits aber au<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
hier angewandten kritis<strong>ch</strong>-analytis<strong>ch</strong>en Methode, die <strong>Theorien</strong> ni<strong>ch</strong>t isoliert aneinan<strong>der</strong>reiht,<br />
son<strong>der</strong>n inhaltli<strong>ch</strong> aufeinan<strong>der</strong> bezieht und deshalb eine solide terminologis<strong>ch</strong>e<br />
und klassifikatoris<strong>ch</strong>e Basis benötigt. Der insoweit grundlegende zweite<br />
Teil wird zu dem Ergebnis führen, daß prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> genau<br />
diejenigen <strong>Theorien</strong> sind, die entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie zugeordnet werden können. Den Gegensatz<br />
dazu bilden die materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
und die (gere<strong>ch</strong>tigkeitsskeptis<strong>ch</strong>en) 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition.<br />
Will man prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verglei<strong>ch</strong>en, analysieren und<br />
kritisieren, so ist ni<strong>ch</strong>t nur eine genaue Begriffsbildung nötig. Zusätzli<strong>ch</strong> müssen die<br />
Inhalte <strong>der</strong> einzelnen <strong>Theorien</strong> dargestellt werden, um das Spektrum <strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen einigermaßen vollständig zu erfassen.<br />
Dem ist <strong>der</strong> dritte Teil gewidmet. Angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Materialvielfalt zum Thema<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' ist hierbei strikte Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung auf einige S<strong>ch</strong>werpunkte geboten.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung wird in dieser Untersu<strong>ch</strong>ung in dreierlei Hinsi<strong>ch</strong>t<br />
vorgenommen:<br />
Erstens geht es im folgenden ni<strong>ch</strong>t um <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin (d.h. in <strong>der</strong> Familie,<br />
<strong>der</strong> Welt, unter Freunden), son<strong>der</strong>n nur um politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (d.h. diejenige<br />
»von einem moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt gegenüber Re<strong>ch</strong>t und Staat« 8 ), denn zu ihr gehört<br />
die hier verfolgte Leitfrage, wie Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein kann. Damit ist vorgezei<strong>ch</strong>net,<br />
daß es ni<strong>ch</strong>t auf die soziologis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Bestandsaufnahme <strong>der</strong><br />
kollektiven o<strong>der</strong> individuellen Vorstellungen von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ankommt, wie sie<br />
empiris<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien leisten 9 . Au<strong>ch</strong> wird die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zwis<strong>ch</strong>en<br />
Generationen, gegenüber <strong>der</strong> Natur, unter Nationen o<strong>der</strong> zwis<strong>ch</strong>en den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern<br />
ni<strong>ch</strong>t Gegenstand <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung sein 10 . Es geht vielmehr um den Kernbestand<br />
an Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Re<strong>ch</strong>t und Staat, wie sie von normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
entwickelt werden, um die obersten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
und ihre Bedeutung für die Re<strong>ch</strong>tsordnung in einem Staatswesen zu begründen.<br />
Die S<strong>ch</strong>werpunktsetzung auf politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> re<strong>ch</strong>tfertigt si<strong>ch</strong> vor allem<br />
daraus, daß die staatli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsordnung beson<strong>der</strong>s dringend <strong>der</strong> Legitimation bedarf.<br />
Denn Re<strong>ch</strong>t ist dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net, daß es mit <strong>der</strong> Befugnis zu zwingen<br />
dungslogis<strong>ch</strong>e Analyse von L. Kern, Von Habermas zu Rawls (1986), s<strong>ch</strong>lagen ni<strong>ch</strong>t die in dieser<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung beabsi<strong>ch</strong>tigte Brücke zwis<strong>ch</strong>en prozeduraler Theorie und prozeduralem Re<strong>ch</strong>t.<br />
Der analytis<strong>ch</strong>e Rahmen, <strong>der</strong> bei R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 106 ff. entwickelt<br />
wird, entspri<strong>ch</strong>t nur in den Grundzügen <strong>der</strong> Grenzziehung, wie sie in dieser Untersu<strong>ch</strong>ung vorgenommen<br />
wird; vgl. unten S. 136 (Klassifizierung bei Dreier).<br />
8 Definition bei O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 59; ähnli<strong>ch</strong> S. 28: »die sittli<strong>ch</strong>e Perspektive<br />
auf Re<strong>ch</strong>t und Staat«. Zur Bes<strong>ch</strong>ränkung <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung auf politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> siehe<br />
unten S. 78 (S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
9 Zur subjektiven prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Gegenstand <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfors<strong>ch</strong>ung<br />
unten S. 119 (Begriff <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, D 3 ).<br />
10 Zur Bes<strong>ch</strong>ränkung <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung auf intragenerationale, anthropozentristis<strong>ch</strong>e, androgyne,<br />
nationalstaatli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unten S. 114 ff., 358 ff. (Erweiterbarkeitsthese).<br />
23
verbunden ist 11 . Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsordnung ist na<strong>ch</strong> wie vor<br />
von ungebro<strong>ch</strong>ener Aktualität. Mag au<strong>ch</strong> die gegenwärtige Staatenentwicklung Anlaß<br />
zur Hoffnung geben, daß die unverholen und offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>ten Systeme,<br />
die Okkupations-, Genozid- und Apartheidsregime, <strong>der</strong>zeit im Nie<strong>der</strong>gang begriffen<br />
sind; ein 'Ende <strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te' zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> damit keineswegs ab 12 . Denn<br />
selbst wenn die These stimmen sollte, daß si<strong>ch</strong> sämtli<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> etwa 180 zur Zeit existierenden<br />
unabhängigen Staaten letztli<strong>ch</strong> am mo<strong>der</strong>nen europäis<strong>ch</strong>en Staatsmodell<br />
orientieren 13 , so ist do<strong>ch</strong> we<strong>der</strong> erkennbar, ob si<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>en Ordnungsmodelle<br />
dabei überhaupt teleologis<strong>ch</strong> auf ein Optimierungsziel hin entwickeln, statt nur einer<br />
vorübergehenden politis<strong>ch</strong>en Mode anzuhängen 14 , no<strong>ch</strong> ähneln si<strong>ch</strong> die unter dem<br />
Bekenntnis demokratis<strong>ch</strong>er Verfaßtheit versammelten Staatsordnungen stark genug,<br />
um von einem einheitli<strong>ch</strong>en, als gere<strong>ch</strong>t anerkannten Modell spre<strong>ch</strong>en zu können.<br />
Zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> kommunistis<strong>ch</strong>en Volksrepublik China, <strong>der</strong> religiösen Republik Iran<br />
und den kapitalistis<strong>ch</strong>-laizistis<strong>ch</strong>en Vereinigten Staaten von Amerika entfaltet si<strong>ch</strong><br />
ein so weites Band unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Demokratievorstellungen, daß we<strong>ch</strong>selseitige<br />
Vorwürfe von Ungere<strong>ch</strong>tigkeit eher die Regel als die Ausnahme sind. Und selbst<br />
wenn es in einer politis<strong>ch</strong> konsolidierten Zukunft jemals einen breiten Konsens über<br />
die ri<strong>ch</strong>tige(n) Staatsordnung(en) geben sollte, so müßte dieser do<strong>ch</strong> stets aufs neue<br />
gegenüber je<strong>der</strong> Einzelstimme <strong>der</strong> Kritik na<strong>ch</strong> innen und außen verteidigt werden.<br />
Zweitens liegt eine Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung darin, daß diese Untersu<strong>ch</strong>ung si<strong>ch</strong> auf<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> Gegenwart' konzentriert. Die Klassiker <strong>der</strong> Ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Aristoteles, Hobbes, Locke, Kant u.v.m.), zu denen es<br />
zahlrei<strong>ch</strong>e Detailstudien gibt, finden hier nur insoweit ausdrückli<strong>ch</strong> Erwähnung, als<br />
sie zu einer unverzi<strong>ch</strong>tbaren Grundlage neuerer <strong>Theorien</strong> geworden sind. Als '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
<strong>der</strong> Gegenwart' sind sol<strong>ch</strong>e gemeint, die – wie die Theorie von<br />
Rawls 15 – jedenfalls na<strong>ch</strong> Etablierung <strong>der</strong> Spieltheorie dur<strong>ch</strong> J. v. Neumann und<br />
11 Illustrativ die frühe Formulierung bei R. v. Jhering, Geist des römis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts auf den vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Stufen seiner Entwicklung (1894), S. 22: »Von allen übrigen Mä<strong>ch</strong>ten und Ideen, wel<strong>ch</strong>e das<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Handeln bestimmen: <strong>der</strong> des Guten, S<strong>ch</strong>önen, Zweckmäßigen, <strong>der</strong> Religion, unters<strong>ch</strong>eidet<br />
si<strong>ch</strong> das Re<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong>, daß es si<strong>ch</strong> zu seiner Verwirkli<strong>ch</strong>ung des Zwanges bedient, also<br />
die Freiheit des eigenen Ents<strong>ch</strong>lusses aufhebt.« Ausführli<strong>ch</strong>er <strong>der</strong>s., Der Zweck im Re<strong>ch</strong>t (1884),<br />
S. 320 ff. beginnend mit <strong>der</strong> Definition: »Re<strong>ch</strong>t ist <strong>der</strong> Inbegriff <strong>der</strong> in einem Staate geltenden<br />
Zwangsnormen« (Hervorhebung bei Jhering). Ähnli<strong>ch</strong> H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 84:<br />
»[W]hen physical sanctions are prominent or usual among the forms of pressure, ... we shall be<br />
inclined to classify the rules as a primitive or rudimentary form of law.«<br />
12 Vgl. aber die Thesen von F. Fukuyama, The End of History? (1989), S. 3 ff. (4): »What we may be<br />
witnessing is not just the end of the Cold War, ... but the end of history as su<strong>ch</strong>: that is, the end<br />
point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as<br />
the final form of human government.«; <strong>der</strong>s., The End of History and the Last Man (1992); dagegen<br />
S.P. Huntington, No Exit: The Errors of Endism (1989); <strong>der</strong>s., The Clash of Civilizations? (1993),<br />
S. 38: »conflict between civilizations will supplant ideological and other forms of conflict as the<br />
dominant global form of conflict«.<br />
13 S.E. Finer, History of Government (1997), S. 88; ähnli<strong>ch</strong> in Form einer Vorhersage bereits M. Kriele,<br />
Die demokratis<strong>ch</strong>e Weltrevolution (1987), §§ 1, 16 ff. (S. 9 ff., 53 ff.).<br />
14 Gründe für Skepsis etwa bei S.E. Finer, History of Government (1997), S. 88; frühe Kritik am historis<strong>ch</strong>en<br />
Determinismus bei I. Berlin, Historical Inevitability (1953), S. 109 ff.<br />
15 Die Grundlagen <strong>der</strong> Rawlss<strong>ch</strong>en Theorie wurden bereits am 28. Dezember 1957 gelegt, in einem<br />
Vortrag vor <strong>der</strong> American Philosophical Association, Eastern Division, publiziert als J. Rawls, Ju-<br />
24
O. Morgenstern im Jahre 1944 entwickelt wurden 16 , vor allem also diejenigen, die erst<br />
in <strong>der</strong> Reaktion auf den Rawlss<strong>ch</strong>en Entwurf von 1971 o<strong>der</strong> als Teil <strong>der</strong> dadur<strong>ch</strong> ausgelösten<br />
Renaissance von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen seit den 70er Jahren entstanden<br />
sind 17 .<br />
Drittens muß selbst unter den gegenwärtig vertretenen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> no<strong>ch</strong> eine Auswahl getroffen werden, da eine ers<strong>ch</strong>öpfende Darstellung<br />
aller <strong>Theorien</strong> den Rahmen <strong>der</strong> Arbeit sprengen würde. Die Auswahl orientiert<br />
si<strong>ch</strong> an zwei Kriterien: Zunä<strong>ch</strong>st sollen die dargestellten <strong>Theorien</strong> exemplaris<strong>ch</strong> für<br />
die gesamte Breite des <strong>Theorien</strong>spektrums stehen. Um dieses Spektrum mögli<strong>ch</strong>st<br />
übers<strong>ch</strong>neidungsfrei zu erfassen, konzentriert si<strong>ch</strong> die Darstellung auf die Unters<strong>ch</strong>iede<br />
zwis<strong>ch</strong>en den Ansätzen und verzi<strong>ch</strong>tet auf jene <strong>Theorien</strong>, die si<strong>ch</strong> im wesentli<strong>ch</strong>en<br />
an<strong>der</strong>en ans<strong>ch</strong>ließen. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sollen zudem in erster Linie<br />
auf ihre Aussagen zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t hin untersu<strong>ch</strong>t werden. Deshalb sind die<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Konsequenzen einer Theorie selbst dort in <strong>der</strong> Darstellung hervorgehoben,<br />
wo sie <strong>der</strong> jeweilige Autor selbst ni<strong>ch</strong>t ins Zentrum stellt.<br />
Die im dritten Teil zunä<strong>ch</strong>st weitgehend ohne Bewertung dargestellten Theoriebeispiele<br />
werden im vierten Teil einer Analyse und Kritik unterzogen. Diese Zweistufigkeit<br />
des Untersu<strong>ch</strong>ungsgangs hat den Vorteil, daß etli<strong>ch</strong>e Argumente glei<strong>ch</strong> auf<br />
ganze Theoriegruppen bezogen werden können. Dabei bewährt si<strong>ch</strong> die zuvor gewonnene<br />
und dur<strong>ch</strong> die Theoriedarstellung ausgefüllte Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen,<br />
ohne die die Materialmenge kaum zu bewältigen wäre 18 . Nur zwei <strong>der</strong><br />
Grundpositionen betreffen prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Die ni<strong>ch</strong>tprozeduralen<br />
Theoriegruppen <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en und aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
verdienen glei<strong>ch</strong>wohl Bea<strong>ch</strong>tung, weil sie die beiden Gegenmodelle zu den prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> bilden und deshalb für diese eine Herausfor<strong>der</strong>ung sind. Im Ergebnis<br />
des vierten Teils wird si<strong>ch</strong> zeigen, daß sämtli<strong>ch</strong>e Theorieansätze ihre spezifis<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>punkte haben, daß aber glei<strong>ch</strong>wohl die Diskurstheorien <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
stice as Fairness, in: The Journal of Philosophy 54 (1957), S. 653-662. Die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Grundlagen, die Rawls später aufgegeben hat (dazu unten S. 180 ff.), rei<strong>ch</strong>en sogar weiter<br />
zurück: J. Rawls, Outline of a Decision Procedure for Ethics (1951), S. 177 ff.<br />
16 J. v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior (1944).<br />
17 Zu Nie<strong>der</strong>gang und Renaissance <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie G. Lübbe, Die Auferstehung des<br />
Sozialvertrags (1977), S. 185 ff.; V. Vanberg/R. Wippler, Die Renaissance <strong>der</strong> Idee des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags<br />
und die Soziologie (1986), S. 1 ff.; O. Höffe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>? (1991), S. 7 ff.;<br />
K. Günther, Kann ein Volk von Teufeln Re<strong>ch</strong>t und Staat moralis<strong>ch</strong> legitimieren? (1991), S. 186 ff.;<br />
W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 11 ff. Zu den (kritis<strong>ch</strong> an Rawls orientierten) Renaissancemonographien<br />
zählen weiter R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974); J.M. Bu<strong>ch</strong>anan,<br />
Limits of Liberty (1975); B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980); O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987); T. Nagel, Equality and Partiality (1991) sowie die (liberalismuskritis<strong>ch</strong>en)<br />
Entwürfe <strong>der</strong> Kommunitaristen: M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982);<br />
U. Steinvorth, Glei<strong>ch</strong>e Freiheit (1999), S. 15 ff.; M. Taylor, Community, Anar<strong>ch</strong>y, and Liberty (1982);<br />
M. Walzer, Spheres of Justice (1983). Die bahnbre<strong>ch</strong>ende Bedeutung <strong>der</strong> Rawlss<strong>ch</strong>en Theorie wird<br />
dadur<strong>ch</strong> belegt, daß bereits gut zehn Jahre na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>einen <strong>der</strong> 'Theory of Justice' in <strong>der</strong> Rawls-<br />
Bibliographie von H.G. Wellbank/D. Snook/D.T. Mason, John Rawls and his Critics (1982), S. 23 ff.<br />
insgesamt 2.512 Sekundärquellen aufgezählt und erläutert wurden.<br />
18 Vgl. unten S. 81 (Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen).<br />
25
Grundposition die vielverspre<strong>ch</strong>endsten Kandidaten für eine adäquate Erfassung <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t sind.<br />
Nun wäre es vermessen, im fünften Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung eine vollständige<br />
Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu entwickeln. Das wäre die Aufgabe einer weiteren<br />
Arbeit jenseits des hier gesteckten Rahmens. Do<strong>ch</strong> liegt bei aller Zurückhaltung<br />
ein gewisser Reiz darin, das Ergebnis des vierten Teils, na<strong>ch</strong> dem diskursive <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> am besten erklären können, wie Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein kann, zumindest<br />
in Grundzügen au<strong>ch</strong> positiv zu bewähren. Deshalb soll im S<strong>ch</strong>lußkapitel<br />
begonnen werden, die Grundzüge einer diskursiven Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu<br />
skizzieren, die prozedurale Maßstäbe für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t liefern kann. Dabei<br />
knüpft die Untersu<strong>ch</strong>ung an ein Projekt von Alexy an, das von diesem als 'analytis<strong>ch</strong>er<br />
Liberalismus' <strong>ch</strong>arakterisiert wurde 19 . Die Idee eines analytis<strong>ch</strong> begründbaren<br />
Liberalismus soll hier für die Ansätze einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> fru<strong>ch</strong>tbar<br />
gema<strong>ch</strong>t werden.<br />
19 Bezei<strong>ch</strong>nung bei R. Alexy, Vorwort, in: Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995), S. 10.<br />
26
Erster Teil:<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t<br />
'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' – Die Frage ist ni<strong>ch</strong>t nur für diejenigen von Interesse,<br />
die entgegen <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Trennungsthese 1 einen Mindestgehalt an Moralität<br />
bereits im Begriff des Re<strong>ch</strong>ts verankert sehen. Vielmehr kommt <strong>der</strong> Frage na<strong>ch</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t selbst dann Bedeutung zu, wenn <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsbegriff frei von<br />
Moral geda<strong>ch</strong>t wird 2 . Um das zu zeigen, ist es sinnvoll, zunä<strong>ch</strong>st die Stellung <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen in <strong>der</strong> Philosophie, insbeson<strong>der</strong>e ihre Beziehung zur Moral und<br />
zu Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en (A). Daraus ergibt<br />
si<strong>ch</strong> ein erster Anhaltspunkt, wie die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit dem Begriff des Re<strong>ch</strong>ts zusammenhängen<br />
könnte, nämli<strong>ch</strong> vermittelt dur<strong>ch</strong> die Frage, ob es einen begriffsnotwendigen<br />
moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt des Re<strong>ch</strong>ts gibt – einen analytis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt<br />
(B). Die These vom normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts hält dem entgegen,<br />
daß es für die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t auf einen analytis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt ni<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>eidend ankommt, weil die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unabhängig<br />
von dem verwendeten Re<strong>ch</strong>tsbegriff tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Bedeutung im Re<strong>ch</strong>t erlangt (C).<br />
Diese These wird für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Re<strong>ch</strong>tsphilosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie einerseits<br />
sowie Re<strong>ch</strong>tsdogmatik an<strong>der</strong>erseits differenziert und abs<strong>ch</strong>ließend dahin erweitert,<br />
daß au<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in den re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> kaum geregelten Sozialberei<strong>ch</strong>en<br />
(Freunds<strong>ch</strong>aft, Familie, Kultur u.v.m.) für das Re<strong>ch</strong>t mittelbar Bedeutung entfaltet<br />
(D).<br />
A. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral 3 , gehört damit zur praktis<strong>ch</strong>en Philosophie und<br />
ist auf eine Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft angewiesen. Was bedeutet das im<br />
einzelnen? Zunä<strong>ch</strong>st ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie allgemein die Moral, ein Versu<strong>ch</strong>, auf<br />
die Grundfrage <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>er Philosophie 'Was soll i<strong>ch</strong> tun?' 4 zu antworten. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> Fragestellung <strong>der</strong> theoretis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie ('Was kann i<strong>ch</strong> wissen?'), sind also ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> theoretis<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
(<strong>der</strong> Wahrheitsfindung über Seinstatsa<strong>ch</strong>en) zugängli<strong>ch</strong>. Sie unters<strong>ch</strong>eiden<br />
si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vom religiösen Bekenntnis in Glaubensfragen ('Was darf i<strong>ch</strong> hoffen?'). In<br />
dieser Gegensätzli<strong>ch</strong>keit zu theoretis<strong>ch</strong>er Erkenntnis einerseits und religiösem Bekenntnis<br />
an<strong>der</strong>erseits verlangt die Beantwortung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen na<strong>ch</strong> einer<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft – häufig synonym verwendet mit 'prakti-<br />
1 Dazu unten S. 29 (Trennungsthese, analytis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts).<br />
2 Vgl. D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 202 – die Frage als »Grundfrage <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsethik«.<br />
3 Vgl. unten S. 52 ff. (Sollensbezug <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Skizze zu <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Moral).<br />
4 Die Charakterisierung <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft dur<strong>ch</strong> diese Frage geht auf Kant zurück: I. Kant.,<br />
KrV (1781), A 804 f. / B 832 f.: »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das<br />
praktis<strong>ch</strong>e) vereinigt si<strong>ch</strong> in folgenden drei Fragen: 1. Was kann i<strong>ch</strong> wissen? 2. Was soll i<strong>ch</strong> tun?<br />
3. Was darf i<strong>ch</strong> hoffen?«.<br />
27
s<strong>ch</strong>er Rationalität' o<strong>der</strong> 'Handlungsrationalität' 5 . Die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft bezei<strong>ch</strong>net<br />
das Vermögen, auf praktis<strong>ch</strong>e Fragen, das heißt sol<strong>ch</strong>e, die auf die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer<br />
handlungsleitenden Ents<strong>ch</strong>eidung zielen 6 , begründete Antworten zu geben 7 . Der<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> stellt si<strong>ch</strong> als ein Son<strong>der</strong>fall des Anspru<strong>ch</strong>s auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
dar 8 .<br />
Umstritten ist bereits, ob es überhaupt praktis<strong>ch</strong>e Vernunft gibt, ob also jemals<br />
eine begründete Antwort auf Fragen des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns gegeben werden kann 9 .<br />
Gäbe es keine praktis<strong>ch</strong>e Vernunft, so müßte an dieser Stelle jede weitere Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen mit einer moralis<strong>ch</strong>en Bankrotterklärung abgebro<strong>ch</strong>en<br />
werden. Diese Konsequenz hat die Philosophie tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> einige Zeit gezogen.<br />
Na<strong>ch</strong> einer Phase des Nie<strong>der</strong>gangs ist – na<strong>ch</strong> einigen Vorläufern 10 – erst seit<br />
1971 mit <strong>der</strong> Publikation <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Rawls eine breit wirkende<br />
Renaissance <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie und <strong>der</strong> Grundlegungsbemühungen über<br />
praktis<strong>ch</strong>e Vernunft eingetreten 11 . Unter den seitdem entwickelten <strong>Theorien</strong> sind die<br />
prozeduralen <strong>Theorien</strong> praktis<strong>ch</strong>er Vernunft die aussi<strong>ch</strong>tsrei<strong>ch</strong>sten Kandidaten, die<br />
grundlegende Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> befriedigend zu beantworten. Sie erklären,<br />
5 Dafür etwa G. Patzig, Grußwort zum Wieacker Symposion (1989), S. 12: »Begriff <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft o<strong>der</strong>, wie man heute sagt, <strong>der</strong> Handlungsrationalität«. Ebenso D. Bu<strong>ch</strong>wald, Der Begriff<br />
<strong>der</strong> rationalen juristis<strong>ch</strong>en Begründung (1990), S. 147 ff. Zur besseren Betonung des etwas an<strong>der</strong>en<br />
Wortgebrau<strong>ch</strong>s im anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en Literaturraum wird hier Rationalität (rationality) im<br />
Sinne von Zweckrationalität gebrau<strong>ch</strong>t, also ni<strong>ch</strong>t synonym mit praktis<strong>ch</strong>er Vernunft insgesamt<br />
(reason), son<strong>der</strong>n nur mit <strong>der</strong>en pragmatis<strong>ch</strong>em Gebrau<strong>ch</strong>. Zu dieser Differenzierung vgl. J.R. Lucas,<br />
On Justice (1980), S. 37; A.L. Stin<strong>ch</strong>combe, Reason and Rationality (1986), S. 253 ff. – beide angloamerikanis<strong>ch</strong><br />
(rationality/reason); sowie G. Kir<strong>ch</strong>gässner, Homo oeconomicus (1991), S. 178 ff. –<br />
deuts<strong>ch</strong> (rationales Verhalten/vernünftiges Handeln). Ansatzweise bereits bei I. Kant, KrV (1781),<br />
A 800 / B 828 – pragmatis<strong>ch</strong>es Verhalten/praktis<strong>ch</strong>e Vernunft; <strong>der</strong>s., ebd., A 806 / B 834: »Das<br />
praktis<strong>ch</strong>e Gesetz aus dem Bewegungsgrunde <strong>der</strong> Glückseligkeit nenne i<strong>ch</strong> pragmatis<strong>ch</strong> (Klugheitsregel);<br />
dasjenige aber, wofern ein sol<strong>ch</strong>es ist, das zum Bewegungsgrunde ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es hat,<br />
als die Würdigkeit, glückli<strong>ch</strong> zu werden, moralis<strong>ch</strong> (Sittengesetz).« (Hervorhebungen bei Kant). Vgl.<br />
unten S. 92 (pragmatis<strong>ch</strong>er Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft).<br />
6 Die Unters<strong>ch</strong>eidung von theoretis<strong>ch</strong>en und praktis<strong>ch</strong>en Disziplinen geht auf die aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Philosophie zurück. Aristoteles stellte <strong>der</strong> seinsorientierten theoretis<strong>ch</strong>en Philosophie (Logik, Physik,<br />
Mathematik, Metaphysik) die handlungsorientierten Disziplinen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie<br />
(Ethik, Ökonomie, Politik) gegenüber. Vgl. zur Analyse A. Pieper, Ethik (1991), S. 24 f.; O. Höffe,<br />
Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 30 ff. Die Terminologie findet ihre Fortsetzung im Begriffspaar<br />
Wahrheit/Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Bei begründeten Aussagen im Berei<strong>ch</strong> theoretis<strong>ch</strong>er Fragen spri<strong>ch</strong>t man<br />
von Wahrheit, im Berei<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>er Fragen dagegen von Ri<strong>ch</strong>tigkeit; A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong><br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5 f., 17.<br />
7 Vgl. (m.w.N.) R.A. Posner, Problems of Jurisprudence (1990), S. 71 ff. (71): »[P]ractical reason ... is<br />
most often used to denote the methods ('deliberation' and 'practical syllogism' are the key expressions<br />
here) that people use to make a practical or ethical <strong>ch</strong>oice«.<br />
8 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 242.<br />
9 So z.B. O. Weinberger, Der Streit um die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft (1992), S. 315 ff. – 'Gibt es praktis<strong>ch</strong>e<br />
Vernunft' und 'Der Traum von <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Erkenntnis'. Na<strong>ch</strong> Ansi<strong>ch</strong>t Weinbergers ist praktis<strong>ch</strong>e<br />
Vernunft in dem Sinne, daß sie Methoden für das Auffinden des moralis<strong>ch</strong> Ri<strong>ch</strong>tigen bietet,<br />
unmögli<strong>ch</strong>. Vgl. unten S. 143 ff. (Vernunftskepsis <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
10 Vgl. vor allem R.M. Hare, Freedom and Reason (1963).<br />
11 Vgl. oben S. 25, Fn. 17 (Nie<strong>der</strong>gang und Renaissance <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie).<br />
28
was praktis<strong>ch</strong>e Vernunft ist und wie wir sie auf praktis<strong>ch</strong>e Fragen anwenden können<br />
12 .<br />
Es gibt ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er Vernunft. Das läßt si<strong>ch</strong><br />
an <strong>der</strong> einfa<strong>ch</strong>en Frage zeigen, ob man dem Bettler Geld geben sollte. Wer praktis<strong>ch</strong>e<br />
Vernunft für unmögli<strong>ch</strong> hält, wird si<strong>ch</strong> die Frage gar ni<strong>ch</strong>t erst stellen: Für den Skeptiker<br />
genügt es, wenn er aus <strong>der</strong> Laune des Augenblicks handelt. Der Handlungsutilitarist<br />
müßte si<strong>ch</strong> fragen, ob das Gemeinwohl insgesamt dur<strong>ch</strong> die Hingabe des<br />
Geldes gesteigert werden kann, ob also <strong>der</strong> Gewinn aus Si<strong>ch</strong>t des Bettlers größeres<br />
Glück bedeutet als <strong>der</strong> eigene Verlust Leid bringt (act utilitarianism). Der Regelutilitarist<br />
handelt dana<strong>ch</strong>, ob die moralis<strong>ch</strong>e 'Bettlerregel' des Inhalts 'Gib Bettlern gelegentli<strong>ch</strong><br />
Geld!' auf lange Si<strong>ch</strong>t für alle vorteilhaft ist (rule utilitarianism). Ein Kantianer<br />
müßte fragen, ob die Bettlerregel als allgemeines Gesetz aus autonomen Gründen<br />
gewollt sein kann. Der Diskurstheoretiker prüft, ob über eine sol<strong>ch</strong>e Norm in einem<br />
allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs Konsens hergestellt werden könnte. Ein Kommunitarist<br />
handelt dana<strong>ch</strong>, ob es <strong>der</strong> Tradition in <strong>der</strong> jeweiligen Gemeins<strong>ch</strong>aft entspri<strong>ch</strong>t,<br />
Bettler in dieser Weise zu unterstützen. Und wer die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft aus Si<strong>ch</strong>t<br />
eines unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters bestimmen will, müßte fragen, wel<strong>ch</strong>es Handeln<br />
bei einer unvoreingenommenen Außenperspektive wohl ri<strong>ch</strong>tig wäre. Jede dieser<br />
Explikationen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft führt zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Moraltheorien<br />
und damit au<strong>ch</strong> zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Sol<strong>ch</strong>e Explikationsunters<strong>ch</strong>iede<br />
sind selbst dann wi<strong>ch</strong>tig, wenn die <strong>Theorien</strong> in Einzelfragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
im Ergebnis übereinstimmen sollten, also beispielsweise Utilitaristen, Kantianer,<br />
Diskurstheoretiker und Kommunitaristen je aus ihrer Perspektive zu dem Ents<strong>ch</strong>luß<br />
gelangen, dem Bettler gelegentli<strong>ch</strong> Geld geben zu müssen. Denn die Konzeption<br />
praktis<strong>ch</strong>er Vernunft enthält die Gründe des Handelns und damit die Grundsätze<br />
zur Lösung aller neu auftretenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral, do<strong>ch</strong> sie ist ni<strong>ch</strong>t identis<strong>ch</strong> mit Moral. Das wird<br />
im einzelnen bei <strong>der</strong> Analyse des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs deutli<strong>ch</strong> werden 13 . Zur einfa<strong>ch</strong>en<br />
Unters<strong>ch</strong>eidung sei hier nur soviel vorweggenommen: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> muß<br />
immer einen Sozialbezug haben. Wer si<strong>ch</strong> als Eremit in <strong>der</strong> Wüste o<strong>der</strong> als S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>iger<br />
auf einer Insel die Frage na<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tigem Handeln stellt, mag zwar auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong> Moral sein – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen stellen si<strong>ch</strong> indes ni<strong>ch</strong>t.<br />
B. Gibt es einen analytis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts?<br />
Die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t wäre evident, wenn es einen begriffli<strong>ch</strong><br />
notwendigen moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt des Re<strong>ch</strong>ts gäbe, also einen analytis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt in dem Sinne, daß bestimmte Inhalte gefor<strong>der</strong>t sind, bevor über-<br />
12 Vgl. R. Alexy, Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 30; <strong>der</strong>s., Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 114 ff. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong><br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 9 ff. bezei<strong>ch</strong>net das Unterfangen, inhaltli<strong>ch</strong>e moralis<strong>ch</strong>e Aussagen<br />
aus einem gedankli<strong>ch</strong>en Verfahren abzuleiten, d.h. Inhalt aus Form zu gewinnen, als das<br />
Charakteristikum prozeduraler <strong>Theorien</strong>.<br />
13 Dazu unten S. 45 ff. (Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
29
haupt von 'Re<strong>ch</strong>t' die Rede sein kann 14 . Der Begriff des Re<strong>ch</strong>ts 15 ist indes umstritten,<br />
wobei die Frage des moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalts plakativ unter dem Titel 'Naturre<strong>ch</strong>tslehre<br />
versus Re<strong>ch</strong>tspositivismus' verhandelt wird 16 . Allgemeine Aussagen zu<br />
dieser Debatte sind vor allem deshalb s<strong>ch</strong>wierig, weil sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Spielarten<br />
des Re<strong>ch</strong>tspositivismus entwickelt wurden 17 . Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Trennungsthese, die für<br />
re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong> ist 18 , gibt es keinen begriffsnotwendigen<br />
Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und Moral: je<strong>der</strong> beliebige Inhalt kann gelten-<br />
14 So im voraufkläreris<strong>ch</strong>en, naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts- und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnis, etwa bei G.W.<br />
Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (ca. 1674), S. 667: »Re<strong>ch</strong>t kann ni<strong>ch</strong>t ungere<strong>ch</strong>t<br />
sein – das wäre ein Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> – aber das Gesetz kann es sein.« Ähnli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> G. Jellinek,<br />
Die socialethis<strong>ch</strong>e Bedeutung von Re<strong>ch</strong>t, Unre<strong>ch</strong>t und Strafe (1878), S. 42: »Das Re<strong>ch</strong>t ist ni<strong>ch</strong>ts<br />
An<strong>der</strong>es, als das ethis<strong>ch</strong>e Minimum. Objectiv sind es die Erhaltungsbedingungen <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft,<br />
soweit sie vom mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Willen abhängig sind, also das Existenzminimum ethis<strong>ch</strong>er Normen,<br />
subjectiv ist es das Minimum sittli<strong>ch</strong>er Lebensbethätigung und Gesinnung, wel<strong>ch</strong>es von den<br />
Gesells<strong>ch</strong>aftsglie<strong>der</strong>n gefor<strong>der</strong>t wird.« (Hervorhebung bei Jellinek).<br />
15 Vgl. aus <strong>der</strong> umfangrei<strong>ch</strong>en Literatur zum Begriff des Re<strong>ch</strong>ts die Bestimmungsversu<strong>ch</strong>e bei H.L.A.<br />
Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals (1958), S. 622 ff. – notwendiger moralis<strong>ch</strong>er<br />
Mindestgehalt; <strong>der</strong>s., Concept of Law (1961) – re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>e Bestimmung, allerdings<br />
mit Ausnahmen auf S. 189 ff. (minimum content of natural law) sowie S. 202 (rules must be intelligible<br />
and, in general, not retrospective); L.L. Fuller, Morality of Law (1964), S. 95 ff., 152 ff. (internal morality<br />
of law); F. Bydlinski, Juristis<strong>ch</strong>e Methodenlehre und Re<strong>ch</strong>tsbegriff (1982), S. 177 ff., 317 ff. (»wertbezogener«<br />
Re<strong>ch</strong>tsbegriff); R. Dreier, Der Begriff des Re<strong>ch</strong>ts (1984), S. 95 ff.; R. Alexy, Begriff und Geltung<br />
des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 18 ff., 31 ff. (beide zur ni<strong>ch</strong>tpositivistis<strong>ch</strong>en Bestimmung des Re<strong>ch</strong>tsbegriffs).<br />
Na<strong>ch</strong>weise zur späteren Diskussion bei M. Kaufmann, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1996), S. 199 ff.;<br />
A. Englän<strong>der</strong>, Zur begriffli<strong>ch</strong>en Mögli<strong>ch</strong>keit des Re<strong>ch</strong>tspositivismus (1997), S. 437 ff. Klassikertexte<br />
zum Begriff des Re<strong>ch</strong>ts finden si<strong>ch</strong> versammelt bei W. Maihofer, Begriff und Wesen des Re<strong>ch</strong>ts<br />
(1973).<br />
16 Aus <strong>der</strong> Literatur etwa H.L.A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals (1958),<br />
S. 601 (ambiguous use of »positivism«); <strong>der</strong>s., Concept of Law (1961), S. 181 ff. (natural law and legal<br />
positivism); F. Wieacker, Zum heutigen Stand <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tsdiskussion (1965), S. 1 ff.; R. Alexy,<br />
Begriff und Geltung des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 18 ff. (praktis<strong>ch</strong>e Bedeutung des Streits um den Re<strong>ch</strong>tspositivismus);<br />
J. Renzikowski, Naturre<strong>ch</strong>tslehre versus Re<strong>ch</strong>tspositivismus – ein Streit um Worte?<br />
(1995), S. 335 ff.; M. Kaufmann, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1996), S. 30 ff., 138 ff. Vgl. au<strong>ch</strong> unten S. 89<br />
(Naturre<strong>ch</strong>tslehren).<br />
17 Zur Bandbreite re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>er <strong>Theorien</strong> mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>werpunktsetzung und<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en, teils sogar wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Einzelaussagen zählen J.L. Austins Imperativentheorie,<br />
H. Kelsens Reine Re<strong>ch</strong>tslehre, H.L.A. Harts analytis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tstheorie und au<strong>ch</strong> N. Luhmanns<br />
systemtheoretis<strong>ch</strong>er Prozeduralismus. Bei einer Entgegensetzung von Re<strong>ch</strong>tspositivismus<br />
und Naturre<strong>ch</strong>tslehre ist in aller Regel ein Re<strong>ch</strong>tspositivismus gemeint, <strong>der</strong> glei<strong>ch</strong>zeitig die starke<br />
These des metaethis<strong>ch</strong>en Nonkognitivismus vertritt, also behauptet, daß in Fragen <strong>der</strong> Moral keine<br />
Erkenntnis mögli<strong>ch</strong> ist. Das kann z.B. für H.L.A. Hart verneint werden und ist selbst bei H. Kelsen<br />
ni<strong>ch</strong>t eindeutig festzustellen, da ein Skeptizismus im engeren Sinne ni<strong>ch</strong>t notwendig Nonkognitivismus<br />
bedeutet. Statt eine paus<strong>ch</strong>ale Entgegensetzung zum Re<strong>ch</strong>tspositivismus zu versu<strong>ch</strong>en,<br />
ist es deshalb treffen<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehre den moralis<strong>ch</strong>en Skeptizismus gegenüberzustellen;<br />
dazu unten S. 82 (nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition).<br />
18 Exemplaris<strong>ch</strong> H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 360: »In dieser Unabhängigkeit<br />
<strong>der</strong> Geltung des positiven Re<strong>ch</strong>ts von seinem Verhältnis zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm liegt <strong>der</strong><br />
wesentli<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>tslehre und Re<strong>ch</strong>tspositivismus.« Zu an<strong>der</strong>en, teils<br />
weitergehenden re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Kernthesen (Imperativentheorie, Nonkognitivismus) vgl.<br />
H.L.A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals (1958), S. 593 ff. sowie die Analyse<br />
von fünf positivistis<strong>ch</strong>en Grundthesen bei W. Kersting, Re<strong>ch</strong>tsverbindli<strong>ch</strong>keit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
bei Thomas Hobbes (1998), S. 358 f.<br />
30
des positives Re<strong>ch</strong>t sein 19 . Die Gegenthese wurde in ihrer wirkmä<strong>ch</strong>tigsten Form in<br />
Reaktion auf die historis<strong>ch</strong>e Erfahrung des Nationalsozialismus in <strong>der</strong> 'Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en<br />
Formel' geprägt 20 und erlebte mit den 'Mauers<strong>ch</strong>ützenprozessen' eine unerwartete<br />
Renaissance 21 . Folgt man dieser Formel, dann sind »Geri<strong>ch</strong>te so unabweisbar<br />
mit dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug des Re<strong>ch</strong>ts konfrontiert, daß dessen Ausklammerung<br />
glei<strong>ch</strong>bedeutend mit einer Verfehlung ihrer Aufgabe wäre« 22 .<br />
Do<strong>ch</strong> die Annahme eines moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalts des Re<strong>ch</strong>ts ist gar ni<strong>ch</strong>t nötig,<br />
um die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t zu belegen. Allzu lei<strong>ch</strong>t wird<br />
übersehen, daß die gegensätzli<strong>ch</strong>en Positionen zum Begriff des Re<strong>ch</strong>ts in ihren praktis<strong>ch</strong>en<br />
Konsequenzen ni<strong>ch</strong>t sehr weit auseinan<strong>der</strong>liegen. Selbst wenn man mit <strong>der</strong><br />
re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Trennungsthese einen notwendigen moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt<br />
des Re<strong>ch</strong>ts ablehnt, verbleiben no<strong>ch</strong> Berei<strong>ch</strong>e, in denen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen für<br />
die Re<strong>ch</strong>tspraxis Bedeutung erlangen (normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt) 23 . Die Trennungsthese<br />
for<strong>der</strong>t nur eine moralunabhängige Bestimmung des Re<strong>ch</strong>tsbegriffs,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber den Verzi<strong>ch</strong>t auf jede Kritik am geltenden Re<strong>ch</strong>t im Namen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
24 . Sie s<strong>ch</strong>ließt au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus, daß si<strong>ch</strong> im Re<strong>ch</strong>tssystem moralis<strong>ch</strong>e Vorstellungen<br />
verwirkli<strong>ch</strong>en 25 . Umgekehrt spre<strong>ch</strong>en selbst Naturre<strong>ch</strong>tslehren – abgesehen von<br />
den seltenen Grenzfällen, die in <strong>der</strong> Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en Formel konkretisiert sind – einer<br />
ungere<strong>ch</strong>ten 'Re<strong>ch</strong>ts'-Norm ni<strong>ch</strong>t automatis<strong>ch</strong> ihre Re<strong>ch</strong>tsqualität und ihren Gel-<br />
19 Vgl. H. Kelsen, Reine Re<strong>ch</strong>tslehre (1960), S. 51: »Eine Re<strong>ch</strong>tsordnung mag vom Standpunkt einer<br />
bestimmten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm aus als ungere<strong>ch</strong>t beurteilt werden. Aber die Tatsa<strong>ch</strong>e, daß <strong>der</strong><br />
Inhalt einer wirksamen Zwangsordnung als ungere<strong>ch</strong>t beurteilt werden kann, ist jedenfalls kein<br />
Grund, diese Zwangsordnung ni<strong>ch</strong>t als Re<strong>ch</strong>tsordnung gelten zu lassen.«<br />
20 G. Radbru<strong>ch</strong>, Gesetzli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>t und übergesetzli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t (1946), S. 345: »Der Konflikt zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive,<br />
dur<strong>ch</strong> Satzung und Ma<strong>ch</strong>t gesi<strong>ch</strong>erte Re<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> dann den Vorrang hat, wenn es inhaltli<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>t<br />
und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> des positiven Gesetzes zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ein so unterträgli<strong>ch</strong>es Maß errei<strong>ch</strong>t, daß das Gesetz als 'unri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zu wei<strong>ch</strong>en hat«. Dem ist die deuts<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>kriegsjudikatur gefolgt, etwa BVerfGE 23, 98<br />
(98): »Nationalsozialistis<strong>ch</strong>en 'Re<strong>ch</strong>ts'vors<strong>ch</strong>riften kann die Geltung als Re<strong>ch</strong>t abgespro<strong>ch</strong>en werden,<br />
wenn sie fundamentalen Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> so evident wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en, daß <strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>ter, <strong>der</strong> sie anwenden o<strong>der</strong> ihre Re<strong>ch</strong>tsfolgen anerkennen wollte, Unre<strong>ch</strong>t statt Re<strong>ch</strong>t spre<strong>ch</strong>en<br />
würde.«<br />
21 Zu Notwendigkeit und Grenzen <strong>der</strong> Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en Formel siehe einerseits R. Alexy, Begriff und<br />
Geltung des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 15 ff., 52 ff., 201 (Bedeutung für den Re<strong>ch</strong>tsbegriff); <strong>der</strong>s., Mauers<strong>ch</strong>ützen<br />
(1993), S. 3 ff. und an<strong>der</strong>erseits H. Dreier, Gustav Radbru<strong>ch</strong> und die Mauers<strong>ch</strong>ützen<br />
(1997), 422 ff., 428 ff. (Entbehrli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Formel), beide m.w.N.<br />
22 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 123.<br />
23 Vgl. W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 34, 37: Würde die Trennungsthese besagen,<br />
daß si<strong>ch</strong> in einem Re<strong>ch</strong>tssystem keine moralis<strong>ch</strong>en Vorstellungen auswirken, so wäre sie empiris<strong>ch</strong><br />
fals<strong>ch</strong>. Der Re<strong>ch</strong>tspositivismus stellt si<strong>ch</strong> dem Programm einer staats- und re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en<br />
Legitimationstheorie keinesfalls entgegen. Im Ergebnis ähnli<strong>ch</strong> P. Koller, Zur Verträgli<strong>ch</strong>keit von<br />
Re<strong>ch</strong>tspositivismus und Naturre<strong>ch</strong>t (1983), S. 355 ff. – Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 32 ff.<br />
24 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 165.<br />
25 So ausdrückli<strong>ch</strong> W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 14, <strong>der</strong> deshalb vors<strong>ch</strong>lägt, die<br />
Trennungsthese umzutaufen in die »These von <strong>der</strong> begriffli<strong>ch</strong>en Unabhängigkeit des Re<strong>ch</strong>ts von<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>«.<br />
31
tungsanspru<strong>ch</strong> ab: Re<strong>ch</strong>tsgehorsam ist in aller Regel au<strong>ch</strong> gegenüber ungere<strong>ch</strong>tem<br />
Re<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>uldet 26 .<br />
Der Streit um den Re<strong>ch</strong>tsbegriff zeigt si<strong>ch</strong> damit als wenig geeignet, die Bedeutung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t vollständig zu erfassen. Die Leitfrage dieser<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung »Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?« soll deshalb im folgenden ni<strong>ch</strong>t auf den<br />
Grundlagenstreit zum moralis<strong>ch</strong>en Mindestgehalt des Re<strong>ch</strong>ts konzentriert werden<br />
(analytis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt); vielmehr gilt das Hauptaugenmerk dem normativen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts.<br />
C. Der normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des Re<strong>ch</strong>ts<br />
In <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspraxis konkreter positiver Re<strong>ch</strong>tsordnungen zeigt si<strong>ch</strong> ein tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es<br />
und regelmäßiges Bedürfnis, Ents<strong>ch</strong>eidungen damit zu begründen, daß sie ges<strong>ch</strong>riebenen<br />
o<strong>der</strong> unges<strong>ch</strong>riebenen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen entspre<strong>ch</strong>en (normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt).<br />
Vereinfa<strong>ch</strong>t ausgedrückt: Re<strong>ch</strong>t mag ni<strong>ch</strong>t immer gere<strong>ch</strong>t sein, aber es<br />
soll immer gere<strong>ch</strong>t sein 27 . Die Frage na<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tigem Re<strong>ch</strong>t ist glei<strong>ch</strong>bedeutend mit <strong>der</strong><br />
Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t 28 . Man muß deshalb ni<strong>ch</strong>t erst »für eine Versöhnung<br />
zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tspositivismus und Naturre<strong>ch</strong>tslehre eintreten« 29 , um die Bedeu-<br />
26 Vgl. G. Radbru<strong>ch</strong>, Gesetzli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>t und übergesetzli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t (1946), S. 345 – Das positive<br />
Re<strong>ch</strong>t habe grundsätzli<strong>ch</strong> »au<strong>ch</strong> dann den Vorrang ..., wenn es inhaltli<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>t und unzweckmäßig<br />
ist«; ähnli<strong>ch</strong> bereits die naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Konzeption von T. Hobbes, Leviathan (1651),<br />
Kapitel 21: »[N]othing the Soveraign Representative can doe to a Subject, on what pretence soever,<br />
can properly be called Injustice, or Injury; because every Subject is Author of every act the<br />
Soveraign doth; ... The Obligation of the Subject to the Sovereign, is un<strong>der</strong>stood to last as long,<br />
and no longer, than the power lasteth, by whi<strong>ch</strong> he is able to protect them.« Zur Mögli<strong>ch</strong>keit ungere<strong>ch</strong>ten<br />
aber glei<strong>ch</strong>wohl gültigen Re<strong>ch</strong>ts trotz naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Konzeption vgl. au<strong>ch</strong> H. Haug,<br />
Die S<strong>ch</strong>ranken <strong>der</strong> Verfassungsrevision (1946), S. 63 ff. (66, 231 f.).<br />
27 Ebenso A. Kaufmann, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1984), S. 9: »zumindest Bewertungsmaßstab muß<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sein, will man ni<strong>ch</strong>t einem unfru<strong>ch</strong>tbaren Skeptizismus verfallen«. Insoweit<br />
übereinstimmend sogar H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 402: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
s<strong>ch</strong>reibt vor, wie das Re<strong>ch</strong>t ... inhaltli<strong>ch</strong> gestaltet werden soll«.<br />
28 Insoweit besteht breite Übereinstimmung, wenn au<strong>ch</strong> im Einzelfall mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Bedeutungszuweisung;<br />
vgl. M. Rümelin, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1920), S. 50 (»[Ein] <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff, <strong>der</strong><br />
das Gere<strong>ch</strong>te faßt als das, was ... dem ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>t entspri<strong>ch</strong>t.«); G. Radbru<strong>ch</strong>, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie<br />
(1973), S. 346 (»Denn man kann Re<strong>ch</strong>t, au<strong>ch</strong> positives Re<strong>ch</strong>t, gar ni<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>s definieren denn<br />
als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn na<strong>ch</strong> bestimmt ist, <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu dienen.«);<br />
I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 7 (Entspre<strong>ch</strong>ung des positiven Re<strong>ch</strong>ts zu ethis<strong>ch</strong>en<br />
For<strong>der</strong>ungen); A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5, 7 (Glei<strong>ch</strong>setzung<br />
von 'ri<strong>ch</strong>tigem Re<strong>ch</strong>t' mit dem Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>); R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 95 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sei die Frage <strong>der</strong> 'materialen Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts'); H. Kelsen, Das<br />
Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 402 (»<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> s<strong>ch</strong>reibt vor, wie das Re<strong>ch</strong>t ... inhaltli<strong>ch</strong><br />
gestaltet werden soll.«); T. Mayer-Maly, Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1988), S. 103 (»Geht es dagegen um<br />
Re<strong>ch</strong>tskritik, so wird eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>slehre unentbehrli<strong>ch</strong>.«); W. Leisner, Der Abwägungsstaat<br />
(1997), S. 42 (Annäherung an <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als einem »vers<strong>ch</strong>leierten Ideal allen Re<strong>ch</strong>ts«). Mit<br />
an<strong>der</strong>em <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff hingegen K. Engis<strong>ch</strong>, Auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1971),<br />
S. 186: »Exakt ausgedrückt ist also die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eine notwendige, aber keine hinrei<strong>ch</strong>ende<br />
Bedingung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Anordnungen (Normen, Urteile, Verwaltungsakte).«<br />
29 So z.B. J. Renzikowski, Naturre<strong>ch</strong>tslehre versus Re<strong>ch</strong>tspositivismus – ein Streit um Worte? (1995),<br />
S. 346 m.w.N.<br />
32
tung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für das Re<strong>ch</strong>t aufzuzeigen. Es gibt mindestens drei Gründe,<br />
aus denen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen im Re<strong>ch</strong>t relevant werden können 30 : den Legitimationsbedarf<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung insgesamt (I), den Orientierungsbedarf interpretieren<strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tsanwendung (II) und den Umsetzungsbedarf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> festgelegter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen<br />
(III). Sol<strong>ch</strong>e Gründe illustrieren die Bedeutung, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
im positiven Re<strong>ch</strong>t tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und regelmäßig zukommt. Dieser Befund<br />
führt zu <strong>der</strong> Frage, ob <strong>der</strong> dadur<strong>ch</strong> umrissene normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des<br />
Re<strong>ch</strong>ts bloß kontingent, o<strong>der</strong> ob er notwendig ist (IV).<br />
I. Re<strong>ch</strong>tfertigung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung (Legitimationsbedarf)<br />
Eine Re<strong>ch</strong>tsordnung brau<strong>ch</strong>t mehr als die bloße tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Anerkennung ihrer Geltungsansprü<strong>ch</strong>e<br />
dur<strong>ch</strong> verbreiteten Re<strong>ch</strong>tsgehorsam. Sie ist eine Zwangsordnung<br />
und bedarf, um auf Dauer bestehen zu können, <strong>der</strong> Legitimation. Legitimation bedeutet,<br />
daß si<strong>ch</strong> unabhängig von historis<strong>ch</strong> kontingenten Überzeugungen gute Gründe<br />
dafür finden lassen, die Ordnung <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> so und ni<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>s zu<br />
gestalten 31 . Herrs<strong>ch</strong>aft muß auf praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis, ni<strong>ch</strong>t auf einem bloßen Bekenntnis<br />
beruhen. Um einen sol<strong>ch</strong>en Legitimationsbedarf <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung festzustellen,<br />
müssen keine vorgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te bes<strong>ch</strong>woren werden.<br />
S<strong>ch</strong>on die erfolgrei<strong>ch</strong>e Selbsterhaltung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung als Zwangsordnung<br />
ma<strong>ch</strong>t ihre Legitimation erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>. Denn Zwang besteht dauerhaft nur dort, wo<br />
Gründe gelten, die Gehorsam immer neu hervorzubringen geeignet sind, wo also<br />
Re<strong>ch</strong>tsgehorsam dur<strong>ch</strong> freiwillige Einsi<strong>ch</strong>t in die Notwendigkeit erzeugt wird.<br />
Juristen verweisen zur Legitimation ihrer Ents<strong>ch</strong>eidungen in <strong>der</strong> Regel auf höherrangige<br />
Re<strong>ch</strong>tsnormen. Das ist sinnvoll, um die Komplexität in <strong>der</strong> alltägli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsfindung zu reduzieren. Es entbindet aber ni<strong>ch</strong>t von <strong>der</strong> Pfli<strong>ch</strong>t, gute Gründe<br />
au<strong>ch</strong> für die Geltung hö<strong>ch</strong>ster Re<strong>ch</strong>tsnormen (verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Grundents<strong>ch</strong>eidungen)<br />
geben zu können 32 . Warum sind Glei<strong>ch</strong>heit, Freiheit und Eigentum so<br />
und ni<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>s Bestandteil <strong>der</strong> Verfassung? Gerade die Verfassungsre<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
ist dieser Legitimationsproblematik ausgesetzt. Zumindest in mo<strong>der</strong>nen Staaten<br />
wird die Legitimation zur Re<strong>ch</strong>tsfrage 33 .<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien antworten auf die mit dem Legitimationsbedarf<br />
aufgeworfene Begründungslast mit mehr als einem politis<strong>ch</strong>en Bekenntnis zum<br />
Ergebnis. Sie stützen den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sanspru<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aftsordnung auf<br />
mögli<strong>ch</strong>st s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e materiale Grundannahmen kombiniert mit mögli<strong>ch</strong>st starken<br />
30 Die Gründe sind ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>ließend gemeint; umfassen<strong>der</strong> etwa D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik<br />
(1996), S. 210 ff. – insgesamt se<strong>ch</strong>s 'mögli<strong>ch</strong>e Relationstypen' zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und Moral.<br />
31 Zu diesem Legitimationsbegriff im Gegensatz zu dem (vielfa<strong>ch</strong> kritisierten) reduzierten Legitimationsbegriff<br />
von Luhmann siehe unten S. 148 ff. (Theorie <strong>der</strong> sozialen Systeme).<br />
32 H. Hofmann, Legitimität und Re<strong>ch</strong>tsgeltung (1977), S. 11: Legitimation verlange »die Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
staatli<strong>ch</strong>er Hoheitsakte und darüber hinaus die Re<strong>ch</strong>tfertigung <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Herrs<strong>ch</strong>aftsordnung<br />
im ganzen aus einem einzigen, letzten und – jedenfalls dem Anspru<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> – allgemeinverbindli<strong>ch</strong>en<br />
Prinzip.«<br />
33 H. Hofmann, Legitimität und Re<strong>ch</strong>tsgeltung (1977), S. 13, 18. Vgl. zur spezifis<strong>ch</strong>en Legitimationsbedürftigkeit<br />
mo<strong>der</strong>ner Re<strong>ch</strong>tsordnungen M. Morlok, Was ist und zu wel<strong>ch</strong>em Ende studiert man<br />
Verfassungstheorie? (1988), S. 124 ff. – »Gewißheitsverluste«.<br />
33
prozeduralen Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er Vernunft. Damit liefern sie gute Gründe für<br />
Demokratie, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und an<strong>der</strong>e Elemente mo<strong>der</strong>ner Gesells<strong>ch</strong>aftsordnungen<br />
und tragen so wesentli<strong>ch</strong> zu <strong>der</strong>en Legitimation bei.<br />
II.<br />
Interpretierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Orientierungsbedarf)<br />
Der Orientierungsbedarf interpretieren<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung läßt si<strong>ch</strong> an einem<br />
Fallbeispiel zur Umverteilungsproblematik deutli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en: Darf <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
einer Gesells<strong>ch</strong>aftsgruppe (Arbeitgeber) eine Geldleistungspfli<strong>ch</strong>t auferlegen, mit <strong>der</strong><br />
die Berufsausbildung einer an<strong>der</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aftsgruppe (ausbildungssu<strong>ch</strong>ende Jugendli<strong>ch</strong>e)<br />
geför<strong>der</strong>t wird 34 ? Sol<strong>ch</strong>e und ähnli<strong>ch</strong>e Konstellationen, bei denen eine soziale<br />
Gruppe zugunsten einer an<strong>der</strong>en belastet wird, gehören zum Kernberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblematik. Sie betreffen gesamtgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
genauer: die soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 35 , und werfen regelmäßig die Frage<br />
auf, inwieweit Umverteilungen zulässig sind 36 . Wenn es an einer ausdrückli<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsbestimmung über die Zulässigkeit einer sol<strong>ch</strong>en Abgabe fehlt, kommt es<br />
bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung auf Verfassungsinterpretation an. Diese wie<strong>der</strong>um greift explizit<br />
o<strong>der</strong> implizit auf Vorstellungen davon zurück, wel<strong>ch</strong>e Ordnungsvorstellung<br />
dem Verfassunggeber als Leitbild zugrunde lag 37 . Sol<strong>ch</strong>e vorpositiven Leitbil<strong>der</strong> finden<br />
si<strong>ch</strong> in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Ginge man etwa von einem libertären Sozialvertragsmodell<br />
aus, so wäre jede Umverteilung ausges<strong>ch</strong>lossen. Eine an diesem Leitbild<br />
orientierte Verfassungsinterpretation zöge dem Gesetzgeber enge Grenzen und müßte<br />
die im Beispiel angespro<strong>ch</strong>ene Son<strong>der</strong>abgabe als unzulässig verwerfen. Ist das<br />
Leitbild hingegen ein egalitäres Sozialvertragsmodell, so sind Umverteilungen dur<strong>ch</strong><br />
den Gesetzgeber geradezu gefor<strong>der</strong>t. Entspre<strong>ch</strong>end würde die Verfassungsinterpretation<br />
zur Anerkennung einer weitgehenden Zulässigkeit von Abgaben<br />
tendieren 38 . Die Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung befriedigt ihren Orientierungsbedarf unter ande-<br />
34 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsjudikatur: BVerfGE 55, 274 – Berufsbildungsabgabe. Son<strong>der</strong>abgaben<br />
sind Geldleistungspfli<strong>ch</strong>ten, die einem begrenzten Personenkreis im Hinblick auf einen<br />
beson<strong>der</strong>en wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> sozialen Zusammenhang auferlegt werden.<br />
35 Vgl. unten S. 58 (Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit, soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
36 In verglei<strong>ch</strong>barer Weise problematis<strong>ch</strong> sind etwa die progressive Besteuerung, die Sozialbindung<br />
des Eigentums, S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten des Staates und das Sozialstaatsprinzip.<br />
37 H. Dreier, Ethik des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 40 f.; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>tsethik und staatli<strong>ch</strong>e Legitimität (1993),<br />
S. 389 – Verfassungsinterpretation als »Akt praktis<strong>ch</strong> wirksamer re<strong>ch</strong>tsphilosophis<strong>ch</strong>er Anstrengung«;<br />
D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 218 f. – Verfassungsnormen als 'evaluative Vorgaben'.<br />
Vgl. zum tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Moralbezug des positiven Re<strong>ch</strong>ts: H.L.A. Hart, Concept of Law<br />
(1961), S. 181: »Thus, it cannot seriously be disputet that the development of law, at all times and<br />
places, has in fact been profoundly influenced both by the conventional morality and ideals of<br />
particular social groups, and also by forms of enlightened moral criticism urged by individuals,<br />
whose moral horizon has transcended the morality currently accepted.«<br />
38 Im zitierten Fall hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t einen Mittelweg gewählt. Der Gesetzgeber<br />
dürfe zwar aus Gründen des Individuals<strong>ch</strong>utzes ni<strong>ch</strong>t 'na<strong>ch</strong> seiner Wahl' eine öffentli<strong>ch</strong>e Aufgabe<br />
dur<strong>ch</strong> parafiskalis<strong>ch</strong>e Son<strong>der</strong>abgaben finanzieren, habe dazu aber innerhalb enger Grenzen (homogene<br />
Gruppe, Sa<strong>ch</strong>nähe, gruppennützige Verwendung, Ausnahme<strong>ch</strong>arakter) Kompetenz. Siehe<br />
BVerfGE 55, 274 (300 ff.). Die Senatsmehrheit hielt diese Grenzen für eingehalten (BVerfGE 55,<br />
274 [274 f.]), während die Ri<strong>ch</strong>ter Rinck, Steinberger und Träger in ihrem Son<strong>der</strong>votum (BVerfGE<br />
34
em aus vorpositiven Leitbil<strong>der</strong>n, wie sie dur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bes<strong>ch</strong>rieben<br />
und begründet werden. Wenn dieser Rückgriff auf konkret begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzepte<br />
statt auf diffuse 'Mens<strong>ch</strong>enbil<strong>der</strong>' geri<strong>ch</strong>tet ist, leistet die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
mittelbar einen Beitrag zu Re<strong>ch</strong>tsklarheit, Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit und damit<br />
letztli<strong>ch</strong> zur Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung 39 .<br />
III. Konkretisierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Umsetzungsbedarf)<br />
Ein Umsetzungsbedarf besteht, wo immer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verbindli<strong>ch</strong><br />
gema<strong>ch</strong>t, das heißt als »geronnene Moral« 40 vom Normgeber in abstrakt-generelle<br />
Re<strong>ch</strong>tssätze gegossen wurden 41 . Insbeson<strong>der</strong>e die abwägende und ausglei<strong>ch</strong>ende<br />
Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit, die Billigkeit 42 , »ist na<strong>ch</strong> mo<strong>der</strong>nen Re<strong>ch</strong>tsordnungen<br />
für den Ri<strong>ch</strong>ter in vielen Fällen Ri<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>nur und Leitbild.« 43 Moralgehalte im positiven<br />
Re<strong>ch</strong>t sind dabei keinesfalls immer unproblematis<strong>ch</strong>, lassen si<strong>ch</strong> erstens nur in<br />
Grenzen überhaupt kodifizieren 44 und bergen zweitens Gefahren, wie ein moralisierendes<br />
Strafre<strong>ch</strong>t bis in die jüngste Vergangenheit in vielen Staaten hinlängli<strong>ch</strong> gezeigt<br />
hat 45 . Do<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Gefahren können ni<strong>ch</strong>t dazu führen, das positive Re<strong>ch</strong>t seines<br />
gesetzgeberis<strong>ch</strong> gewollten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skontextes gänzli<strong>ch</strong> zu berauben 46 . Juristen<br />
müssen die im Re<strong>ch</strong>t kodifizierten, materialen und prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen<br />
dur<strong>ch</strong> Interpretation herausarbeiten und diejenigen Verfahrensbedingungen<br />
formulieren, <strong>der</strong>en Einhaltung erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist, um re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
festgelegte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen in <strong>der</strong> normkonkretisierenden Re<strong>ch</strong>tsanwendung<br />
effektiv zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Materielle Gehalte kodifizierter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> finden<br />
55, 274 [329 f.]) von einer ni<strong>ch</strong>t mehr gruppennützigen Verwendung ausgingen und die Gesetzgebungskompetenz<br />
aus allgemeinen Kompetenznormen verneinten.<br />
39 Vgl. beispielsweise die Kritik an unspezifis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>enbildformeln in <strong>der</strong> Judikatur des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
bei H. Dreier, Artikel 1 I GG (1996), Rn. 99 m.w.N.<br />
40 H. Dreier, Ethik des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 28 f.; <strong>der</strong>s., Gesells<strong>ch</strong>aft, Re<strong>ch</strong>t, Moral (1993), S. 249 f.<br />
41 R. Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 185: »The [U.S.-]Constitution fuses legal and moral<br />
issues, by making the validity of a law depend on the answer to complex moral problems, like the<br />
problem of whether a particular statute respects the inherent equality of all men.«; D. v.d. Pfordten,<br />
Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 211 – »intentional-inkorporierende Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und Moral«<br />
(Hervorhebung bei v.d. Pfordten). Vgl. N. Luhmann, Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 216 f.: »Wir<br />
hatten dur<strong>ch</strong>aus anerkannt, daß im Re<strong>ch</strong>tssystem Moralnormen zitiert und damit juridifiziert<br />
werden; ... das Re<strong>ch</strong>tssystem [muß] ni<strong>ch</strong>t auf die Idee <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verzi<strong>ch</strong>ten.«<br />
42 Dazu unten S. 63 (engere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe).<br />
43 G. Wesner, Aequitas naturalis, 'natürli<strong>ch</strong>e Billigkeit', in <strong>der</strong> privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dogmen- und Kodifikationsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
(1996), S. 105; kritis<strong>ch</strong> gegenüber sol<strong>ch</strong>em »Einzelfall-Re<strong>ch</strong>t« W. Leisner, Der Abwägungsstaat<br />
(1997), S. 230 ff.<br />
44 Vgl. dazu K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 75: »Eine Moralisierung des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts<br />
müßte sehr s<strong>ch</strong>nell an die Grenze <strong>der</strong> Konsensfähigkeit und Institutionalisierbarkeit<br />
von Werten stoßen.«<br />
45 Vgl. dazu T. Geiger, Über Moral und Re<strong>ch</strong>t (1979), S. 189 ff. – Plädoyer gegen ein Strafre<strong>ch</strong>t, das<br />
'moralis<strong>ch</strong> infiziert' ist.<br />
46 A.A. offenbar T. Geiger, Über Moral und Re<strong>ch</strong>t (1979), S. 182 ff.: »Das Re<strong>ch</strong>t hat ni<strong>ch</strong>ts mit Moral<br />
zu tun« – mit den dort angeführten Beispielen läßt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> gesetzgeberis<strong>ch</strong> gewollte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skontext<br />
indes ni<strong>ch</strong>t wi<strong>der</strong>legen.<br />
35
si<strong>ch</strong> unmittelbar vor allem in verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>heitssätzen 47 , die teils sogar<br />
mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> glei<strong>ch</strong>gesetzt o<strong>der</strong> jedenfalls unter Bezug auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen<br />
konkretisiert werden 48 . Sie finden si<strong>ch</strong> darüber hinaus mittelbar in<br />
an<strong>der</strong>en Grundre<strong>ch</strong>ten mit Prinzipien<strong>ch</strong>arakter, da <strong>der</strong>en Geltung ein gegenüber <strong>der</strong><br />
Moral offenes System bildet, in dem si<strong>ch</strong> die notwendige Abwägung letztli<strong>ch</strong> auf<br />
Fragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bezieht 49 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalte lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nur im<br />
Verfassungsre<strong>ch</strong>t 50 , son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> im einfa<strong>ch</strong>en Gesetzesre<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Analyse <strong>der</strong><br />
Dogmen- und Kodifikationsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te bis hin in ihre naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Wurzeln na<strong>ch</strong>weisen<br />
51 . Jenseits <strong>der</strong> materiellen finden si<strong>ch</strong> prozedurale Gehalte kodifizierter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in aller Regel im Prozeßre<strong>ch</strong>t und in den Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>ten sowie<br />
als objektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Verfahrensgehalt von Grundre<strong>ch</strong>ten 52 .<br />
Mit Bezug auf den Umsetzungsbedarf, <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> diese Gehalte kodifizierter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
entsteht, formulieren prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien in ihrer Form<br />
als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien die Verfahrensbedingungen, unter denen die<br />
konkret gewonnenen Re<strong>ch</strong>tsnormen gere<strong>ch</strong>t sind und so dem Handlungsauftrag des<br />
Satzung-, Verordnung-, Gesetz- o<strong>der</strong> Verfassunggebers entspre<strong>ch</strong>en 53 . So kann man<br />
die Theorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates insgesamt als Ausdruck einer<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie begreifen, weil sie die Bedingungen festlegt, unter<br />
denen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren die größtmögli<strong>ch</strong>e<br />
Gewähr gegen Ungere<strong>ch</strong>tigkeit bieten 54 .<br />
47 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsre<strong>ch</strong>tsdogmatik zum Glei<strong>ch</strong>heitssatz des Art. 3 I GG: G. Robbers,<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1980), S. 87 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Bestimmung des allgemeinen<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatzes), S. 93 ff. (Analyse <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung); E.-W. Böckenförde, Diskussionsbeitrag,<br />
in: VVDStRL 47 (1989), S. 95: »Wenn <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitssatz ni<strong>ch</strong>t nur Re<strong>ch</strong>tsanwendungsglei<strong>ch</strong>heit,<br />
son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tssetzungsglei<strong>ch</strong>heit ... ist, dann erhält er m.E. unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> einen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sauftrag und damit au<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfunktion.« Gegen den Rückgriff auf<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien etwa C. Starck, Die Anwendung des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes (1982), S. 62 f.<br />
48 Glei<strong>ch</strong>setzung etwa bei W. Henke, Juristis<strong>ch</strong>e Systematik <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1984), S. 5: »Der Anspru<strong>ch</strong><br />
auf Glei<strong>ch</strong>behandlung ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> ... auf proportionale Glei<strong>ch</strong>heit, ... eigentli<strong>ch</strong> also auf<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (suum cuique).« Konkretisierung etwa bei P. Kir<strong>ch</strong>hof, Objektivität und Willkür<br />
(1989), S. 85 f. Zum <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt des allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatzes S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und<br />
Ziele (1993), S. 29 ff., 195 ff.; F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 110<br />
ff.<br />
49 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 494; zum Prinzipienmodell außerdem J. Esser, Grundsatz<br />
und Norm (1956), S. 69 ff.; R. Dworkin, Taking Rights Seriously (1977), S. 14 ff., 46 ff.; <strong>der</strong>s.,<br />
Law's Empire (1986), S. 179 ff., 221 ff.; F. Bydlinski, Fundamentale Re<strong>ch</strong>tsgrundsätze (1988), passim;<br />
J.-R. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Re<strong>ch</strong>tssystems (1990), passim; M. Borowski,<br />
Grundre<strong>ch</strong>te als Prinzipien (1998), S. 61 ff.<br />
50 Dazu M. Morlok, Was heißt und zu wel<strong>ch</strong>em Ende studiert man Verfassungstheorie? (1988), S. 91<br />
ff. – »Verfassung als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sreserve«; W. Brugger, Gesetz, Re<strong>ch</strong>t, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 7 –<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze als »materiale Verfassungssubstanz«.<br />
51 G. Wesner, Aequitas naturalis, 'natürli<strong>ch</strong>e Billigkeit', in <strong>der</strong> privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dogmen- und Kodifikationsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
(1996), S. 81 ff. m.w.N.<br />
52 Am Beispiel <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsordnung H. Goerli<strong>ch</strong>, Grundre<strong>ch</strong>te als Verfahrensgarantien<br />
(1981), S. 57 ff.<br />
53 Zu <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 113 ff.; vgl. unten<br />
S. 88 ff.<br />
54 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 113.<br />
36
IV. Zum notwendigen Anspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Mit alledem ist illustriert, daß tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und regelmäßig ein normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt<br />
im positiven Re<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>weisbar ist, <strong>der</strong> es erlaubt, die Frage na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> moralfreien<br />
(re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en) o<strong>der</strong> moralabhängigen (naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en) Konzeptualisierung<br />
des Re<strong>ch</strong>tsbegriffs hier offen zu lassen: für Juristen bildet ni<strong>ch</strong>t erst die<br />
analytis<strong>ch</strong>e, son<strong>der</strong>n bereits die normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdimension des Re<strong>ch</strong>ts einen<br />
hinrei<strong>ch</strong>enden Grund, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen zu studieren. Do<strong>ch</strong> läßt diese Feststellung<br />
bisher offen, ob <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bloß kontingent, o<strong>der</strong> ob sie notwendig vom Re<strong>ch</strong>t<br />
gefor<strong>der</strong>t wird. Bloß kontingent wäre sie, wenn ein Re<strong>ch</strong>tssystem auf jeden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug<br />
verzi<strong>ch</strong>ten und glei<strong>ch</strong>wohl weiter 'Re<strong>ch</strong>t' genannt werden könnte.<br />
In dieser Frage läßt si<strong>ch</strong> die Brücke zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> weiter verstärken,<br />
ohne in den Streit zwis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>t und Re<strong>ch</strong>tspositivismus zu verfallen.<br />
Denn das Re<strong>ch</strong>t erhebt ni<strong>ch</strong>t bloß kontingent, son<strong>der</strong>n notwendig einen Anspru<strong>ch</strong> auf<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit: <strong>der</strong> Begriff des Re<strong>ch</strong>ts kann ohne einen wie au<strong>ch</strong> immer gearteten Bezug<br />
zur Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t bestimmt werden 55 . Dieser implizite Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> ist<br />
inhaltsoffen und kann deshalb selbst von denjenigen anerkannt werden, die einen begriffli<strong>ch</strong><br />
notwendigen, inhaltli<strong>ch</strong>en Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und Moral besteiten.<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> ist inhaltsoffen, weil <strong>der</strong> Begriff des Re<strong>ch</strong>ts no<strong>ch</strong><br />
keine universelle Begründbarkeitsbehauptung impliziert, son<strong>der</strong>n nur (aber au<strong>ch</strong> immerhin)<br />
eine sol<strong>ch</strong>e aus Si<strong>ch</strong>t des Re<strong>ch</strong>ts. Wer als Akteur des Re<strong>ch</strong>ts, etwa als Ri<strong>ch</strong>ter<br />
o<strong>der</strong> Gesetzgeber, erstens die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts behauptet, zweitens dessen Begründbarkeit<br />
impliziert und drittens damit die Erwartung verbindet, daß es als ri<strong>ch</strong>tiges<br />
Re<strong>ch</strong>t anerkannt werde 56 , <strong>der</strong> sagt damit no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts über die Inhalte dieses Anspru<strong>ch</strong>s<br />
auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Immerhin könnte die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts allein darin gesehen<br />
werden, daß die kompetentiell ermä<strong>ch</strong>tigten Organe im vorges<strong>ch</strong>riebenen Verfahren<br />
und unter Wahrung <strong>der</strong> gebotenen Form handeln. We<strong>der</strong> einzelne Re<strong>ch</strong>tsnormen<br />
no<strong>ch</strong> bestimmte Kriterien <strong>der</strong> Normbegründung begleiten die Erkenntnis,<br />
daß es zu den Charakteristika von 'Re<strong>ch</strong>t' gehört, einen (wie au<strong>ch</strong> immer gearteten)<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu erheben.<br />
Zum Streit zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tspositivismus und Naturre<strong>ch</strong>t verhält si<strong>ch</strong> diese Erkenntnis<br />
folgli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> neutral. Denno<strong>ch</strong> verstärkt sie die Brücke zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von einer bloß tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und regelmäßigen zu einer notwendigen<br />
Beziehung. Denn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> betrifft, wie no<strong>ch</strong> im Detail zu zeigen sein wird 57 , die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit sozialbezogenen Handelns – au<strong>ch</strong> diejenige des re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geregelten Handelns.<br />
Damit erweist si<strong>ch</strong> die Begründung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts als Teil einer<br />
umfassenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Entspre<strong>ch</strong>end wurde s<strong>ch</strong>on oben festgestellt:<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts ist ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t 58 . Bezogen<br />
auf den notwendigen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts kann nunmehr formuliert<br />
55 Dazu und zum folgenden R. Alexy, Law and Correctness (1998), S. 205 ff. m.w.N. Ausdrückli<strong>ch</strong><br />
für einen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> als Element des Re<strong>ch</strong>tsbegriffs au<strong>ch</strong> J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1993), S. 149.<br />
56 Zu dieser 'Trilogie' des Anspru<strong>ch</strong>s auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit R. Alexy, Law and Correctness (1998), S. 208 f.<br />
57 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 50 ff. (D 1 ).<br />
58 Dazu oben Fn. 28 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t).<br />
37
werden: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Erfüllung eines Anspru<strong>ch</strong>es, den das Re<strong>ch</strong>t notwendig<br />
erhebt.<br />
D. Die spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Bisher ist nur dargelegt, wel<strong>ch</strong>e Bedeutung die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t erlangen kann<br />
und warum ein (wie au<strong>ch</strong> immer inhaltli<strong>ch</strong> ausgestalteter) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug zu<br />
den begriffli<strong>ch</strong> notwendigen Elementen des Re<strong>ch</strong>ts gehört. Damit ist no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erklärt,<br />
weshalb <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ein Gegenstand <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft sein soll. Denn es<br />
wäre eine wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Aufgabenverteilung denkbar, in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
zwar in Philosophie, Religion, Politik, Psy<strong>ch</strong>ologie, Soziologie und an<strong>der</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft untersu<strong>ch</strong>t werden 59 . Einer sol<strong>ch</strong>en<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sabstinenz' <strong>der</strong> Jurisprudenz kann die These entgegengehalten werden,<br />
daß es eine spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen gibt, die es nötig<br />
ma<strong>ch</strong>t, <strong>der</strong>artige Fragen ni<strong>ch</strong>t nur als Gegenstand <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie und<br />
<strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften, son<strong>der</strong>n außerdem als sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft<br />
zu begreifen. Bei <strong>der</strong> Begründung dieser These ist zwis<strong>ch</strong>en den re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Teilberei<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie und <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik zu unters<strong>ch</strong>eiden.<br />
I. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
Zur Re<strong>ch</strong>tstheorie zählt heute mehr als die bloße Bes<strong>ch</strong>äftigung mit formalen Eigens<strong>ch</strong>aften<br />
und Strukturen des Re<strong>ch</strong>ts 60 . Gemeint ist eine »allgemeine juristis<strong>ch</strong>e Theorie<br />
des Re<strong>ch</strong>ts und <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft« 61 , in <strong>der</strong> analytis<strong>ch</strong>e, empiris<strong>ch</strong>e und<br />
normative Aussagen 62 über das Re<strong>ch</strong>t an si<strong>ch</strong> untersu<strong>ch</strong>t werden, also ohne Be-<br />
59 Diese Art <strong>der</strong> Aufgabenverteilung liegt offenbar <strong>der</strong> Reinen Re<strong>ch</strong>tslehre Kelsens zugrunde; vgl.<br />
H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 402 ff. (429 f.) – notwendige Wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>keit<br />
<strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehren. Ebenso die Bewertung bei R. Walter, Hans Kelsen, die Reine Re<strong>ch</strong>tslehre<br />
und das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 208.<br />
60 So aber no<strong>ch</strong> A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5; D. v.d. Pfordten,<br />
Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 204 f. – Re<strong>ch</strong>tstheorie als 'deskriptiv-historis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsphilosophie' im Gegensatz<br />
zur Re<strong>ch</strong>tsethik als materialer Re<strong>ch</strong>tsphilosophie. Zum Ganzen R. Dreier, Was ist und<br />
wozu Allgemeine Re<strong>ch</strong>tstheorie (1974), S. 17 ff.; R. Alexy/R. Dreier, The Concept of Jurisprudence<br />
(1990), S. 8; N. Luhmann, Das Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 9 ff. Wenig konkret die Definition<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie als Reflexion <strong>der</strong> Identität des Re<strong>ch</strong>tes im Re<strong>ch</strong>tssystem selbst: N. Luhmann,<br />
Selbstreflexion des Re<strong>ch</strong>tssystems (1981), S. 446; sowie G. Roellecke, Theorie und Philosophie des<br />
Re<strong>ch</strong>tes, S. 1. Zu <strong>der</strong> Last einer marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en und positivistis<strong>ch</strong>en Vereinnahmung<br />
des Re<strong>ch</strong>tstheoriebegriffs vgl. R. Dreier, Zum Verhältnis von Re<strong>ch</strong>tsphilosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
(1992), S. 15 f.<br />
61 So die Definition bei R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 27; R. Alexy/R. Dreier,<br />
The Concept of Jurisprudence (1990), S. 7 ff.; ausführli<strong>ch</strong> R. Dreier, Zum Verhältnis von Re<strong>ch</strong>tsphilosophie<br />
und Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 20 ff.<br />
62 Zu diesen Dimensionen <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie ausführli<strong>ch</strong> R. Alexy/R. Dreier, The Concept of Jurisprudence<br />
(1990), S. 9 ff. Im anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> hat si<strong>ch</strong> wegen <strong>der</strong> Vielfalt<br />
dieser Dimensionen eine Glei<strong>ch</strong>setzung von 'Legal Theory' und 'Jurisprudence' eingestellt; s. etwa<br />
J.J. Kelly, A Short History of Western Legal Theory (1992), S. xi.<br />
38
s<strong>ch</strong>ränkung auf ein bestimmtes Re<strong>ch</strong>tssystem 63 . Zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tstheorie und<br />
Re<strong>ch</strong>tsphilosophie 64 bleibt deshalb keine Differenz mehr 65 .<br />
Die Re<strong>ch</strong>tstheorie hat si<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> Anlehnung an die allgemeine Philosophie begriffli<strong>ch</strong><br />
und inhaltli<strong>ch</strong> zu einer genuin juristis<strong>ch</strong>en Disziplin emanzipiert 66 . Ihre Inhalte<br />
sind dadur<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränkt, daß sie auf die Re<strong>ch</strong>tsdogmatik bezogen bleiben 67 .<br />
Daraus ergibt si<strong>ch</strong> die spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive au<strong>ch</strong> für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen.<br />
Juristen su<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>smaßstäben für das Re<strong>ch</strong>t. Sie sind ni<strong>ch</strong>t an<br />
jedem beliebigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblem glei<strong>ch</strong>ermaßen interessiert. Wenn beispielsweise<br />
Eltern eines ihrer Kin<strong>der</strong> den an<strong>der</strong>en vorziehen, so ist das eine große<br />
Ungere<strong>ch</strong>tigkeit – sol<strong>ch</strong>es Verhalten ist moralis<strong>ch</strong> verwerfli<strong>ch</strong>, didaktis<strong>ch</strong> und psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong><br />
unklug und ein soziales Unding. Denno<strong>ch</strong> werden dadur<strong>ch</strong>, sieht man<br />
von Extremfällen ab, keine Re<strong>ch</strong>tsfragen ausgelöst. Die hier verletzte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
setzt keine re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Maßstäbe. Glei<strong>ch</strong>es gilt für an<strong>der</strong>e Sozialberei<strong>ch</strong>e, die für den<br />
einzelnen eminent wi<strong>ch</strong>tig sind und si<strong>ch</strong> einer re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regelung do<strong>ch</strong> entziehen:<br />
Illoyalität unter Freunden, Betrug in <strong>der</strong> Liebe, soziale Ä<strong>ch</strong>tung von Min<strong>der</strong>heiten.<br />
Zugespitzt heißt das: Mögen au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> so ungere<strong>ch</strong>te Zustände in einer sozialen Beziehung<br />
vorherrs<strong>ch</strong>en, den Juristen interessieren sie erst, wenn diese Beziehung einer<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regelung unterworfen ist. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unterliegt dadur<strong>ch</strong> in <strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tstheorie einer spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>en Perspektive.<br />
Dem könnte ein methodis<strong>ch</strong>er Einwand entgegengehalten werden. Wenn in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
einerseits Maßstäbe für die Beurteilung <strong>der</strong> sozialen Ordnung<br />
als ri<strong>ch</strong>tig und gere<strong>ch</strong>t erarbeitet werden, an<strong>der</strong>erseits aber die Theorie von Anfang<br />
an auf sol<strong>ch</strong>e Gegenstände bes<strong>ch</strong>ränkt wird, die vom Re<strong>ch</strong>t als relevant anerkannt<br />
sind, so wäre die Untersu<strong>ch</strong>ung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aus re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t teilweise zirkulär, insoweit nämli<strong>ch</strong>, als sie die Grenzen <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regulierung<br />
unhinterfragt läßt. Um einem sol<strong>ch</strong>en Einwand zu begegnen und denno<strong>ch</strong><br />
den Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>t auf die spezifis<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Fragen zu<br />
konzentrieren, muß zum Gegenstand einer re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>en Untersu<strong>ch</strong>ung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien immer au<strong>ch</strong> die Ents<strong>ch</strong>eidung gere<strong>ch</strong>net werden, wel<strong>ch</strong>e Ge-<br />
63 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t - Moral - Ideologie, S. 10 f.<br />
64 Re<strong>ch</strong>tsphilosophie ist, in Anlehnung an die triadis<strong>ch</strong>e Definition <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft im 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t, das dritte Teilgebiet <strong>der</strong> Jurisprudenz neben Re<strong>ch</strong>tsdogmatik und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te;<br />
vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 17 ff. – Fragentrias zur Jurisprudenz:<br />
'Was ist re<strong>ch</strong>tens?' (Re<strong>ch</strong>tsdogmatik), 'Ist es vernünftig, daß es so sei?' (Re<strong>ch</strong>tsphilosophie) und<br />
'Wie ist es re<strong>ch</strong>tens geworden?' (Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te). Spätestens dur<strong>ch</strong> die Arbeiten von Max Weber<br />
hat si<strong>ch</strong> in jüngerer Zeit die Re<strong>ch</strong>tssoziologie abgespalten, so daß nunmehr 'Re<strong>ch</strong>tsphilosophie'<br />
(bzw. Re<strong>ch</strong>tstheorie) die Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft unter Abzug von Re<strong>ch</strong>tsdogmatik, Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
und Re<strong>ch</strong>tssoziologie ist.<br />
65 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 18: »Man kann sogar zweifeln, ob es<br />
überhaupt no<strong>ch</strong> sinnvoll sei, zwis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsphilosophie zu unters<strong>ch</strong>eiden.«;<br />
sowie <strong>der</strong>s., Zum Verhältnis von Re<strong>ch</strong>tsphilosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 19: »Systematis<strong>ch</strong><br />
lassen si<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>tstheorie und die Re<strong>ch</strong>tsphilosophie ... we<strong>der</strong> gegenständli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> methodis<strong>ch</strong><br />
streng voneinan<strong>der</strong> abgrenzen.« Vgl. au<strong>ch</strong> das breite Spektrum <strong>der</strong> ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>ten Gegenstände<br />
bei E.P. Haba, Standortbestimmung zeitgenössis<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>tstheorie (1996), S. 280 ff.<br />
66 Zur Entwicklung M. Morlok, Was ist und zu wel<strong>ch</strong>em Ende studiert man Verfassungstheorie?<br />
(1988), S. 44 ff. (46 f.).<br />
67 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 18, 22 f.<br />
39
genstände einer re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regelung zu unterwerfen sind. Es kann ungere<strong>ch</strong>t sein,<br />
wenn die Re<strong>ch</strong>tsordnung si<strong>ch</strong> aus wi<strong>ch</strong>tigen Sozialberei<strong>ch</strong>en zurückzieht. Sol<strong>ch</strong>e<br />
Ungere<strong>ch</strong>tigkeit muß dur<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie – au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> eine aus juristis<strong>ch</strong>er<br />
Perspektive definierte – aufgespürt werden. Die Frage, was re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> zu regeln<br />
ist, gehört also aus juristis<strong>ch</strong>er Perspektive ebenfalls zu den Fragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird dadur<strong>ch</strong>, juristis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet, umfassend genug, um als Inbegriff<br />
für 'ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t' zu gelten 68 .<br />
II.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik<br />
Re<strong>ch</strong>tsdogmatik ist die Summe aller Lehrsätze in bezug auf ein bestimmtes Re<strong>ch</strong>tssystem.<br />
Sie ist die Lehre von <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>tspraxis, d.h. <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tigen Erzeugung<br />
und Anwendung von Normen des positiven Re<strong>ch</strong>ts innerhalb eines bestimmten<br />
Re<strong>ch</strong>tssystems 69 . An<strong>der</strong>s als Re<strong>ch</strong>tstheorie, Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te und Re<strong>ch</strong>tssoziologie<br />
betrifft die Re<strong>ch</strong>tsdogmatik das konkret anzuwendende Re<strong>ch</strong>t und gilt deshalb als<br />
»Kerndisziplin <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft« 70 in empiris<strong>ch</strong>er, analytis<strong>ch</strong>er und normativer<br />
Dimension 71 . Um ihres Bezuges zur Re<strong>ch</strong>tspraxis willen hat sie einen unaufgebbaren<br />
Bezug zur praktis<strong>ch</strong>en Vernunft 72 .<br />
Wenn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Gegenstand <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik untersu<strong>ch</strong>t wird, dann<br />
will <strong>der</strong> Jurist, an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> Philosoph, ni<strong>ch</strong>t nur wissen, wie si<strong>ch</strong> allgemeinste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
begründen lassen. Ihn interessiert außerdem, wie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
real wird. Kann die Re<strong>ch</strong>tsanwendung insgesamt als Subsumtion unter kodifizierte<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen ('geronnene Moral') angesehen werden? Weisen die abstrakt-generellen<br />
Ebenen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung und die konkret-individuellen<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung zumindest Parallelen auf? Steckt die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
überhaupt einen äußeren Rahmen für ri<strong>ch</strong>tige Re<strong>ch</strong>tsanwendung ab und<br />
handelt es si<strong>ch</strong> dabei um ein enges Korsett o<strong>der</strong> um ein Ents<strong>ch</strong>eidungsfeld von annähernd<br />
grenzenloser Weite? Sol<strong>ch</strong>e Fragen legen es nahe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
jenseits <strong>der</strong> in politis<strong>ch</strong>er Philosophie übli<strong>ch</strong>en Prinzipiendiskussion zu erweitern<br />
und in ihrer Konsequenz für das Verständnis einzelner Re<strong>ch</strong>tsordnungen zu untersu<strong>ch</strong>en.<br />
68 Dazu oben Fn. 28 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t).<br />
69 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 21 – Charakterisierung als 'juristis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie des positiven Re<strong>ch</strong>ts eines bestimmten Re<strong>ch</strong>tssystems' und <strong>der</strong> Hinweis, daß das objektive<br />
Fors<strong>ch</strong>ungsinteresse (i.S.v. Erkenntnisinteresse) den Bezug zur Re<strong>ch</strong>tspraxis herstellt.<br />
70 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 21; R. Alexy/R. Dreier, The Concept of Jurisprudence<br />
(1990), S. 7.<br />
71 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 22: »In ihrer empiris<strong>ch</strong>en Dimension<br />
ist sie [die Re<strong>ch</strong>tsdogmatik], faustformelartig ausgedrückt, auf die Sammlung und Si<strong>ch</strong>tung des<br />
positiven Re<strong>ch</strong>tsstoffs, in ihrer analytis<strong>ch</strong>en Dimension auf dessen begriffli<strong>ch</strong>-systematis<strong>ch</strong>e<br />
Dur<strong>ch</strong>dringung und in ihrer normativen, d.h. re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en, Dimension darauf geri<strong>ch</strong>tet, im<br />
Vagheitsberei<strong>ch</strong> des positiven Re<strong>ch</strong>ts vernünftige Ents<strong>ch</strong>eidungsvors<strong>ch</strong>läge zu erarbeiten.«<br />
72 F. Wieacker, Zur praktis<strong>ch</strong>en Leistung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik (1970), S. 78: »Re<strong>ch</strong>tsdogmatik als Instrument<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsfindung im Feld <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft und Moral«; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te (1989), S. 17, 22.<br />
40
Mit juristis<strong>ch</strong>en Überlegungen zur Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t ist die<br />
Domäne <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik errei<strong>ch</strong>t. Hier übers<strong>ch</strong>neiden si<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
mit Re<strong>ch</strong>tslehren, insbeson<strong>der</strong>e mit <strong>der</strong> Staatsre<strong>ch</strong>tslehre. Wer die Frage na<strong>ch</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t beantworten will, darf deshalb ni<strong>ch</strong>t bei <strong>der</strong> Begründung<br />
oberster Prinzipien verharren, son<strong>der</strong>n muß zeigen, wie si<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Prinzipien im<br />
Re<strong>ch</strong>t umsetzen lassen, inwieweit sie beispielsweise Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsgarantien erfor<strong>der</strong>n,<br />
Demokratie gebieten o<strong>der</strong> Verfahrensregeln erzeugen. Aus juristis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t<br />
werden dabei diejenigen Aussagen in prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien beson<strong>der</strong>s<br />
wi<strong>ch</strong>tig, na<strong>ch</strong> denen ein prozedurales Verständnis au<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> Umsetzung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine 'rationalitätssi<strong>ch</strong>ernde Prozedur' zu for<strong>der</strong>n ist 73 .<br />
Das Re<strong>ch</strong>tssystem wird dann ni<strong>ch</strong>t bloß als Normensystem, son<strong>der</strong>n außerdem als<br />
mehrstufiges System von Prozeduren verstanden 74 . Insofern kann neben Regel- und<br />
Prinzipienebene von einer weiteren Ebene, <strong>der</strong> Prozedurebene, eines jeden Re<strong>ch</strong>tssystems<br />
gespro<strong>ch</strong>en werden 75 .<br />
III. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aus juristis<strong>ch</strong>er Perspektive<br />
Vor <strong>der</strong> Aufgabe des Re<strong>ch</strong>ts ers<strong>ch</strong>einen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien in einem neuen<br />
Li<strong>ch</strong>t. Sie sind ni<strong>ch</strong>t länger nur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungs-, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
76 . Das Programm einer bis in die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Umsetzung<br />
hineinrei<strong>ch</strong>enden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist keine Neuheit. S<strong>ch</strong>on Rawls hat von einer<br />
vierstufigen Konkretisierung seiner 'Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' über das Verfassungsre<strong>ch</strong>t<br />
und das einfa<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t bis hin zur Re<strong>ch</strong>tsanwendung gespro<strong>ch</strong>en 77 . Ursprüngli<strong>ch</strong><br />
wollte au<strong>ch</strong> Barry sein dreibändiges Werk über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in einer Exposition<br />
<strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit im konkreten Steuerre<strong>ch</strong>t gipfeln lassen,<br />
glei<strong>ch</strong>sam als Beleg für die Praxistaugli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> allgemeineren theoretis<strong>ch</strong>en Überlegungen.<br />
Höffe widmet seine Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ausdrückli<strong>ch</strong><br />
den Problemen einer Legitimation des positiven Re<strong>ch</strong>ts und des Staates und damit<br />
einer stärkeren Anwendungsorientierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 78 . Und s<strong>ch</strong>ließ-<br />
73 Vgl. R. Alexy, Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft (1987), S. 416.<br />
74 R. Alexy, Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft (1987), S. 416 ff.; <strong>der</strong>s., Idee und Struktur eines<br />
vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 36 ff. – Denkbar sei beispielsweise ein vierstufiges Modell,<br />
bei dem auf die Prozedur des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses (1) diejenige <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tssetzung (2), darauf diejenige des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (3) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> diejenige des geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Prozesses (4) folge.<br />
75 Zu diesem Drei-Ebenen-Modell siehe ausführli<strong>ch</strong> R. Alexy, Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
(1987), S. 407 ff.<br />
76 Zu dieser auf R. Dreier zurückgehenden Unters<strong>ch</strong>eidung unten S. 88 ff.<br />
77 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff. (four-stage sequence); zustimmend P. Koller, Mo<strong>der</strong>ne<br />
Vertragstheorie und Grundgesetz (1996), S. 380 ff. (382). Von vier Stufen <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
spri<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 233 ff., allerdings in einem an<strong>der</strong>en<br />
Sinne. Bei ihm liegt auf <strong>der</strong> ersten Stufe einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie die argumentative Überwindung<br />
<strong>der</strong> Anar<strong>ch</strong>ie dur<strong>ch</strong> Begründung einer Friedensordnung, auf <strong>der</strong> zweiten Stufe etabliert si<strong>ch</strong><br />
das Gesetz als S<strong>ch</strong>utzinstrument gegen Willkür, auf <strong>der</strong> dritten die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te als Integritätss<strong>ch</strong>utz<br />
und auf <strong>der</strong> vierten die politis<strong>ch</strong>e Ma<strong>ch</strong>tverteilung, idealer- aber ni<strong>ch</strong>t notwendigerweise<br />
in Form einer Demokratie.<br />
78 Zu diesem Programm O. Höffe, Erwi<strong>der</strong>ung (1997), S. 335.<br />
41
li<strong>ch</strong> findet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei Habermas <strong>der</strong> Hinweis, die Prozeduralisierung sei als ein<br />
neues Paradigma zu verstehen, das im gesamten Re<strong>ch</strong>t wirke und ni<strong>ch</strong>t bloß oberste<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien generiere 79 . Indes: das damit angespro<strong>ch</strong>ene Programm ist<br />
nirgends eingelöst 80 . Rawls und Habermas bes<strong>ch</strong>ränken si<strong>ch</strong> auf die Begründung und<br />
Erläuterung allgemeinster <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien, Höffes Staatsre<strong>ch</strong>tfertigung<br />
bleibt punktuell 81 und au<strong>ch</strong> Barry ist inzwis<strong>ch</strong>en von seinem ursprüngli<strong>ch</strong>en Vorhaben<br />
abgerückt und hat die re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>en Zusammenhänge aus <strong>der</strong> Trilogie<br />
ausgeklammert 82 .<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind bisher als <strong>Theorien</strong>klasse aus juristis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t hinlängli<strong>ch</strong> untersu<strong>ch</strong>t worden 83 . Das liegt unter an<strong>der</strong>em an <strong>der</strong><br />
Zurückhaltung, die si<strong>ch</strong> Protagonisten von Verfahrenstheorien auferlegen, wenn es<br />
darum geht, konkrete inhaltli<strong>ch</strong>e Folgerungen für das Re<strong>ch</strong>t aus den <strong>Theorien</strong> abzuleiten.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Zurückhaltung ist verständli<strong>ch</strong>, blickt man auf die Gefahren, die mit<br />
je<strong>der</strong> konkretisierenden Anwendung verbunden sind: allzu lei<strong>ch</strong>t können persönli<strong>ch</strong>e<br />
Präferenzen den Platz universeller o<strong>der</strong> zumindest intersubjektiver Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
einnehmen, kann spekulative Metaphysik die wohlformulierte Theorie untergraben<br />
84 . Do<strong>ch</strong> ein Rückzug auf das Formale und Abstrakte, die Ausklammerung aller<br />
inhaltli<strong>ch</strong>en Fragen, die ni<strong>ch</strong>t einmal mehr die Struktur <strong>der</strong> realen Lösungsansätze<br />
untersu<strong>ch</strong>t, würde au<strong>ch</strong> bedeuten, daß eine originäre Aufgabe <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie<br />
aufgegeben wird 85 . S<strong>ch</strong>on deshalb muß gewagt werden, jenseits <strong>der</strong> si<strong>ch</strong>eren<br />
Gefilde abstrakter Theoriebildung und allgemeinster <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien die<br />
theoretis<strong>ch</strong>en Erkenntnisse in wi<strong>ch</strong>tigen Berei<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik dur<strong>ch</strong>zude-<br />
79 Dazu unten S. 245 ff. (prozedurales Re<strong>ch</strong>tsparadigma).<br />
80 Insoweit unergiebig ist neben den im Text erwähnten Ansätzen au<strong>ch</strong> die neure Theorie von<br />
D. Dürr, Diskursives Re<strong>ch</strong>t (1994).<br />
81 Vgl. zur Kritik K. Günther, Kann ein Volk von Teufeln Re<strong>ch</strong>t und Staat moralis<strong>ch</strong> legitimieren?<br />
(1991), S. 217; P. Koller, Otfried Höffes Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und des Staates (1997),<br />
S. 301 ff. Zu Einzelheiten unten S. 281 ff. (Kritik an Höffes transzendentalem Taus<strong>ch</strong>).<br />
82 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. x – Statt des ursprüngli<strong>ch</strong>en Anwendungsbezugs sollen<br />
ledigli<strong>ch</strong> Einzelfragen in Aufsätzen erörtert werden.<br />
83 Zur Thematisierung in kurzen Beiträgen siehe etwa L. Kern, Von Habermas zu Rawls (1986),<br />
S. 83 ff.; A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5 ff.; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 111 ff.<br />
84 Der Begriff <strong>der</strong> Metaphysik ist mehrdeutig. Metaphysik im weitesten Sinne ist jede Behauptung,<br />
es gebe Erkenntnis jenseits <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Welt, d.h. au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on jede Behauptung <strong>der</strong> Moralerkenntnis<br />
(praktis<strong>ch</strong>e Metaphysik). Metaphysik im hier gemeinten engeren Sinn ist dagegen nur<br />
die theoretis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> ontologis<strong>ch</strong>e Metaphysik, also die These, daß es eine Wirkli<strong>ch</strong>keit jenseits<br />
<strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Welt gebe, z.B. moralis<strong>ch</strong>e Tatsa<strong>ch</strong>en, eine vorgegebene, normative Mens<strong>ch</strong>ennatur<br />
o<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Korrespondenz zwis<strong>ch</strong>en Sinnstiftung und Weltstruktur; vgl. G.E. Moore,<br />
Principia Ethica (1903), S. 111 – »[M]etaphysicians ... have in general supposed that whatever does<br />
not exist in time, must at least exist elsewhere, if it is to be at all – that, whatever does not exist in<br />
Nature, must exist in some supersensible reality, whether timeless or not.« (Hervorhebungen bei<br />
Moore). Unter dem Begriff <strong>der</strong> Metaphysik im engeren Sinne versammeln si<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> alle Aussagen,<br />
die empiris<strong>ch</strong>en Untersu<strong>ch</strong>ungsmethoden ni<strong>ch</strong>t zugängli<strong>ch</strong> und deshalb jedenfalls ni<strong>ch</strong>t im<br />
naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Sinne erkenntnisfähig sind. Der Rückgriff auf sol<strong>ch</strong>e Metaphysik läuft<br />
Gefahr, ins Spekulative abzugleiten.<br />
85 S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 453.<br />
42
klinieren 86 . In <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist dieses Untersu<strong>ch</strong>ungsprogramm unter<br />
dem Begriff <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> mittlerer Rei<strong>ch</strong>weite o<strong>der</strong> mittlerer Abstraktion bekannt geworden<br />
87 . Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> geht es um mehr: Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung muß auf juristis<strong>ch</strong>e<br />
Fragen zugespitzt und um das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung erweitert<br />
werden 88 .<br />
E. Ergebnisse<br />
Der tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und regelmäßig festzustellende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug des positiven<br />
Re<strong>ch</strong>ts ist ni<strong>ch</strong>t bloß kontingent, son<strong>der</strong>n beruht auf einem inhaltsoffenen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>,<br />
dessen Erhebung notwendig mit <strong>der</strong> Qualifizierung als 'Re<strong>ch</strong>t' einhergeht.<br />
Sowohl in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie als au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik läßt si<strong>ch</strong> eine<br />
spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen entwickeln, aus <strong>der</strong> die<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie in einem neuen Li<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>einen. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
wird dadur<strong>ch</strong> zu einem Untersu<strong>ch</strong>ungsgegenstand <strong>der</strong> Jurisprudenz. Aus juristis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t muß si<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie bemühen, die philosophis<strong>ch</strong>e Ebene<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung mit <strong>der</strong> dogmatis<strong>ch</strong>en Ebene <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung<br />
zu verbinden.<br />
86 Vgl. unten S. 339 ff. (Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts).<br />
87 Zu einer 'philosophy of the middle range' etwa T.W. Simon, Democracy and Social Injustice (1995),<br />
S. 21. Das 'Mittlere' <strong>der</strong> Theorie liegt darin, daß die verbindende Ebene zwis<strong>ch</strong>en reiner Prinzipienbegründung<br />
einerseits und reinen Anwendungsfragen in Politik und Re<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>erseits gesu<strong>ch</strong>t<br />
wird.<br />
88 Vgl. unten S. 88 ff. (Begründungs- und Erzeugungstheorien); 334 ff. (mittelbare Begründung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
43
Zweiter Teil:<br />
Begriff und Klassifizierung prozeduraler<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
Unter prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> werden, vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en, sol<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Theorien</strong> verstanden, die zwecks Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
auf Verfahren zurückgreifen 1 . Für eine genauere Begriffsbestimmung und Klassifizierung<br />
als Voraussetzung je<strong>der</strong> verglei<strong>ch</strong>enden Analyse kommt es darauf an, wel<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff die <strong>Theorien</strong> zugrundelegen (A), wel<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
miteinan<strong>der</strong> vergli<strong>ch</strong>en werden können (B), wie diese <strong>Theorien</strong> dabei den<br />
Gedanken von prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zur Anwendung bringen (C) und mit wel<strong>ch</strong>er<br />
Grenzziehung sie si<strong>ch</strong> als prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien von materialen<br />
(substantiellen) <strong>Theorien</strong> unters<strong>ch</strong>eiden (D).<br />
A. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
I. Zur Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
1. Die suum cuique-Formel<br />
Suum cuique! 2 Jedem das Seine! So lautet die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sformel, die Ulpian neben<br />
alterum non lae<strong>der</strong>e und honeste vivere in die Dreiheit <strong>der</strong> Gebote des (Natur-)Re<strong>ch</strong>ts<br />
(iuris praecepta) aufgenommen hat 3 , angelehnt an den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff bei Aristoteles<br />
4 und dessen Rezeption in <strong>der</strong> Stoa 5 – Gebote, die mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Abwand-<br />
1 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5 ff.; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 111 ff. Dazu unten S. 132 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
2 Genauer die Dig. 1, 1, 10: »Iustitia est perpetua et constans voluntas jus suum cuique tribuendi.« In <strong>der</strong><br />
Übersetzung von Seiler, in: Behrends/Knütel/Kupis<strong>ch</strong>/Seiler (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 2<br />
(1995), S. 94: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist <strong>der</strong> unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Re<strong>ch</strong>t zu gewähren.«<br />
Inhaltsglei<strong>ch</strong> die Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei Cicero, De Finibus 5, 23: »quae animi affectio<br />
suum cuique tribuens ... aeque tuens iustitia dicitur«; Inst., Erstes Bu<strong>ch</strong>, Kapitel I (de iustitia et iure):<br />
»Iustitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuens.« sowie Thomas von Aquin, ST,<br />
II-II, 58, 1: »Et si quis vellet in debitam formam definitionis reducere, posset sic dicere: quod 'justitia est<br />
habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate jus suum unicuique tribuit'.« In <strong>der</strong><br />
Übersetzung von Groner: »Wer die Definition in vollkommene Form bringen wollte, könnte sagen:<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist ein Habitus, kraft dessen jedem das Seine mit festem und unwandelbarem<br />
Willen zugeteilt wird.« Kritik an <strong>der</strong> ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Zuordnung zu Ulpian bei W. Waldstein,<br />
Ulpians Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1978), S. 215 ff., 231; <strong>der</strong>s., Zur juristis<strong>ch</strong>en Relevanz <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
bei Aristoteles, Cicero und Ulpian (1996), S. 60 f. m.w.N.<br />
3 Dig. 1, 1, 10, 1: »Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non lae<strong>der</strong>e, suum cuique tribuere.« In<br />
<strong>der</strong> Übersetzung von Seiler, in: Behrends/Knütel/Kupis<strong>ch</strong>/Seiler (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Bd.<br />
2 (1995), S. 94: »Die Gebote des Re<strong>ch</strong>ts sind folgende: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem<br />
das Seine gewähren.« Au<strong>ch</strong> die Originalität dieser praecepta bei Ulpian ist umstritten;<br />
W. Waldstein, Ulpians Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1978), S. 215; <strong>der</strong>s., Zur juristis<strong>ch</strong>en Relevanz<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei Aristoteles, Cicero und Ulpian (1996), S. 60 f. m.w.N.<br />
4 Dazu unten S. 56 (aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />
45
lung über Thomas von Aquin 6 , Leibniz 7 und Kant 8 einen festen Platz in <strong>der</strong> europäis<strong>ch</strong>en<br />
Geistesges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te gewonnen haben 9 . Glei<strong>ch</strong> ob als Gebot <strong>der</strong> Tugend- o<strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tslehre, in jedem Fall bleibt die For<strong>der</strong>ung 'Jedem das Seine' – genau wie die übrigen<br />
praecepta 10 – eine inhaltli<strong>ch</strong> ausfüllungsbedürftige Formel, eine leere, bloß formale<br />
Hülle, die für fast beliebige Konkretisierungen ('Jedem das Glei<strong>ch</strong>e', 'Jedem<br />
na<strong>ch</strong> seiner Leistung', 'Jedem na<strong>ch</strong> seinen Bedürfnissen' u.v.m.) genutzt werden kann<br />
und genutzt wurde 11 . Bedingt dur<strong>ch</strong> die Formelhaftigkeit des 'suum cuique' wird <strong>der</strong><br />
Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Philosophie und Re<strong>ch</strong>tsphilosophie sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
bestimmt 12 . Allein <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> formalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist seit Perelmanns Studie<br />
über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in unumstrittener Weise bestimmt 13 . Im übrigen fielen die Definitionsversu<strong>ch</strong>e,<br />
soweit sie überhaupt gewagt wurden, in ihrer Unbestimmtheit wenig<br />
überzeugend aus 14 .<br />
5 Ausführli<strong>ch</strong> hierzu U. Manthe, Stois<strong>ch</strong>e Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians (1997), S. 1 ff.,<br />
12 ff.<br />
6 Vgl. Thomas von Aquin, ST, II-II, 58, 1; dazu oben Fn. 2.<br />
7 Bei Leibniz no<strong>ch</strong> als Tugendlehre, die alle Vernunftelemente des römis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts, <strong>der</strong> <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />
Tradition und <strong>der</strong> philosophis<strong>ch</strong>en Traktate zu einer iustitia universalis zusammenfassen will,<br />
in die au<strong>ch</strong> die praecepta eingehen: »Ex hac consi<strong>der</strong>atione fit ut justitia universalis appellatur et<br />
omnes alias virtutes comprehendat« (Hervorhebung bei Leibniz); G.W. Leibniz, De notionibus Juris<br />
et Iustitiae (1693), Vorrede des Codex Juris Gentium diplomaticus, zitiert na<strong>ch</strong> dem Textabdruck<br />
bei M. Dießelhorst, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition Ulpians (1985), S. 201 ff. (203 f.). Ausführli<strong>ch</strong>er<br />
no<strong>ch</strong> in G.W. Leibniz, Méditation sur la notion commune de la justice (ca. 1674), S. 668: »Während<br />
nun die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> nur eine Tugend ist, ... darf man behaupten, daß sie, sobald man sie auf<br />
Gott und die Na<strong>ch</strong>ahmung Gottes gründet, zur 'iustitia universalis' wird und alle Tugenden umfaßt.<br />
... Die iustitia universalis wird nun dur<strong>ch</strong> die oberste Vors<strong>ch</strong>rift bezei<strong>ch</strong>net: 'honestere, h.e.<br />
probe, pie vivere', ... 'suum cuique tribuere' ... 'neminem lae<strong>der</strong>e'.«<br />
8 Bei Kant bewußt umgestaltet zu Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten; I. Kant, MdS (1797), A 43 / B 43: »(suum cuique<br />
tribue) ... Tritt in einen Zustand, worin je<strong>der</strong>mann das Seine gegen jeden an<strong>der</strong>en gesi<strong>ch</strong>ert sein<br />
kann.« Zur Rezeption bei Leibniz und Kant außerdem M. Dießelhorst, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition<br />
Ulpians (1985), S. 201 ff., 208 ff.<br />
9 U. Manthe, Stois<strong>ch</strong>e Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians (1997), S. 23 ff. m.w.N.<br />
10 Bei alterum non lae<strong>der</strong>e ist <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>ädigungsbegriff, bei honeste vivere <strong>der</strong> Ehrli<strong>ch</strong>keitsbegriff unbestimmt.<br />
11 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 99; kritis<strong>ch</strong> zu sol<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sformeln<br />
H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 366 ff.; <strong>der</strong>s., Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 29<br />
ff. (Goldene Regel), 33 (Jedem das Seine); kritis<strong>ch</strong> gegenüber Kelsens Kritik etwa I. Tammelo, Theorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 24 ff. Vgl. au<strong>ch</strong> L.L. Weinreb, The Complete Idea of Justice (1984),<br />
S. 802 ff. – zur Unbestimmtheit <strong>der</strong> Formel hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er/moralis<strong>ch</strong>er Ansprü<strong>ch</strong>e und<br />
re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>er/naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er <strong>Theorien</strong>.<br />
12 Übersi<strong>ch</strong>ten über die vertretenen Begriffe etwa bei C.K. Allen, Aspects of Justice (1958), S. 3 ff.;<br />
M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1963), S. 42 ff.; C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1945), S. 14 ff.; K. Engis<strong>ch</strong>, Auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1971), S. 147 ff.; G. Robbers,<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1980), S. 15 ff.; M.R. Deckert, Folgenorientierung in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung<br />
(1995), S. 171 f., 192 ff. (Folgenorientierung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Sieht man auf Details,<br />
so kann man sogar sagen, daß es zumindest ebensoviele Varianten des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs gibt<br />
wie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien vertreten werden; W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 29.<br />
13 Dazu unten S. 62 (formaler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff). Vereinzelt gibt es selbst zu dieser Begriffsbildung<br />
wie<strong>der</strong> Kritik: J. S<strong>ch</strong>roth, Über formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1997), S. 497 ff.<br />
14 Vgl. nur B.H. Levy, Cardozo and Frontiers of Legal Thinking (1938), S. 75: »Justice can thus be said<br />
to be ... legally organizable morality.«; G. Vlastos, Justice and Equality (1962), S. 53: »An Action is<br />
46
2. Die Erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition<br />
Angesi<strong>ch</strong>ts sol<strong>ch</strong>er Konkretisierungshürden stellt si<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st die Frage, ob eine<br />
Erörterung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs überhaupt für die Untersu<strong>ch</strong>ung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist. Denn häufig wird in den <strong>Theorien</strong> auf eine Begriffsbestimmung<br />
ganz verzi<strong>ch</strong>tet. Die sonst sehr umfassende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie von<br />
Rawls enthält beispielsweise keine Definition des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs 15 . Statt dessen<br />
legt Rawls den Gegenstand <strong>der</strong> Theorie nur generalisierend als 'soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
fest und stellt im übrigen auf das Son<strong>der</strong>verständnis einer '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als<br />
Fairneß' ab 16 . Der <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff wird dabei ni<strong>ch</strong>t definiert, son<strong>der</strong>n vorausgesetzt.<br />
Was zwis<strong>ch</strong>en den Zeilen mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gemeint ist, ers<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> bei<br />
Rawls erst im Rückblick, na<strong>ch</strong>dem die Theorie ihr Begründungszelt aufgespannt hat.<br />
Sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> wei<strong>ch</strong>en einer Definition aus 17 . Bei an<strong>der</strong>en Studien zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
steht dagegen die Wortbedeutung normativer Grundprädikate wie 'gut' und 'gere<strong>ch</strong>t'<br />
im Mittelpunkt 18 . Sie versu<strong>ch</strong>en, dur<strong>ch</strong> Begriffsanalyse einen semantis<strong>ch</strong>en<br />
Zugang zur Moral zu gewinnen 19 .<br />
Zwis<strong>ch</strong>en den Randpositionen einer Definitionsverweigerung und einer Definitionsfokussiertheit<br />
wird hier ein Mittelweg bes<strong>ch</strong>ritten. Zwar ist es für eine Analyse<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er <strong>Theorien</strong> unerläßli<strong>ch</strong>, den dabei zugrundegelegten Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zu definieren, denn sonst ließe si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal genau bestimmen, weljust<br />
if, and only if, it is prescribed exclusively by regard for the rights of all whom it affects substantially.«<br />
(Hervorhebung bei Vlastos); J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 369: »Justice is a<br />
rational regard for the individual, taking into account all and only all the circumstances of the individual<br />
case, and not merely some of them, and not any other extraneous, and properly irrelevant<br />
ones.« Au<strong>ch</strong> die Definition von Dreier ist nur eine Reformulierung des inhaltli<strong>ch</strong> unbestimmten<br />
suum cuique; vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 100: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist diejenige<br />
Eigens<strong>ch</strong>aft einer Handlung, eines Handlungssubjekts, einer Norm o<strong>der</strong> einer Normenordnung,<br />
dur<strong>ch</strong> die eine gute Ordnung <strong>der</strong> Verteilung und des Ausglei<strong>ch</strong>s von Gütern und Lasten bewahrt<br />
o<strong>der</strong> hergestellt wird.«<br />
15 Die ähnli<strong>ch</strong> einer Definition formulierte Erläuterung am Anfang <strong>der</strong> Theorie (J. Rawls, Theory of<br />
Justice [1971], § 1, S. 3: »Justice is the first virtue of social institutions, as truth is of systems of<br />
thought.«), <strong>der</strong>en wortglei<strong>ch</strong>es Aufgreifen am Ende <strong>der</strong> Arbeit (S. 586) den Kreis <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
s<strong>ch</strong>ließen soll, ist tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> keine Definition, son<strong>der</strong>n setzt vielmehr eine sol<strong>ch</strong>e voraus und<br />
weist <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, basierend auf dieser implizierten Definition, eine Wertigkeit zu.<br />
16 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 3, 11: »This way of regarding the principles of justice [as object<br />
of the original agreement] I shall call justice as fairness.«<br />
17 Die Auswei<strong>ch</strong>taktik gegenüber den S<strong>ch</strong>wierigkeiten einer Definition beginnt bei Rawls bereits mit<br />
dem Frühwerk; vgl. J. Rawls, Justice as Fairness (1957), S. 653: »Throughout I discuss justice as virtue<br />
of institutions ... and not as a virtue of particular actions, or persons.«<br />
18 Für das Prädikat 'gut' z.B. im Präskriptivismus von R.M. Hare, Spra<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Moral (1952), S. 109 ff.<br />
(Begriffsanalyse); vgl. au<strong>ch</strong> S. 183 (»'Gut', wie es in moralis<strong>ch</strong>en Zusammenhängen gebrau<strong>ch</strong>t<br />
wird, hat eine bes<strong>ch</strong>reibende und wertende Bedeutung, und die letztere ist die primäre.«) sowie –<br />
zum Begriff des 'Sollens' – S. 211: »[D]o<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lage vor, dieser S<strong>ch</strong>wierigkeit in <strong>der</strong> einzig mögli<strong>ch</strong>en<br />
Weise zu begegnen, indem man sie zu einer Sa<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Definition ma<strong>ch</strong>t.« (Hervorhebungen hinzugefügt,<br />
A.T.).<br />
19 R.M. Hare, Ethical Theory and Utilitarianism (1976), S. 25 m.w.N.: »I try to base myself, unlike<br />
Rawls, entirely on the formal properties of the moral concepts as revealed by the logical study of<br />
moral language«.<br />
47
<strong>ch</strong>e Sozialordnungstheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie gelten kann 20 . Au<strong>ch</strong> muß <strong>der</strong> hier<br />
zugrundegelegte Begriff trenns<strong>ch</strong>arf von dem in <strong>der</strong> Jurisprudenz verbreiteten Verständnis<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als eines von mehreren Elementen <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsidee (Radbru<strong>ch</strong>)<br />
abgegrenzt werden 21 . Die kritis<strong>ch</strong>-analytis<strong>ch</strong>e Arbeit erfor<strong>der</strong>t aber an<strong>der</strong>erseits<br />
ni<strong>ch</strong>t die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem einzig wahren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff. Hier haben<br />
Ethik und Religionslehre, politis<strong>ch</strong>e Philosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e, teils wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Wortbedeutungen hervorgebra<strong>ch</strong>t, die jeweils<br />
ihre eigene Bere<strong>ch</strong>tigung haben 22 . In dieser Situation ist es wenig erhellend,<br />
den – ohnehin ständigem Wandel unterlegenen – faktis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
herauszuarbeiten 23 . Au<strong>ch</strong> kann man von einer spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Begriffsanalyse<br />
24 keinen Beitrag zur normativen Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erwarten 25 .<br />
Vielmehr gilt es, die Vielfalt <strong>der</strong> Ausprägungen des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs zu akzeptieren.<br />
Die im folgenden entwickelte Definition bestimmt die begriffsnotwendigen<br />
Elemente eines weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs, ohne den zahlrei<strong>ch</strong>en an<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen<br />
im einzelnen na<strong>ch</strong>zugehen.<br />
3. Die Gegenstände des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats (Transponierbarkeitsthese)<br />
Die Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird dadur<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>wert, daß unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Gegenstände<br />
mit den Prädikaten 'gere<strong>ch</strong>t' o<strong>der</strong> 'ungere<strong>ch</strong>t' zu einem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil<br />
<strong>der</strong> Form 'X ist gere<strong>ch</strong>t' verbunden werden können 26 : einzelne Gesetze, Institutionen<br />
und Verfahren, die Gesells<strong>ch</strong>aftsordnung insgesamt, einzelne Handlungen<br />
eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> privater Verhaltensweisen, Geri<strong>ch</strong>tsurteile o<strong>der</strong> administrativer Ein-<br />
20 Vgl. zum Begriff <strong>der</strong> Sozialordnung H. Kelsen, Reine Re<strong>ch</strong>tslehre (1960), S. 25: »Eine normative<br />
Ordnung, die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Verhalten insoferne regelt, als es in unmittelbarer o<strong>der</strong> mittelbarer Beziehung<br />
zu an<strong>der</strong>en Mens<strong>ch</strong>en steht, ist eine gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ordnung. Die Moral und das Re<strong>ch</strong>t<br />
sind sol<strong>ch</strong>e gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ordnungen.«<br />
21 Dazu unten S. 63 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff bei Radbru<strong>ch</strong>).<br />
22 Dazu unten S. 62 ff. (einige an<strong>der</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe). Vgl. M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1963), S. 35 – zur klassis<strong>ch</strong>en Methode, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> anhand eines Definitionsversu<strong>ch</strong>s zu<br />
erläutern, sowie zu <strong>der</strong> Illusion, dabei glei<strong>ch</strong>zeitig Allgemeinverbindli<strong>ch</strong>keit und inhaltli<strong>ch</strong>e Aussagekraft<br />
zu errei<strong>ch</strong>en.<br />
23 Vgl. die Kritik bei W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 26; inzwis<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> N. Jansen,<br />
Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 37 ff.<br />
24 Z.B. bei C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1945), S. 22 ff.<br />
25 Das sieht au<strong>ch</strong> Perelman selbst: C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1945), S. 83: »Ganz<br />
offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>öpft dieser Faktor [formelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>] ni<strong>ch</strong>t die ganze Bedeutung dieses<br />
Begriffes [<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>]«. Vgl. allgemein J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 136 ff. – Kritik an <strong>der</strong><br />
Spra<strong>ch</strong>analyse einzelner Begriffe (good, true, know, probably) bei Hare, Strawson, Austin und Toulmin.<br />
Treffend au<strong>ch</strong> O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 62: »Die deskriptive Semantik bestimmt<br />
den Begriff politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; sie legitimiert ihn aber ni<strong>ch</strong>t.« Um so erstaunli<strong>ch</strong>er,<br />
wenn Höffe <strong>der</strong> semantis<strong>ch</strong>en Erörterung von Legitimation und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> später eine erste<br />
Kritik des Utilitarismus zutraut (S. 74 ff., 76). Vgl. dazu die Kritik bei W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation<br />
(1997), S. 27 ff.<br />
26 Zum Begriff des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils vgl. H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 358;<br />
sowie R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 96: »Das <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgefühl drückt eine Wertung<br />
aus, die si<strong>ch</strong> in einem Werturteil, genauer: einem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil, als einem Urteil darüber,<br />
was gere<strong>ch</strong>t und ungere<strong>ch</strong>t ist, formulieren läßt.«<br />
48
zelakte, bestimmte Situationen, beson<strong>der</strong>s in Anbetra<strong>ch</strong>t einer eingetretenen Güterverteilung,<br />
einzelne Ents<strong>ch</strong>eidungen und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Personen 27 . Au<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong><br />
Grundformel <strong>der</strong> Gere<strong>ch</strong>igkeit, suum cuique (Jedem das Seine) 28 , läßt si<strong>ch</strong> die Vielfalt<br />
<strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong>en Gegenstände von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen bes<strong>ch</strong>reiben: Wer o<strong>der</strong> was<br />
jedem das Seine gibt, <strong>der</strong> o<strong>der</strong> das ist gere<strong>ch</strong>t; ein Verhalten, eine Ordnung, ein Gesetz,<br />
ein Verhältnis, in dem jedem das Seine gegeben wird, ist gere<strong>ch</strong>t 29 .<br />
Die Vielfalt <strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Gegenstände ist aber nur eine s<strong>ch</strong>einbare. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
lassen si<strong>ch</strong> die Gegenstände des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils nämli<strong>ch</strong> so aufeinan<strong>der</strong><br />
beziehen, daß alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile ohne Inhaltsverlust mit einem einzigen<br />
Gegenstand formulierbar sind (Transponierbarkeitsthese) 30 . Die Wahl dieses Gegenstandes<br />
ist ni<strong>ch</strong>t zwingend 31 . Häufig bildet die Person den Bezugspunkt (Tugendlehre).<br />
Hier sei das Handeln (Tun o<strong>der</strong> Unterlassen) gewählt. Die Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong><br />
Transponierbarkeitsthese läßt si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> belegen, daß die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> aller mögli<strong>ch</strong>en<br />
Gegenstände auf eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Handelns übertragen wird 32 : Bezieht<br />
man alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile auf Handeln, so ist ein Gesetz genau dann gere<strong>ch</strong>t,<br />
wenn es gere<strong>ch</strong>tes Handeln gebietet o<strong>der</strong> erlaubt und ungere<strong>ch</strong>tes Handeln verbietet.<br />
Einzelne Institutionen o<strong>der</strong> die Gesells<strong>ch</strong>aft insgesamt sind gere<strong>ch</strong>t, wenn in ihnen<br />
gere<strong>ch</strong>tes Handeln geboten o<strong>der</strong> erlaubt und ungere<strong>ch</strong>tes verboten ist. Situationen<br />
sind gere<strong>ch</strong>t, wenn sie fortbestehen dürfen, weil das Unterlassen einer Verän<strong>der</strong>ung<br />
gere<strong>ch</strong>t ist 33 . Ents<strong>ch</strong>eidungen sind genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn sie zugunsten gere<strong>ch</strong>ten<br />
Handelns ausfallen. Und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> sind Personen gere<strong>ch</strong>t, wenn sie stets gere<strong>ch</strong>t<br />
handeln 34 .<br />
27 Zur Vielfalt <strong>der</strong> Gegenstände des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1960), S. 357 ff.; J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 233; J. Rawls, Theory of Justice (1971), §<br />
2, S. 7; I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 69 ff.; O. Höffe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>?<br />
(1991), S. 13 f.; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 98 f. Entspre<strong>ch</strong>end zur Vielfalt <strong>der</strong><br />
Gegenstände <strong>der</strong> Legitimation A. Aarnio, Zur Legitimation des Re<strong>ch</strong>ts (1989), S. 143.<br />
28 Dazu oben S. 45 (suum cuique-Formel).<br />
29 So die Begriffsbestimmung bei E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 20.<br />
30 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 98 ff. (101). Dreier spri<strong>ch</strong>t zwar ni<strong>ch</strong>t von <strong>der</strong><br />
'Transponierbarkeit', zeigt aber, wie si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>sten Gegenständen<br />
des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils jeweils auf Handlungen und handlungsleitende Normen zurückführen<br />
läßt.<br />
31 A.A. J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 234, <strong>der</strong> das Handeln als einzigen Gegenstand ansieht,<br />
auf den si<strong>ch</strong> alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile beziehen lassen: Au<strong>ch</strong> Personen könnten zwar 'gere<strong>ch</strong>t'<br />
sein, wenn sie stets versu<strong>ch</strong>ten, gere<strong>ch</strong>t zu handeln; umgekehrt sei aber ein Handeln ni<strong>ch</strong>t<br />
bereits deshalb gere<strong>ch</strong>t, weil eine gere<strong>ch</strong>te Person es vorgenommen hat. Dieser Kritik muß hier<br />
ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>gegangen werden, da ohnehin das Handeln als Anknüpfungspunkt für eine Transponierung<br />
aller <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile gewählt wird.<br />
32 Ähnli<strong>ch</strong> R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 101.<br />
33 Das Unterlassen einer Verän<strong>der</strong>ung ist mindestens dann gere<strong>ch</strong>t, wenn kein ungere<strong>ch</strong>tes Handeln<br />
zu <strong>der</strong> Situation geführt hat; vgl. R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 150 ff. (gere<strong>ch</strong>te<br />
Aneignung).<br />
34 So au<strong>ch</strong> H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 357: »Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eines Mens<strong>ch</strong>en<br />
ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> seines sozialen Verhaltens«; vgl. den Wortlaut <strong>der</strong> suum cuique-Formel<br />
oben S. 45.<br />
49
4. Eine handlungsbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 1 )<br />
Dur<strong>ch</strong> die Transponierbarkeitsthese ist belegt, daß si<strong>ch</strong> alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile<br />
dur<strong>ch</strong> eine handlungsbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erfassen lassen. Es soll<br />
deshalb zunä<strong>ch</strong>st eine allgemeine handlungsbezogene <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition gegeben<br />
werden, die später dur<strong>ch</strong> eine normbezogene zu ergänzen sein wird 35 :<br />
D 1 :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines<br />
Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt<br />
<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit. 36<br />
Anhand dieser Definition lassen si<strong>ch</strong> die einzelnen Elemente des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
besser erläutern als mit einer normbezogenen Definition, weil bei letzterer die<br />
Definitionselemente weitgehend im Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm aufgehen 37 .<br />
II.<br />
Fünf begriffli<strong>ch</strong> notwendige Bezüge des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
Jedes <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil im Sinne von D 1 , jede Verknüpfung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
mit einem Objekt ('x ist gere<strong>ch</strong>t'), weist fünf begriffli<strong>ch</strong> notwendige Bezüge<br />
auf: den Handlungs-, Ri<strong>ch</strong>tigkeits-, Sollens-, Sozial- und Glei<strong>ch</strong>heitsbezug. Ein Urteil,<br />
bei dem einer dieser Bezüge fehlt, hat mit dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff, wie er in<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verwendet wird, ni<strong>ch</strong>ts zu tun. Wer beispielsweise sagt:<br />
'Die göttli<strong>ch</strong>en Gaben sind ungere<strong>ch</strong>t verteilt!', <strong>der</strong> verwendet einen an<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
als den hier interessierenden, denn für sol<strong>ch</strong>e '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' ist<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Handeln ohne Belang 38 . Um die Eignung einzelner <strong>Theorien</strong> ni<strong>ch</strong>t von<br />
vornherein dur<strong>ch</strong> Begriffsbildung zu präjudizieren 39 , werden im folgenden die fünf<br />
Bezüge, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsbezug 40 , so bestimmt, daß ein weiter Begriff <strong>der</strong><br />
35 Dazu unten S. 75 (D 1N ). Im Ergebnis ähnli<strong>ch</strong> für einen Handlungs- und Normbezug des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 98: Hauptgegenstände des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils<br />
seien Handlungen und Handlungssubjekte, Normen und Normordnungen. Ähnli<strong>ch</strong><br />
R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 36 f.: »Eine Norm o<strong>der</strong> ein einzelnes<br />
Gebot, das den dur<strong>ch</strong> die Diskursregeln bestimmten Kriterien genügt, kann als gere<strong>ch</strong>t bezei<strong>ch</strong>net<br />
werden.« (Hervorhebung bei Alexy). An<strong>der</strong>s dagegen I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1977), S. 77: »'Gere<strong>ch</strong>t' ist eine positive, ethis<strong>ch</strong>e, soziale Wertqualität, die korrelative Re<strong>ch</strong>t-<br />
Pfli<strong>ch</strong>t-Beziehungen und die Zuteilung des Gebührenden an jeden betrifft.« Zu sol<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als Werthaftigkeit vgl. unten S. 55 (D 1A ).<br />
36 Vgl. R. Alexy, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Ri<strong>ch</strong>tigkeit (1997), S. 105: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Ri<strong>ch</strong>tigkeit in bezug<br />
auf Verteilung und Ausglei<strong>ch</strong>.« Dur<strong>ch</strong> die von Alexy gewählte, weite Ausdeutung dessen, was<br />
no<strong>ch</strong> als Perspektive <strong>der</strong> Verteilung o<strong>der</strong> des Ausglei<strong>ch</strong>s angesehen werden kann, kommen si<strong>ch</strong><br />
diese Definitionen sehr nah; vgl. ebd., S. 104 (Mutter-Kind-Beispiel). D 1 bietet den Vorteil, daß offen<br />
bleiben kann, ob eine Verteilungs- o<strong>der</strong> Ausglei<strong>ch</strong>sproblematik vorliegt. Zum Element <strong>der</strong><br />
'Pfli<strong>ch</strong>tigkeit' im Gegensatz zur 'Werthaftigkeit' siehe soglei<strong>ch</strong> S. 52 ff. (55); zum Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
ausführli<strong>ch</strong> unten S. 56 ff.<br />
37 Zu diesem Effekt vgl. unten S. 72 ff. (D NG und D 1N ).<br />
38 Dazu unten S. 68 (holistis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />
39 So etwa O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 74 ff., <strong>der</strong> bereits mit einer Begriffsanalyse von<br />
Legitimation und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eine Kritik des Utilitarismus beginnt.<br />
40 Dazu unten S. 56 ff. (Glei<strong>ch</strong>heitsbezug).<br />
50
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> resultiert, mit dessen Hilfe si<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>ste <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
untersu<strong>ch</strong>en lassen.<br />
1. Der Handlungsbezug<br />
Die begriffli<strong>ch</strong>e Notwendigkeit eines Handlungsbezuges folgt daraus, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile<br />
Antworten auf die Grundfrage praktis<strong>ch</strong>er Philosophie geben: 'Was soll<br />
i<strong>ch</strong> tun?'. Der Annahme eines Handlungsbezuges steht ni<strong>ch</strong>t entgegen, daß die Prädikate<br />
'gere<strong>ch</strong>t' und 'ungere<strong>ch</strong>t' au<strong>ch</strong> auf an<strong>der</strong>e Gegenstände angewendet werden<br />
können, man also ni<strong>ch</strong>t nur Handlungen als 'gere<strong>ch</strong>t' würdigt o<strong>der</strong> als 'ungere<strong>ch</strong>t'<br />
kritisiert, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> Personen, Gesetze, Institutionen, Staaten, Verteilungsergebnisse<br />
und vieles mehr (Transponierbarkeitsthese) 41 .<br />
2. Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug<br />
In D 1 ist außerdem die 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' ein Begriffselement <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Der Anspru<strong>ch</strong><br />
auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist ein Son<strong>der</strong>fall des Anspru<strong>ch</strong>s auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit 42 . Es ist<br />
dana<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, eine Handlung als 'gere<strong>ch</strong>t' und glei<strong>ch</strong>zeitig als 'fals<strong>ch</strong>' zu bezei<strong>ch</strong>nen,<br />
etwa mit <strong>der</strong> Begründung, daß es no<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e, im Gewi<strong>ch</strong>t überwiegende<br />
Urteilsgründe neben <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gebe. Die umfassend zu verstehende 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit'<br />
in D 1 läßt so<strong>ch</strong>en Zwiespalt ni<strong>ch</strong>t zu. Dadur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> dieser <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff,<br />
wie no<strong>ch</strong> zu zeigen sein wird, von dem Begriff <strong>der</strong> Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
43 . Die 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' in D 1 bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf einzelne Kriterien, also<br />
beispielsweise ni<strong>ch</strong>t auf 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit im Sinne des Gesetzes' (Legalität) o<strong>der</strong> 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
in bezug auf materielle Vorteile' (ökonomis<strong>ch</strong>e Rationalität), son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t eine<br />
Gesamtbetra<strong>ch</strong>tung aller mögli<strong>ch</strong>en Gründe. Nur ein Handeln, das dieser umfassenden<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeitsprüfung standhält, kann gere<strong>ch</strong>t sein.<br />
Die 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' in D 1 ist dabei offen für materiale, prozedurale o<strong>der</strong> formale<br />
Konkretisierungen. Material kann man Ri<strong>ch</strong>tigkeit beispielsweise verstehen, indem<br />
man sie nur für ein Handeln gelten läßt, das bestimmten inhaltli<strong>ch</strong>en, historis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
kontingenten, für das Bestehen je<strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft notwendigen Regeln über die Art<br />
und Weise <strong>der</strong> Behandlung des jeweils an<strong>der</strong>en entspri<strong>ch</strong>t 44 . Ein prozedurales Verständnis<br />
von Ri<strong>ch</strong>tigkeit – und dies ist ein Charakteristikum <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – liegt vor, wenn die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlung si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren beurteilt. Formal wird die Bestimmung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
wenn man sie allein von einem formalen Kriterium abhängen lässt, beispielsweise<br />
dem größtmögli<strong>ch</strong>en Gesamt- o<strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittsnutzens 45 . Au<strong>ch</strong> ein sol<strong>ch</strong>es formales<br />
Verständnis ist geeignet, den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff auszufüllen. Diese Offenheit<br />
41 Dazu oben S. 48 (Transponierbarkeitsthese).<br />
42 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 242.<br />
43 Dazu unten S. 63 (engere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe).<br />
44 Vgl. B. Gert, Die moralis<strong>ch</strong>en Regeln (1966), S. 116 ff. (129) – die ersten fünf Regeln: verursa<strong>ch</strong>e<br />
keinen Tod, keine S<strong>ch</strong>erzen, keine Unfähigkeit, keinen Freiheitsverlust, keinen Lustverlust.<br />
45 Dazu unten S. 154 (Utilitarismus).<br />
51
unters<strong>ch</strong>eidet die hier vorgenommene Begriffsbestimmung von an<strong>der</strong>en, engeren<br />
Ansätzen 46 .<br />
3. Der Sollensbezug (D 1D D 1A )<br />
Neben dem Handlungs- und Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug besteht bei allen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen<br />
begriffsnotwendig ein Sollensbezug, <strong>der</strong> im Merkmal <strong>der</strong> 'Pfli<strong>ch</strong>tigkeit' ausgedrückt<br />
ist. Die Vornahme <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten Handlung ist für den Handelnden eine moralis<strong>ch</strong>e<br />
Pfli<strong>ch</strong>t, und die Gegenseite hat auf sie ein moralis<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t 47 . Wer sagt, es<br />
gebe nur eine einzige gere<strong>ch</strong>te Handlungsalternative, <strong>der</strong> drückt damit glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
aus, daß diese Handlung vorgenommen werden muß. Wer behauptet, er sei ungere<strong>ch</strong>t<br />
behandelt worden, <strong>der</strong> rügt glei<strong>ch</strong>zeitig eine Verletzung seiner (moralis<strong>ch</strong>en)<br />
Re<strong>ch</strong>te. Dur<strong>ch</strong> diesen doppelten begriffsimmanenten Sollensbezug (Pfli<strong>ch</strong>t und Re<strong>ch</strong>t)<br />
unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 1 von Nä<strong>ch</strong>stenliebe, Großzügigkeit, Barmherzigkeit,<br />
Sympathie, Mitleid, Solidarität, Dankbarkeit, Freunds<strong>ch</strong>aft, Vergebung o<strong>der</strong> Liebe 48 .<br />
Wer beispielsweise sagt, er habe aus Nä<strong>ch</strong>stenliebe gehandelt, <strong>der</strong> impliziert (wie bei<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns. Denno<strong>ch</strong> wäre ein Akt <strong>der</strong> Nä<strong>ch</strong>stenliebe<br />
keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von D 1 , denn selbst wenn eine moralis<strong>ch</strong>e<br />
Handlungspfli<strong>ch</strong>t aus <strong>der</strong> Nä<strong>ch</strong>stenliebe folgen sollte, so könnte sie jedenfalls ni<strong>ch</strong>t<br />
eingefor<strong>der</strong>t werden. Sie wäre nur eine einseitige Tugendpfli<strong>ch</strong>t 49 .<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird dur<strong>ch</strong> den Sollensbezug zu einem Teil <strong>der</strong> Moral 50 . Dieses<br />
Spezialitätsverhältnis läßt si<strong>ch</strong> – unabhängig davon, wie weit o<strong>der</strong> eng man den Begriff<br />
<strong>der</strong> Moral im übrigen faßt 51 – folgen<strong>der</strong>maßen skizzieren 52 :<br />
46 An<strong>der</strong>s etwa die Begriffsbestimmung von O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 54 f., na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> die rein pragmatis<strong>ch</strong>e Rationalität des Utilitarismus s<strong>ch</strong>on begriffli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
verstanden werden könne.<br />
47 Zu dieser (moralis<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t notwendig au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>en) 'Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>tigkeit' vgl. O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 56 ff.: Moralphilosophis<strong>ch</strong> werde bei <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten<br />
gespro<strong>ch</strong>en, also von sol<strong>ch</strong>en moralis<strong>ch</strong>en Pfli<strong>ch</strong>ten, <strong>der</strong>en Erfüllung die Gegenseite einfor<strong>der</strong>n<br />
kann, während im übrigen in <strong>der</strong> Moral nur (einseitige) Tugendpfli<strong>ch</strong>ten bestünden. Die moralis<strong>ch</strong>e<br />
Pfli<strong>ch</strong>t und ihre Einfor<strong>der</strong>ung beziehe si<strong>ch</strong> dabei auf die Vornahme <strong>der</strong> Handlung, ni<strong>ch</strong>t<br />
hingegen auf die moralis<strong>ch</strong>en Motive des Handelns.<br />
48 Vgl. die Gegenüberstellung bei W.K. Frankena, The Concept of Social Justice (1962), S. 4 und J.R.<br />
Lucas, Principles of Politics (1966), S. 234 sowie die Aufzählung bei O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1987), S. 55 f.<br />
49 Vgl. O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 56 f.<br />
50 Vgl. H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 357: »[I]nsofern liegt <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> innerhalb<br />
des Berei<strong>ch</strong>es <strong>der</strong> Moral.«<br />
51 Auf die damit angespro<strong>ch</strong>enen terminologis<strong>ch</strong>en Differenzen kann hier ni<strong>ch</strong>t ausführli<strong>ch</strong> eingegangen<br />
werden. Hier wird, wie bei Habermas, für die Frage praktis<strong>ch</strong>er Philosophie (»Was soll i<strong>ch</strong><br />
tun?«) zwis<strong>ch</strong>en pragmatis<strong>ch</strong>er, ethis<strong>ch</strong>er und moralis<strong>ch</strong>er Perspektive mit den ihnen entspre<strong>ch</strong>enden<br />
Gegenständen des Zweckmäßigen, des Guten und des Gere<strong>ch</strong>ten unters<strong>ch</strong>ieden –<br />
J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 100 ff.; dazu unten S. 92 ff. (Vernunftgebrau<strong>ch</strong>). Unter allen praktis<strong>ch</strong>en Fragen heben<br />
si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Habermas die moralis<strong>ch</strong>en dadur<strong>ch</strong> heraus, daß sie einer vernünftigen Begründung zugängli<strong>ch</strong><br />
seien; dies seien aber nur die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen, weil evaluative Aussagen über das<br />
(eigene) gute Leben ni<strong>ch</strong>t weiter begründbare Präferenzen ausdrückten; J. Habermas, Moralität<br />
und Sittli<strong>ch</strong>keit (1986), S. 25; <strong>der</strong>s., Was ma<strong>ch</strong>t eine Lebensform rational? (1988), S. 39. An<strong>der</strong>e Au-<br />
52
Normale Moral<br />
Tugendpfli<strong>ch</strong>t – kann ni<strong>ch</strong>t eingefor<strong>der</strong>t werden<br />
(betrifft jedes Handeln, selbst sol<strong>ch</strong>es ohne Sozialbezug)<br />
Supererogatoris<strong>ch</strong>e<br />
Moral<br />
keine Pfli<strong>ch</strong>t<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>t – kann eingefor<strong>der</strong>t werden<br />
(betrifft nur Handeln mit Sozial- und Glei<strong>ch</strong>heitsbezug)<br />
Die Skizze zeigt, daß si<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> ihre beson<strong>der</strong>e Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>tigkeit sowohl<br />
von einfa<strong>ch</strong>er als au<strong>ch</strong> von supererogatoris<strong>ch</strong>er Moral unters<strong>ch</strong>eidet. Der<br />
barmherzige Samariter, <strong>der</strong> dem Fremden uneigennützig Hilfe leistet 53 , handelt ganz<br />
ohne moralis<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>t; er tut mehr, als von <strong>der</strong> normalen Moral o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
gefor<strong>der</strong>t ist (supererogatoris<strong>ch</strong>e Moral) 54 . Die Kunstbesitzerin, die ihr Werk<br />
vor drohendem Verfall bewahrt, folgt einer Tugendpfli<strong>ch</strong>t, die niemand einfor<strong>der</strong>n<br />
kann (normale Moral). Die Mutter, die ihre Kin<strong>der</strong> glei<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>enkt, folgt einer moralis<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>t auf Glei<strong>ch</strong>behandlung (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>); ein Kind hat das moralis<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>t, diese Glei<strong>ch</strong>behandlung einzufor<strong>der</strong>n 55 .<br />
Die Skizze zeigt au<strong>ch</strong>, daß es in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> Moral – keinen<br />
'optionalen' o<strong>der</strong> 'supergere<strong>ch</strong>ten' Berei<strong>ch</strong> gibt, <strong>der</strong> no<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>t, aber ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
gefor<strong>der</strong>t ist, weil er die normalen Grenzen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Natur übers<strong>ch</strong>reitet 56 . Was<br />
toren bezei<strong>ch</strong>nen als 'Moral' nur die Summe tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> vorfindli<strong>ch</strong>er Handlungsmaximen, als<br />
'Ethik' die Wissens<strong>ch</strong>aft von <strong>der</strong> so verstandenen Moral und als '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sethik' nur die vertragstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Begründung moralis<strong>ch</strong>er Normen; vgl. A. Pieper, Ethik (1991), S. 17 ff., 240 ff.; D.<br />
Sturma, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sethik (1992), S. 281 ff.<br />
52 Vgl. oben Fn. 47 (Tugend- und Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten).<br />
53 Lukas 10, 30-37.<br />
54 T. Nagel, The View from Nowhere (1986), S. 203: »Supererogatory virtue is shown by acts of exceptional<br />
sacrifice for the benefit of others. Su<strong>ch</strong> acts are praiseworthy and not regarded as irrational,<br />
but they are not thought to be either morally or rationally required.« Ähnli<strong>ch</strong> S. Kagan,<br />
The Limits of Morality (1989), S. 291 ff. – »extremist« morality; <strong>der</strong>s., Normative Ethics (1998),<br />
S. 155: »supererogatory (a term traditionally used to mark acts that, although meritorious, are not<br />
obligatory)« (Hervorhebung bei Kagan). Die Moraltheorie unters<strong>ch</strong>eidet grundsätzli<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en<br />
normalen moralis<strong>ch</strong>en Pfli<strong>ch</strong>ten und sol<strong>ch</strong>en moralis<strong>ch</strong>en Handlungen, die über die Pfli<strong>ch</strong>tigkeit<br />
hinausgehen (supererogatory actions). Wo eine sol<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>eidung unmögli<strong>ch</strong> ist, wie im klassis<strong>ch</strong>en<br />
Utilitarismus, wird dies als S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Theorie empfunden; S. Kagan, Normative Ethics<br />
(1998), S. 153 ff. Zu Korrekturmögli<strong>ch</strong>keiten im Rahmen eines 'korrekt interpretierten' Utilitarismus<br />
siehe J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 601 f.<br />
55 Vgl. J. Lucas, On Justice (1980), S. 38 f. – Anspru<strong>ch</strong> auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; J. Habermas, Faktizität und<br />
Geltung (1992), S. 190: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen betreffen die in interpersonellen Konflikten strittigen<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e«; N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 40: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze sind<br />
nie supererogatoris<strong>ch</strong>.«<br />
56 Vgl. zur entspre<strong>ch</strong>enden Begründung des optionalen Status <strong>der</strong> Supermoralität T. Nagel, The<br />
View from Nowhere (1986), S. 204.<br />
53
gere<strong>ch</strong>t ist, ist immer au<strong>ch</strong> gefor<strong>der</strong>t. Entspre<strong>ch</strong>end stellt si<strong>ch</strong> das Verlangen na<strong>ch</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> an<strong>der</strong>s dar als etwa das Verlangen na<strong>ch</strong> Gnade: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird gefor<strong>der</strong>t,<br />
um Gnade muß man bitten.<br />
Der 'Pfli<strong>ch</strong>tigkeit' eines Handelns steht ni<strong>ch</strong>t entgegen, daß es vers<strong>ch</strong>iedene<br />
Handlungsweisen geben kann, die gere<strong>ch</strong>t sind. Bestimmte Fragen, zum Beispiel die<br />
Festsetzung des Wahlalters, lassen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Antworten zu, die alle glei<strong>ch</strong>ermaßen<br />
gere<strong>ch</strong>t sind 57 . Die Pfli<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> dann darauf, eine <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten<br />
Handlungen vorzunehmen. Dieses Phänomen <strong>der</strong> Uns<strong>ch</strong>ärfe des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils<br />
tritt bei prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf, wenn es an einem verfahrensexternen<br />
Kriterium <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit fehlt 58 .<br />
Obwohl vers<strong>ch</strong>iedene Handlungen gere<strong>ch</strong>t sein können, gibt es zwis<strong>ch</strong>en ihnen<br />
keine Grade <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Der Sollensbezug besteht ganz o<strong>der</strong> gar ni<strong>ch</strong>t. Bei <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 1 kann ni<strong>ch</strong>t von einer gere<strong>ch</strong>ten, einer no<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>teren und <strong>der</strong><br />
gere<strong>ch</strong>testen Handlung gespro<strong>ch</strong>en werden. Zwar gibt es umgangsspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> die<br />
'gere<strong>ch</strong>teste Lösung', do<strong>ch</strong> ist eine sol<strong>ch</strong>e Formulierung nur ein Platzhalter für die<br />
genauere Aussage, daß es si<strong>ch</strong> um eine beson<strong>der</strong>s gut begründete Wahl unter mehreren<br />
gere<strong>ch</strong>ten Lösungen handelt. 'Gere<strong>ch</strong>t' ist kein graduelles Prädikat, son<strong>der</strong>n es ist<br />
wie je<strong>der</strong> Geltungsanspru<strong>ch</strong> »binär kodiert« 59 . Wie ein S<strong>ch</strong>wellenwert zeigt es an, ob<br />
eine Handlung no<strong>ch</strong> im erlaubten Berei<strong>ch</strong> liegt o<strong>der</strong> bereits in den moralis<strong>ch</strong>en Verbotsberei<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit ums<strong>ch</strong>lägt. Von einer einzelnen Handlung sagen<br />
wir deshalb ni<strong>ch</strong>t, sie sei 'fast gere<strong>ch</strong>t' o<strong>der</strong> 'äußerst gere<strong>ch</strong>t'. Zwis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
und Ungere<strong>ch</strong>tigkeit besteht vielmehr ein Verhältnis <strong>der</strong> exklusiven Alternativität. Eine<br />
Handlung ist entwe<strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>t, eine Zwis<strong>ch</strong>enstufe gibt es begriffli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t. Zwar können Situationen <strong>der</strong> Ungewißheit und Unents<strong>ch</strong>eidbarkeit<br />
ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen werden – sie treten sogar re<strong>ch</strong>t häufig auf. Wenn aber ein Urteil<br />
über die Frage <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t gefällt werden kann, so bedeutet dies, daß<br />
eine Pfli<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns ni<strong>ch</strong>t zu begründen ist. Im Ergebnis muß diese<br />
Handlungsweise dann als gere<strong>ch</strong>t und erlaubt angesehen werden, denn es gilt au<strong>ch</strong><br />
umgekehrt: Was ni<strong>ch</strong>t ungere<strong>ch</strong>t ist, ist gere<strong>ch</strong>t.<br />
Gelegentli<strong>ch</strong> wird <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t nur deontologis<strong>ch</strong> als Pfli<strong>ch</strong>tigkeit, son<strong>der</strong>n<br />
au<strong>ch</strong> axiologis<strong>ch</strong> als Werthaftigkeit (bzw. personenbezogen als Tugendhaftigkeit) konzipiert<br />
60 . Man könnte den Unters<strong>ch</strong>ied folgen<strong>der</strong>maßen ausdrücken 61 :<br />
57 Mit diesem Beispiel J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 237.<br />
58 Dazu unten S. 127 (Formen <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
59 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 284: »Geltungsansprü<strong>ch</strong>e sind binär kodiert und lassen<br />
ein Mehr o<strong>der</strong> Weniger ni<strong>ch</strong>t zu«.<br />
60 Deontologis<strong>ch</strong> sind Prädikate, die etwas als 'pfli<strong>ch</strong>tig' vors<strong>ch</strong>reiben (Präskription innerhalb einer<br />
Pfli<strong>ch</strong>tenlehre). Axiologis<strong>ch</strong> sind demgegenüber Prädikate, die etwas als 'gut' bewerten (Evaluation<br />
innerhalb einer Wertlehre). Zu einer Formalisierung dieses Unters<strong>ch</strong>ieds im <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
siehe N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 59.<br />
61 Vgl. oben S. 50 (handlungsbezogene Definition D 1 ); unten S. 75 (normbezogene Definition D 1N ).<br />
54
D 1D :<br />
D 1A :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im deontologis<strong>ch</strong>en Sinn ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e<br />
unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im axiologis<strong>ch</strong>en Sinn ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
und Werthaftigkeit eines Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e<br />
unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird na<strong>ch</strong> D 1D und D 1A unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> begründet. Wer beispielsweise<br />
begründen will, daß es gere<strong>ch</strong>t ist, allen Kin<strong>der</strong>n glei<strong>ch</strong> viel zu s<strong>ch</strong>enken, würde das<br />
deontologis<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> erklären, daß die Handlungsweise aus si<strong>ch</strong> selbst heraus ri<strong>ch</strong>tig<br />
und pfli<strong>ch</strong>tig ist. Axiologis<strong>ch</strong> wäre die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Handlungsweise damit<br />
zu erklären, daß das Ergebnis einer glei<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>enkverteilung 'gut' und die Handlung<br />
um dieses Zieles willen (teleologis<strong>ch</strong>) wertvoll ist. Grundsätzli<strong>ch</strong> impliziert eine<br />
<strong>der</strong>artige Werthaftigkeit no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, daß etwas au<strong>ch</strong> gesollt ist, denn es ist ein Unters<strong>ch</strong>ied,<br />
ob etwas als 'gut' bezei<strong>ch</strong>net wird, o<strong>der</strong> ob es außerdem als 'geboten', 'verboten'<br />
o<strong>der</strong> 'erlaubt' gilt – axiologis<strong>ch</strong>e Sätze bedingen deontologis<strong>ch</strong>e Aussagen<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t 62 . Beim <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff ist das an<strong>der</strong>s. Wer sagt, ein Handeln<br />
sei so wertvoll, daß ohne dieses Handeln keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mehr bestünde,<br />
<strong>der</strong> sagt damit implizit, daß das Handeln au<strong>ch</strong> gefor<strong>der</strong>t ist 63 . Der Sollensbezug ist<br />
ein begriffsnotwendiger Teil <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Ein axiologis<strong>ch</strong>es Verständnis <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bietet darum keine vollständige Bes<strong>ch</strong>reibung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs.<br />
D 1A wird deshalb im folgenden ni<strong>ch</strong>t verwendet.<br />
4. Der Sozialbezug<br />
Alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile weisen ferner einen Sozialbezug auf, da <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> nur<br />
Handeln betrifft, das si<strong>ch</strong> auf an<strong>der</strong>e Personen ri<strong>ch</strong>tet 64 . Was <strong>der</strong> Eremit in <strong>der</strong> Wüste<br />
o<strong>der</strong> ein S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>iger auf <strong>der</strong> Insel für si<strong>ch</strong> selbst als Handlungsnorm gelten<br />
lassen, ist zwar Teil ihrer jeweiligen Individualmoral, wirft aber keine Fragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
auf. Ni<strong>ch</strong>t jede moralis<strong>ch</strong>e Frage ist glei<strong>ch</strong>zeitig eine Frage <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
65 . So berührt beispielsweise ein Suizid in <strong>der</strong> Privatsphäre moralis<strong>ch</strong>e Fragen,<br />
62 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 221: »die in normativen Aussagen<br />
(Wert- und Verpfli<strong>ch</strong>tungsurteilen) vorkommenden normativen Ausdrücke wie ‚gut' o<strong>der</strong> ‚gesollt'«.<br />
Die Werthaftigkeit impliziert grundsätzli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t die Pfli<strong>ch</strong>tigkeit. Nur umgekehrt gilt die<br />
Regel: die Pfli<strong>ch</strong>tigkeit impliziert die Werthaftigkeit – deontologis<strong>ch</strong>e Sätze konstituieren axiologis<strong>ch</strong>e<br />
Aussagen; vgl. H. Kelsen, Reine Re<strong>ch</strong>tslehre (1960), S. 16 ff. (17): »Eine objektiv gültige<br />
Norm, die ein bestimmtes Verhalten als gesollt setzt, konstituiert einen positiven o<strong>der</strong> negativen<br />
Wert.« So erklärt si<strong>ch</strong> die Aussage, daß »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile letztli<strong>ch</strong> Werturteile seien«,<br />
M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1963), S. 30.<br />
63 So im Ergebnis au<strong>ch</strong> N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 61 ff.; bei <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als<br />
einem moralis<strong>ch</strong>en Wertprädikat gelte allerdings (ausnahmsweise) ein 'Brückenprinzip', na<strong>ch</strong><br />
dem alles, was als gere<strong>ch</strong>t bewertet werden kann au<strong>ch</strong> als pfli<strong>ch</strong>tig geboten ist.<br />
64 G. Del Vec<strong>ch</strong>io, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1950), S. 2, 45; H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960),<br />
S. 357; W. Brugger, Gesetz, Re<strong>ch</strong>t, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 5; M. Fisk, Justice and Universality<br />
(1995), S. 225 ff.<br />
65 J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 233.<br />
55
ni<strong>ch</strong>t aber sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 66 . Erst wenn das Handeln au<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e Personen<br />
betrifft, kann es sinnvoll als 'gere<strong>ch</strong>t' o<strong>der</strong> 'ungere<strong>ch</strong>t' bezei<strong>ch</strong>net werden 67 .<br />
Das in <strong>der</strong> Begriffsbestimmung in D 1 vorausgesetzte Handeln 'in bezug auf an<strong>der</strong>e'<br />
ist eine Kurzform für 'Handeln eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssubjekts mit Auswirkung auf<br />
mindestens ein an<strong>der</strong>es <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssubjekt'. Damit setzt si<strong>ch</strong> D 1 einer kritis<strong>ch</strong>en<br />
Frage aus, die au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> allgemeinen Moraldiskussion gestellt wird: Wer o<strong>der</strong> was<br />
ist taugli<strong>ch</strong>es Subjekt und Objekt eines als moralis<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>t zu beurteilenden<br />
Handelns? Genauer: Wer ist taugli<strong>ch</strong>er Adressat (Moralsubjekt, moral agent) und wer<br />
o<strong>der</strong> was ist taugli<strong>ch</strong>er Gegenstand (Objekt) moralis<strong>ch</strong>er Pfli<strong>ch</strong>ten bzw. wer o<strong>der</strong> was<br />
ist taugli<strong>ch</strong>er Inhaber moralis<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te? Die Diskussion in <strong>der</strong> Morallehre konzentriert<br />
si<strong>ch</strong> dabei auf die Frage, inwieweit künftige Generationen, Föten und ni<strong>ch</strong>tmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Entitäten (Tiere, belebte Natur, unbelebte Natur) Moralsubjekte und<br />
-objekte sein können. Diese Diskussion findet ihre Parallele in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskussion,<br />
da man zum Beispiel sinnvoll fragen kann, ob es au<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>tes Handeln<br />
gegenüber Tieren, Föten o<strong>der</strong> künftigen Generationen gibt. Die Begriffsbestimmung<br />
in D 1 bleibt gegenüber den vers<strong>ch</strong>iedenen Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten bewußt offen.<br />
Für die Zwecke dieser Arbeit wird später eine vorläufige, enge Konkretisierung<br />
vorzunehmen sein, die aber na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong>e Weiterungen ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>ließt 68 .<br />
5. Der Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
In D 1 bedeutet 'unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit', daß ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil<br />
die Frage eins<strong>ch</strong>ließt, ob die Behandlung des einen angemessen ist, wenn man sie mit<br />
<strong>der</strong> Behandlung des an<strong>der</strong>en verglei<strong>ch</strong>t 69 . Dieser Glei<strong>ch</strong>heitsbezug entspri<strong>ch</strong>t sowohl<br />
dem klassis<strong>ch</strong>-aristotelis<strong>ch</strong>en (a, b) als au<strong>ch</strong> dem normalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Begriffsverständnis<br />
(c), ist aber glei<strong>ch</strong>wohl ni<strong>ch</strong>t frei von Kritik (d).<br />
a) Zum aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
In <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Ethik, die für das Verständnis von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Glei<strong>ch</strong>heit<br />
bis heute paradigmatis<strong>ch</strong> ist 70 , findet si<strong>ch</strong> ein Glei<strong>ch</strong>heitsbezug in beiden Formen <strong>der</strong><br />
66 Ebenso H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 357; S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993),<br />
S. 202; zu an<strong>der</strong>en mögli<strong>ch</strong>en Abgrenzungen von Moral und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> vgl. oben Fn. 51.<br />
67 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 51. Ganz an<strong>der</strong>s stellt si<strong>ch</strong> ein re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Verbot des<br />
Suizids o<strong>der</strong> ein Gebot <strong>der</strong> Rettungshandlung dar. Allein dur<strong>ch</strong> die Regelung als Re<strong>ch</strong>tsnorm<br />
wird ein Sozialbezug begründet.<br />
68 Dazu unten S. 114 ff. (Erweiterbarkeitsthese); S. 359 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur).<br />
69 Zu dieser Deutung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Glei<strong>ch</strong>heit vgl. die grundre<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>e Arbeit von<br />
S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 29 ff. Umgekehrt wird gelegentli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong>smaßstab<br />
innerhalb des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes an den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>szielen orientiert: P. Kir<strong>ch</strong>hof, Der allgemeine<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatz (1992), § 124 Rn. 21. Nähme man beide Beziehungen zusammen, so müßte eine<br />
Identität resultieren; materielle Glei<strong>ch</strong>heit wäre glei<strong>ch</strong>bedeutend mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
70 C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1945), S. 22 f.; R. Dreier, Zu Luhmanns systemtheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Neuformulierung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblems (1974), S. 195; zur Bedeutung <strong>der</strong><br />
Glei<strong>ch</strong>heit au<strong>ch</strong> S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 36 ff.<br />
56
eson<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (iustitia particularis) 71 . In <strong>der</strong> ausglei<strong>ch</strong>enden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
die einerseits aus <strong>der</strong> Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit (iustitia commutativa) und an<strong>der</strong>erseits aus<br />
<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gutma<strong>ch</strong>ungs- und Strafgere<strong>ch</strong>tigkeit (iustitia restitutiva, iustitia vindicativa)<br />
besteht, muß jedem Besitzübergang und je<strong>der</strong> Verletzung eine glei<strong>ch</strong> gewi<strong>ch</strong>tige<br />
Gegenleistung o<strong>der</strong> Sanktion entspre<strong>ch</strong>en. In <strong>der</strong> verteilenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (iustitia<br />
distributiva) müssen Glei<strong>ch</strong>e proportional Glei<strong>ch</strong>es erhalten. Nun wäre es naheliegend,<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Anlehnung an das aristotelis<strong>ch</strong>e Verständnis als »Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
in bezug auf Verteilung und Ausglei<strong>ch</strong>« 72 zu definieren, um so die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Facetten des Glei<strong>ch</strong>heitsbezugs in D 1 weiter auszudifferenzieren. Dagegen spri<strong>ch</strong>t<br />
aber, daß es oft nur eine Frage <strong>der</strong> Perspektive ist, ob man eine soziale Situation unter<br />
Verteilungs- o<strong>der</strong> unter Ausglei<strong>ch</strong>saspekten analysiert 73 . D 1 bietet demgegenüber<br />
den Vorteil, daß offen bleiben kann, ob eine Verteilungs- o<strong>der</strong> Ausglei<strong>ch</strong>sproblematik<br />
vorliegt. Im übrigen ergibt si<strong>ch</strong> kein Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en den Definitionsansätzen,<br />
weil je<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsbezug entwe<strong>der</strong> unter Verteilungs- o<strong>der</strong> unter Ausglei<strong>ch</strong>s-,<br />
häufig sogar unter beiden Gesi<strong>ch</strong>tspunkten bes<strong>ch</strong>rieben werden kann. Es ist mit D 1<br />
folgli<strong>ch</strong> vereinbar, die im Begriff '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in Bezug genommenen Glei<strong>ch</strong>heitsprobleme<br />
als Summe aller Verteilungs- und Ausglei<strong>ch</strong>sprobleme zu verstehen; allerdings<br />
wäre es wohl ein Trugs<strong>ch</strong>luß, davon eine höhere Spezifität des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
zu erwarten.<br />
Aristoteles unters<strong>ch</strong>eidet neben diesen Formen <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine allgemeine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (iustitia universalis), verstanden als den Gesetzesgehorsam<br />
<strong>der</strong> Bürger 74 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in diesem Gehorsamssinne setzt begriffli<strong>ch</strong><br />
keine Glei<strong>ch</strong>heit voraus, denn je<strong>der</strong> kann ungea<strong>ch</strong>tet des Verhaltens an<strong>der</strong>er Gesetzesgehorsam<br />
üben o<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t. Diese weitere Konnotation des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
ist indes in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie und Re<strong>ch</strong>tstheorie ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong>ermaßen<br />
rezipiert worden. Dafür gibt es gute Gründe. Denn entwe<strong>der</strong> versteht man den<br />
Re<strong>ch</strong>tsgehorsam bezogen auf das positive Re<strong>ch</strong>t, dann bietet ein sol<strong>ch</strong>er Gere<strong>ch</strong>tig-<br />
71 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, S. V 5 (1130b 5 ff.). Zur Struktur <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe<br />
siehe P. Trude, Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts- und<br />
Staatsphilosophie (1955), S. 53 ff. (allgemeine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>), 98 ff. (beson<strong>der</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>);<br />
R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 102 ff.; C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva<br />
im deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t (1993), S. 9 ff.; U. Manthe, Die Mathematisierung dur<strong>ch</strong><br />
Pythagoras und Aristoteles (1996), S. 1 ff., 26 ff.; <strong>der</strong>s., Stois<strong>ch</strong>e Würdigkeit und die iuris praecepta<br />
Ulpians (1997), S. 8 ff. In <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>olastik deutete Thomas von Aquin die aristotelis<strong>ch</strong>e Klassifizierung<br />
weiter aus: iustitia distributiva ist die Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten gegenüber <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft festlegende<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, iustitia commutativa hingegen die Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong> einzelnen untereinan<strong>der</strong><br />
ausglei<strong>ch</strong>ende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; vgl. Thomas von Aquin, ST, II-II, 61, 1 (Antwort zu 3. & 5.) in<br />
<strong>der</strong> Übersetzung von Groner: »Das Verteilen <strong>der</strong> gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Güter steht allein dem Verantwortli<strong>ch</strong>en<br />
für die Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter zu. ... Verteilungs- und Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit unters<strong>ch</strong>eiden<br />
si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nur wie Eins und Viel, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> ihrem vers<strong>ch</strong>iedenen Ges<strong>ch</strong>uldetsein:<br />
etwas an<strong>der</strong>es ist es nämli<strong>ch</strong>, jemandem etwas vom Gemeingut, etwas an<strong>der</strong>es, ihm sein Eigengut<br />
zu s<strong>ch</strong>ulden.« Zu an<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sstudien in <strong>der</strong> abendländis<strong>ch</strong>en Philosophie siehe<br />
I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 36 ff. m.w.N.<br />
72 R. Alexy, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Ri<strong>ch</strong>tigkeit (1997), S. 105.<br />
73 So au<strong>ch</strong> R. Alexy, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Ri<strong>ch</strong>tigkeit (1997), S. 104 (Mutter-Kind-Beispiel).<br />
74 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, S. V 2 (1129b 11-14). Vgl. P. Trude, Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts- und Staatsphilosophie (1955), S. 54 – wörtli<strong>ch</strong>: Gesetzes- und<br />
Re<strong>ch</strong>tsgehorsam.<br />
57
keitsbegriff kein Kriterium für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit staatli<strong>ch</strong>er Gesetze 75 , o<strong>der</strong> man bezieht<br />
ihn auf das vorpositive, 'ri<strong>ch</strong>tige' Re<strong>ch</strong>t 76 , dann wird <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> allgemeinen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zirkulär, denn Maßstäbe für ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t können nur in den Formen<br />
<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gefunden werden. Wer heute von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im<br />
aristotelis<strong>ch</strong>en Sinne spri<strong>ch</strong>t, meint deshalb ni<strong>ch</strong>t Gesetzesgehorsam, son<strong>der</strong>n nur die<br />
beiden Formen <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und damit letztli<strong>ch</strong> immer eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
mit Glei<strong>ch</strong>heitsbezug.<br />
b) Zur Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Au<strong>ch</strong> die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit (distributive justice), beson<strong>der</strong>s<br />
in <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> sozialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 77 , trägt dazu bei, daß <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
zu den Kernelementen des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs gere<strong>ch</strong>net wird. Die Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
ist in <strong>der</strong> Rezeption des aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs so dominant,<br />
daß sie teils als die einzige, alles umfassende Form <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> angesehen<br />
wird 78 . Ein <strong>der</strong>art weiter Begriff <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit entsteht, wenn man<br />
mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die Verteilung ni<strong>ch</strong>t nur <strong>der</strong> materiellen Güter, son<strong>der</strong>n aller Vorund<br />
Na<strong>ch</strong>teile identifiziert – also beispielsweise au<strong>ch</strong> 'Güter' in Form von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten<br />
und 'Lasten' in Gestalt von Steuerzahlungs- und Militärdienstpfli<strong>ch</strong>ten. Gerade<br />
in den empiris<strong>ch</strong>en Studien <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssoziologie und Sozialpsy<strong>ch</strong>ologie wird<br />
Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit regelmäßig mit Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit (outcome justice) und<br />
substantieller <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (substantive justice) glei<strong>ch</strong>gesetzt. Au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie wurde die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem allgemeinsten Verteilungsprinzip dur<strong>ch</strong><br />
Rawls Differenzprinzip 79 neu angestoßen und illustriert das Gewi<strong>ch</strong>t, das die Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
hat. Je<strong>der</strong> Verteilung ist eine Glei<strong>ch</strong>heitsproblematik immanent –<br />
selbst für diejenigen, die den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff ohne das Element <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit<br />
75 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 103; W. Kersting, Re<strong>ch</strong>tsverbindli<strong>ch</strong>keit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
bei Thomas Hobbes (1998), S. 371.<br />
76 Zur Mögli<strong>ch</strong>keit einer an<strong>der</strong>en Bedeutung als <strong>der</strong> des staatli<strong>ch</strong>en Gesetzes vgl. P. Trude, Der Begriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts- und Staatsphilosophie (1955), S. 55: »Seine<br />
[des Wortes 'Gesetz'] begriffli<strong>ch</strong>e Bedeutung in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en [Philosophie] ist vielmehr eine<br />
weitere, einerseits nämli<strong>ch</strong> die alte im Sinne von Sitte und Gewohnheit und an<strong>der</strong>erseits die neue<br />
im Sinne eines mit Zwangsgewalt verbundenen Gesetzes«. Sowie ebd., S. 57: »Die allgemeine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ist demna<strong>ch</strong> ... diejenige Art <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wel<strong>ch</strong>e die Befolgung je<strong>der</strong> das Gemeins<strong>ch</strong>aftsleben<br />
regelnden Re<strong>ch</strong>tsnorm anordnet.«<br />
77 Soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bezei<strong>ch</strong>net die gere<strong>ch</strong>te Verteilung von Gütern in einem Gemeinwesen. Das<br />
Verteilungsergebnis kann dabei außer dur<strong>ch</strong> Verteilungshandlungen (Distribution) au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />
Ausglei<strong>ch</strong>shandlungen (Restitution) beeinflußt werden. Ähnli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> H.L.A. Hart, Concept of<br />
Law (1961), S. 162 f.<br />
78 So etwa bei R.M. Hare, Moralis<strong>ch</strong>es Denken (1981), S. 226; ebenfalls in diese Ri<strong>ch</strong>tung G. Del Vec<strong>ch</strong>io,<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1950), S. 59 (»erhabenste Einzelart«); R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 103 ff. (105): Die Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit betreffe die Gewährung von Vergünstigungen<br />
und die Auferlegung von Belastungen aller Art, d.h. die Verteilung von Re<strong>ch</strong>ten und Pfli<strong>ch</strong>ten,<br />
wobei es einen »engen Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Problemen <strong>der</strong> Taus<strong>ch</strong>- und sol<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit«<br />
gebe. Zum Begriff <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1963), S. 45 ff. (46); J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 259; S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und<br />
Ziele (1993), S. 203; R. Spaemann, Moralis<strong>ch</strong>e Grundbegriffe (1994), S. 50 ff.<br />
79 Dazu unten S. 203 (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
58
verstehen wollen, ist die Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit begriffsnotwendig mit dem Glei<strong>ch</strong>heitsprinzip<br />
verknüpft 80 . Dur<strong>ch</strong> diesen Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Verteilung und<br />
Glei<strong>ch</strong>heit trägt die zentrale Stellung <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit mit dazu bei, daß<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff ohne einen Aspekt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit kaum mehr geda<strong>ch</strong>t werden<br />
kann.<br />
c) Zum normalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
Als Prüfstein einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition empfiehlt si<strong>ch</strong> unter an<strong>der</strong>em <strong>der</strong> allgemeine<br />
Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> 81 . Au<strong>ch</strong> die normale Spra<strong>ch</strong>e (ordinary language) verbindet<br />
mit den Prädikaten 'gere<strong>ch</strong>t' und 'ungere<strong>ch</strong>t' stets einen Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit<br />
82 . Wer seine Angestellten glei<strong>ch</strong>mäßig s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t behandelt und bezahlt ist zwar<br />
ein 's<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter Chef'; zum 'ungere<strong>ch</strong>ten Chef' wird aber erst <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> sie außerdem<br />
(grundlos) unglei<strong>ch</strong> behandelt o<strong>der</strong> bezahlt (Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit). Man<br />
könnte allerdings die 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' in dem Mißverhältnis zwis<strong>ch</strong>en aufgewandter<br />
Mühe und erzieltem Lohn sehen. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dann s<strong>ch</strong>wingt ein Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
mit, nämli<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenige über das glei<strong>ch</strong>e Gewi<strong>ch</strong>t von Leistung und Gegenleistung<br />
(Ausglei<strong>ch</strong>sgere<strong>ch</strong>tigkeit) 83 .<br />
Was wir umgangsspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> als Glei<strong>ch</strong>heitsbezug for<strong>der</strong>n, ist bei alledem sehr<br />
anspru<strong>ch</strong>slos. In den meisten Fällen genügt es, wenn das auf an<strong>der</strong>e bezogene Handeln<br />
irgendwie in seiner Regelhaftigkeit beurteilt wird. Wenn beispielsweise von drei<br />
Freunden, die beim Umzug geholfen haben, nur zwei zum Dank zu einer Feier eingeladen<br />
werden, dann ist dies 'ungere<strong>ch</strong>t', weil die drei untereinan<strong>der</strong> grundlos unglei<strong>ch</strong><br />
behandelt werden. Do<strong>ch</strong> selbst dann, wenn überhaupt keine Feier stattfindet,<br />
alle drei also insoweit glei<strong>ch</strong>gestellt sind, könnte sinnvoll von 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' die<br />
Rede sein, dann nämli<strong>ch</strong>, wenn die Regelhaftigkeit, die den Glei<strong>ch</strong>heitsbezug begründet,<br />
in einem an<strong>der</strong>en Umstand liegt, z.B. dem, daß sonst konventionsgemäß<br />
80 Z.B. J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 242 und S. 258 f.: »Aristotle thought that all forms of<br />
Justice could be explicated in terms of Equality, but his account is confused and his analysis awkward.<br />
With social or 'distributive' justice, ... however, some consi<strong>der</strong>ations of Equality are involved.«<br />
81 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 97: »Leitfaden zur Ermittlung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs«;<br />
I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 66: »Eine Definition gilt als intersubjektiv<br />
vertretbar, wenn <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> sie konstituierte Begriff mit dem übli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> des<br />
bezügli<strong>ch</strong>en Wortes in Einklang steht, ...«; M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1963), S. 39: »Die<br />
erste Frage ist also: Wie wird <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> überhaupt verstanden?«; L. Wittgenstein,<br />
Philosophis<strong>ch</strong>e Untersu<strong>ch</strong>ungen I (1953), Nr. 116: »Wenn die Philosophen ein Wort gebrau<strong>ch</strong>en<br />
– 'Wissen', 'Sein', 'Gegenstand', 'I<strong>ch</strong>', 'Satz', 'Name' – und das Wesen des Dings zu erfassen<br />
tra<strong>ch</strong>ten, muß man si<strong>ch</strong> immer fragen: Wird denn dieses Wort in <strong>der</strong> Spra<strong>ch</strong>e, in <strong>der</strong> es seine<br />
Heimat hat, je tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> so gebrau<strong>ch</strong>t? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysis<strong>ch</strong>en wie<strong>der</strong><br />
auf ihre alltägli<strong>ch</strong>e Verwendung zurück.« (Hervorhebungen bei Wittgenstein).<br />
82 Vgl. H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 153 f.: »A man guilty of gross cruelty to his <strong>ch</strong>ild<br />
would often be judged to have done something morally wrong, bad, or even wicked or to have disregarded<br />
his moral obligation to his <strong>ch</strong>ild. But it would be strange to criticize his conduct as unjust.<br />
... 'Unjust' would become appropriate if the man had arbitrarily selected one of his <strong>ch</strong>ildren for<br />
severer punishment than those given the others guilty of the same fault« (Hervorhebung bei<br />
Hart).<br />
83 Vgl. dazu s<strong>ch</strong>on oben S. 56 (aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />
59
immer eine Dankesfeier veranstaltet wird. Die Ni<strong>ch</strong>tveranstaltung <strong>der</strong> Feier trifft<br />
dann alle drei als Ungere<strong>ch</strong>tigkeit, weil es eine Sozialregel gibt, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> ihnen eine<br />
Belohnung zusteht. Allgemein gilt dana<strong>ch</strong>: Wenn ein Verteilungs- o<strong>der</strong> Ausglei<strong>ch</strong>sprinzip<br />
hinzugezogen wird, dessen Anwendung eine Handlung for<strong>der</strong>t, dann begründet<br />
das Zuwi<strong>der</strong>handeln bezogen auf die glei<strong>ch</strong>mäßige Verwirkli<strong>ch</strong>ung des<br />
Prinzips eine Unglei<strong>ch</strong>behandlung und damit (umgangsspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>) eine Ungere<strong>ch</strong>tigkeit.<br />
d) Zur Kritik am Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
Trotz <strong>der</strong> breiten Akzeptanz eines auf Glei<strong>ch</strong>heit bezogenen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
ist die Einbeziehung des Glei<strong>ch</strong>heitskriteriums in die Begriffsbestimmung von D 1<br />
problematis<strong>ch</strong>. Die auf Aristoteles zurückgehende Identifikation von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
und Glei<strong>ch</strong>heit ist mit einiger Bere<strong>ch</strong>tigung als eine unbegründete Bes<strong>ch</strong>ränkung kritisiert<br />
worden 84 . Denn die Annahme eines begriffli<strong>ch</strong> notwendigen Glei<strong>ch</strong>heitsbezugs<br />
läuft Gefahr, wi<strong>ch</strong>tige Aspekte des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
auszublenden. Identifiziert man nämli<strong>ch</strong> die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t<br />
mit <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Kriterien für ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t 85 , so kann diese Su<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t bei<br />
glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen Kriterien verharren. Sonst müßte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> s<strong>ch</strong>on immer<br />
dann angenommen werden, wenn alle Betroffenen ausnahmslos glei<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t behandelt<br />
werden – eine (vorsi<strong>ch</strong>tig ausgedrückt) »mißli<strong>ch</strong>e Konsequenz« 86 .<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien müssen, da sie au<strong>ch</strong> eine glei<strong>ch</strong>mäßig s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Behandlung<br />
aller Betroffenen in bestimmten Fällen als 'ungere<strong>ch</strong>t' beurteilen, mit einem weiten<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff operieren. Dieser weite Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> läßt si<strong>ch</strong><br />
sowohl in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie als au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie neben an<strong>der</strong>en,<br />
engeren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen (Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit 87 , Fairneß 88 ) na<strong>ch</strong>weisen 89 .<br />
Er identifiziert <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit Ri<strong>ch</strong>tigkeit s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin, also ni<strong>ch</strong>t bloß mit glei<strong>ch</strong>-<br />
84 J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 242: »Justice itself is not Equality. Aristotle, at the cost of<br />
great artificiality, made out that it was, and has been too mu<strong>ch</strong> quoted and too little criticized.«<br />
Kritis<strong>ch</strong> zum Glei<strong>ch</strong>heitskriterium au<strong>ch</strong> I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 76 f.: »Es<br />
gibt indessen s<strong>ch</strong>werwiegende Bedenken gegen die Wahl von 'Glei<strong>ch</strong>heit' als Wesensmerkmal des<br />
Begriffes 'gere<strong>ch</strong>t'«; ähnli<strong>ch</strong>: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>tslogik und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1971), S. 58 ff.; S. Huster,<br />
Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 222.<br />
85 Dazu oben Fn. 28 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Re<strong>ch</strong>ts glei<strong>ch</strong>bedeutend mit 'ri<strong>ch</strong>tigem Re<strong>ch</strong>t').<br />
86 S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 222.<br />
87 Dazu unten S. 63 (engere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe).<br />
88 Dazu unten S. 121 (Begriff <strong>der</strong> Fairneß). Zur Di<strong>ch</strong>otomie einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß und einer<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in einem umfassen<strong>der</strong>en Sinne vgl. etwa: N. Res<strong>ch</strong>er, Distributive Justice (1966),<br />
S. 90: »There is justice in the narrower sense of fairness, on the one hand, and on the other, justice in a<br />
wi<strong>der</strong> sense, taking account of the general good.« (Hervorhebungen bei Res<strong>ch</strong>er).<br />
89 Für einen weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff etwa M. Rümelin, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1920), S. 50; W.K.<br />
Frankena, The Concept of Social Justice (1962), S. 3 ff. (10); A. Gewirth, Political Justice (1962),<br />
S. 125; B. Rüthers, Warum wir ni<strong>ch</strong>t genau wissen, was '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' ist (1987), S. 19 ff. (22 f.:<br />
Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit als eines unter mehreren Merkmalen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>); <strong>der</strong>s., Das Ungere<strong>ch</strong>te an<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 17 ff.; R. Zippelius, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1989), S. 75 ff., 106 ff.; W. Wels<strong>ch</strong>,<br />
Vernunft (1995), S. 698 ff., 707 f. Zum Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en engem und weitem Begriff außerdem<br />
W. Fikents<strong>ch</strong>er, Methoden des Re<strong>ch</strong>ts IV (1977), S. 188 ff. ('Sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit' neben 'Glei<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit');<br />
S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 195 ff.<br />
60
heitsbezogener Ri<strong>ch</strong>tigkeit, und nimmt insoweit eine Abwei<strong>ch</strong>ung vom glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen<br />
Begriff im klassis<strong>ch</strong>-aristotelis<strong>ch</strong>en Verständnis und im allgemeinen Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />
in Kauf. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im weiten Sinn ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines<br />
Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e.<br />
Zur Bestimmung eines weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs, wie ihn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
erfor<strong>der</strong>n, muß <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsbezug in <strong>der</strong> Definition indes ni<strong>ch</strong>t ganz aufgegeben<br />
werden. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition in D 1 kann in einer Weise verstanden werden,<br />
die den Glei<strong>ch</strong>heitsbezug aufre<strong>ch</strong>terhält und denno<strong>ch</strong> für die Analyse von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
taugli<strong>ch</strong> ist. Das hat den Vorteil, daß <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff,<br />
<strong>der</strong> für die Analyse von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bestimmt wird, ni<strong>ch</strong>t in Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong><br />
zur klassis<strong>ch</strong>en und umgangsspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Wortbedeutung gerät. Der interpretatoris<strong>ch</strong>e<br />
Weg hierzu wurde in dem obigen Beispiel eines Anspru<strong>ch</strong>s auf eine Dankesfeier<br />
bereits angedeutet. Läßt man nämli<strong>ch</strong> jede Regelhaftigkeit als Ausdruck von Glei<strong>ch</strong>heit<br />
genügen, so wird alles Handeln mit Sozialbezug, für das irgendwel<strong>ch</strong>e Normen<br />
gelten o<strong>der</strong> gelten sollten, dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil zugängli<strong>ch</strong> 90 . Um bei dem Beispiel<br />
zu bleiben: Die Helfer können das Ausbleiben einer Dankesfeier s<strong>ch</strong>on dann als<br />
ungere<strong>ch</strong>t bezei<strong>ch</strong>nen, wenn es eine soziale Norm gibt, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> sie stattfinden müßte.<br />
Entspre<strong>ch</strong>endes ergibt si<strong>ch</strong> für Normen des positiven Re<strong>ch</strong>ts: Wann immer Re<strong>ch</strong>te<br />
und Pfli<strong>ch</strong>ten festgelegt werden, besteht ein Glei<strong>ch</strong>heitsbezug bereits darin, daß<br />
diese Normen innerhalb eines gewissen Adressatenkreises für alle glei<strong>ch</strong> gelten. So<br />
gesehen hat das gesamte positive Re<strong>ch</strong>t einen Glei<strong>ch</strong>heitsbezug im Sinne von D 1 und<br />
damit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srelevanz. Selbst jenseits des positiven Re<strong>ch</strong>ts können Normen<br />
<strong>der</strong> Moral geltend gema<strong>ch</strong>t und dadur<strong>ch</strong> Glei<strong>ch</strong>behandlungen eingefor<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> Unglei<strong>ch</strong>behandlungen<br />
gerügt werden. So hat beispielsweise die Idee universeller<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te einen Glei<strong>ch</strong>heitsbezug im Sinne von D 1 und damit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srelevanz.<br />
Der Glei<strong>ch</strong>heitsbezug in D 1 bedeutet ni<strong>ch</strong>t, daß <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff von<br />
vornherein etwas mit materieller Glei<strong>ch</strong>heit zu tun hätte. So for<strong>der</strong>t <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on begriffli<strong>ch</strong> die glei<strong>ch</strong>mäßige Berücksi<strong>ch</strong>tigung aller Interessen 91 . Sol<strong>ch</strong>erlei<br />
materielle Kriterien bleiben einer Konkretisierung <strong>der</strong> 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' vorbehalten,<br />
sie gehören ni<strong>ch</strong>t bereits zum Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Es gibt au<strong>ch</strong> keinen Anlaß,<br />
materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff so zu formulieren, daß einzelne<br />
<strong>Theorien</strong> s<strong>ch</strong>on definitoris<strong>ch</strong> aus dem Kreis <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien verbannt<br />
werden 92 . Das hier vorges<strong>ch</strong>lagene Verständnis des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs benutzt<br />
eine inhaltsoffene, weite Interpretation des Glei<strong>ch</strong>heitsbezugs. Trotzdem besteht<br />
keine Gefahr, alle Moralfragen in sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> umzudeuten 93 , denn<br />
die wi<strong>ch</strong>tige Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en sozialbezogenen Handlungsnormen (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>)<br />
und Handlungsanweisungen insgesamt (Moral) bleibt in jedem Fall erhalten<br />
94 .<br />
90 Vgl. unten S. 71 ff. (Normbegriff und normbezogene <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition).<br />
91 So aber S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 204.<br />
92 So aber O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 74 ff. – Utilitarismus könne s<strong>ch</strong>on den Begriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t erfassen.<br />
93 Zu dieser Gefahr mit Re<strong>ch</strong>t kritis<strong>ch</strong> S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 204 f. mit Fn. 158.<br />
94 Dazu oben S. 55 (Sozialbezug).<br />
61
e) Ergebnisse<br />
Um eine einzelne Handlung sinnvoll als 'gere<strong>ch</strong>t' o<strong>der</strong> 'ungere<strong>ch</strong>t' bezei<strong>ch</strong>nen zu<br />
können, muß unter an<strong>der</strong>em au<strong>ch</strong> ein Glei<strong>ch</strong>heitsbezug bestehen. Dieser Glei<strong>ch</strong>heitsbezug<br />
kann dur<strong>ch</strong> einen unmittelbaren Verglei<strong>ch</strong> mit an<strong>der</strong>en Handlungen hergestellt<br />
werden ('A verdient X, weil B ebenfalls X erhalten hat!'). Er kann aber au<strong>ch</strong><br />
in einem Hinweis auf eine allgemeine Norm liegen ('A verdient X, weil je<strong>der</strong> einen<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf X hat!'). Bei <strong>der</strong> normbezogenen Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird<br />
si<strong>ch</strong> das Definitionselement 'unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit' deshalb als<br />
entbehrli<strong>ch</strong> erweisen 95 .<br />
III. Zu einigen an<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen<br />
Es gibt etli<strong>ch</strong>e Konkretisierungen des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs, die mit <strong>der</strong> hier zugrundegelegten<br />
Definition ni<strong>ch</strong>t übereinstimmen, die aber glei<strong>ch</strong>wohl ihre Bere<strong>ch</strong>tigung<br />
haben. Einige dieser Konkretisierungen sind so gebräu<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, daß man insoweit<br />
von eigenen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen spre<strong>ch</strong>en kann. Die folgende Abgrenzung<br />
von diesen Begriffen dient dazu, die Elemente <strong>der</strong> mit D 1 zugrundegelegte Definition<br />
s<strong>ch</strong>ärfer herauszuarbeiten.<br />
1. Der formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
Formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist allein die glei<strong>ch</strong>mäßige Befolgung von Prinzipien, <strong>der</strong> Gehorsam<br />
gegenüber einem System von Regeln, wie er si<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong> im Begriff des<br />
Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzips (rule of law) verkörpert findet 96 . Sie läßt si<strong>ch</strong> unabhängig davon<br />
beurteilen, wel<strong>ch</strong>e Inhalte als gere<strong>ch</strong>t gelten; es kommt allein auf Glei<strong>ch</strong>behandlung<br />
an. In <strong>der</strong> Inhaltsunabhängigkeit liegt au<strong>ch</strong> die Gemeinsamkeit, die formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
mit Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit hat. Unter Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit versteht man die<br />
Folgeri<strong>ch</strong>tigkeit einer Norm im Hinblick auf an<strong>der</strong>e Normen, letztli<strong>ch</strong> also die Konsistenz<br />
(innere Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit) eines Systems von Normen, betra<strong>ch</strong>tet unter dem<br />
Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> systematis<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>behandlung <strong>der</strong> Normadressaten 97 .<br />
Formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist nur insoweit ein Kerngehalt des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs,<br />
als die Regelhaftigkeit im Sinne einer Universalität, also als Geltung für alle, gemeint<br />
ist 98 . Eine Regelhaftigkeit im Sinne von Abstraktheit steht demgegenüber zu jedem<br />
95 Dazu unten S. 75 (D 1N ).<br />
96 Vgl. C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1945), S. 58: »Definition <strong>der</strong> formalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>:<br />
gere<strong>ch</strong>t sein heißt eine Regel zu bea<strong>ch</strong>ten, wel<strong>ch</strong>e die Verpfli<strong>ch</strong>tung formuliert, alle Wesen einer bestimmten<br />
Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln.« (Hervorhebung bei Perelman). Ihm insoweit<br />
folgend J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 10, S. 58; § 38, S. 235. Kritik zum Begriff <strong>der</strong> formalen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei J. S<strong>ch</strong>roth, Über formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1997), S. 497 ff.<br />
97 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsre<strong>ch</strong>tsdogmatik: U. Battis, Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit (1977), S. 13 ff.;<br />
P. Kir<strong>ch</strong>hof, Der allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz (1992), § 124 Rn. 231 ff.; S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele<br />
(1993), S. 386 ff.; an<strong>der</strong>s S. 394 ff.; W. Heun, Artikel 3 GG (1996), Rn. 34.<br />
98 Zu Regelhaftigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff bereits oben S. 60 ff. (Kritik am Glei<strong>ch</strong>heitsbezug).<br />
62
materialen Verständnis <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in einem Spannungsverhältnis 99 . Denn wer<br />
inhaltsbezogen differenzieren will, kann ni<strong>ch</strong>t mehr formal glei<strong>ch</strong> behandeln 100 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
bes<strong>ch</strong>ränken si<strong>ch</strong> deshalb ni<strong>ch</strong>t auf formale Glei<strong>ch</strong>behandlung,<br />
son<strong>der</strong>n setzen Maßstäbe für eine inhaltsbezogene Differenzierung. In dem hier<br />
verwendeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff (D 1 ) ers<strong>ch</strong>öpft si<strong>ch</strong> die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsweise<br />
folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> formalen Glei<strong>ch</strong>förmigkeit des Handelns. Sowohl<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> formalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
sind zu eng, um als Grundbegriff einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie dienli<strong>ch</strong> zu sein.<br />
2. Die engeren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe<br />
In D 1 ist ein weiter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff bestimmt 101 , bei dem alle Güter o<strong>der</strong> Werte<br />
(z.B. Glei<strong>ch</strong>heit, Zweckmäßigkeit, Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit) in einem einzigen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsurteil<br />
über sozialbezogenes Handeln berücksi<strong>ch</strong>tigt werden: »Ri<strong>ch</strong>tigkeit ... eines Handelns«<br />
102 bedeutet Ri<strong>ch</strong>tigkeit s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin. Von dem so definierten weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
sind mindestens drei engere Begriffsverständnisse zu unters<strong>ch</strong>eiden.<br />
Zunä<strong>ch</strong>st gibt es zwei Konzeptualisierungen <strong>der</strong> Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit (aequitas),<br />
nämli<strong>ch</strong> die Billigkeit sowie die (anglo-amerikanis<strong>ch</strong> geprägte) equity. Die Billigkeit<br />
ist eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sform, die <strong>der</strong> formalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wi<strong>der</strong>spri<strong>ch</strong>t, indem sie –<br />
si<strong>ch</strong> auf die ratio <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> berufend – eine Ausnahme von <strong>der</strong> Regel for<strong>der</strong>t,<br />
eingedenk <strong>der</strong> Warnung: summum ius, summa iniuria 103 . Die equity ist ebenfalls ein<br />
beson<strong>der</strong>er Fall <strong>der</strong> Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit, <strong>der</strong> aber, an<strong>der</strong>s als die Billigkeit, ni<strong>ch</strong>t<br />
99 Im Ergebnis ebenso: A. Zsidai, Systemwandel und Beseitigung von Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten (1995),<br />
S. 506: »Die formelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ... bedeutet gerade das Auss<strong>ch</strong>ließen je<strong>der</strong> materiellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>spostulate<br />
und Konzeptionen.« (Hervorhebung bei Zsidai).<br />
100 Dieser Zielkonflikt ist in <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsdogmatik als Gegensatz zwis<strong>ch</strong>en formalem und<br />
materialem Glei<strong>ch</strong>heitsverständnis bekannt. Vgl. etwa aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsre<strong>ch</strong>tsdogmatik<br />
zum Glei<strong>ch</strong>heitssatz des Art. 3 I GG: W. Heun, Artikel 3 GG (1996), Rn. 58 ff. m.w.N.<br />
101 Dazu oben Fn. 89 (Vertreter eines weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs).<br />
102 Vgl. oben S. 50 (D 1 ).<br />
103 Vgl. Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, I 1 (1137a 32 ff.), übers. v. O. Gigon: »Die S<strong>ch</strong>wierigkeit<br />
kommt daher, daß das Billige zwar ein Re<strong>ch</strong>t ist, aber ni<strong>ch</strong>t dem Gesetze na<strong>ch</strong>, son<strong>der</strong>n als eine<br />
Korrektur des gesetzli<strong>ch</strong> Gere<strong>ch</strong>ten. ... Dies ist also die Natur des Billigen, eine Korrektur des Gesetzes,<br />
soweit es auf Grund seiner Allgemeinheit mangelhaft ist.«; G. Radbru<strong>ch</strong>, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und<br />
Gnade (1949), S. 333 – Billigkeit als '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Einzelfalls'; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1973),<br />
S. 123 – zum heuristis<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ied: »Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sieht den Einzelfall unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt<br />
<strong>der</strong> allgemeinen Norm, die Billigkeit su<strong>ch</strong>t im Einzelfall sein eigenes Gesetz, das si<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aber glei<strong>ch</strong>falls zu einem allgemeinen Gesetz erheben lassen muß«; W. Leisner, Der<br />
Abwägungsstaat (1997), S. 230 ff. – »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> Normdur<strong>ch</strong>bre<strong>ch</strong>ung«. Außerdem<br />
C. Perelman, Fünf Vorlesungen über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1965), S. 108: »Steht ni<strong>ch</strong>t außerdem die Billigkeit<br />
bisweilen einer glei<strong>ch</strong>förmigen und sozusagen me<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>en Anwendung <strong>der</strong> selben Regel<br />
ohne Bea<strong>ch</strong>tung <strong>der</strong> Folgen entgegen?«; K. Engis<strong>ch</strong>, Auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1971), S. 180 ff. (181): »Dagegen betrifft augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> die Billigkeit die Beziehung <strong>der</strong> abstrakten<br />
Norm zum konkreten Einzelfall bei Anwendung jener auf diesen.« Ferner H. Henkel, Einführung<br />
in die Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1964), S. 327: »Billigkeit ist also ni<strong>ch</strong>ts von <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Wesensvers<strong>ch</strong>iedenes<br />
o<strong>der</strong> ihr gegenüber Gegensätzli<strong>ch</strong>es; sie ist vielmehr nur <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> einen<br />
<strong>der</strong> beiden im Wi<strong>der</strong>streit befindli<strong>ch</strong>en Tendenzen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>: Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit.«<br />
(Hervorhebung bei Henkel).<br />
63
ein Regel-Ausnahme-Verhältnis andeutet, son<strong>der</strong>n vielmehr ein Einzelergebnis <strong>der</strong><br />
Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit 104 . Den Formen <strong>der</strong> Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit soll hier ni<strong>ch</strong>t<br />
weiter na<strong>ch</strong>gegangen werden.<br />
Interessant als Gegensatz zum weiten Begriff in D 1 ers<strong>ch</strong>eint vor allem <strong>der</strong> enge<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff, <strong>der</strong> von Radbru<strong>ch</strong> systematis<strong>ch</strong> bestimmt wurde und seitdem<br />
in <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Literatur große Verbreitung findet. Er soll hier juristis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
genannt werden. Der juristis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff versteht <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als eine unter mehreren spezifis<strong>ch</strong>en Ideen des Re<strong>ch</strong>ts; er stellt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
die Zweckmäßigkeit und Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit als Antinomien innerhalb <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsidee<br />
gegenüber 105 . Die so bestimmte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Re<strong>ch</strong>tswert 'konkurriert' dann mit<br />
an<strong>der</strong>en Zielen, etwa <strong>der</strong> Effizienzsteigerung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Selbsterhaltung 106 .<br />
Außer bei Radbru<strong>ch</strong> finden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei an<strong>der</strong>en Autoren ähnli<strong>ch</strong> antinomis<strong>ch</strong> bestimmte<br />
Re<strong>ch</strong>tsbegriffe; so stellt etwa Lucas <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> außerdem Freiheit,<br />
Gemeinwohl und Moralität gegenüber 107 . Eine abs<strong>ch</strong>ließende Liste dürfte si<strong>ch</strong> kaum<br />
befriedigend erstellen lassen, zumal si<strong>ch</strong> die Güter gegenseitig bedingen 108 .<br />
104 Gemeint ist hier <strong>der</strong> weite equity-Begriff im Sinne proportionaler Glei<strong>ch</strong>heit (equitable distribution).<br />
Enger ist demgegenüber <strong>der</strong> sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Begriff <strong>der</strong> equity-Theory; dana<strong>ch</strong> ist equity »die<br />
Wahrnehmung, daß alle an <strong>der</strong> Beziehung beteiligten Personen einen im Verhältnis zu ihren Beiträgen<br />
relativ glei<strong>ch</strong>en Gewinn erhalten«; H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1996), S. 4. In Kontinentaleuropa wird als 'equity' o<strong>der</strong> 'équité' gelegentli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> das<br />
Regel-Ausnahme-Verhältnis bezei<strong>ch</strong>net, das hier 'Billigkeit' heißen soll; so etwa P. Ricœur, Soimême<br />
comme un autre (1990), S. 305.<br />
105 G. Radbru<strong>ch</strong>, Gesetzli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>t und übergesetzli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t (1946), S. 345: »Neben die Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit<br />
treten ... Zweckmäßigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>«; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>tsphilsophie (1973), S. 164 ff.<br />
(Antinomien <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsidee) sowie S. 142 f. (Zweck des Re<strong>ch</strong>ts). Genauso K. Engis<strong>ch</strong>, Auf <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1971), S. 186 ff.; F. Bydlinski, Juristis<strong>ch</strong>e Methodenlehre und Re<strong>ch</strong>tsbegriff<br />
(1982), S. 325 ff. Ähnli<strong>ch</strong> H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 162: »Not only is this [justice]<br />
distinct from other values whi<strong>ch</strong> laws may have or lack, but sometimes the demands of justice<br />
may conflict with other values.« Hart erwähnt das Interesse an Generalprävention, die öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Si<strong>ch</strong>erheit, den Wohlstand, die Funktionsfähigkeit des Geri<strong>ch</strong>tswesens, die Kosten <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdur<strong>ch</strong>setzung;<br />
I. Tammelo, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 81: »Neben <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gibt es<br />
au<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e Leitwerte des Re<strong>ch</strong>ts, vor allem die Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit, die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Zweckmäßigkeit,<br />
das im Re<strong>ch</strong>tswege erzielbare Gemeinwohl und au<strong>ch</strong> die Billigkeit.« Ausdrückli<strong>ch</strong>e Hervorhebungen<br />
<strong>der</strong> Differenz zwis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> etwa bei D.D. Raphael, Justice and<br />
Liberty (1980), S. 111: »If so, he [Rawls] is regarding his theory as one of rightness, not of justice or<br />
fairness as commonly un<strong>der</strong>stood.« Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Huster gibt es in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik 'spezifis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgebote', die mit Erwägungen kollektiven Wohls kollidieren können; S. Huster, Re<strong>ch</strong>te<br />
und Ziele (1993), S. 221. Vgl. au<strong>ch</strong> W. Hoffmann-Riem, Wahrheit, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Unabhängigkeit<br />
und Effizienz (1997), S. 1 f. Verwe<strong>ch</strong>slungsgefahr besteht zwis<strong>ch</strong>en den hier gemeinten (re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>en)<br />
Antinomien innerhalb <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsidee und den ebenfalls als 'Antinomien im Re<strong>ch</strong>t'<br />
diskutierten (re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>en) Wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>keiten innerhalb einzelner Re<strong>ch</strong>tsgebiete; vgl.<br />
die Beiträge in dem von C. Perelman herausgegebenen Sammelband 'Les Antinomies en Droit'<br />
(1965), insbeson<strong>der</strong>e die dortige Definition von P. Foriers, Les Antinomies en Droit (1965), S. 20:<br />
»realer o<strong>der</strong> s<strong>ch</strong>einbarer Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en zwei Re<strong>ch</strong>tsnormen«.<br />
106 Vgl. G. Radbru<strong>ch</strong>, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1973), S. 164 f.; J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 238:<br />
Ein reales Beispiel 'ungere<strong>ch</strong>ter' Maßnahmen, die im Interesse staatli<strong>ch</strong>er Selbsterhaltung dur<strong>ch</strong>geführt<br />
wurden, liege in <strong>der</strong> Internierung von Personen japanis<strong>ch</strong>er Abstammung in den Vereinigten<br />
Staaten während des zweiten Weltkriegs.<br />
107 Vgl. J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 233 ff. Beson<strong>der</strong>s eindringli<strong>ch</strong> seine Gegenüberstellung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Freiheit (S. 242): »Freedom is radically different from Justice, and we<br />
64
Die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en dem juristis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff, wie er von<br />
Radbru<strong>ch</strong> und an<strong>der</strong>en formuliert wurde, und dem in D 1 bestimmten weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
ist grundlegend für den Gebrau<strong>ch</strong> des Prädikats 'gere<strong>ch</strong>t'. Na<strong>ch</strong> dem<br />
juristis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff wird man Personen häufig absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> 'ungere<strong>ch</strong>t'<br />
behandeln, beispielsweise mit <strong>der</strong> Begründung: 'A müßte gere<strong>ch</strong>terweise X erhalten;<br />
für die Effizienz des Verteilungsverfahrens ist es aber unerläßli<strong>ch</strong> und deshalb ri<strong>ch</strong>tig,<br />
wenn er X ni<strong>ch</strong>t erhält.' Na<strong>ch</strong> dem weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff würde dieselbe<br />
Behandlung des A dagegen als 'gere<strong>ch</strong>t' ers<strong>ch</strong>einen: 'A müßte aus Gründen <strong>der</strong><br />
Glei<strong>ch</strong>behandlung X erhalten; das Effizienzgebot ma<strong>ch</strong>t es aber ri<strong>ch</strong>tig und damit gere<strong>ch</strong>t,<br />
wenn er X ni<strong>ch</strong>t erhält.' Dieser unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats<br />
betrifft ni<strong>ch</strong>t etwa nur exotis<strong>ch</strong>e Grenzfälle, son<strong>der</strong>n tritt in ganz gewöhnli<strong>ch</strong>en<br />
Regelungen einer Re<strong>ch</strong>tsordnung auf. Wenn beispielsweise S seinen Gläubiger<br />
G wegen einer Darlehenssumme mit ges<strong>ch</strong>ickter Hinhaltetaktik so lange vertröstet,<br />
bis <strong>der</strong> Rückzahlungsanspru<strong>ch</strong> verjährt ist, dann gilt das re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ergebnis als ungere<strong>ch</strong>t,<br />
aber denno<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tig, wenn man mit dem juristis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff operiert.<br />
Denn G stand die Rückzahlung des Darlehens zu (suum cuique) 109 . Er kann seinen<br />
individuellen Anspru<strong>ch</strong> nur deshalb ni<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>en, weil die dur<strong>ch</strong> das kollektive<br />
Bedürfnis na<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit und Re<strong>ch</strong>tsfrieden begründeten Verjährungsregeln<br />
eine geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dur<strong>ch</strong>setzung auss<strong>ch</strong>ließen. Na<strong>ch</strong> dem hier mit D 1 zugrundegelegten<br />
weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff ist das Ergebnis demgegenüber unter<br />
Bea<strong>ch</strong>tung aller Gesi<strong>ch</strong>tspunkte (eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> des Interesses an Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit)<br />
insgesamt ri<strong>ch</strong>tig und folgli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>t.<br />
Auf den ersten Blick mag es vorteilhaft ers<strong>ch</strong>einen, zwis<strong>ch</strong>en einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
im engeren Sinne und an<strong>der</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkten (Wohlstand, gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>em Gesamtnutzen,<br />
Funktionsfähigkeit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung) einen Zielkonflikt festzustellen<br />
110 . Der <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff würde dadur<strong>ch</strong> spezifis<strong>ch</strong>er, ließe si<strong>ch</strong> auf die Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
eines Verteilungs- o<strong>der</strong> Ausglei<strong>ch</strong>sergebnisses konzentrieren, und könnte in<br />
dieser Spezifität von einer Gesamtbeurteilung unter Abwägung mit an<strong>der</strong>en relevanten<br />
Faktoren unters<strong>ch</strong>ieden werden 111 . Do<strong>ch</strong> gibt es drei Gründe, aus denen <strong>der</strong> enge,<br />
juristis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als Ausgangspunkt für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sanalysen<br />
eignet. Erstens führt er zu <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>wierigkeit, Kriterien einer Ge-<br />
have to compromise Justice, however all-embracing we make it, if we are to have Freedom at all.<br />
In allowing men to exercise legal privileges, we allow them to act arbitrarily, selfishly, inconsi<strong>der</strong>ately,<br />
unreasonably and unfairly. ... Freedom is inherently unfair.«<br />
108 Das sieht au<strong>ch</strong> G. Radbru<strong>ch</strong>, Gesetzli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>t und übergesetzli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t (1946), S. 345: »Die<br />
Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit, die jedem positiven Gesetz s<strong>ch</strong>on wegen seiner Positivität eignet, nimmt eine<br />
merkwürdige Mittelstellung zwis<strong>ch</strong>en Zweckmäßigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ein: sie ist einerseits<br />
vom Gemeinwohl gefor<strong>der</strong>t, an<strong>der</strong>erseits aber au<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Daß das Re<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er<br />
sei, daß es ni<strong>ch</strong>t heute und hier so, morgen und dort an<strong>der</strong>s ausgelegt und angewandt werde, ist<br />
zuglei<strong>ch</strong> eine For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.«<br />
109 Dazu oben S. 45 (suum cuique-Formel).<br />
110 Vgl. den Katalog bei H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 162 ff.<br />
111 So z.B. S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 208.<br />
65
e<strong>ch</strong>tigkeit im engeren Sinn von an<strong>der</strong>en Kriterien, etwa <strong>der</strong> Nützli<strong>ch</strong>keit, abzugrenzen<br />
112 . Zweitens gibt er das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie es<br />
na<strong>ch</strong> normalem Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> gilt, ni<strong>ch</strong>t zutreffend wie<strong>der</strong>; denn dieser Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />
läßt es ni<strong>ch</strong>t zu, eine Handlung glei<strong>ch</strong>zeitig als ungere<strong>ch</strong>t und als ri<strong>ch</strong>tig zu<br />
bezei<strong>ch</strong>nen. Vor allem aber gilt drittens, daß si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> enge Begriff ni<strong>ch</strong>t für die Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
von <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eignet, weil diese die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> umfassend,<br />
also unter Berücksi<strong>ch</strong>tigung aller relevanten Faktoren begründen wollen. Die<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> können deshalb gerade ni<strong>ch</strong>t einen verengten, von an<strong>der</strong>en<br />
Faktoren isolierten Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zur Grundlage nehmen. Denn für<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ist ni<strong>ch</strong>ts gewonnen, wenn beispielsweise die Sippenhaft (d.h.<br />
die Geiselnahme von Angehörigen zur Strafverfolgung o<strong>der</strong> die Verhängung von<br />
Kollektivstrafen) si<strong>ch</strong> als ungere<strong>ch</strong>t für die Betroffenen aber glei<strong>ch</strong>wohl effektiv zur<br />
Dur<strong>ch</strong>setzung staatli<strong>ch</strong>er Strafsanktionen erweist 113 . Die eigentli<strong>ch</strong>e Frage, ob si<strong>ch</strong> in<br />
einer Gesamtbetra<strong>ch</strong>tung <strong>der</strong> Umstände das Mittel <strong>der</strong> Sippenhaft re<strong>ch</strong>tfertigen läßt,<br />
ist damit no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal gestellt. Ähnli<strong>ch</strong>es gilt für eine Vielzahl an<strong>der</strong>er Fälle:<br />
Der Gläubiger, dessen For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Verjährung unterfällt, das Verbre<strong>ch</strong>ensopfer,<br />
das wegen Verfolgungsverjährung auf die Genugtuung staatli<strong>ch</strong>er Vergeltung verzi<strong>ch</strong>ten<br />
muß, die Vertragspartei, die si<strong>ch</strong> wegen eines Formfehlers ni<strong>ch</strong>t auf eine Vereinbarung<br />
berufen kann – sie alle müßten na<strong>ch</strong> dem engen, juristis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
als Opfer staatli<strong>ch</strong>er Ungere<strong>ch</strong>tigkeit angesehen werden. In <strong>der</strong> Perspektive<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien wird demgegenüber untersu<strong>ch</strong>t, ob eine (re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e)<br />
Regelung insgesamt ungere<strong>ch</strong>t ist. Dazu aber ist, wie hier mit D 1 , ein weiter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
zugrundezulegen, in dem au<strong>ch</strong> die Kriterien <strong>der</strong> Zweckmäßigkeit und<br />
Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit aufgehen 114 .<br />
3. Der idealistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
Als 'idealistis<strong>ch</strong>e' o<strong>der</strong> 'tugendzentrierte' Begriffsbestimmungen kann man diejenigen<br />
Definitionen bezei<strong>ch</strong>nen, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter Bezugnahme auf die Natur des<br />
Mens<strong>ch</strong>en bestimmen 115 – in ihrem juristis<strong>ch</strong>en Eins<strong>ch</strong>lag meist als ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>tslehren<br />
116 . Sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> verstehen den Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in erster<br />
112 S. Huster, Re<strong>ch</strong>te und Ziele (1993), S. 209.<br />
113 Beispiel bei J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 240 f. Dort au<strong>ch</strong> die Aussage, daß exemplaris<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>arfe Strafen zur Generalprävention gere<strong>ch</strong>tfertigt sein können, wenn die staatli<strong>ch</strong>e Selbsterhaltung<br />
ohne sie in Frage gestellt wäre.<br />
114 Ähnli<strong>ch</strong> bereits M. Rümelin, Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1920), S. 50: »[E]in höherer .... <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff,<br />
<strong>der</strong> das Gere<strong>ch</strong>te faßt als das, was dem Wesen des Re<strong>ch</strong>ts gemäß ist o<strong>der</strong> was dem ri<strong>ch</strong>tigen<br />
Re<strong>ch</strong>t entspri<strong>ch</strong>t. Dabei muß ausgegangen werden von den Zwecken <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft selbst.<br />
Insofern vers<strong>ch</strong>windet <strong>der</strong> Gegensatz zwis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Zweckmäßigkeit.«. Auf den<br />
weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff läßt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>e Gedanke <strong>der</strong> Antinomien glei<strong>ch</strong>wohl übertragen:<br />
Innerhalb <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (im hier zugrundegelegten weiten Sinn) können Antinomien<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im engeren Sinn und <strong>der</strong> Zweckmäßigkeit bzw. Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit bestehen.<br />
115 Vgl. insbeson<strong>der</strong>e Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, I 1 (1094a 2-3), <strong>der</strong> das Gute als das definiert,<br />
na<strong>ch</strong> dem alles strebt. Zum deuts<strong>ch</strong>en Idealismus vgl. H. Welzel, Naturre<strong>ch</strong>t und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1962), S. 175: »Hegels Re<strong>ch</strong>tsphilosophie ist, wenn man es re<strong>ch</strong>t versteht, die vollkommenste<br />
Gestalt einer materialen Naturre<strong>ch</strong>tslehre.«<br />
116 Dazu unten S. 89 (ontologis<strong>ch</strong>es und rationalistis<strong>ch</strong>es Naturre<strong>ch</strong>t).<br />
66
Linie axiologis<strong>ch</strong>, begründen also <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> damit, daß etwas als 'gut' bewertet<br />
werden kann 117 . Daraus ergeben si<strong>ch</strong> drei Unters<strong>ch</strong>iede zu dem hier verwendeten<br />
deontologis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 118 .<br />
Ein erster Unters<strong>ch</strong>ied liegt darin, daß axiologis<strong>ch</strong>e Prädikate graduell verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
werden können, weil eine Sa<strong>ch</strong>e mehr o<strong>der</strong> weniger gut sein kann. Dagegen<br />
vergibt man deontologis<strong>ch</strong>e Prädikate absolut, d.h. entwe<strong>der</strong> ganz o<strong>der</strong> gar ni<strong>ch</strong>t 119 .<br />
In Tugendlehren und idealistis<strong>ch</strong>en Ethiken, denen eine Konzeption des Guten<br />
zugrunde liegt, ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eine Tugend des Mens<strong>ch</strong>en 120 , also eine Eigens<strong>ch</strong>aft,<br />
dur<strong>ch</strong> die <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> gut wird 121 . Ein einzelnes Handeln verdient das Prädikat<br />
'gere<strong>ch</strong>t' wenn es (teleologis<strong>ch</strong>) den Handelnden dem vorbestimmten Ziel <strong>der</strong><br />
Tugendhaftigkeit näher bringt. Der Mens<strong>ch</strong> selbst kann dabei mehr o<strong>der</strong> weniger gere<strong>ch</strong>t<br />
sein; eine einzelne Ungere<strong>ch</strong>tigkeit im Handeln ma<strong>ch</strong>t ihn ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin<br />
ungere<strong>ch</strong>t 122 . Neben die absolute Bedeutung ('s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin gere<strong>ch</strong>t') tritt also in <strong>der</strong><br />
Tugendlehre eine graduelle Bedeutung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats. Beim deontologis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff in D 1 ist dies ausges<strong>ch</strong>lossen. Die definitionsgemäß erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
'Pfli<strong>ch</strong>tigkeit' des Handelns impliziert bereits eine absolute Geltung, in<br />
<strong>der</strong> jede Graduierbarkeit ausges<strong>ch</strong>lossen ist: ein Handeln kann nur entwe<strong>der</strong> ganz<br />
o<strong>der</strong> gar ni<strong>ch</strong>t pfli<strong>ch</strong>tig sein.<br />
Ein zweiter Unters<strong>ch</strong>ied entsteht dur<strong>ch</strong> die Einbeziehung des Gesetzesgehorsams<br />
in das tugendzentrierte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnis. Die Tugendhaftigkeit des Mens<strong>ch</strong>en<br />
beweist si<strong>ch</strong> dabei in <strong>der</strong> Befolgung gesetzli<strong>ch</strong>er Gebote und Verbote 123 . Demgegenüber<br />
kann es gemäß D 1 für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gerade ni<strong>ch</strong>t darauf ankommen,<br />
ob ein Handeln Ausdruck von Gesetzesgehorsam ist o<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t. Die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des<br />
Handelns muß zunä<strong>ch</strong>st unabhängig von Re<strong>ch</strong>tsnormen bestimmt werden, soll sie<br />
si<strong>ch</strong> dazu eignen, Maßstäbe für das Re<strong>ch</strong>t zu liefern.<br />
Der dritte Unters<strong>ch</strong>ied liegt in <strong>der</strong> Subjektivierung <strong>der</strong> Kriterien für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
124 . Im tugendzentrierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnis kommt es grundsätzli<strong>ch</strong> auf<br />
den guten Willen an 125 . Dieser Zusammenhang findet si<strong>ch</strong> treffend in <strong>der</strong> Formulierung<br />
Ulpians, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> davon abhängt, daß ein Mens<strong>ch</strong> dauerhaft<br />
den Willen hat, jedem das Seine zu gewähren (iustitia est constans et perpetua voluntas<br />
ius suum cuique tribuere) 126 . Indem D 1 ledigli<strong>ch</strong> auf die Pfli<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns,<br />
117 Dazu oben S. 52 ff. (Sollensbezug und axiologis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff D 1A ).<br />
118 Dazu oben S. 50 (D 1 ).<br />
119 Vgl. oben S. 52 ff. bei Fn. 59 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist 'binär kodiert'). Das heißt ni<strong>ch</strong>t, daß bei deontologis<strong>ch</strong>en<br />
Prädikaten ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> Regelkollisionen dur<strong>ch</strong> Vorrangverhältnisse o<strong>der</strong> Prinzipienkollisionen<br />
dur<strong>ch</strong> Abwägungen gelöst werden müßten. Do<strong>ch</strong> bleibt im Ergebnis immer eine absolute<br />
Aussage über die Pfli<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns.<br />
120 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 1-15 (1129a 1 ff.). Vgl. unten S. 161 ff. (neoaristotelis<strong>ch</strong>er<br />
Kommunitarismus MacIntyres).<br />
121 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, II 5 (1106a 15-24).<br />
122 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 10 (1134a 17-23).<br />
123 Dazu oben S. 56 (aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff). Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 3<br />
(1129b 11-14).<br />
124 F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 109 f.<br />
125 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 1 (1129a 6-11).<br />
126 Vgl. oben S. 45 (suum cuique-Formel).<br />
67
ni<strong>ch</strong>t dagegen auf die Motive für das Handeln abstellt, enthält die Definition ein objektives<br />
Element, das sie von tugendzentrierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen unters<strong>ch</strong>eidet.<br />
Wi<strong>ch</strong>tig wird dies in allen Fällen konfligieren<strong>der</strong> Verhaltensanfor<strong>der</strong>ungen.<br />
Normalerweise besteht die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Einzelnen na<strong>ch</strong> idealistis<strong>ch</strong>em o<strong>der</strong> tugendhaftem<br />
Verständnis gerade in <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong> Regeln aller normativen Teilordnungen,<br />
also insbeson<strong>der</strong>e im Gesetzesgehorsam, <strong>der</strong> Religiosität, <strong>der</strong> Loyalität<br />
und in <strong>der</strong> übrigen Sittli<strong>ch</strong>keit. Subjektives Verständnis und objektive Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
entspre<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> dann. Die Entspre<strong>ch</strong>ung endet jedo<strong>ch</strong> dort, wo individuelle<br />
Tugendvorstellung und normative Ordnung konfligieren (z.B. weil jemand die Verfolgung<br />
eigener Interessen au<strong>ch</strong> dort no<strong>ch</strong> für gere<strong>ch</strong>t hält, wo sie gesetzli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on<br />
den Betrugstatbestand erfüllt) 127 , wo die individuelle Moral über die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
sozialer Ordnung hinausgeht (z.B. wenn S<strong>ch</strong>uld empfunden wird, obwohl ein Verhalten<br />
gesetzli<strong>ch</strong> und sittli<strong>ch</strong> objektiv gere<strong>ch</strong>tfertigt war), wo eine normative Ordnung<br />
wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es verlangt und dadur<strong>ch</strong> unerfüllbar wird o<strong>der</strong> – und dies ist<br />
<strong>der</strong> häufigste und s<strong>ch</strong>wierigste Fall – wo normative Ordnungen untereinan<strong>der</strong> konfligieren,<br />
etwa Religion o<strong>der</strong> Sitte mit dem Gesetz, so daß <strong>der</strong> Einzelne keine Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
hat, die Normen aller für ihn subjektiv verbindli<strong>ch</strong>en Ordnungen glei<strong>ch</strong>zeitig zu<br />
a<strong>ch</strong>ten. Ein subjektiver <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff führt in Konfliktfällen notwendig zur<br />
Unbestimmtheit. Demgegenüber bietet D 1 als objektive Definition die Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />
als gere<strong>ch</strong>t nur dasjenige Verhalten anzusehen, das si<strong>ch</strong> unter Berücksi<strong>ch</strong>tigung <strong>der</strong><br />
Verhaltenserwartungen aus allen normativen Teilordnungen insgesamt als ri<strong>ch</strong>tig<br />
erweist. Ein gesetzli<strong>ch</strong>es Gebot kann si<strong>ch</strong> in dieser Gesamtbetra<strong>ch</strong>tung beispielsweise<br />
als 'ungere<strong>ch</strong>t' erweisen, wenn es von den Normadressaten unangemessen intensive<br />
Zugeständnisse an ihre Religiosität o<strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit verlangt 128 .<br />
4. Die holistis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe<br />
Neben <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen, die enger als <strong>der</strong> in D 1 definierte sind, gibt es au<strong>ch</strong><br />
sol<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> wegen ihrer uferlosen Weite für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ni<strong>ch</strong>t eignen.<br />
Zu diesen gehören die Begriffe <strong>der</strong> Gottes- und <strong>der</strong> Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit, die auf je eigene<br />
Art von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> au<strong>ch</strong> jenseits des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handelns spre<strong>ch</strong>en und<br />
in diesem Sinne 'holistis<strong>ch</strong>' genannt werden können.<br />
Ein religiöses Verständnis <strong>der</strong> '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes' 129 kann selbst dort Kriterien<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erri<strong>ch</strong>ten, wo unmittelbare persönli<strong>ch</strong>e Verhaltensverantwortung<br />
von Mens<strong>ch</strong>en gänzli<strong>ch</strong> fehlt 130 . Der allmä<strong>ch</strong>tige und allwissende Gott mag dabei<br />
zwar als 'handlungsfähig' bezei<strong>ch</strong>net werden, do<strong>ch</strong> dann mit an<strong>der</strong>em Sinngehalt als<br />
127 Ein entspre<strong>ch</strong>endes Beispiel zum fehlenden Vorsatz bei deliktis<strong>ch</strong>em Verhalten findet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
bei Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 10 (1134a 17-23).<br />
128 Vgl. oben S. 63 ff. (weiter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff im Gegensatz zu engeren Begriffen).<br />
129 Unter '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes' versteht die Moraltheologie die 'Re<strong>ch</strong>tfertigung' des Mens<strong>ch</strong>en vor<br />
Gott; D. Mieth, Re<strong>ch</strong>tfertigung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 64 ff.<br />
130 Z.B. E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 54 ff. (54): »Entwe<strong>der</strong> hat das Wort <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> den Bezug<br />
auf göttli<strong>ch</strong>e Ursetzung, den Klang des Heiligen und unbedingt Gültigen – o<strong>der</strong> aber es ist<br />
ein leerer S<strong>ch</strong>all.«; D. Mieth, Re<strong>ch</strong>tfertigung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 64: »Gott allein stiftet <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
indem er den Mens<strong>ch</strong>en vor seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> re<strong>ch</strong>tfertigt.« und S. 66: »[A]llein<br />
Gott ma<strong>ch</strong>t den Mens<strong>ch</strong>en gere<strong>ch</strong>t ... <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> lebt gere<strong>ch</strong>t aus <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes.«<br />
68
eim mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handeln, das in D 1 gemeint ist. Ähnli<strong>ch</strong>es gilt für diejenige religiöse<br />
Begriffsbildung, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Gottesgehorsam sieht, etwa beim biblis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff des alten und neuen Testaments 131 . Insoweit besteht eine<br />
Paralle zum Gesetzesgehorsam <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en 'allgemeinen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (iustitia<br />
universalis) 132 : Gehorsamsbegriffe taugen ni<strong>ch</strong>t für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, weil es<br />
zu <strong>der</strong>en Eigenarten gehört, Normenordnungen kritis<strong>ch</strong> zu hinterfragen statt ein Gehorsamsgebot<br />
vorauszusetzen. Ni<strong>ch</strong>t unter D 1 fällt außerdem das ni<strong>ch</strong>t-religiöse Verständnis<br />
einer 'Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit', wie es si<strong>ch</strong> etwa im Alltagsspra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> ausdrückt,<br />
wenn wir S<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>läge (z.B. den frühen Tod eines geliebten Mens<strong>ch</strong>en,<br />
die Naturkatastrophe) als 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' beklagen 133 . Derlei 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' ist<br />
vom hier zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff vers<strong>ch</strong>ieden, weil sie si<strong>ch</strong> dem<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handeln entzieht.<br />
Der Grund dafür, daß sowohl Gottes- als au<strong>ch</strong> Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit in gegenwärtigen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien keine Rolle spielen, liegt in <strong>der</strong>en Bestreben na<strong>ch</strong> Metaphysikfreiheit<br />
134 . We<strong>der</strong> religiöser Glaube no<strong>ch</strong> weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>es Bekenntnis sind<br />
in demjenigen Sinne begründbar, den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien als Projekt <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie als 'Begründung' anerkennen 135 . Die <strong>Theorien</strong> erstreben eine<br />
glaubensunabhängige Begründung, was auf die Struktur des von ihnen verwendeten<br />
und in D 1 zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats zurückwirkt: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und<br />
Handeln sind nur mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Handeln.<br />
5. Ungere<strong>ch</strong>tigkeit als Grundbegriff?<br />
Als Kritik an gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ist geltend gema<strong>ch</strong>t worden, daß<br />
sie den Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu Unre<strong>ch</strong>t in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Fragestellung<br />
rücken 136 . Eine in je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tige Sozialordnung könne dur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzepte<br />
allein ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>t werden. Statt dessen soll es zweckmäßiger sein, Sozialtheorien<br />
auf die Analyse von Ungere<strong>ch</strong>tigkeit zu stützen 137 . Die fortwährende Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> habe zwar immer neue Ansätze einer Legitimation von<br />
Herrs<strong>ch</strong>aft hervorgebra<strong>ch</strong>t, zur Beseitigung <strong>der</strong> offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten in<br />
<strong>der</strong> Welt aber ni<strong>ch</strong>ts beigetragen 138 , obwohl die Beseitigung des Übels ein viel dringen<strong>der</strong>es<br />
moralis<strong>ch</strong>e Gebot sei als die S<strong>ch</strong>affung des Guten. Außerdem seien konkre-<br />
131 Vgl. 5 Mose 6.25, 9.6; Römer 2.13; Psalter 1.5; Matthäus 5.10.<br />
132 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, S. V 1 (1129a 1 ff.). Dazu oben S. 56 (aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />
133 Bei Naturereignissen, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als beson<strong>der</strong>er S<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>lag für einzelne auswirken, etwa<br />
bei einem einfa<strong>ch</strong>en Gewitter, kann man no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal im holistis<strong>ch</strong>en Sinne von '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
o<strong>der</strong> 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' spre<strong>ch</strong>en; O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 51.<br />
134 Zum hier zugrundegelegten Metaphysikbegriff siehe oben S. 42, Fn. 84.<br />
135 Vgl. oben S. 27 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft).<br />
136 T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 16 ff.; B. Rüthers, Das Ungere<strong>ch</strong>te an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 20 ff., 133 ff.<br />
137 Vgl. T.R. Kearns/A. Sarat, Legal Justice and Injustice (1996), S. 2: »For every step taken toward realizing<br />
the good, an equal, if not greater, number of steps have been taken in the name of evil.«<br />
Grundlegend dazu J.N. Shklar, Über Ungere<strong>ch</strong>tigkeit (1990).<br />
138 Vgl. die Kritik bei T.R. Kearns/A. Sarat, Legal Justice and Injustice (1996), S. 1 f.<br />
69
te Regeln <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> regelmäßig negativ formuliert, also als Regeln über Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
139 . Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie sei s<strong>ch</strong>on aus Gründen <strong>der</strong> Bestimmtheit<br />
besser beraten, na<strong>ch</strong> Verfahren zur Vermeidung von Ungere<strong>ch</strong>tigkeit zu su<strong>ch</strong>en, statt<br />
si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> unbestimmten Vielfalt gere<strong>ch</strong>ter Lösungen auszuliefern 140 . Sowohl psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong><br />
als au<strong>ch</strong> moralis<strong>ch</strong> verdienten Fragen <strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit Priorität gegenüber<br />
Fragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 141 . Folgli<strong>ch</strong> sei ein Blickwe<strong>ch</strong>sel von <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
hin zur Ungere<strong>ch</strong>tigkeit geboten.<br />
Diese Kritik ist nur dann überhaupt verständli<strong>ch</strong>, wenn unter Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
etwas an<strong>der</strong>es als Ni<strong>ch</strong>tgere<strong>ch</strong>tigkeit verstanden wird 142 . Denn an<strong>der</strong>nfalls wäre in<br />
<strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> immer au<strong>ch</strong> eine spiegelbildli<strong>ch</strong>e Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit enthalten. Dementspre<strong>ch</strong>end wird von den Proponenten <strong>der</strong><br />
Kritik unter Ungere<strong>ch</strong>tigkeit eine Art gesteigerter Ni<strong>ch</strong>tgere<strong>ch</strong>tigkeit verstanden. Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeitsfors<strong>ch</strong>ung soll ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong> das sein, was einer Legitimation<br />
als 'gere<strong>ch</strong>t' entzogen ist, son<strong>der</strong>n vielmehr das, was als Diskriminierung für<br />
einzelne Gruppen von Bena<strong>ch</strong>teiligten beson<strong>der</strong>s s<strong>ch</strong>wer wiegt.<br />
An <strong>der</strong> Kritik ist ri<strong>ch</strong>tig, daß man si<strong>ch</strong> (negativ) über das Bestehen von Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
häufig lei<strong>ch</strong>ter einigen kann als (positiv) über das von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 143 . So<br />
lassen denn au<strong>ch</strong> gegenwärtige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien konkrete Aussagen über gebotene<br />
Än<strong>der</strong>ungen in Staat und Gesells<strong>ch</strong>aft regelmäßig vermissen. Es mag au<strong>ch</strong><br />
ri<strong>ch</strong>tig sein, daß unter <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit an<strong>der</strong>e Fragen gestellt<br />
werden als in <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 144 . Fals<strong>ch</strong> ist hingegen, daß konkrete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln<br />
si<strong>ch</strong> nur negativ formulieren ließen 145 . Au<strong>ch</strong> kann ni<strong>ch</strong>t gefolgert<br />
werden, eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie müsse si<strong>ch</strong> allein einzelnen Diskriminierungsfragen<br />
widmen, um soziale Relevanz zu entfalten. Es ist wi<strong>ch</strong>tig, den Regelfall <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tigen<br />
Erzeugung von gere<strong>ch</strong>ten Ergebnissen zu analysieren. Gerade darin liegt ein<br />
bere<strong>ch</strong>tigtes Anliegen <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspraxis an die Re<strong>ch</strong>tstheorie. Die Ungere<strong>ch</strong>tigkeitsfors<strong>ch</strong>ung<br />
ist ein wesentli<strong>ch</strong>er Teil <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tskritik – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien kann sie<br />
indes ni<strong>ch</strong>t ersetzen. Entspre<strong>ch</strong>end ist au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> eng verstandene Begriff <strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
ni<strong>ch</strong>t taugli<strong>ch</strong> als Grundbegriff <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong>. Vielmehr muß – wie übli<strong>ch</strong><br />
– unter Ungere<strong>ch</strong>tigkeit allein Ni<strong>ch</strong>tgere<strong>ch</strong>tigkeit verstanden werden. Grundbegriff<br />
einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie bleibt damit <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
139 F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 36; vgl. J.R. Lucas, On Justice (1980), S. 4<br />
ff. (4): »And therefore we should ... adopt a negative approa<strong>ch</strong>, discovering what justice is by consi<strong>der</strong>ing<br />
on what occasions we protest at injustice or unfairness.«<br />
140 J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 130, 234 – allerdings mit <strong>der</strong> Eins<strong>ch</strong>ränkung (S. 234), daß<br />
ein positives Begriffsverständnis als regulative Idee (»a goal of aspiration and a criterion of appraisal«)<br />
sowohl für Einzelents<strong>ch</strong>eidungen als au<strong>ch</strong> allgemeine Gesetze wirksam bleibt.<br />
141 T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 16 ff.<br />
142 T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 11 ff. – 'Separability Thesis'.<br />
143 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 43; T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995),<br />
S. 14.<br />
144 T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 24.<br />
145 Vgl. O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 43 f. (Beispiele zur positiven Formulierung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln); außerdem unten S. 203 (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei Rawls).<br />
70
IV. Die Normen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Mit D 1 ist erklärt, wie das einzelne Handeln zum Gegenstand eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils<br />
wird. Daran ließ si<strong>ch</strong> zeigen, wel<strong>ch</strong>e notwendigen Bezüge ein sol<strong>ch</strong>es <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil<br />
aufweist und wie si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> in D 1 formulierte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff von<br />
an<strong>der</strong>en Begriffen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unters<strong>ch</strong>eidet. In <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien geht es<br />
aber häufig ni<strong>ch</strong>t um die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eines einzelnen Handelns, son<strong>der</strong>n um die<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Handlungsweisen. Die <strong>Theorien</strong> zeigen, wie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
begründet und erzeugt werden können (4). Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (2, 3)<br />
kann mit dem Begriff <strong>der</strong> Norm (1) bestimmt werden.<br />
1. Der Begriff <strong>der</strong> Norm (D N )<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Norm ist – vor allem unter Juristen und Re<strong>ch</strong>tsphilosophen – umstritten<br />
146 . Statt auf die Einzelheiten dieses Streits einzugehen, kann hier im Spektrum<br />
<strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong>en Begriffsbestimmungen nur ein weiter, ni<strong>ch</strong>tempiris<strong>ch</strong>er, ni<strong>ch</strong>tlegalistis<strong>ch</strong>er,<br />
ni<strong>ch</strong>taxiologis<strong>ch</strong>er 147 und ni<strong>ch</strong>tteleologis<strong>ch</strong>er 148 Normbegriff erläutert werden,<br />
<strong>der</strong> im Hinblick auf den Untersu<strong>ch</strong>ungsgegenstand vorzugswürdig ers<strong>ch</strong>eint. Dana<strong>ch</strong><br />
gilt:<br />
D N :<br />
Eine Norm ist die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en Operators<br />
(Gebot, Verbot, Erlaubnis) mit einer Handlungsweise.<br />
Eine Norm ist na<strong>ch</strong> D N we<strong>der</strong> die Handlungweise selbst, no<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Satz o<strong>der</strong> das Zei<strong>ch</strong>en,<br />
mit dem sie gefor<strong>der</strong>t, untersagt o<strong>der</strong> erlaubt wird 149 , son<strong>der</strong>n vielmehr die Bedeutung<br />
150 , <strong>der</strong> Sinn 151 des Gebots, des Verbots o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erlaubnis 152 . Eine auf rot<br />
springende Ampel kann sol<strong>ch</strong>e (Verbots-)Bedeutung ebenso haben wie <strong>der</strong> biblis<strong>ch</strong>e<br />
146 Vgl. zum Streit R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 40 ff.; T. Zoglauer, Normenkonflikte<br />
(1998), S. 23 ff., beide m.w.N.; zum konditionalen Normmodell neuerdings N. Jansen, Struktur <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 63 ff. m.w.N.<br />
147 Handlungsbezogene Aussagen können axiologis<strong>ch</strong> ('x ist gut') o<strong>der</strong> deontologis<strong>ch</strong> ('x soll A') sein.<br />
Dazu unten S. 52 ff. (Sollensbezug und axiologis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />
148 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 310 f.: »Prinzipien o<strong>der</strong> höherstufige Normen ...<br />
haben einen deontologis<strong>ch</strong>en, Werte hingegen einen teleologis<strong>ch</strong>en Sinn.« Dazu R. Alexy, Jürgen<br />
Habermas' Theorie des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 167: »Dieser Unters<strong>ch</strong>eidung, die <strong>der</strong> klassis<strong>ch</strong>en<br />
Di<strong>ch</strong>otomie zwis<strong>ch</strong>en dem Gesollten und dem Guten entspri<strong>ch</strong>t, ist zuzustimmen.«<br />
149 Vgl. F. Müller, Juristis<strong>ch</strong>e Methodik (1995), S. 122 ff.; T. Zoglauer, Normenkonflikte (1998), S. 38 ff.<br />
150 Vgl. die Definition (bezogen auf entspre<strong>ch</strong>ende Begriffsbestimmungen bei Weinberger und Ross)<br />
bei R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 43: »Eine Norm ist damit die Bedeutung eines<br />
Normsatzes.«<br />
151 Vgl. H. Kelsen, Reine Re<strong>ch</strong>tslehre (1960), S. 5: »'Norm' ist <strong>der</strong> Sinn eines Aktes, mit dem ein Verhalten<br />
geboten o<strong>der</strong> erlaubt, insbeson<strong>der</strong>e ermä<strong>ch</strong>tigt wird.« Zuvor, ebd., S. 4: »Mit 'Norm' bezei<strong>ch</strong>net<br />
man: daß etwas sein o<strong>der</strong> ges<strong>ch</strong>ehen, insbeson<strong>der</strong>e daß si<strong>ch</strong> ein Mens<strong>ch</strong> in bestimmter Weise<br />
verhalten soll.« (Hervorhebung bei Kelsen).<br />
152 Zum Bezug zu den deontis<strong>ch</strong>en Grundmodalitäten des Gebots, des Verbot und <strong>der</strong> Erlaubnis siehe<br />
R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 43 ff.<br />
71
(Gebots-)Satz 'Du sollst deinen Nä<strong>ch</strong>sten lieben wie di<strong>ch</strong> selbst!' 153 o<strong>der</strong> die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Anordnung 'Der S<strong>ch</strong>uldner ist verpfli<strong>ch</strong>tet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu<br />
und Glauben mit Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Verkehrssitte es erfor<strong>der</strong>n.' (§ 242 BGB). Für den<br />
Normbegriff in D N kommt es ni<strong>ch</strong>t darauf an, ob si<strong>ch</strong> das Gesolltsein einer Handlung<br />
als soziale Regel etablieren konnte 154 , o<strong>der</strong> ob es eine Verhaltenserwartung begründet<br />
155 .<br />
Außerdem ist zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Norm selbst und ihrer Geltung zu unters<strong>ch</strong>eiden 156 :<br />
Zum Begriff <strong>der</strong> Norm gehört zunä<strong>ch</strong>st nur die (semantis<strong>ch</strong>e) Bedeutung, die in<br />
Normsätzen o<strong>der</strong> Normzei<strong>ch</strong>en verkörpert ist. Wer weiter behauptet, daß einer<br />
Norm (re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e, religiöse, soziale) Geltung zukomme, o<strong>der</strong> wer eine Norm selbst in<br />
Geltung setzt (z.B. <strong>der</strong> parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgeber, <strong>der</strong> gebotsverkündende Vorsteher<br />
einer religiösen Sekte, <strong>der</strong> einladende Gastgeber) verläßt die Ebene bloßer Semantik<br />
und begibt si<strong>ch</strong> auf die Ebene <strong>der</strong> Pragmatik. Auf diesen pragmatis<strong>ch</strong>en Gehalt<br />
<strong>der</strong> Normverwendung wird bei <strong>der</strong> Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
zurückzukommen sein 157 .<br />
2. Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (D NG )<br />
Werden Normen im Sinne von D N mit dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat zu einem normbezogenen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil verbunden ('Das Tötungsverbot ist gere<strong>ch</strong>t.'), so<br />
könnte man insoweit von einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm im Sinne einer 'gere<strong>ch</strong>ten Norm'<br />
spre<strong>ch</strong>en, weil jede Einzelhandlung, die <strong>der</strong> Norm entspri<strong>ch</strong>t, gere<strong>ch</strong>t sein müßte 158 .<br />
Aber ni<strong>ch</strong>t diese explizite Verbindung einer Norm mit dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat ist<br />
übli<strong>ch</strong>erweise gemeint, wenn von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen die Rede ist. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
sind vielmehr alle Normen, die den Anwendungsberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> teilen<br />
159 . S<strong>ch</strong>on das Tötungsverbot selbst ('Du sollst ni<strong>ch</strong>t töten!') ist implizit eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm,<br />
weil die Handlungsweise 'Tötung eines an<strong>der</strong>en Mens<strong>ch</strong>en' einen<br />
153 Alt- wie neutestamentaris<strong>ch</strong>: 3. Mose 19, 18 = Matthäus 22, 39.<br />
154 Zur Bezugsetzung zwis<strong>ch</strong>en Normbegriff (hier: Re<strong>ch</strong>tsregel) und sozialer Regel vgl. H.L.A. Hart,<br />
Concept of Law (1961), S. 54 ff. (more complex practice), sowie S. 84: »Rules are conceived and spoken<br />
of as imposing obligations when the general demand for conformity is insistent and the social<br />
pressure brought to bear upon those who deviate or threaten to deviate is great.«<br />
155 So N. Luhmann, Re<strong>ch</strong>tssoziologie (1987), S. 43: »Normen sind demna<strong>ch</strong> kontrafaktis<strong>ch</strong> stabilisierte<br />
Verhaltenserwartungen.« (Hervorhebung bei Luhmann).<br />
156 Ausführli<strong>ch</strong>er dazu R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 47 ff. m.w.N. Wenn in diesem<br />
Zusammenhang von 'Geltung' einer Norm gespro<strong>ch</strong>en wird, dann ist das ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>e<br />
Geltungsbegriff im Gegensatz zu einer moralis<strong>ch</strong>en Gültigkeit, son<strong>der</strong>n ein umfassen<strong>der</strong> Begriff<br />
für jede erdenkli<strong>ch</strong>e (re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e, religiöse, soziale, moralis<strong>ch</strong>e) Verbindli<strong>ch</strong>keit.<br />
157 Dazu unten S. 74 (Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
158 Vgl. H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 358: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ... als Eigens<strong>ch</strong>aft au<strong>ch</strong><br />
von Normen«. Die umstrittene Frage, ob si<strong>ch</strong> deontis<strong>ch</strong>e Operatoren (geboten, verboten, erlaubt)<br />
nur auf Handlungen o<strong>der</strong> (bei Normen höherer Ordnung) au<strong>ch</strong> auf handlungsleitende Normen<br />
selbst beziehen können, kann dabei offen bleiben, denn hier wird das <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat, ni<strong>ch</strong>t<br />
ein deontis<strong>ch</strong>er Operator, auf die Norm angewendet.<br />
159 Vgl. H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 357: »Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eines Mens<strong>ch</strong>en ist<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> seines sozialen Verhaltens; und die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> seines sozialen Verhaltens besteht<br />
darin, daß es einer den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>swert konstituierenden und in diesem Sinne gere<strong>ch</strong>ten<br />
Norm entspri<strong>ch</strong>t. Diese Norm kann man als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm bezei<strong>ch</strong>nen.«<br />
72
Sozialbezug aufweist. Bis auf den Sozialbezug verbinden si<strong>ch</strong> die Definitionselemente<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bereits mit dem Begriff <strong>der</strong> Norm und mit <strong>der</strong>en pragmatis<strong>ch</strong>em<br />
Gehalt 160 : <strong>der</strong> Handlungs- und Sollensbezug ergibt si<strong>ch</strong> aus dem deontologis<strong>ch</strong>en<br />
Charakter <strong>der</strong> Norm, <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug aus ihrem Geltungsanspru<strong>ch</strong>. Der<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsbezug liegt in <strong>der</strong> Regelhaftigkeit <strong>der</strong> deontologis<strong>ch</strong>en Aussage 161 , denn<br />
Normen betreffen na<strong>ch</strong> D N stets Handlungsweisen ('Du sollst ni<strong>ch</strong>t töten!'), ni<strong>ch</strong>t nur<br />
eine einzelne Handlung ('A soll B ni<strong>ch</strong>t erste<strong>ch</strong>en!'). Zwar könnte man au<strong>ch</strong> beim<br />
Verbot einer einzelnen Handlung von einer Norm spre<strong>ch</strong>en – <strong>der</strong> Fallnorm 162 . Do<strong>ch</strong><br />
wird gemeinhin die Norm dadur<strong>ch</strong> vom Sa<strong>ch</strong>verhalt unters<strong>ch</strong>ieden, daß erstere abstrakt-generell,<br />
letzterer hingegen konkret-individuell ist 163 . Die Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm<br />
kann demzufolge kurz ausfallen:<br />
D NG :<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm ist die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en<br />
Operators (Gebot, Verbot, Erlaubnis) mit einer<br />
sozialbezogenen Handlungsweise.<br />
Je na<strong>ch</strong>dem, ob die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm definitive o<strong>der</strong> prinzipielle Geltung beanspru<strong>ch</strong>t,<br />
können <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien unters<strong>ch</strong>ieden<br />
werden 164 . Offenbar ist mit dem Übergang vom <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff (D 1 ) zum Begriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (D NG ) eine gewisse Vereinfa<strong>ch</strong>ung verbunden, weil ein<br />
Großteil <strong>der</strong> Definitionselemente bereits im Begriff <strong>der</strong> Norm und in ihrem pragmatis<strong>ch</strong>en<br />
Gehalt aufgeht. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, die wie diejenige von Rawls einzelne<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien begründen 165 , ohne zuvor den Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu<br />
definieren 166 , nutzen diese Vereinfa<strong>ch</strong>ungsmögli<strong>ch</strong>keit aus. Sie nehmen eine Abbildung<br />
des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs in den Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm vor, die letztli<strong>ch</strong><br />
den Definitionsproblemen beim <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff auswei<strong>ch</strong>t. Eine sol<strong>ch</strong>e<br />
Strategie vers<strong>ch</strong>weigt indes den unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong>, <strong>der</strong> vom Begriff <strong>der</strong><br />
160 Vgl. die Definitionsexplikation oben S. 50 ff. (D 1 ); zur Geltung als dem pragmatis<strong>ch</strong>en Gehalt von<br />
Normen oben S. 71 f. (Begriff <strong>der</strong> Norm) und unten S. 74 ff. (Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen;<br />
normbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
161 Vgl. oben S. 60 (Kritik am Glei<strong>ch</strong>heitsbezug und das Kriterium <strong>der</strong> Regelhaftigkeit).<br />
162 Der Begriff ist <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsmethodik Fikents<strong>ch</strong>ers entlehnt. Unter 'Fallnorm' versteht W. Fikents<strong>ch</strong>er,<br />
Methoden des Re<strong>ch</strong>ts IV (1977), S. 176 ff., 202 ff., 382 f. (202) »diejenige Regel des objektiven<br />
Re<strong>ch</strong>ts, die einem Lösungsbedürftigen Sa<strong>ch</strong>verhalt eine ihn regelnde Re<strong>ch</strong>tsfolge zuordnet.« Gemeint<br />
ist dabei die Übertragung <strong>der</strong> ratio decidendi auf den Einzelfall; vgl. ebd. S. 190. Fallnormen<br />
sind damit au<strong>ch</strong> »die erst in Zukunft notwendig werdenden, <strong>der</strong>zeit no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t gebildeten«<br />
Normen; F. Bydlinski, Juristis<strong>ch</strong>e Methodenlehre und Re<strong>ch</strong>tsbegriff (1982), S. 516.<br />
163 So zumindest für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen au<strong>ch</strong> H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960),<br />
S. 362 f.: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen haben einen generellen Charakter. Generell ist eine Norm, wenn<br />
sie ni<strong>ch</strong>t – wie eine individuelle Norm – in einem einzigen Falle, son<strong>der</strong>n in einer von vornherein<br />
unbestimmten Zahl von glei<strong>ch</strong>en Fällen gilt, das heißt: zu befolgen o<strong>der</strong> anzuwenden ist.«<br />
164 Dazu oben Fn. 49 (Regeln und Prinzipien).<br />
165 Zur Theorie von Rawls ausführli<strong>ch</strong> S. 199 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß); S. 205 ff. (Politis<strong>ch</strong>er Liberalismus).<br />
Da <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien nur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen mit prinzipiellem Geltungsanspru<strong>ch</strong><br />
sind, müßte Rawls genau genommen von '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln' spre<strong>ch</strong>en, weil seine 'Prinzipien'<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf definitive Geltung erheben.<br />
166 Dazu oben S. 47 (Erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition).<br />
73
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gema<strong>ch</strong>t wird, und eignet si<strong>ch</strong> deshalb ni<strong>ch</strong>t für verglei<strong>ch</strong>ende Theorieanalysen.<br />
3. Formale, prozedurale und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
Es können na<strong>ch</strong> dem Inhalt vers<strong>ch</strong>iedene Arten von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen unters<strong>ch</strong>ieden<br />
werden. Materiale Normen treffen eine inhaltli<strong>ch</strong>e Aussage ('Du sollst<br />
ni<strong>ch</strong>t töten.'). Demgegenüber sind bloß formale Normen selbst inhaltsleer ('Jedem<br />
das Seine.'). Glei<strong>ch</strong>wohl handelt es si<strong>ch</strong> um <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen im Sinne von D NG .<br />
Einen Inhalt gewinnen sie, indem die leere Form dur<strong>ch</strong> Anwendung ausgefüllt wird,<br />
etwa dur<strong>ch</strong> eine Bestimmung dessen, was jemandem als 'das Seine' gebührt. Entspre<strong>ch</strong>endes<br />
gilt für prozedurale Normen, etwa für das Gebot des kontradiktoris<strong>ch</strong>en<br />
Verfahrens: 'Au<strong>ch</strong> die an<strong>der</strong>e Seite muß gehört werden!' – audiatur et altera pars.<br />
Au<strong>ch</strong> sie sind ohne bestimmten Inhalt und gewinnen ihre Substanz erst in <strong>der</strong> konkreten<br />
Dur<strong>ch</strong>führung des gebotenen Verfahrens. S<strong>ch</strong>on an dieser Stelle gilt es klarzustellen,<br />
daß die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
ni<strong>ch</strong>t mit <strong>der</strong>jenigen zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
zusammenfällt 167 . Eine prozedurale Theorie vermag materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
zu begründen, ebenso wie eine materiale Theorie zu prozeduralen<br />
Normen führen kann 168 .<br />
4. Begründung und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
Der pragmatis<strong>ch</strong>e Gehalt einer Norm besteht na<strong>ch</strong> den Ausführungen zum Normbegriff<br />
darin, ihre Geltung zu behaupten o<strong>der</strong> die Norm autoritativ in Geltung zu setzen.<br />
Mit dem Behaupten ist das argumentative Begründen, mit dem Ingeltungsetzen<br />
das reale Erzeugen von Normen angespro<strong>ch</strong>en. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung<br />
können zusammen als <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong>e Gehalt von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
angesehen werden.<br />
Die Begründung einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm als Moralnorm liegt darin, ihre bereits<br />
bestehende Geltung zu zeigen. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen haben als Moralnormen ihr<br />
eigenes Geltungsuniversum, in dem die Geltungsgründe ni<strong>ch</strong>t von vornherein Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
dur<strong>ch</strong> materielle Vorgaben (Verfassungsre<strong>ch</strong>t), Normsetzungskompetenzen<br />
(Gewaltenteilung), Normenhierar<strong>ch</strong>ien o<strong>der</strong> sozialen Konventionen unterliegen.<br />
Es kommt allein darauf an zu zeigen, daß eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm unter Be-<br />
167 A.A. offenbar D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 269: »Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en materialen<br />
und prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bzw. -prinzipien«; wie hier für eine Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 56 f. mit Fn. 58.<br />
168 Für den ersten Fall ist die Begründung <strong>der</strong> materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in <strong>der</strong> prozeduralen<br />
Theorie von Rawls ein Beispiel; dazu unten S. 199 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß). Der zweite<br />
Fall liegt beispielsweise vor, wenn <strong>der</strong> demokratis<strong>ch</strong>e Verfassungsstaat trotz seiner prozeduralen<br />
Natur (siehe dazu unten S. 335 ff.) dur<strong>ch</strong> eine materiale Wertethik begründet wird; so beispielsweise<br />
in Deuts<strong>ch</strong>land die ältere Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts: BVerfGE<br />
2, 1 (12) – freiheitli<strong>ch</strong>e demokratis<strong>ch</strong>e Grundordnung als 'wertgebundene Ordnung'. H. Welzel,<br />
Naturre<strong>ch</strong>t und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1962), S. 225 ff. (227) spri<strong>ch</strong>t insoweit von »dem weitgehenden<br />
Bekenntnis <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung zum Naturre<strong>ch</strong>t«.<br />
74
ücksi<strong>ch</strong>tigung aller relevanten Gesi<strong>ch</strong>tspunkte ri<strong>ch</strong>tig ist und deshalb moralis<strong>ch</strong> gilt.<br />
Die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen als Moralnormen ist ledigli<strong>ch</strong> auf eine<br />
Konzeption des begründbar ri<strong>ch</strong>tigen Handelns, d.h. <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, angewiesen<br />
169 . Die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen als Re<strong>ch</strong>tsnormen verlangt<br />
mehr. Es muß ni<strong>ch</strong>t nur ihre Ri<strong>ch</strong>tigkeit gezeigt werden, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong>, daß es<br />
Gründe gibt, die Norm in Form des Re<strong>ch</strong>ts zu institutionalisieren (Institutionalisierungsfrage)<br />
170 . Außerdem unterliegt jede einzelne Re<strong>ch</strong>tsnorm den Geltungskriterien<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung (lex superior-Regel, lex posterior-Regel, lex specialis-Regel, Kompetenzregeln,<br />
Verfahrensvors<strong>ch</strong>riften u.v.m.), so daß letztli<strong>ch</strong> immer die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
<strong>der</strong> gesamten Re<strong>ch</strong>tsordnung begründet werden muß 171 .<br />
Die Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen als Moralnormen fällt mit ihrer Begründung<br />
zusammen, weil niemand eine autoritative Normsetzungskompetenz in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
innehat. Eine Moralnorm, die begründet ist, gilt. Die reale Erzeugung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen als Re<strong>ch</strong>tsnormen ist dagegen auf die Normsetzungsregeln<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung angewiesen. Will man <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verwirkli<strong>ch</strong>en, so<br />
müssen außerdem Gesi<strong>ch</strong>tspunkte <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>setzbarkeit mit einbezogen werden 172 –<br />
etwa die politis<strong>ch</strong>en und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Rahmenbedingungen, mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en,<br />
die Struktur re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Institutionen und sogar die volkswirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Kosten<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung 173 . Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit und Zweckmäßigkeit sind Teil einer<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die real in staatli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t umgesetzt ist 174 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
widmen si<strong>ch</strong> diesen Fragen <strong>der</strong> realen Umsetzbarkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sowohl <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
als au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung si<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong> Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
befassen. Diese Geltung ist <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong>e Gehalt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen.<br />
5. Eine normbezogene Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 1N )<br />
Es hat si<strong>ch</strong> bereits gezeigt, daß <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (D NG ) einfa<strong>ch</strong>er zu<br />
bestimmen ist als <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, weil ein Großteil <strong>der</strong> Definitionselemente<br />
im Begriff <strong>der</strong> Norm und in ihrem pragmatis<strong>ch</strong>en Gehalt aufgeht. Die Vereinfa<strong>ch</strong>ung<br />
(und vermin<strong>der</strong>te Differenziertheit) zeigt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei einer normbezogenen<br />
Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>:<br />
D 1N :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen.<br />
169 Dazu unten S. 80 ff. (Klassifizierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien und Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft).<br />
170 Dazu unten S. 116 ff. (Mindestgehaltsthese und Institutionalisierungsfrage); S. 333 ff. (Institutionalisierung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
171 Vgl. oben S. 33 (Re<strong>ch</strong>tfertigung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung, Legitimationsbedarf), S. 37 (notwendiger Anspru<strong>ch</strong><br />
des Re<strong>ch</strong>ts auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
172 Vgl. dazu die Diskussion um die Steuerungskrise des Re<strong>ch</strong>ts: G. Teubner, Das regulatoris<strong>ch</strong>e Trilemma<br />
(1994), S. 109 ff.; G.-P. Calliess, <strong>Prozedurale</strong>s Re<strong>ch</strong>t (1999), 73 ff., 114 ff. m.w.N.<br />
173 R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 549 ff. – »Economic Goals of Procedure«.<br />
174 Dazu oben S. 63 ff. (Unters<strong>ch</strong>ied zu engeren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen).<br />
75
Im Verglei<strong>ch</strong> zur unmittelbar handlungsbezogenen Definition D 1 liegt hier – bei inhaltli<strong>ch</strong>er<br />
Übereinstimmung – <strong>der</strong> Handlungs- und Sollensbezug bereits im deontologis<strong>ch</strong>en<br />
Charakter <strong>der</strong> Norm (D N ), <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug in ihrem Geltungsanspru<strong>ch</strong><br />
und <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heitsbezug in ihrer Regelhaftigkeit 175 . Der Sozialbezug findet<br />
si<strong>ch</strong> ergänzend im Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm (D NG ). Dur<strong>ch</strong> das Definitionselement<br />
<strong>der</strong> 'Geltung' ist einerseits auf die Begründung und an<strong>der</strong>erseits auf die reale Erzeugung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verwiesen. Dem entspri<strong>ch</strong>t die Unters<strong>ch</strong>eidung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungs-<br />
und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien 176 .<br />
V. Ergebnisse<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral. Die notwendigen Elemente des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
treten deutli<strong>ch</strong> hervor, wenn man ihn zunä<strong>ch</strong>st unabhängig vom Begriff <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm definiert. Dann zeigt si<strong>ch</strong>, daß das <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat dur<strong>ch</strong><br />
Handlungs-, Sozial-, Ri<strong>ch</strong>tigkeits-, Sollens- und Glei<strong>ch</strong>heitsbezug geprägt ist. Im Begriff<br />
<strong>der</strong> Norm und in ihrem pragmatis<strong>ch</strong>en Gehalt sind hingegen die meisten dieser<br />
Elemente bereits enthalten, so daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen vereinfa<strong>ch</strong>t als Normen<br />
über sozialbezogene Handlungsweisen begriffen werden können. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
stellt si<strong>ch</strong> dann als Inbegriff <strong>der</strong> Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen dar. Die Behauptung<br />
<strong>der</strong> Geltung kann si<strong>ch</strong> auf die Begründung o<strong>der</strong> Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
stützen. Damit ist ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff gefunden, <strong>der</strong> sowohl für<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungs- als au<strong>ch</strong> für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien als<br />
Grundlage geeignet ist.<br />
B. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
I. Eine Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie (D 2 D 2N )<br />
Wie s<strong>ch</strong>on <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, so ist au<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
in uneinheitli<strong>ch</strong>em Gebrau<strong>ch</strong>. In <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie fallen unter den Begriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie nur <strong>Theorien</strong> darüber, wel<strong>ch</strong>e sozialen Arrangements<br />
verteidigt werden können 177 . Hier soll hingegen zunä<strong>ch</strong>st ein weiter Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
bestimmt werden 178 :<br />
D 2 :<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über das Anführen<br />
von Gründen für o<strong>der</strong> gegen die Behauptung <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
175 Dazu oben S. 72 (Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm; Glei<strong>ch</strong>heitsbezug dur<strong>ch</strong> Normbezug).<br />
176 Dazu unten S. 88 (Begründungs- und Erzeugungstheorien).<br />
177 B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 3.<br />
178 Ähnli<strong>ch</strong> R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 106 f.: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind, grob gespro<strong>ch</strong>en,<br />
Systeme von Aussagen über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. ... Normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind<br />
<strong>Theorien</strong> darüber, wel<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen und -urteile ethis<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sind<br />
bzw. auf wel<strong>ch</strong>e Weise sie si<strong>ch</strong> ethis<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tfertigen lassen.«<br />
76
Setzt man D 1 in D 2 ein, so erhält man die vollständige Fassung:<br />
D 2 ':<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über das Anführen<br />
von Gründen für o<strong>der</strong> gegen die Behauptung <strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsweise in<br />
bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
Normbezogen kann definiert werden:<br />
D 2N :<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über die Geltung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen.<br />
1. Ein s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Begriff des Begründens<br />
Mit D 2 ist ein s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Begriff des Begründens und demzufolge eine weite Definition<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie gemeint. Es kommt ni<strong>ch</strong>t darauf an, von wel<strong>ch</strong>er Art die<br />
Begründung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist. Selbst einfa<strong>ch</strong>e Glaubensbekenntnisse (etwa die<br />
Aussage, daß die Handlungsweise na<strong>ch</strong> den 10 Geboten <strong>der</strong> Bibel gere<strong>ch</strong>t ist, weil es<br />
si<strong>ch</strong> um Gesetze Gottes handelt) genügen als Gründe für die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
im Sinne von D 2 . Dadur<strong>ch</strong> sind selbst sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> einbezogen, die ledigli<strong>ch</strong><br />
Bekenntnisse explizieren; au<strong>ch</strong> auf die Naturre<strong>ch</strong>tslehren wird Bezug genommen<br />
179 . Das Begründen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von D 2 hat zwar immer etwas<br />
mit Universalität zu tun 180 . Do<strong>ch</strong> Universalität kann in sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Weise<br />
verstanden werden. Das Spektrum rei<strong>ch</strong>t (mindestens) von spontaner sozialer Homogenität<br />
bis zu kategoris<strong>ch</strong>er Geltung unabhängig von Raum und Zeit 181 . Dementspre<strong>ch</strong>end<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> können au<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ausfallen. Von<br />
kommunitaristis<strong>ch</strong>er Gruppenbezogenheit bis zu idealistis<strong>ch</strong>en Weltre<strong>ch</strong>tssystemen<br />
erfüllen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>ste soziale Ordnungsmodelle die Kriterien von D 2<br />
182. Die<br />
Grenze von begründetem zu ni<strong>ch</strong>t begründetem Handeln wird ni<strong>ch</strong>t einmal dann in<br />
jedem Fall übers<strong>ch</strong>ritten, wenn Akte allein auf konkret-individueller Willkür beruhen.<br />
Zwar s<strong>ch</strong>ließt das Begründen mindestens ein Behaupten intersubjektiver Gültigkeit<br />
ein – Gründe wollen vermittelt werden. Do<strong>ch</strong> wenn ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptiker<br />
den Standpunkt einnimmt, daß die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns überhaupt ni<strong>ch</strong>t be-<br />
179 Vgl. oben S. 66 (idealistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe); unten S. 89 (ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>tslehren).<br />
180 Vgl. zur Beziehung zwis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung und Universalität M. Fisk, Justice and<br />
Universality (1995), S. 221 ff.; sowie U. Steinvorth, Glei<strong>ch</strong>e Freiheit (1999), S. 38 ff. zum notwendigen<br />
Universalismus <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie.<br />
181 Insbeson<strong>der</strong>e zu perspektivis<strong>ch</strong>er und ni<strong>ch</strong>tperspektivis<strong>ch</strong>er Universalität siehe M. Fisk, Justice<br />
and Universality (1995), S. 227 ff.<br />
182 Diese Vielfalt <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> entspri<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Vielfalt bei den Gegenständen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; dazu<br />
oben S. 62 ff. (Vielfalt <strong>der</strong> Gegenstände <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Transponierbarkeitsthese). Rawls legt<br />
seinem Entwurf einen engeren Begriff <strong>der</strong> normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zugrunde, nämli<strong>ch</strong><br />
den einer politis<strong>ch</strong>-sozialen Institutionenlehre. Aufgabe einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie sei ledigli<strong>ch</strong><br />
die Entwicklung einer moralis<strong>ch</strong>en Konzeption für politis<strong>ch</strong>e, soziale und ökonomis<strong>ch</strong>e Institutionen;<br />
J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 41, S. 258 ff.<br />
77
gründbar ist, so ist au<strong>ch</strong> das eine Begründung dafür, alle Handlungen als glei<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>t<br />
anzusehen 183 . Überhaupt kommt es für die Qualifikation einer Theorie als<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ni<strong>ch</strong>t auf die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Überzeugungskraft <strong>der</strong> Gründe an.<br />
2. Die politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (S<strong>ch</strong>werpunktthese, D 1P )<br />
Aus re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t ist ni<strong>ch</strong>t die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> insgesamt, son<strong>der</strong>n nur die<br />
politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> interessant, d.h. diejenige »von einem moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt<br />
gegenüber Re<strong>ch</strong>t und Staat« 184 . Denn soweit die Re<strong>ch</strong>tstheorie si<strong>ch</strong> mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
befaßt, ergründet sie <strong>der</strong>en Bedeutung für das Re<strong>ch</strong>t. Da nur die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geregelte<br />
o<strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> regelbare Sphäre mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handelns interessiert, bleiben aus<br />
re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t bestimmte Aspekte <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bedeutungslos 185 . So<br />
gehört zwar die Frage, ob ein Ri<strong>ch</strong>ter o<strong>der</strong> Abgeordneter gegen seine Freunde unehrli<strong>ch</strong><br />
ist, gemäß D 1 zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, weil hier jemand in bezug auf an<strong>der</strong>e fals<strong>ch</strong> handelt<br />
186 . Sie ist aber von <strong>der</strong> Frage zu unters<strong>ch</strong>eiden, ob si<strong>ch</strong> ein Ri<strong>ch</strong>ter o<strong>der</strong> Abgeordneter<br />
in Ausübung seines Amtes korrumpieren läßt 187 . Nur im zweiten Fall handelt<br />
es si<strong>ch</strong> um re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geregelte o<strong>der</strong> regelbare Handlungsweisen – um politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Damit teilt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff entlang <strong>der</strong> Di<strong>ch</strong>otomie<br />
von Staat und Gesells<strong>ch</strong>aft und gründet so auf die relative Autonomie <strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung gegenüber an<strong>der</strong>en sozialen Ordnungssystemen 188 . Soziale Ordnung<br />
wirft in allen Modalitäten, seien sie re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
auf, do<strong>ch</strong> nur diejenigen im Regelungsberei<strong>ch</strong> des Staates sollen im folgenden interessieren.<br />
In Anlehnung an D 1N kann formuliert werden:<br />
D 1P :<br />
Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
als Re<strong>ch</strong>tsnormen.<br />
Die Bes<strong>ch</strong>ränkung auf politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mag zunä<strong>ch</strong>st als gewi<strong>ch</strong>tige Eins<strong>ch</strong>ränkung<br />
ers<strong>ch</strong>einen. Das täus<strong>ch</strong>t. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>äftigen si<strong>ch</strong> die meisten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> ganz überwiegend mit politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Dur<strong>ch</strong> die »vollständige Verstaatli<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft« 189 sind fast alle<br />
sozialen Fragen zumindest in ihren Rahmenbedingungen au<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> bestimmt, so<br />
183 Vgl. etwa F. Nietzs<strong>ch</strong>e, Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Allzumens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Bd. 1 (1878), Vorrede: »Du solltest die<br />
notwendige Ungere<strong>ch</strong>tigkeit in jedem Für und Wi<strong>der</strong> begreifen lernen, die Ungere<strong>ch</strong>tigkeit als unablösbar<br />
vom Leben« (Hervorhebung bei Nietzs<strong>ch</strong>e). Dazu unten S. 143 ff. (nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition).<br />
184 Definition bei O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 59; ähnli<strong>ch</strong> S. 28: »die sittli<strong>ch</strong>e Perspektive<br />
auf Re<strong>ch</strong>t und Staat«.<br />
185 Dazu oben S. 38 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie).<br />
186 Vgl. oben S. 50 (D 1 ); S. 56 ff. (weit verstandener Glei<strong>ch</strong>heitsbezug).<br />
187 Zu diesem Beispiel siehe O. Höffe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>? (1991), S. 13.<br />
188 Zum autopoietis<strong>ch</strong>en Autonomiebegriff als <strong>der</strong> 'operativen Ges<strong>ch</strong>lossenheit eines Systems' und<br />
zur systemtheoretis<strong>ch</strong>en These von <strong>der</strong> relativen Autonomie des Re<strong>ch</strong>ts vgl. N. Luhmann, Das<br />
Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 62 ff. Ob diese These ri<strong>ch</strong>tig ist, kann hier ni<strong>ch</strong>t untersu<strong>ch</strong>t werden.<br />
189 So die weitgehende, aber inzwis<strong>ch</strong>en für die meisten Staaten wohl zutreffende Eins<strong>ch</strong>ätzung bei<br />
A. Aarnio, Zur Legitimation des Re<strong>ch</strong>ts (1989), S. 144.<br />
78
daß <strong>der</strong> Anwendungsberei<strong>ch</strong> einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie dur<strong>ch</strong> die Fokussierung auf<br />
Fragen politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> kaum bes<strong>ch</strong>ränkt ist. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
kann eng auf einzelne Fragen konzentriert sein, etwa bei einer Theorie über<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Verteilungsprinzipien in <strong>der</strong> Organtransplantation o<strong>der</strong> über<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong>s, o<strong>der</strong> sehr weit, beispielsweise in<br />
einer Theorie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Weltordnung, wie sie völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />
die Staatengemeins<strong>ch</strong>aft determiniert wird. Au<strong>ch</strong> die Frage, ob eine Materie überhaupt<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geregelt ist, gehört zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 190 .<br />
Typis<strong>ch</strong>erweise bes<strong>ch</strong>äftigt si<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie mit <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
einer staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsordnung. Es ist kein Zufall, daß si<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>e Ordnung<br />
als Anwendungsberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> meisten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien herausgebildet hat, son<strong>der</strong>n<br />
Effekt <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Bedeutung <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsordnung in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen stellen si<strong>ch</strong> dort am dringli<strong>ch</strong>sten, wo die soziale Ordnung<br />
ihre stärkste Prägung erfährt. Dies ist na<strong>ch</strong> wie vor die Domäne <strong>der</strong> einzel- und territorialstaatli<strong>ch</strong><br />
verfaßten Re<strong>ch</strong>tsordnung. Der überstaatli<strong>ch</strong>en Völkerre<strong>ch</strong>tsordnung<br />
fehlt eine dem einzelstaatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t verglei<strong>ch</strong>bare Dur<strong>ch</strong>setzungskraft. Die rein<br />
gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, d.h. ni<strong>ch</strong>tstaatli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>e sozialer Ordnung entfalten ihre<br />
normative Kraft nur dort, wo dies <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Rahmen des staatli<strong>ch</strong>en Gewaltmonopols<br />
zuläßt. Einzelne Re<strong>ch</strong>tsgebiete ordnen si<strong>ch</strong> dabei <strong>der</strong> gesamtstaatli<strong>ch</strong>en Verfassungsordnung<br />
sowohl ein als au<strong>ch</strong> unter. Soziale Ordnung ist darum am stärksten<br />
dur<strong>ch</strong> die jeweilige Verfassungsre<strong>ch</strong>tsordnung eines Territorialstaates geprägt.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen stellen si<strong>ch</strong> bezogen auf dieses Ordnungsprimat <strong>der</strong> Verfassung<br />
am dringendsten und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien wählen die Verfassungsordnung demgemäß<br />
am häufigsten als Anwendungsberei<strong>ch</strong>. Als Konsequenz aus <strong>der</strong> Erkenntnis,<br />
daß die hier interessierenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien in erster Linie die politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zum Gegenstand haben (S<strong>ch</strong>werpunktthese), werden im folgenden unter<br />
den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien – soweit ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>s erwähnt – nur diejenigen<br />
untersu<strong>ch</strong>t, die (unmittelbar o<strong>der</strong> mittelbar) die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung beurteilen.<br />
3. Die Umstände <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D. Hume)<br />
Von Hume stammt die These von den 'Umständen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (circumstances of<br />
justice) 191 , die in gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aufgegriffen wird 192 . Na<strong>ch</strong><br />
ihr ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eine künstli<strong>ch</strong>e Tugend (artificial virtue), von mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Konventionen<br />
abhängig und nur unter bestimmten Umständen überhaupt relevant. Zu<br />
190 Dazu oben S. 38 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie).<br />
191 Vgl. D. Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. III: Of Morals (1740), Teil II: Of Justice and Injustice,<br />
Abs<strong>ch</strong>nitt II: Of the Origin of Justice and Property – 'natural temper' und 'outward circumstances'<br />
sowie ausdrückli<strong>ch</strong>: »Here then is a proposition whi<strong>ch</strong>, I think, may be regarded as certain,<br />
that it is only from the selfishness and confined generosity of man, along with the scanty provision nature<br />
has made for his wants that justice <strong>der</strong>ives its origin.« (Hervorhebung bei Hume); <strong>der</strong>s., An Enquiry<br />
Concerning the Principles of Morals (1751), Abs<strong>ch</strong>nitt III: Of Justice, Teil I sowie Anhang III:<br />
Some Further Consi<strong>der</strong>ations With Regard to Justice.<br />
192 Etwa J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 22, S. 126 ff.; B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 152 ff.<br />
Vgl. au<strong>ch</strong> die causal connexions bei H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 190 ff. (human vulnerability,<br />
approximate equality, limited altruism, limited resources, limited un<strong>der</strong>standing and strength of will).<br />
79
diesen Umstände gehört, daß erstens Mens<strong>ch</strong>en zusammen leben, si<strong>ch</strong> ungefähr glei<strong>ch</strong>en,<br />
ni<strong>ch</strong>t alle Interessen gemeinsam haben, über begrenzte psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e, emotionale<br />
und intellektuelle Kapazitäten verfügen, vor allem über begrenzte Großzügigkeit<br />
(limited generosity), und deshalb konfligierende Ansprü<strong>ch</strong>e geltend ma<strong>ch</strong>en,<br />
sowie zweitens bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> verfügbaren Güter mo<strong>der</strong>ate Knappheit besteht (mo<strong>der</strong>ate<br />
scarcity).<br />
Daß die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei Hume gar ni<strong>ch</strong>t als eine 'natürli<strong>ch</strong>e' Tugend, son<strong>der</strong>n als<br />
eine künstli<strong>ch</strong>e gilt, sei hier dahingestellt 193 . Wi<strong>ch</strong>tig ist allein, ob Humes These etwas<br />
am Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> än<strong>der</strong>t (D 1 ) o<strong>der</strong> die S<strong>ch</strong>werpunktthese zur politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ers<strong>ch</strong>üttern kann (vgl. D 1P ). Beides ist ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Fall. Der <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
berücksi<strong>ch</strong>tig Humes 'Umstände' bereits im Definitionselement <strong>der</strong><br />
'Pfli<strong>ch</strong>tigkeit'. Wenn Güter im Überfluß bestehen, dann tendiert die Pfli<strong>ch</strong>t, auf an<strong>der</strong>e<br />
bei <strong>der</strong> Güterverteilung Rücksi<strong>ch</strong>t zu nehmen, gegen Null. Wenn lebensbedrohli<strong>ch</strong>e<br />
Knappheit eintritt, dann ist eine Pfli<strong>ch</strong>t zur Rücksi<strong>ch</strong>tnahme ni<strong>ch</strong>t länger<br />
zumutbar. Wo keine Pfli<strong>ch</strong>ten begründbar sind, kann von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
gespro<strong>ch</strong>en werden. Darin bestätigt si<strong>ch</strong> die These Humes. Deshalb wird die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
beson<strong>der</strong>s die politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, aber ni<strong>ch</strong>t bedeutungslos. Die conditio<br />
humana liegt ja gerade zwis<strong>ch</strong>en dem paradiesis<strong>ch</strong>en Zustand des Gartens Eden und<br />
<strong>der</strong> lebensgefährli<strong>ch</strong>en Notlage eines S<strong>ch</strong>iffbru<strong>ch</strong>s. In aller Regel finden wir, irgendwo<br />
zwis<strong>ch</strong>en Überfluß und Lebensnot, den Zustand mo<strong>der</strong>ater Knappheit vor,<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen in <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsordnung wi<strong>ch</strong>tig werden läßt.<br />
Humes These von den Umständen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> muß deshalb als Bestätigung <strong>der</strong><br />
S<strong>ch</strong>werpunktthese gesehen werden, ni<strong>ch</strong>t als ihre Infragestellung.<br />
II.<br />
Zur Klassifizierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
Unter dem Oberbegriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien finden si<strong>ch</strong> Entwürfe vereinigt,<br />
die in vers<strong>ch</strong>iedenen Disziplinen, zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Zeiten und in voneinan<strong>der</strong><br />
dur<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>- und Traditionsbarrieren getrennten Fors<strong>ch</strong>ungszyklen entstanden<br />
sind. So sind in <strong>der</strong> Gattung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien beispielsweise europäis<strong>ch</strong><br />
dominierte Diskurstheorien mit angloamerikanis<strong>ch</strong> geprägten Ents<strong>ch</strong>eidungs- und<br />
neueren Sozialvertragstheorien vereinigt, obwohl diese Denktraditionen und Theoriegattungen<br />
abgesehen von <strong>der</strong> Aufgabenstellung wenig verbindet. Daraus ergibt<br />
si<strong>ch</strong> eine Klassifizierungsaufgabe als Grundlage je<strong>der</strong> verglei<strong>ch</strong>enden Theorieanalyse.<br />
Die Bedeutung einer Klassifizierung von <strong>Theorien</strong> folgt in erster Linie aus ihrer<br />
Definitionswirkung, d.h. aus dem Umstand, daß eine Klassifizierung <strong>Theorien</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
nur irgendwie gruppiert, son<strong>der</strong>n dabei glei<strong>ch</strong>zeitig festlegt, was als relevantes Kriterium<br />
<strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung herangezogen werden soll. Will man den methodis<strong>ch</strong>en<br />
Fehler vermeiden, Inkommensurables zu verglei<strong>ch</strong>en, und an<strong>der</strong>erseits die in <strong>der</strong><br />
gegenwärtigen Literatur beklagenswerte Zersplitterung ni<strong>ch</strong>t weiter vertiefen, die<br />
193 D. Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. III: Of Morals (1740), Teil II: Of Justice and Injustice,<br />
Abs<strong>ch</strong>nitt I: Justice, whether a natural or artificial virtue? Vgl. dazu etwa H. Pauer-Stu<strong>der</strong>, Das An<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 201 ff. (205) – natürli<strong>ch</strong>e Tugenden bedürfen ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Übereinkunft,<br />
um dem allgemeinen Wohlergehen för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> zu sein.<br />
80
dadur<strong>ch</strong> entsteht, daß ledigli<strong>ch</strong> einzelne Aspekte einzelner <strong>Theorien</strong> aus <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>t<br />
einzelner an<strong>der</strong>er <strong>Theorien</strong> analysiert und kritisiert werden, dann muß das Kriterium<br />
für die Klassifizierung mit Beda<strong>ch</strong>t gewählt werden. Es geht – und das ma<strong>ch</strong>t das<br />
Gewi<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Definitionswirkung aus – um die inhaltli<strong>ch</strong>e Frage, wel<strong>ch</strong>er Baustein von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien wi<strong>ch</strong>tiger als alle an<strong>der</strong>en Elemente ist: Was ist das grundlegendste<br />
Merkmal, mit dem <strong>Theorien</strong> sinnvoll verglei<strong>ch</strong>bar und unters<strong>ch</strong>eidbar werden? In<br />
<strong>der</strong> Literatur zu <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Vors<strong>ch</strong>läge für die<br />
Festlegung des Klassifizierungskriteriums gema<strong>ch</strong>t worden, die im weiteren auf ihre<br />
Eignung zu untersu<strong>ch</strong>en sind 194 . Zuvor aber soll eine Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen<br />
<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie vorgestellt werden, die als grundlegendstes<br />
Merkmal und wi<strong>ch</strong>tigster Baustein von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong>en Konzeption <strong>der</strong><br />
praktis<strong>ch</strong>en Vernunft ansieht.<br />
1. Vier Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie (R. Alexy)<br />
Es können – in Anwendung einer von Alexy stammenden Unters<strong>ch</strong>eidung 195 – unter<br />
Bezugnahme auf ihre historis<strong>ch</strong>en Vorbil<strong>der</strong> vier Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie und damit au<strong>ch</strong> vier Grundpositionen von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien unters<strong>ch</strong>ieden<br />
werden: die 'aristotelis<strong>ch</strong>e', die 'hobbesianis<strong>ch</strong>e', die 'kantis<strong>ch</strong>e' und die<br />
'nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e'. Diese Einteilung bildet den Ausgangspunkt für die hier zugrunde<br />
gelegte Klassifizierung 196 und wird in <strong>der</strong> Analyse und Kritik wie<strong>der</strong> aufgegriffen 197 .<br />
Eine Zuordnung einzelner <strong>Theorien</strong> zu den Grundpositionen will dabei ni<strong>ch</strong>t behaupten,<br />
daß in jedem Fall eine Traditionslinie bestünde, dur<strong>ch</strong> die si<strong>ch</strong> die Theorie<br />
mit dem historis<strong>ch</strong>en Vorläufer ideen- o<strong>der</strong> dogmenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verbinden ließe. Es<br />
geht ledigli<strong>ch</strong> um die Herausarbeitung des grundlegendsten Unters<strong>ch</strong>eidungsmerkmals<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien: <strong>der</strong> jeweiligen Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft.<br />
Die Grundpositionen sollen hier abs<strong>ch</strong>ließend verstanden werden und müssen<br />
deshalb so voneinan<strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>ieden werden, daß sie auf beiden Seiten eines jeden<br />
Abgrenzungskriteriums alle mögli<strong>ch</strong>en Standpunkte <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie erfassen<br />
(Klassenverhältnis <strong>der</strong> exklusiven Alternativität). Wegen <strong>der</strong> unbestimmbaren<br />
Vielzahl <strong>der</strong> gegenwärtig und zukünftig vertretenen Standpunkte ist diese Vollständigkeit<br />
nur errei<strong>ch</strong>bar, wenn die Grundpositionen allgemein als sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie formuliert werden. Denn je<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie liegt eine<br />
194 Dazu unten S. 102 (Sozialvertragstheorien als <strong>Theorien</strong>klasse); S. 103 ff. (an<strong>der</strong>e Klassifizierungen).<br />
195 Dazu R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 11 ff.;<br />
<strong>der</strong>s., Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 127. Der Sa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> findet si<strong>ch</strong> die Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
etwa au<strong>ch</strong> bei Apel, in dessen Gruppierung <strong>der</strong> Konzeptionen rationalen Handelns, bei<br />
<strong>der</strong> er das aristotelis<strong>ch</strong>e Konzept teleologis<strong>ch</strong>er Handlungen und das hobbesianis<strong>ch</strong>e und lockeanis<strong>ch</strong>e<br />
Konzept des strategis<strong>ch</strong>en Handelns von dem kantis<strong>ch</strong>en Konzept <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
unters<strong>ch</strong>eidet; K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996),<br />
S. 26 f. Weitgehende Parallelen gibt es au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung von agnostis<strong>ch</strong>en, analytis<strong>ch</strong>en,<br />
formalen und materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bei H. Klenner, Über die vier Arten von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien gegenwärtiger Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1995), S. 137 ff.<br />
196 Dazu unten S. 143 ff. (Dritter Teil).<br />
197 Dazu unten S. 261 ff. (Vierter Teil).<br />
81
estimmte Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft zugrunde, an <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> die Abgrenzungskriterien<br />
orientieren können 198 . Die Charakteristika <strong>der</strong> einzelnen Grundpositionen<br />
werden im einzelnen erst bei <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> relevant 199 . An<br />
dieser Stelle geht es zunä<strong>ch</strong>st nur um die Identifizierung von drei Abgrenzungskriterien<br />
und die aus diesen Kriterien entstehende Klassifizierungsstruktur.<br />
a) Die nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
Das erste Abgrenzungskriterium, mit dem <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
von allen an<strong>der</strong>en unters<strong>ch</strong>ieden werden, ist das <strong>der</strong> Begründbarkeit praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft 200 . Nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> halten die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns für ni<strong>ch</strong>t<br />
begründbar 201 und nehmen insoweit eine Position grundlegen<strong>der</strong> Skepsis ein 202 . Eine<br />
198 Eine Theorie ohne Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft könnte ni<strong>ch</strong>t Teil <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie<br />
sein, da praktis<strong>ch</strong>e Philosophie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns betrifft (dazu oben S. 27: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft) und deshalb begriffli<strong>ch</strong> notwendig eine Aussage darüber<br />
voraussetzt, was diese Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns ausma<strong>ch</strong>t, also eine Aussage über praktis<strong>ch</strong>e<br />
Vernunft.<br />
199 Dazu unten S. 143 ff. (Dritter Teil).<br />
200 Ausführli<strong>ch</strong>er zur Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Existenz praktis<strong>ch</strong>er Vernunft R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 11.<br />
201 Vgl. etwa F. Nietzs<strong>ch</strong>e, Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Allzumens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Bd 1 (1878), Nr. 25, S. 466: »Die ältere<br />
Moral, namentli<strong>ch</strong> die Kants, verlangt vom einzelnen Handlungen, wel<strong>ch</strong>e man von allen Mens<strong>ch</strong>en<br />
wüns<strong>ch</strong>t: das war eine s<strong>ch</strong>öne naive Sa<strong>ch</strong>e; ... Viellei<strong>ch</strong>t läßt es ein zukünftiger Überblick<br />
über die Bedürfnisse <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>heit dur<strong>ch</strong>aus ni<strong>ch</strong>t wüns<strong>ch</strong>enswert ers<strong>ch</strong>einen, daß alle Mens<strong>ch</strong>en<br />
glei<strong>ch</strong> handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenis<strong>ch</strong>er Ziele für ganze Strecken <strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>heit spezielle, viellei<strong>ch</strong>t unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein.« Ebd., Nr.<br />
34, S. 472: »Denn ein Sollen gibt es ni<strong>ch</strong>t mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja dur<strong>ch</strong><br />
unsere Betra<strong>ch</strong>tungsart ebenso verni<strong>ch</strong>tet wie die Religion.« Ebd., Bd. 2 (1879), Der Wan<strong>der</strong>er<br />
und sein S<strong>ch</strong>atten, Nr. 2, S. 873: »Die Vernunft <strong>der</strong> Welt. - Daß die Welt ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Inbegriff einer<br />
ewigen Vernünftigkeit ist, läßt si<strong>ch</strong> endgültig dadur<strong>ch</strong> beweisen, daß jenes Stück Welt, wel<strong>ch</strong>es<br />
wir kennen - i<strong>ch</strong> meine unsre mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vernunft -, ni<strong>ch</strong>t allzu vernünftig ist. Und wenn sie<br />
ni<strong>ch</strong>t allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sein;<br />
hier gilt <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>luß a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit ents<strong>ch</strong>eiden<strong>der</strong> Kraft.« (Hervorhebungen<br />
bei Nietzs<strong>ch</strong>e); <strong>der</strong>s., Also spra<strong>ch</strong> Zarathustra (1883), Von den Lehrstühlen <strong>der</strong> Tugend,<br />
S. 297: »Au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> heute wohl gibt es einige, wie diesen Prediger <strong>der</strong> Tugend, und ni<strong>ch</strong>t<br />
immer so Ehrli<strong>ch</strong>e: aber ihre Zeit ist um. Und ni<strong>ch</strong>t mehr lange stehen sie no<strong>ch</strong>: da liegen sie<br />
s<strong>ch</strong>on.« Ebd., Vor Sonnen-Aufgang, S. 416: »bei allem ist eins unmögli<strong>ch</strong> – Vernünftigkeit!« Ebd.,<br />
Vom neuen Götzen: »Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es au<strong>ch</strong>; und diese<br />
Lüge krie<strong>ch</strong>t aus seinem Munde: 'I<strong>ch</strong>, <strong>der</strong> Staat, bin das Volk.'«<br />
202 Vgl. etwa F. Nietzs<strong>ch</strong>e, Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Allzumens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es, Bd. 1 (1878), Vorrede, Nr. 6, S. 443: »Du<br />
solltest die notwendige Ungere<strong>ch</strong>tigkeit in jedem Für und Wi<strong>der</strong> begreifen lernen, die Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt dur<strong>ch</strong> das Perspektivis<strong>ch</strong>e und seine<br />
Ungere<strong>ch</strong>tigkeit« (Hervorhebung bei Nietzs<strong>ch</strong>e); ebd., Bd. 2 (1879), Vorrede, Nr. 1, S. 737 f.: »Als<br />
i<strong>ch</strong> sodann, in <strong>der</strong> dritten Unzeitgemäßen Betra<strong>ch</strong>tung, meine Ehrfur<strong>ch</strong>t vor meinem ersten und<br />
einzigen Erzieher, vor dem großen Arthur S<strong>ch</strong>openhauer zum Ausdruck bra<strong>ch</strong>te ..., war i<strong>ch</strong> für<br />
meine eigne Person s<strong>ch</strong>on mitten in <strong>der</strong> moralistis<strong>ch</strong>en Skepsis und Auflösung drin, das heißt ebensosehr<br />
in <strong>der</strong> Kritik als <strong>der</strong> Vertiefung alles bisherigen Pessimismus -, und glaubte bereits 'an gar ni<strong>ch</strong>ts<br />
mehr', wie das Volk sagt, au<strong>ch</strong> an S<strong>ch</strong>openhauer ni<strong>ch</strong>t« (Hervorhebung bei Nietzs<strong>ch</strong>e). Dazu unten<br />
S. 143 (Charakteristika <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
82
sol<strong>ch</strong>e Position ist beispielsweise in <strong>der</strong> nonkognitivistis<strong>ch</strong>en Ethik na<strong>ch</strong>weisbar 203 .<br />
Vereinfa<strong>ch</strong>t läßt si<strong>ch</strong> festhalten: Die nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Perspektive ist diejenige <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis.<br />
b) Die aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
Die ni<strong>ch</strong>t-nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> halten praktis<strong>ch</strong>e Vernunft für mögli<strong>ch</strong> und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für positiv begründbar. Unter ihnen begründen die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Tradition die Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns damit, daß es (extrinsis<strong>ch</strong>) gut<br />
für etwas ist (Konzeption des Guten) 204 , während die übrigen <strong>Theorien</strong> dana<strong>ch</strong> fragen,<br />
ob das Handeln (intrinsis<strong>ch</strong>) um seiner selbst willen ri<strong>ch</strong>tig ist (Konzeption des Ri<strong>ch</strong>tigen).<br />
Die aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> zei<strong>ch</strong>nen si<strong>ch</strong> also dadur<strong>ch</strong> aus, daß sie eine inhaltli<strong>ch</strong>e<br />
Zielvorstellung davon haben, was im Ergebnis gut ist. Die aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Perspektive ist diejenige <strong>der</strong> Tugendhaftigkeit.<br />
c) Die hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
Den ni<strong>ch</strong>t-aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> fehlt eine vorgefaßte Konzeption des Guten. Bei<br />
ihnen ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dana<strong>ch</strong>, ob das Handeln selbst ri<strong>ch</strong>tig ist. Eine Handlungsweise<br />
kann also unter Umständen fals<strong>ch</strong> sein, obwohl sie ein gutes Ergebnis<br />
bewirkt 205 . Unter sol<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> kennzei<strong>ch</strong>net diejenigen <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition, daß sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns rationalistis<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> beurteilen,<br />
ob es für den einzelnen vorteilhaft ist 206 . Die hobbesianis<strong>ch</strong>e Perspektive ist diejenige<br />
des egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierers.<br />
d) Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
Übrig bleiben diejenigen <strong>Theorien</strong>, die ni<strong>ch</strong>t allein dana<strong>ch</strong> fragen, was für den einzelnen<br />
vorteilhaft ist. Sie können, in einem weiten Verständnis, als <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition bezei<strong>ch</strong>net werden, weil sie dana<strong>ch</strong> fragen, was (universell)<br />
203 Hierzu R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 11 mit<br />
Na<strong>ch</strong>weisen zum Emotivismus.<br />
204 Vgl. Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, I 1 (1094a 1-3), übers. v. O. Gigon: »Jede Kunst und jede<br />
Lehre, ebenso jede Handlung und je<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>luß s<strong>ch</strong>eint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat<br />
man mit Re<strong>ch</strong>t das Gute als dasjenige bezei<strong>ch</strong>net, wona<strong>ch</strong> alles strebt.« Vgl. dazu ebd., übers. v.<br />
F. Dirlmeier: »Jedes praktis<strong>ch</strong>e Können und jede wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Untersu<strong>ch</strong>ung, ebenso alles<br />
Handeln und Wählen strebt na<strong>ch</strong> einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die ri<strong>ch</strong>tige<br />
Bestimmung von 'Gut' als 'das Ziel, zu dem alles strebt'.« Dazu unten S. 152 (Charakteristika<br />
<strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
205 S. S<strong>ch</strong>effler, Rejection of Consequentialism (1994), S. 2.<br />
206 Vgl. T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 17: »The finall Cause, End, or Designe of men, (who naturally<br />
love Liberty, and Dominion over others,) in the introduction of that restraint upon themselves,<br />
(in whi<strong>ch</strong> wee see them live in Common-wealths,) is the foresight of their own pre<strong>servat</strong>ion,<br />
and of a more contented life thereby«. Dazu unten S. 167 (Charakteristika <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition).<br />
83
i<strong>ch</strong>tig au<strong>ch</strong> für an<strong>der</strong>e und damit letztli<strong>ch</strong> für alle ist 207 . Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
ist diejenige des autonomen Selbstgesetzgebers 208 .<br />
e) Ein abs<strong>ch</strong>ließendes S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> Grundpositionen<br />
Mit diesen drei Abgrenzungskriterien entsteht folgende Struktur einer abs<strong>ch</strong>ließenden<br />
Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen:<br />
207 Vgl. den kategoris<strong>ch</strong>en Imperativ bei I. Kant, KpV (1788), A 54: »Handle so, daß die Maxime deines<br />
Willens je<strong>der</strong>zeit zuglei<strong>ch</strong> als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Von<br />
den sog. hypothetis<strong>ch</strong>en Imperativen unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> kategoris<strong>ch</strong>e dadur<strong>ch</strong>, daß er aprioris<strong>ch</strong>en<br />
Charakter hat, weil er frei von Begierden und Neigungen, Glücksstreben und aller sonstigen<br />
empiris<strong>ch</strong>en Erfahrung ist. Er gilt als (bloß formaler) synthetis<strong>ch</strong>er Satz a priori und besitzt damit<br />
Denknotwendigkeit. Vgl. I. Kant, KpV (1788), A 38, A 48, A 55 sowie A 63: »Alle praktis<strong>ch</strong>en<br />
Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens,<br />
voraussetzen, sind insgesamt empiris<strong>ch</strong> und können keine praktis<strong>ch</strong>e[n] Gesetze abgeben. ...<br />
Wenn ein vernünftiges Wesen si<strong>ch</strong> seine Maximen als praktis<strong>ch</strong>e allgemeine Gesetze denken soll,<br />
so kann es si<strong>ch</strong> dieselbe[n] nur als sol<strong>ch</strong>e Prinzipien denken, die, ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Materie, son<strong>der</strong>n bloß<br />
<strong>der</strong> Form na<strong>ch</strong>, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten. ... Denn <strong>der</strong> Gedanke a priori von<br />
einer mögli<strong>ch</strong>en allgemeinen Gesetzgebung, <strong>der</strong> also bloß problematis<strong>ch</strong> ist, wird, ohne von <strong>der</strong><br />
Erfahrung o<strong>der</strong> irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten.<br />
... Das Prinzip <strong>der</strong> Glückseligkeit kann zwar ... generelle, aber niemals universelle Regeln, d.i. sol<strong>ch</strong>e,<br />
die im Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nitte am öftersten zutreffen, ni<strong>ch</strong>t aber sol<strong>ch</strong>e, die je<strong>der</strong>zeit und notwendig<br />
gültig sein müssen, geben« (Hervorhebungen bei Kant).<br />
208 Vgl. I. Kant, KpV (1788), A 58: »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gesetze und <strong>der</strong> ihnen gemäßen Pfli<strong>ch</strong>ten; alle Heteronomie <strong>der</strong> Willkür gründet dagegen<br />
ni<strong>ch</strong>t allein gar keine Verbindli<strong>ch</strong>keit, son<strong>der</strong>n ist vielmehr dem Prinzip <strong>der</strong>selben und <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit<br />
des Willens entgegen.« Dazu unten S. 198 (Charakteristika <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
84
Vier Grundpositionen <strong>der</strong><br />
politis<strong>ch</strong>en Philosophie<br />
1. nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition<br />
(Skeptizismus,<br />
Unbegründbarkeit<br />
praktis<strong>ch</strong>er Vernunft)<br />
ni<strong>ch</strong>t-nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundpositionen<br />
(Begründbarkeit praktis<strong>ch</strong>er Vernunft)<br />
2. aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition<br />
(Tugendhaftigkeit,<br />
Konzeption des Guten)<br />
ni<strong>ch</strong>t-aristotelis<strong>ch</strong>e Grundpositionen<br />
(Konzeptionen des Ri<strong>ch</strong>tigen)<br />
3. hobbesianis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition<br />
(Rationalismus,<br />
egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierung)<br />
4. kantis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition<br />
(Universalismus,<br />
autonome Selbstgesetzgebung)<br />
Wenn in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie auf die historis<strong>ch</strong>en Vorbil<strong>der</strong> von Aristoteles,<br />
Hobbes und Kant zurückgegriffen wird, so stellt si<strong>ch</strong> unmittelbar die Frage, warum<br />
ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> John Locke berücksi<strong>ch</strong>tigt wird: gibt es ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> eine 'lockeanis<strong>ch</strong>e Grundposition'?<br />
Immerhin hat Locke mit <strong>der</strong> Idee vorpositiver Re<strong>ch</strong>te einen grundlegenden<br />
Gegenentwurf zum hobbesianis<strong>ch</strong>en Naturzustand vorgelegt 209 . Damit kann er, bei<br />
allen Unters<strong>ch</strong>ieden im Detail, als Vorläufer des Konzepts universeller Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
angesehen werden. Außerdem hat Locke im Rahmen seiner Arbeitstheorie des<br />
209 Vgl. J. Locke, Two Treatises of Government (1698), II § 6: »The State of Nature has a Law of Nature<br />
to govern it, whi<strong>ch</strong> obliges every one: And Reason, whi<strong>ch</strong> is that Law, tea<strong>ch</strong>es all Mankind, who<br />
will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life,<br />
Health, Liberty, or Possession. ... Every one as he is bound to preserve himself, and not to quit his<br />
Station wilfully; so by the like reason when his own Pre<strong>servat</strong>ion comes not in competition, ought<br />
he, as mu<strong>ch</strong> as he can, to preserve the rest of Mankind, and may not unless it be to do Justice on an<br />
Offen<strong>der</strong>, take away, or impair the life, or what tends to the Pre<strong>servat</strong>ion of the Life, the Liberty,<br />
Health, Limb or Goods of another.« (Hervorhebungen bei Locke). Ebd., II § 19: »And here we have<br />
the plain difference between the State of Nature, and the State of War, whi<strong>ch</strong> however some Men have<br />
confounded, are as far distant, as a State of Peace, Good Will, Mutual Assistance, and Pre<strong>servat</strong>ion,<br />
and a State of Enmity, Malice, Violence, and Mutual Destruction are one from another. Men<br />
living together according to reason, without a common Superior on Earth, with Authority to judge<br />
between them, is properly the State of Nature.« (Hervorhebungen bei Locke).<br />
85
Eigentums 210 und seiner Aneignungstheorie 211 die sogenannte Lockes<strong>ch</strong>e Provisio entwickelt<br />
212 . Sie wird von gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien als allgemeines S<strong>ch</strong>ädigungsverbot<br />
interpretiert und in dieser Fassung als Vorbild aufgegriffen 213 . Wenn<br />
die politis<strong>ch</strong>en Philosophien von Hobbes und Kant in gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
von Bu<strong>ch</strong>anan und Rawls ihre Aktualisierung finden, so läßt si<strong>ch</strong> für Locke<br />
zumindest Nozick anführen 214 . Do<strong>ch</strong> kann die damit bes<strong>ch</strong>riebene Aktualität <strong>der</strong><br />
lockes<strong>ch</strong>en Philosophie ni<strong>ch</strong>t dazu führen, eine weitere Grundposition zu definieren.<br />
Denn die Idee <strong>der</strong> vorpositiven Re<strong>ch</strong>te, auf die letztli<strong>ch</strong> alle Ers<strong>ch</strong>einungsformen <strong>der</strong><br />
Locke-Renaissance zurückgreifen, läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf eine bestimmte Konzeption praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft festlegen. Locke selbst hat sie theistis<strong>ch</strong> begründet 215 , also im Rahmen<br />
einer Naturre<strong>ch</strong>tslehre, die für das Handeln ein substantiell als ri<strong>ch</strong>tig erkanntes Ziel<br />
vorgibt und somit na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> hier getroffenen Einteilung den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition zuzure<strong>ch</strong>nen ist 216 . Gauthier hat, in Abgrenzung zu Locke, eine<br />
transzendental-rationalistis<strong>ch</strong>e Begründung versu<strong>ch</strong>t, die er <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition zure<strong>ch</strong>net, die aber tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> moralis<strong>ch</strong>e Gehalte wie eine kantis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie aufweist 217 . Und Nozick hat die universelle (moralis<strong>ch</strong>e) Gültigkeit vorpositiver<br />
Re<strong>ch</strong>te postuliert, si<strong>ch</strong> aber von <strong>der</strong> substantiell-naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Begründung<br />
Lockes distanziert und diese dur<strong>ch</strong> ein Vorteilskalkül ersetzt, so daß die Zuordnung<br />
zur hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition geboten ers<strong>ch</strong>eint 218 . Wegen dieser Unbestimmtheit<br />
hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Begründungskonzeptes gilt: Für die Idee vorpositiver<br />
210 J. Locke, Two Treatises of Government (1698), II § 45: »Thus Labour, in the Beginning, gave the Right<br />
of Property, where-ever any one was pleased to imploy it, upon what was common, whi<strong>ch</strong> remained,<br />
a long while, the far greater part, and is yet more than Mankind makes use of.« Sowie ebd.,<br />
II § 51: »And thus, I think, it is very easie to conceive without any difficulty, how Labour could at<br />
first begin a title of Property in the common things of Nature, and how the spending it upon our<br />
uses bounded it.« (Hervorhebungen bei Locke).<br />
211 Dazu J. Locke, Two Treatises of Government (1698), II §§ 25 ff.<br />
212 Die vielzitierte Stelle »still enough, and as good left« findet si<strong>ch</strong> in J. Locke, Two Treatises of<br />
Government (1698), II § 33: »Nor was this [original] appropriation of any parcel of Land, by improving<br />
it, any prejudice to any other Man, since there was still enough, and as good left; and more<br />
than the yet unprovided could use.« (Hervorhebungen bei Locke).<br />
213 Dazu unten S. 180 ff. (Gauthier) und S. 205 ff. (Nozick).<br />
214 Mit diesen drei Parallelen zwis<strong>ch</strong>en Aufklärungsphilosophen und gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheoretikern:<br />
O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 92; P. Koller, Neue <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts<br />
(1987), S. 135 ff.<br />
215 Dazu Kritik etwa bei D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 222: »Locke, ... his moral theory,<br />
unlike Hobbes's, is overtly theistic.« Der theistis<strong>ch</strong>e Bezug läßt si<strong>ch</strong> im Werk an vielen Stellen belegen,<br />
z.B. im unmittelbaren Begründungszusammenhang mit den vorpositiven Re<strong>ch</strong>ten im Naturzustand:<br />
J. Locke, Two Treatises of Government (1698), II § 6: »For Men being all the Workmanship<br />
of one Omnipotent, and infinitely wise Maker«. Ebenso im Begründungszusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Aneignungs- und Eigentumstheorie: ebd., II § 26: »God, who hath given the World<br />
to Men in common, hath also given them reason to make use of it to the best advantage of Life,<br />
and convenience.« Vgl. R. Dreier, Eigentum in re<strong>ch</strong>tsphilosophis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t (1986), S. 172 ff. – Lockes<br />
Eigentumstheorie im Verglei<strong>ch</strong> zu den <strong>Theorien</strong> von Kant, Hegel und Fi<strong>ch</strong>te.<br />
216 Dazu oben S. 89 (Begriff <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehre) sowie unten S. 154 (ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>tslehren).<br />
217 Dazu oben S. 83 (aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition) sowie unten S. 180 ff. (Gauthier).<br />
218 Dazu unten S. 205 ff. (Nozick).<br />
86
Re<strong>ch</strong>te, und damit für das historis<strong>ch</strong>e Vorbild Lockes, kann keine eigene Grundposition<br />
formuliert werden.<br />
2. Zu einigen ergänzenden Differenzierungen<br />
Dem grundlegenden Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist ein eigener Abs<strong>ch</strong>nitt gewidmet 219 . Es gibt daneben no<strong>ch</strong> eine<br />
Reihe an<strong>der</strong>er Differenzierungen, die jenseits <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung na<strong>ch</strong> Konzeptionen<br />
praktis<strong>ch</strong>er Vernunft Bea<strong>ch</strong>tung verdienen. Es geht dabei – ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>ließend 220<br />
– um sol<strong>ch</strong>e Gruppenbildungen, die ni<strong>ch</strong>t alternativ <strong>der</strong> Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen<br />
entgegenstehen, son<strong>der</strong>n vielmehr ergänzend neben diese treten, weil sie<br />
auf einer an<strong>der</strong>en Ebene liegen.<br />
a) Empiris<strong>ch</strong>e, analytis<strong>ch</strong>e und normative <strong>Theorien</strong><br />
Au<strong>ch</strong> innerhalb <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 221 ist bei <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> angewandten Methode und dem untersu<strong>ch</strong>ten Gegenstand zwis<strong>ch</strong>en analytis<strong>ch</strong>en,<br />
empiris<strong>ch</strong>en und normativen <strong>Theorien</strong> zu unters<strong>ch</strong>eiden 222 . Analytis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Theorien</strong> fragen na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> logis<strong>ch</strong>en Struktur theoretis<strong>ch</strong>er Aussagen zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
223 und sind regelmäßig bloß unselbständige Teile <strong>der</strong>jenigen empiris<strong>ch</strong>en und<br />
normativen <strong>Theorien</strong>, <strong>der</strong>en ni<strong>ch</strong>tanalytis<strong>ch</strong>e Aussagen über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sie zum<br />
Gegenstand nehmen 224 . Empiris<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong>, insbeson<strong>der</strong>e soziologis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e,<br />
untersu<strong>ch</strong>en die soziale Realität von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 225 . Sie erfors<strong>ch</strong>en beispielsweise,<br />
wann eine Person, Handlung o<strong>der</strong> Institution als gere<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>t<br />
empfunden wird (Sozialpsy<strong>ch</strong>ologie), wie si<strong>ch</strong> das Potential, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
zu empfinden, entwickelt (Entwicklungspsy<strong>ch</strong>ologie), von wel<strong>ch</strong>en Parametern<br />
eine sol<strong>ch</strong>e Empfindung real abhängt und ob zwis<strong>ch</strong>en dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sempfinden<br />
und einem objektiv als ri<strong>ch</strong>tig erkennbaren (weil na<strong>ch</strong> unstreitigen Kriterien<br />
begründeten) Ergebnis ein signifikanter Zusammenhang besteht 226 . Normative<br />
<strong>Theorien</strong> dagegen verfolgen Fragestellungen, die unabhängig von einer bestimmten<br />
sozialen o<strong>der</strong> personalen Realität sind. Sie beurteilen die Geltung von Gere<strong>ch</strong>-<br />
219 Dazu unten S. 139 ff. (Grenzziehung).<br />
220 Zu den Unters<strong>ch</strong>eidungen, die hier ni<strong>ch</strong>t weiter verfolgt werden, gehört diejenige zwis<strong>ch</strong>en 'definitoris<strong>ch</strong>en<br />
und kriteriologis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien'; vgl. dazu R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en<br />
Argumentation (1978), S. 227 m.w.N. in Fn. 16.<br />
221 Zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> vgl. oben S. 78 (S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
222 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 96 f., 106 ff.<br />
223 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 106: »Analytis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind <strong>Theorien</strong><br />
über logis<strong>ch</strong>e Strukturen und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gehalte des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs und seine Verwendung<br />
in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen.« (Hervorhebung bei Dreier).<br />
224 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 106: »in <strong>der</strong> Regel sind analytis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
Teiltheorien empiris<strong>ch</strong>er o<strong>der</strong> normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien.«<br />
225 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 106: »Empiris<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind <strong>Theorien</strong><br />
darüber, wel<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen in einer Gesells<strong>ch</strong>aft tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> vertreten wurden<br />
o<strong>der</strong> werden, wie sie historis<strong>ch</strong>, soziologis<strong>ch</strong>, psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> ökonomis<strong>ch</strong> zu erklären<br />
sind und wel<strong>ch</strong>e Rolle sie in wel<strong>ch</strong>en Hinsi<strong>ch</strong>ten tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> gespielt haben o<strong>der</strong> spielen.« (Hervorhebung<br />
bei Dreier).<br />
226 Siehe K.F. Röhl, Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit (1993), S. 9 ff.; <strong>der</strong>s., Procedural Justice (1997), S. 7 ff.<br />
87
tigkeitsnormen, su<strong>ch</strong>en also na<strong>ch</strong> Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 227 . Als Teil <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie fragen normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien dana<strong>ch</strong>, wel<strong>ch</strong>e sozialen<br />
Arrangements verteidigt werden können 228 .<br />
Au<strong>ch</strong> analytis<strong>ch</strong>e und empiris<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> sind <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien im Sinne<br />
von D 2 , denn au<strong>ch</strong> sie sagen etwas über die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – erstere<br />
etwa hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> logis<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit, letztere mit Verweisen auf die<br />
soziale Wirkli<strong>ch</strong>keit. Aus re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t gebührt normativen <strong>Theorien</strong> indes<br />
die größte Aufmerksamkeit, denn nur sie fragen na<strong>ch</strong> Maßstäben für die soziale<br />
und damit au<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnung unabhängig davon, was ohnehin s<strong>ch</strong>on Realität<br />
ist. Glei<strong>ch</strong>zeitig stellt si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung in normativen <strong>Theorien</strong> am<br />
s<strong>ch</strong>wierigsten dar. Während analytis<strong>ch</strong>e und empiris<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfors<strong>ch</strong>ung<br />
methodis<strong>ch</strong> auf einigermaßen festem Fundament ruhen, betrifft die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
bei normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien häufig s<strong>ch</strong>on Meinungsunters<strong>ch</strong>iede<br />
über methodis<strong>ch</strong>e Fragen. Nun kann und muß hier keine neue Methodik entwickelt<br />
werden. Do<strong>ch</strong> ist es für eine kritis<strong>ch</strong>e Analyse <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> hilfrei<strong>ch</strong>, wenn eine<br />
Klassifizierung gewählt wird, die si<strong>ch</strong> eng an das methodis<strong>ch</strong>e Fundament <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong><br />
anlehnt. Genau das ges<strong>ch</strong>ieht bei <strong>der</strong> Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen. Sie<br />
ma<strong>ch</strong>t die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er Vernunft zum Ausgangspunkt<br />
und betont damit glei<strong>ch</strong>zeitig einen grundlegenden methodis<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ied,<br />
<strong>der</strong> etwa zwis<strong>ch</strong>en (hobbesianis<strong>ch</strong>en) <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens und<br />
(kantis<strong>ch</strong>en) Diskurstheorien bestehen.<br />
b) Begründungs- und Erzeugungstheorien<br />
Unter den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind im Ans<strong>ch</strong>luß an Ralf Dreier Begründungs- und<br />
Erzeugungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu unters<strong>ch</strong>eiden 229 . Erstere betreffen – ganz<br />
im Wortsinne von D 2 – das Anführen von Gründen für die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
also die Erkenntnis über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns. Letztere dagegen fragen,<br />
wie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> real erzeugt werden kann, betreffen also das konkrete Handeln<br />
gemäß als ri<strong>ch</strong>tig erkannten Maßstäben 230 . Sie haben als sol<strong>ch</strong>e keinen Erkenntnis-,<br />
son<strong>der</strong>n vielmehr einen »heuristis<strong>ch</strong>en Wert« 231 – werden Mittel zur effizienten<br />
227 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107: »Normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind <strong>Theorien</strong><br />
darüber, wel<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen und -urteile ethis<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sind bzw. auf<br />
wel<strong>ch</strong>e Weise sie si<strong>ch</strong> ethis<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tfertigen lassen.« (Hervorhebung bei Dreier). Ähnli<strong>ch</strong> K.E. Soltan,<br />
The Causal Theory of Justice (1987), S. 58: »A normative theory is a set of rules and principles<br />
that constitutes possible justifications for a variety of decisions.«<br />
228 B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 3.<br />
229 Grundlegend zur Unters<strong>ch</strong>eidung R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 113 ff.; ähnli<strong>ch</strong><br />
G.-P. Calliess, <strong>Prozedurale</strong>s Re<strong>ch</strong>t (1999), S. 30 sowie S. 35 f. mit Fn. 132. Vgl. oben S. 74 (Begründung<br />
und Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen) sowie unten S. 133 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien).<br />
230 Vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 113: »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien sind<br />
<strong>Theorien</strong> über Verfahren, <strong>der</strong>en Einhaltung gewährleisten soll, daß das in ihnen erzeugte Re<strong>ch</strong>t<br />
gere<strong>ch</strong>t ist, o<strong>der</strong>, s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>er ausgedrückt, <strong>der</strong>en Einhaltung na<strong>ch</strong> Maßgabe des Mögli<strong>ch</strong>en verhin<strong>der</strong>n<br />
soll, daß ungere<strong>ch</strong>tes Re<strong>ch</strong>t erzeugt wird.«<br />
231 So die insoweit treffende Beurteilung bei A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1989), S. 20. Kaufmann bezieht diese Bes<strong>ch</strong>reibung indes auf hypothetis<strong>ch</strong>e (Denk-) statt auf reale<br />
88
Zielerrei<strong>ch</strong>ung an<strong>der</strong>weitig begründeter Ziele. Beispielweise liegt eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie<br />
vor, wenn die Verfahrensbedingungen bestimmt werden, unter<br />
denen die Verurteilung s<strong>ch</strong>uldiger Straftäter (und nur <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>uldigen) am besten<br />
gelingt. Au<strong>ch</strong> die demokratis<strong>ch</strong>e Wahlre<strong>ch</strong>tstheorie (wie die Theorie des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaates insgesamt) 232 ist eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie, <strong>der</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>smaßstab (Selbstregierung <strong>der</strong> Betroffenen dur<strong>ch</strong> legitimierte Vertreter)<br />
bereits feststeht. Selbst eine Theorie <strong>der</strong> Vertragsfreiheit, die die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
privatautonomer, ni<strong>ch</strong>t staatli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>tserzeugung betrifft, ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie<br />
233 .<br />
In allen diesen Beispielen besteht unabhängig vom Verfahren ein Maßstab für die<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses (S<strong>ch</strong>uld des Straftäters, Repräsentation <strong>der</strong> Gewählten,<br />
Verwirkli<strong>ch</strong>ung von Privatautonomie). Dur<strong>ch</strong> die Abhängigkeit von sol<strong>ch</strong>en Maßstäben<br />
ist die Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> stets auf die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen<br />
angewiesen. In jedem konkreten Einzelfall des gere<strong>ch</strong>ten Handelns<br />
muß zunä<strong>ch</strong>st bestimmt werden, was überhaupt als gültiger Grund für o<strong>der</strong> gegen<br />
ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteil anerkannt werden soll, warum also ein Täter bestraft, ein<br />
Bürger repräsentiert o<strong>der</strong> ein Vertrag ges<strong>ch</strong>lossen werden darf. Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie<br />
ist dadur<strong>ch</strong> mittelbar eine 'Theorie über das Anführen von Gründen<br />
für o<strong>der</strong> gegen die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' im Sinne von D 2 , also eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
im Sinne <strong>der</strong> Definition. Die Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en Begründungs-<br />
und Erzeugungstheorien erweist si<strong>ch</strong> dabei als Ergänzung, ni<strong>ch</strong>t als Alternative<br />
zu <strong>der</strong> Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen. Denn die Grundpositionen kennzei<strong>ch</strong>nen<br />
das unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Vernunftkonzept bei <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung – ein<br />
Konzept, auf das neben den Begründungstheorien au<strong>ch</strong> die Erzeugungstheorien <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mittelbar angewiesen sind.<br />
c) Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien<br />
Eine grundlegende Unters<strong>ch</strong>eidung aus <strong>der</strong> Entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
ist diejenige zwis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien. Die<br />
historis<strong>ch</strong>e Wurzel dessen, was zu den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien im Sinne von D 2 gehört,<br />
sind die Naturre<strong>ch</strong>tslehren 234 . Der Begriff des Naturre<strong>ch</strong>ts (ius naturae, lex natu-<br />
(Handlungs-)Verfahren und betra<strong>ch</strong>tet den 'heuristis<strong>ch</strong>en Wert' zudem als einzige Leistung <strong>der</strong><br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, da er eine eigenständige Begründungsleistung ni<strong>ch</strong>t anerkennt<br />
und die prozeduralen <strong>Theorien</strong> ledigli<strong>ch</strong> als 'Stimmigkeits- o<strong>der</strong> Plausibilitätskontrolle' für<br />
dienli<strong>ch</strong> hält.<br />
232 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 113.<br />
233 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 114.<br />
234 Die Einzelheiten <strong>der</strong> Genese von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aus Naturre<strong>ch</strong>tslehren können hier ni<strong>ch</strong>t<br />
behandelt werden. Vgl. dazu H. Welzel, Naturre<strong>ch</strong>t und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1962), S. 108 ff.;<br />
J. Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 64 ff., 86 ff. (seven self-evident basic values); L.L.<br />
Weinreb, Natural Law and Justice (1987), S. 43 ff., 225 ff. sowie die Beiträge in D. Mayer-<br />
Maly/P.M. Simons (Hrsg.), Das Naturre<strong>ch</strong>tsdenken heute und morgen (1983). Speziell zur Vorgehensweise<br />
<strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehren R. Hittinger, A Critique of the New Natural Law Theory<br />
(1987), S. 10 ff., 155 ff.; O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 88 ff. Eine religiös-materiale und<br />
in diesem Sinne 'naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e' Theorie formuliert beispielsweise E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1943), S. 54 ff. Vgl. außerdem oben Fn. 16 (Naturre<strong>ch</strong>t versus Re<strong>ch</strong>tspositivismus).<br />
89
ae) steht – ganz im Wortsinne 235 – für dasjenige Re<strong>ch</strong>t, das si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong><br />
Welt 236 und dabei insbeson<strong>der</strong>e aus <strong>der</strong> Natur des Mens<strong>ch</strong>en ableitet, diesem also<br />
vorgegeben ist, ohne daß es seiner Setzung unterworfen wäre (Vorpositivität) 237 . Naturre<strong>ch</strong>t<br />
beanspru<strong>ch</strong>t unabdingbare Gültigkeit, ist also – im Gegensatz zum positiven<br />
Re<strong>ch</strong>t – von Raum und Zeit unabhängig (Cicero, lex aeterna, lex naturalis) 238 . Als antikes<br />
(Platon, Aristoteles) 239 , spätantikes (Augustinus, lex divina), mittelalterli<strong>ch</strong>es (Thomas<br />
von Aquin, ius divinum) 240 , reformatoris<strong>ch</strong>es (Luther, Calvin) 241 o<strong>der</strong> sonst ontologis<strong>ch</strong>es,<br />
d.h. kosmologis<strong>ch</strong>es o<strong>der</strong> anthropologis<strong>ch</strong>es 242 Naturre<strong>ch</strong>t (Grotius, Pufendorf)<br />
hat es bis zur Aufklärung na<strong>ch</strong> dem Wesen des Mens<strong>ch</strong>en gefragt, seither indes,<br />
235 Vgl. O. Höffe, Artikel: Naturre<strong>ch</strong>t (1987), Sp. 1298: »Die Natur ist jener Aspekt am Mens<strong>ch</strong>en und<br />
seiner Welt, <strong>der</strong> <strong>der</strong> persönli<strong>ch</strong>en, gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en und ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Verfügung entzogen, insofern<br />
s<strong>ch</strong>on vom Begriff her vorpositiv und überpositiv gültig ist.«<br />
236 Ni<strong>ch</strong>tanthropozentris<strong>ch</strong> ist beispielsweise <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tsbegriff in Dig. 1, 1, 1, 3: »Ius naturale est,<br />
quod natura omnia animalia docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium,<br />
quae in terra, quae in mari nascuntur, avium quoque commune est.« In <strong>der</strong> Übersetzung von Seiler, in:<br />
Behrends/Knütel/Kupis<strong>ch</strong>/Seiler (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 2 (1995), S. 92: »Naturre<strong>ch</strong>t ist<br />
das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. Denn dieses Re<strong>ch</strong>t ist ni<strong>ch</strong>t allein dem Mens<strong>ch</strong>enges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t<br />
eigen, son<strong>der</strong>n allen Lebewesen, die es auf dem Lande und im Wasser gibt, gemeinsam<br />
– au<strong>ch</strong> den Vögeln.«<br />
237 Vgl. dazu die frühe Kritik bei J. Bentham, Anar<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>al Fallacies (1820), S. 501: »Natural rights is<br />
simple nonsense: natural and imprescriptible rights, rhetorical nonsense, – nonsense upon stilts.«<br />
238 Vgl. M.T. Cicero, Über den Staat, III, 22: »Es stellt si<strong>ch</strong> ja das wahre Gesetz in <strong>der</strong> geradlinigen<br />
Vernunft dar, die in Einklang steht mit <strong>der</strong> Natur, die über alle Mens<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> ausgebreitet hat,<br />
die festen, dauernden Bestand hat, ... Dieses Gesetz in seiner Rei<strong>ch</strong>weite einzus<strong>ch</strong>ränken, verstößt<br />
wi<strong>der</strong> göttli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t; es ist au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erlaubt, es teilweise aufzuheben, und es kann au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
ganz abges<strong>ch</strong>afft werden. ... es wird ni<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>s in Rom, an<strong>der</strong>s in Athen, an<strong>der</strong>s heute, an<strong>der</strong>s<br />
später sein, son<strong>der</strong>n die Völker werden sowohl in ihrer Gesamtheit wie zu allen Zeiten dieses eine<br />
Gesetz als ewiges und unverän<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>es umfassen und einer wird glei<strong>ch</strong>sam <strong>der</strong> gemeinsame<br />
Lehrer und Gebieter über alle sein: Gott.« Zu lex aeterna und lex naturalis bei Augustinus siehe A.<br />
Kaufmann, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1984), S. 17.<br />
239 Vgl. W. Waldstein, Zur juristis<strong>ch</strong>en Relevanz <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei Aristoteles, Cicero und Ulpian<br />
(1996), S. 67 ff.: Der antike Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Tugend bedinge, daß eine substantiell gere<strong>ch</strong>te<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ordnung naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verstanden werde.<br />
240 Vgl. etwa Thomas von Aquin, ST, II-II, 57, 2 (Antwort zu 3.): »Ad tertium dicendum quod jus divinum<br />
dicitur quod divinitus promulgatur. ...« In <strong>der</strong> Übersetzung von Groner: »Zu 3.: Jenes Re<strong>ch</strong>t heißt<br />
'göttli<strong>ch</strong>', das dur<strong>ch</strong> Gott kundgetan wird. Es bezieht si<strong>ch</strong> teilweise auf das naturhaft Gere<strong>ch</strong>te –<br />
seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bleibt dem Mens<strong>ch</strong>en jedo<strong>ch</strong> verborgen –, teilweise auf das, was dur<strong>ch</strong> göttli<strong>ch</strong>e<br />
Verfügung gere<strong>ch</strong>t wird. Daher kann, wie das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t, au<strong>ch</strong> das göttli<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong><br />
diesen zwei Gesi<strong>ch</strong>tspunkten unters<strong>ch</strong>ieden werden.« Vgl. dazu: M.B. Crowe, St. Thomas and Ulpian's<br />
Natural Law (1974), S. 261 ff. (281 f.) – weitgehende Übernahme von Ulpians Naturre<strong>ch</strong>tsverständnis<br />
in <strong>der</strong> thomasis<strong>ch</strong>en Lehre; M. Beck-Mannagetta, Mittelalterli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>slehre<br />
(1996), S. 74 ff.<br />
241 Dazu etwa E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 319 ff. Anm. 34 m.w.N.<br />
242 Das kosmologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>reibt als ontologis<strong>ch</strong>es Naturbild eine (gottgestiftete) Ordnung<br />
<strong>der</strong> Welt, das anthropologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>t dagegen das Wesen des Mens<strong>ch</strong>en; O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 89. Der Übergang vom theozentris<strong>ch</strong>en zum anthropozentris<strong>ch</strong>en<br />
Weltbild und damit ein Paradigmenwe<strong>ch</strong>sel in <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehre kann etwa bei Jean Bodin verortet<br />
werden; vgl. J. Bodin, Se<strong>ch</strong>s Bü<strong>ch</strong>er über den Staat (1583), I. Bu<strong>ch</strong>, 1. Kapitel, S. 101: »Wenn<br />
nun aber die wahre Glückseligkeit des Staates (R) glei<strong>ch</strong>zusetzen ist mit <strong>der</strong> des einzelnen Mens<strong>ch</strong>en<br />
...«. Das neue anthropozentris<strong>ch</strong>e Weltbild hat seinen Nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lag dann in den ni<strong>ch</strong>ttheozentris<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien von Thomas Hobbes (Vom Bürger, 1642; Leviathan, 1651) und<br />
John Locke (Two Treatises of Government, 1698) gefunden.<br />
90
in <strong>der</strong> Form des rationalistis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>ts (Vernunftre<strong>ch</strong>ts), na<strong>ch</strong> dem als ri<strong>ch</strong>tig<br />
Erkannten.<br />
Es kann ein enger und ein weiter Naturre<strong>ch</strong>tsbegriff unters<strong>ch</strong>ieden werden. Naturre<strong>ch</strong>t<br />
im engeren Sinn ist nur das ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>t 243 , das bis auf wenige<br />
Ausnahmen neuerer, meist religiös motivierter <strong>Theorien</strong> 244 in <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Aufklärung<br />
begründet wurde 245 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird dabei in einem personalen Sinn verstanden,<br />
etwa in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition bei Ulpian 246 . Beginnend mit <strong>der</strong> neuzeitli<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie (Descartes) orientieren si<strong>ch</strong> Antworten demgegenüber an Kriterien<br />
<strong>der</strong> Vernunft – juristis<strong>ch</strong> gewendet in Form eines rationalistis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>ts<br />
o<strong>der</strong> Vernunftre<strong>ch</strong>ts, das dur<strong>ch</strong> die Aufklärung (Kant) dann (abgesehen von aufklärungskritis<strong>ch</strong>en<br />
Ausnahmen) zu einem kritis<strong>ch</strong>en Vernunftre<strong>ch</strong>t wird 247 . Naturre<strong>ch</strong>t in<br />
diesem weiteren Sinne ist jedes Normensystem, das na<strong>ch</strong> Maßstäben für positives<br />
Re<strong>ch</strong>t fragt, also sowohl ältere ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>tslehren als au<strong>ch</strong> das neuzeitli<strong>ch</strong>e<br />
Vernunftre<strong>ch</strong>t eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aller normativ-politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien 248 .<br />
Für die Zwecke dieser Untersu<strong>ch</strong>ung wird <strong>der</strong> enge Naturre<strong>ch</strong>tsbegriff verwendet,<br />
um die Abgrenzung von neueren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien zu betonen. Unter 'Naturre<strong>ch</strong>t'<br />
wird im folgenden also, soweit ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>s gekennzei<strong>ch</strong>net, nur<br />
das ontologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>t, ni<strong>ch</strong>t dagegen das Vernunftre<strong>ch</strong>t verstanden.<br />
243 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 9 f. spri<strong>ch</strong>t von dem substanzontologis<strong>ch</strong>en<br />
Denken als Grundlage für 'Naturre<strong>ch</strong>t im herkömmli<strong>ch</strong>en Sinne' bzw. 'Naturre<strong>ch</strong>t alter<br />
Art'. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 108 kennzei<strong>ch</strong>net als 'klassis<strong>ch</strong>e' Naturre<strong>ch</strong>tslehren<br />
diejenigen, die Natur ni<strong>ch</strong>t im Sinne <strong>der</strong> neuzeitli<strong>ch</strong>en Naturwissens<strong>ch</strong>aft, son<strong>der</strong>n als »sinnvoll-werthaft-vernünftige<br />
Seinsordnung o<strong>der</strong>, <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong> interpretiert, als göttli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>öpfungsordnung«<br />
verstehen. Den engen Naturre<strong>ch</strong>tsbegriff verwendet au<strong>ch</strong> H. Kelsen, Allgemeine Theorie<br />
<strong>der</strong> Normen (1979), S. 4 ff.: Alle Naturre<strong>ch</strong>tslehren gründeten letztli<strong>ch</strong> auf Voraussetzungen<br />
eines religiösen Bekenntnisses.<br />
244 Etwa E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 54 ff. (54): »Das göttli<strong>ch</strong>e Gesetz <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>«. Ein<br />
vernunftre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gewendetes, aber glei<strong>ch</strong>wohl no<strong>ch</strong> religiöses Naturre<strong>ch</strong>t unter Bezugnahme auf<br />
Thomas von Aquin kann bei G. Grisez, Beyond the New Theism (1975); <strong>der</strong>s., Christian Moral Principles<br />
(1983) und J. Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980) verortet werden; kritis<strong>ch</strong> dazu<br />
etwa: R. Hittinger, Critique of the New Natural Law Theory (1987), S. 155 ff. (192): »A natural law<br />
theory must show how nature is normative with regard to practical rationality. This has not been<br />
accomplished by the Grisez-Finnis method.«<br />
245 Dazu oben Fn. 234 (Naturre<strong>ch</strong>tslehren).<br />
246 Dazu oben S. 45 (suum cuique-Formel; bei Ulpian: iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum<br />
unicuique tribuendi) sowie S. 66 ff. (idealistis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff und Subjektivierung). Zum<br />
Gegensatz <strong>der</strong> personalen zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> siehe O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1987), S. 59 f.<br />
247 Der We<strong>ch</strong>sel von einer 'metaphysis<strong>ch</strong>en' zur 'praktis<strong>ch</strong>en' Philosophie kann fühestens bei René<br />
Descartes, die Unters<strong>ch</strong>eidung von mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er und natürli<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> frühestens bei den<br />
Vorsokratikern festgestellt werden; A. Kaufmann, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1984), S. 11 f., 20. Die<br />
prägende Vorstellung, daß mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ordnung allein Mens<strong>ch</strong>enwerk sein darf, statt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
natürli<strong>ch</strong>en Vorgaben zu ri<strong>ch</strong>ten, setzt hingegen eine kritis<strong>ch</strong>e Distanz zur Metaphysik voraus,<br />
wie sie systematis<strong>ch</strong> erst mit <strong>der</strong> Aufklärung in <strong>der</strong> kritis<strong>ch</strong>en Philosophie Kants entwickelt wurde.<br />
248 Vgl. die Verwendung des weiten Naturre<strong>ch</strong>tsbegriffs bei J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 77,<br />
S. 506 mit Fn. 30: »Thus justice as fairness has the <strong>ch</strong>aracteristic marks of a natural rights theory.«<br />
91
d) <strong>Theorien</strong> na<strong>ch</strong> Vernunftgebrau<strong>ch</strong>? (J. Habermas)<br />
Für die Klassifizierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien na<strong>ch</strong> den Grundpositionen politis<strong>ch</strong>er<br />
Philosophie wurde auf die Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft Bezug genommen.<br />
Von <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, verstanden als <strong>der</strong> Fähigkeit, begründete und in diesem<br />
Sinne 'ri<strong>ch</strong>tige' Antworten auf Fragen des Handelns zu finden, ma<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en<br />
auf drei grundsätzli<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Weisen Gebrau<strong>ch</strong>, die im Ans<strong>ch</strong>luß an<br />
Habermas als pragmatis<strong>ch</strong>er, ethis<strong>ch</strong>er und moralis<strong>ch</strong>er Gebrau<strong>ch</strong> bezei<strong>ch</strong>net werden<br />
können 249 . Zu je<strong>der</strong> dieser Gebrau<strong>ch</strong>sformen gibt es spezifis<strong>ch</strong>e Konfliktpotentiale<br />
und Konfliktlösungsmodelle. Die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en den drei Formen ist für<br />
die Analyse von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien deshalb wi<strong>ch</strong>tig, weil es zu <strong>der</strong>en Eigenart<br />
gehört, entwe<strong>der</strong> die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Gebrau<strong>ch</strong>sweise stärker zu betonen. So<br />
läßt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong>e Vernunftgebrau<strong>ch</strong> am ehesten mit <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition identifizieren, <strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong>e mit denen <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en und<br />
<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>e mit <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition. Denno<strong>ch</strong> kann gezeigt<br />
werden, daß Habermas Typologie des Vernunftgebrau<strong>ch</strong>s ni<strong>ch</strong>t identis<strong>ch</strong> ist mit <strong>der</strong><br />
hier vorgenommenen Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen.<br />
aa) Pragmatis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong><br />
Einen pragmatis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft ma<strong>ch</strong>t, wer das Handeln<br />
dana<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tet, ob es gut für jemanden o<strong>der</strong> einige ist. Dem vorgelagert ist die<br />
Zweckrationalität, also die Frage, ob ein Handeln überhaupt gut für etwas (einen<br />
Zweck, ein Ziel) ist 250 . Typis<strong>ch</strong>erweise liegt <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft darin, gemäß den eigenen Interessen, also individualpragmatis<strong>ch</strong> zu<br />
handeln (Egoismus). Pragmatis<strong>ch</strong> ist aber au<strong>ch</strong> ein Handeln, das sozialpragmatis<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong> dem Gesamtwohl einer Gruppe fragt (Utilitarismus). Dur<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ickte Abwägung<br />
<strong>der</strong> Vor- und Na<strong>ch</strong>teile führt pragmatis<strong>ch</strong>e Rationalität zu einer Optimierung<br />
des Verhaltens bei vorgegebenen Rahmenbedingungen. Allgemeine Handlungsprinzipien<br />
erlangen dabei den Status von Klugheitsregeln: 'Unter den gegebenen<br />
Umständen ist Handlungsweise A für mi<strong>ch</strong>/für alle besser als Handlungsweise B.'<br />
Handeln na<strong>ch</strong> pragmatis<strong>ch</strong>er Rationalität ist einfa<strong>ch</strong>, solange die Umstände bestimmbar<br />
und die Ergebnisse von Handlungsweisen vorhersehbar sind: Wer vor einem<br />
starken Regens<strong>ch</strong>auer in einen Unterstand flieht, weiß einigermaßen si<strong>ch</strong>er, daß<br />
er klug handelt, selbst wenn dies die Reise verzögert. S<strong>ch</strong>wieriger wird es, wenn die<br />
Umstände unklar sind. (Der Regens<strong>ch</strong>auer könnte in einen Dauerregen übergehen,<br />
so daß die Weiterreise ohnehin ni<strong>ch</strong>t im Trockenen ges<strong>ch</strong>ehen kann.) Sehr s<strong>ch</strong>wierig<br />
wird <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, wenn <strong>der</strong> Er-<br />
249 So die hier weitgehend übernommene Klassifizierung von J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en<br />
und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1988), S. 101. Vgl. au<strong>ch</strong> dessen Definition<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (ebd., S. 109): »Praktis<strong>ch</strong>e Vernunft nennen wir das Vermögen, ...<br />
Imperative [für das Handeln] zu begründen«. Dazu R. Alexy, Jürgen Habermas' Theorie des juristis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses (1995), S. 173: Im allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs werden »moralis<strong>ch</strong>e, ethis<strong>ch</strong>e<br />
und pragmatis<strong>ch</strong>e Fragen und Gründe miteinan<strong>der</strong> verbunden«.<br />
250 Zu dieser Abgrenzung von Zweckrationalität (gut für etwas) und pragmatis<strong>ch</strong>er Rationalität (gut<br />
für jemanden o<strong>der</strong> einige) siehe z.B. O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 53 f.; K. Günther,<br />
Kann ein Volk von Teufeln Re<strong>ch</strong>t und Staat moralis<strong>ch</strong> legitimieren? (1991), S. 190.<br />
92
folg <strong>der</strong> eigenen Handlungsweise maßgebli<strong>ch</strong> vom Verhalten an<strong>der</strong>er abhängt. (Im<br />
bereits besetzten Unterstand ma<strong>ch</strong>t niemand Platz.) Dann kann nur no<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenige<br />
klug agieren, <strong>der</strong> die Aktionen und Reaktionen an<strong>der</strong>er in die eigenen Ents<strong>ch</strong>eidungen<br />
einbezieht, nötigenfalls unter Bea<strong>ch</strong>tung <strong>der</strong> jeweiligen Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keiten für<br />
einzelne Handlungsalternativen: das pragmatis<strong>ch</strong>e wird zum strategis<strong>ch</strong>en Handeln<br />
251 . Die Absi<strong>ch</strong>t des klugen Verhaltens stößt dadur<strong>ch</strong> bei je<strong>der</strong> sozialen Interaktion<br />
auf ein Dicki<strong>ch</strong>t von we<strong>ch</strong>selseitig beeinflußten Handlungsalternativen und<br />
Handlungsstrategien. <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens (rational <strong>ch</strong>oice theories) 252<br />
widmen si<strong>ch</strong> den s<strong>ch</strong>wierigen Vorteilsbere<strong>ch</strong>nungen, wie sie vor allem bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
über ri<strong>ch</strong>tiges Marktverhalten erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> sind.<br />
Pragmatis<strong>ch</strong>e Konflikte entstehen dadur<strong>ch</strong>, daß mehrere Personen dieselbe Sa<strong>ch</strong>e<br />
begehren o<strong>der</strong> einan<strong>der</strong> als Mittel für eigene Zwecke gebrau<strong>ch</strong>en wollen 253 . Diese<br />
Konflikte komplizieren si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Bedürfnisse, Fähigkeiten, Neigungen<br />
und Interessen erhebli<strong>ch</strong>. Die Lösung pragmatis<strong>ch</strong>er Konflikte liegt im situativen<br />
Kompromiß, d.h. in einem von Fall zu Fall si<strong>ch</strong> einstellenden Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t, das<br />
auf gegenseitigem, wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t notwendig glei<strong>ch</strong> weitgehendem Verzi<strong>ch</strong>t beruht<br />
254 . Freiwilligkeit ist zwar keine notwendige Voraussetzung des Kompromisses,<br />
denn die Unvereinbarkeit <strong>der</strong> Verhaltensweise läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Zwang effektiv<br />
beseitigen. Aber ein gewisses Maß an Freiwilligkeit hat si<strong>ch</strong> als stabilitätsför<strong>der</strong>nd<br />
erwiesen, verhin<strong>der</strong>t also den baldigen Rückfall in einen ungelösten Konflikt. Inbegriff<br />
des freiwilligen Kompromisses ist <strong>der</strong> Vertrag. Optimierungsbedingung vertragli<strong>ch</strong>er<br />
Kooperation ist <strong>der</strong> Markt. Dadur<strong>ch</strong> bilden Vertrag und Markt die Grundbegriffe<br />
aller <strong>Theorien</strong> über den pragmatis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft 255 .<br />
Unter den Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist die hobbesianis<strong>ch</strong>e diejenige,<br />
die pragmatis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> am stärksten betont, stellt sie do<strong>ch</strong> für<br />
die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns allein auf die Perspektive eines egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierers<br />
ab, <strong>der</strong> einer individuellen Vorteilskalkulation folgt, um sein Verhalten<br />
zu bestimmen. Damit ist indes ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen, daß au<strong>ch</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition einen pragmatis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> zu-<br />
251 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (1981), S. 127.<br />
252 Dazu unten S. 167 ff. (<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
253 Konflikt ist hier s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t als Imkompatibilität von Zielvorstellungen gemeint. Zu diesem Konfliktbegriff<br />
vgl. B. Barry, Political Argument (1965), S. 84: »Conflict, on my definition, arises wherever<br />
two or more actors have incompatible desires (including publicly-oriented wants for this<br />
purpose) concerning the future state of the world, and try to do something about it.« Als Verfahren<br />
zur Konfliktlösung nennt Barry, ebd., S. 84 ff.: S<strong>ch</strong>lagabtaus<strong>ch</strong> (combat), Verhandlung (bargaining),<br />
Diskurs (»Discussion on Merits. As an 'ideal type' this involves the complete absence of<br />
threats and inducements; the parties to the dispute set out ... to rea<strong>ch</strong> an agreement on what is the<br />
morally right division«), Wahl o<strong>der</strong> Abstimmung (voting), Los (<strong>ch</strong>ance), Wettkampf (contest) und<br />
autoritative Ents<strong>ch</strong>eidung (authoritative determination).<br />
254 Zur Notwendigkeit von Kompromissen als Ergebnis pragmatis<strong>ch</strong>er Diskurse siehe J. Habermas,<br />
Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1988),<br />
S. 117. – Ein Kompromiß beinhaltet immer einen bei<strong>der</strong>seitigen Verzi<strong>ch</strong>t, denn s<strong>ch</strong>on im Begriff des<br />
Konflikts liegt begründet, daß keine Seite die eigenen Interessen freiwillig und vollständig aufgibt;<br />
folgli<strong>ch</strong> 'verzi<strong>ch</strong>tet' die obsiegende Partei zumindest auf den Vorteil einer zwanglosen Dur<strong>ch</strong>setzung<br />
<strong>der</strong> eigenen Position.<br />
255 Vgl. unten S. 180 ff. (neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
93
lassen, nur ist er dort einer ni<strong>ch</strong>tpragmatis<strong>ch</strong>en Begründung (d.h. einer ethis<strong>ch</strong>en<br />
o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en) untergeordnet.<br />
bb) Ethis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong><br />
Der ethis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft bes<strong>ch</strong>reibt die Ausri<strong>ch</strong>tung des<br />
Handelns an einem individuellen o<strong>der</strong> kollektiven Lebensplan, ma<strong>ch</strong>t also die För<strong>der</strong>ung<br />
des Guten zum Beurteilungskriterium des Handelns 256 . Der Handelnde muß,<br />
meist in einem Prozeß <strong>der</strong> individuellen o<strong>der</strong> kollektiven Selbstreflexion, eine Konzeption<br />
des Guten für si<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> für die Gemeins<strong>ch</strong>aft entwickeln und als Handlungsziel<br />
verfolgen. Ein Beispiel hierfür bietet das Verhalten, wie es von Tugendlehren,<br />
etwa sol<strong>ch</strong>en des neoaristotelis<strong>ch</strong>en Kommunitarismus 257 , propagiert wird: tugendhafte<br />
Mens<strong>ch</strong>en handeln so, daß ihr Handeln na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> eigenen Vorstellung etwas<br />
Gutes bewirkt.<br />
Zur individuellen Konzeption des Guten gehören alle s<strong>ch</strong>werwiegenden Wertents<strong>ch</strong>eidungen,<br />
dur<strong>ch</strong> die eine Person bestimmt, wer sie ist und wofür sie leben mö<strong>ch</strong>te<br />
258 . Die Konzeption des Guten s<strong>ch</strong>ließt eine Konzeption des Selbst und eine Konzeption<br />
des guten Lebens ein, gewissermaßen das Woher und Wohin des I<strong>ch</strong>. Allgemeine<br />
Handlungsprinzipien erlangen dabei den Status von axiologis<strong>ch</strong>en und teleologis<strong>ch</strong>en<br />
Regeln. Axiologis<strong>ch</strong>, also auf ein Wertsystem bezogen, ist beispielsweise<br />
<strong>der</strong> Satz: 'Handlungsweise A ist für mi<strong>ch</strong> besser als Handlungsweise B, weil i<strong>ch</strong><br />
selbstloses Handeln für besser halte als habgieriges.' Teleologis<strong>ch</strong>, also auf Ziele bezogen,<br />
ist beispielsweise <strong>der</strong> Satz: 'Handlungsweise A ist für mi<strong>ch</strong> besser als Handlungsweise<br />
B, weil sie mi<strong>ch</strong> zu einem guten Christen ma<strong>ch</strong>t.' Werte und Ziele markieren<br />
so den ethis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> bei einer Handlung. Ethis<strong>ch</strong>e und pragmatis<strong>ch</strong>e<br />
Handlungskriterien übers<strong>ch</strong>neiden si<strong>ch</strong> dort, wo sie beide die individuelle<br />
Perspektive einnehmen ('X ist gut für mi<strong>ch</strong>'). Die Zweckmäßigkeitskriterien des ethis<strong>ch</strong>en<br />
Handelns unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> aber von denen des pragmatis<strong>ch</strong>en: Pragmatis<strong>ch</strong>e<br />
Zielverfolgung orientiert si<strong>ch</strong> an dem dur<strong>ch</strong> einzelne Handlungsweisen errei<strong>ch</strong>baren<br />
Vorteil; ethis<strong>ch</strong>e Werthaftigkeit und Zielverfolgung orientieren si<strong>ch</strong> unabhängig von<br />
den Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Einzelsituation an einem längerfristigen Ideal. Deshalb kann<br />
ethis<strong>ch</strong> motiviert sogar <strong>der</strong>jenige handeln, <strong>der</strong> die Aussi<strong>ch</strong>tslosigkeit o<strong>der</strong> zumindest<br />
Na<strong>ch</strong>teiligkeit einer Handlungsweise bei pragmatis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Dinge bereits erkannt<br />
hat. Märtyrer sind aus diesem Holz ges<strong>ch</strong>nitzt.<br />
Ethis<strong>ch</strong>e Konflikte entstehen dadur<strong>ch</strong>, daß Personen o<strong>der</strong> Gruppen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Wertvorstellungen und Lebenspläne verfolgen und dur<strong>ch</strong> ihr Zusammenleben<br />
bei <strong>der</strong>en Verfolgung aneinan<strong>der</strong>geraten. Die Lösung ethis<strong>ch</strong>er Konflikte liegt in <strong>der</strong><br />
256 J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 101, 103 f. – Der ethis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft muß dabei vom sehr viel umfassen<strong>der</strong>en<br />
Begriff <strong>der</strong> Ethik als Wissens<strong>ch</strong>aft von <strong>der</strong> Moral unters<strong>ch</strong>ieden werden. Diese gänzli<strong>ch</strong><br />
an<strong>der</strong>e Bestimmung von 'ethis<strong>ch</strong>' und 'Ethik' ist die geläufigere, vgl. etwa O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 55. Trotz dieser Verwe<strong>ch</strong>slungsgefahr ist au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> von<br />
Habermas inzwis<strong>ch</strong>en verbreitet. Er wird hier zugrundegelegt.<br />
257 Dazu unten S. 161 ff. (neoaristotelis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus MacIntyres).<br />
258 J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 103.<br />
94
Begründung einer kollektiven Identität, d.h. eines gemeinsamen Wertekanons und einer<br />
gemeinsamen Lebensweise unter denjenigen Mens<strong>ch</strong>en, die zusammenleben 259 .<br />
Diese Identität kann ni<strong>ch</strong>t allein auf effektiver Dur<strong>ch</strong>setzung erzwungener Konformität<br />
beruhen, son<strong>der</strong>n liegt erst in <strong>der</strong> freiwilligen Übereinkunft unter den Mitglie<strong>der</strong>n<br />
eines Sozialwesens. So wird bei Aristoteles die Ethik des Einzelnen in die Polis<br />
<strong>der</strong> Bürger einbezogen, tritt bei Hegel die Aufhebung des Gegensatzes von erzwungener<br />
Konformität und autonomer Moralität in <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit ein und finden Kommunitaristen<br />
die harmoniebildende Identität in <strong>der</strong> Kontinuität gemeinsamer historis<strong>ch</strong>er<br />
Lebensweisen 260 .<br />
Unter den Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist die aristotelis<strong>ch</strong>e diejenige,<br />
die ethis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> am stärksten betont. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> hier gilt:<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition können dem ethis<strong>ch</strong>en<br />
Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft Bedeutung zuerkennen, soweit dies im Rahmen<br />
<strong>der</strong> für sie in erster Linie maßgebli<strong>ch</strong>en pragmatis<strong>ch</strong>en bzw. moralis<strong>ch</strong>en Kriterien<br />
mögli<strong>ch</strong> ist.<br />
cc) Moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong><br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> liegt ein moralis<strong>ch</strong>er Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft vor, wenn man<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Handlungsweise selbst fragt, also in <strong>der</strong> hier auss<strong>ch</strong>laggebenden<br />
Definition na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Verhaltens in bezug<br />
auf an<strong>der</strong>e 261 . Das Handeln verlangt na<strong>ch</strong> einer überindividuellen Re<strong>ch</strong>tfertigung,<br />
muß also universalisierbaren Regeln gehor<strong>ch</strong>en, d.h. sol<strong>ch</strong>en, die für alle Mens<strong>ch</strong>en<br />
als verbindli<strong>ch</strong> begründet werden können. Allgemeine Handlungsprinzipien erlangen<br />
dabei den Status kategoris<strong>ch</strong>er Imperative: 'Handlungsweise A ist besser als<br />
Handlungsweise B, weil sie einem allgemeinen Gesetz enspri<strong>ch</strong>t, das für alle ri<strong>ch</strong>tig<br />
ist.' Die individuelle Perspektive pragmatis<strong>ch</strong>er und ethis<strong>ch</strong>er Motive ('besser für<br />
mi<strong>ch</strong>', 'besser für mi<strong>ch</strong> in meiner Gemeins<strong>ch</strong>aft') wird dabei zugunsten einer universellen<br />
Perspektive ('besser für alle') verlassen. Der moralis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft zeigt si<strong>ch</strong> in moralis<strong>ch</strong>en Selbstbes<strong>ch</strong>ränkungen (moral constraints),<br />
d.h. in <strong>der</strong> Zurückstellung eigener Neigungen, Werte und Ziele hinter Überlegungen,<br />
die auf alle bezogen sind. So, wie <strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong> Handelnde die augenblickli<strong>ch</strong>en Neigungen<br />
zugunsten seiner längerfristigen Konzeption des Guten zurückstellt und gerade<br />
in dieser Neigungsverdrängung zur Tugendhaftigkeit gelangt, so stellt <strong>der</strong> mo-<br />
259 Zur Herausbildung einer kollektiven Identität als Ergebnis ethis<strong>ch</strong>-politis<strong>ch</strong>er Diskurse siehe<br />
J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 117.<br />
260 Vgl. J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 100, 106.<br />
261 Zur Bezugnahme auf das 'Gere<strong>ch</strong>te' siehe J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1988), S. 101; zum hier zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
siehe oben S. 50 (D 1 ). Hier soll <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit für konventionelle Moralvorstellungen<br />
innerhalb einer historis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft reserviert bleiben. Häufig werden die<br />
Prädikate 'moralis<strong>ch</strong>' und 'sittli<strong>ch</strong>' dagegen synonym verwendet; so z.B. ausdrückli<strong>ch</strong> O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 55. Diese moralsynonyme Verwendungsweise von 'Sittli<strong>ch</strong>keit'<br />
und 'Sittengesetz' geht auf Kant zurück; I. Kant, KrV (1781), B 834 / A 806 ff.<br />
95
alis<strong>ch</strong> Handelnde die eigene Konzeption des Guten unter den Vorbehalt, daß diese<br />
mit den konkurrierenden Konzeptionen an<strong>der</strong>er vereinbar ist.<br />
Moralis<strong>ch</strong>e Konflikte entstehen dadur<strong>ch</strong>, daß Personen eine unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Vorstellung davon haben, wel<strong>ch</strong>e Verhaltensregeln für alle begründet sind und darum<br />
gelten sollten. Die Lösung moralis<strong>ch</strong>er Konflikte ges<strong>ch</strong>ieht dur<strong>ch</strong> die Etablierung<br />
von Verhaltensnormen, d.h. vor allem dur<strong>ch</strong> zwingende Re<strong>ch</strong>tsnormen, aber au<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> Konventionsbildung in Politik und Gesells<strong>ch</strong>aft 262 .<br />
Unter den Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist die kantis<strong>ch</strong>e diejenige,<br />
die den moralis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> am stärksten betont. Wie<strong>der</strong>um gilt, daß<br />
au<strong>ch</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition dem moralis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunftgebrau<strong>ch</strong> Platz einräumen können, dann aber nur innerhalb eines<br />
Handlungsrahmens, <strong>der</strong> pragmatis<strong>ch</strong> (Moralität als Bedürfnis) o<strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong> (Moralität<br />
als Identitätsbildung) begründet ist.<br />
Eine Beson<strong>der</strong>heit ergibt si<strong>ch</strong> beim Utilitarismus, denn dieser rekurriert einerseits<br />
auf moralis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong>, weil si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Einzelne in seinen Bedürfnissen<br />
dem größeren Gemeinnutzen unterwerfen muß, insoweit also uneigennützig und in<br />
diesem Sinne 'moralis<strong>ch</strong>' handelt. Die vers<strong>ch</strong>iedenen Spielarten des Utilitarismus<br />
sind aber an<strong>der</strong>erseits ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition zuzure<strong>ch</strong>nen, da es beim Utilitarismus allein um die Verwirkli<strong>ch</strong>ung<br />
einer formal definierten Konzeption des Guten – des 'größten Glücks <strong>der</strong> größten<br />
Zahl' 263 – geht, so daß si<strong>ch</strong> jede 'moralis<strong>ch</strong>e' Uneigennützigkeit im Utilitarismus einem<br />
Gemeinwohlideal unterordnet.<br />
dd) Ergebnisse<br />
Wenn die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition s<strong>ch</strong>lagwortartig als 'moralis<strong>ch</strong>' gekennzei<strong>ch</strong>net<br />
werden, diejenigen <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition demgegenüber<br />
als 'pragmatis<strong>ch</strong>' und die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition als 'ethis<strong>ch</strong>',<br />
dann trifft das insoweit zu, als damit tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenige Vernunftgebrau<strong>ch</strong> identifiziert<br />
ist, <strong>der</strong> bei den jeweiligen <strong>Theorien</strong> an erster Stelle steht, dem si<strong>ch</strong> also die an<strong>der</strong>en<br />
Gebrau<strong>ch</strong>sformen unterordnen. Fals<strong>ch</strong> wäre es indes, daraus zu s<strong>ch</strong>ließen,<br />
daß die <strong>Theorien</strong> nie an<strong>der</strong>e als die für sie kennzei<strong>ch</strong>nenden Gebrau<strong>ch</strong>sformen <strong>der</strong><br />
praktis<strong>ch</strong>en Vernunft zulassen. Eine kantis<strong>ch</strong>e Theorie kann dur<strong>ch</strong>aus Raum lassen<br />
für pragmatis<strong>ch</strong>e und ethis<strong>ch</strong>e Motive des Handelns, ebenso wie eine hobbesianis<strong>ch</strong>e<br />
262 Vgl. J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1988), S. 117 f.<br />
263 Zum Prinzip <strong>der</strong> 'greatest happiness of the greatest number' bei Bentham siehe oben Fn. 6. Diese Gesamtnutzenmaximierung<br />
ist im Ergebnis mit <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittsnutzenmaximierung (average utility)<br />
identis<strong>ch</strong>, weil es für das Nutzenmaximierungskriterium glei<strong>ch</strong>gültig ist, ob man nur eine Summe<br />
aller einzelnen Nutzenbeiträge bildet (Gesamtnutzenmaximierung), o<strong>der</strong> ob man no<strong>ch</strong> einen<br />
S<strong>ch</strong>ritt weiter geht und diese Nutzensumme hypothetis<strong>ch</strong> als glei<strong>ch</strong>mäßig verteilt denkt (Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittsnutzenmaximierung).<br />
In je<strong>der</strong> <strong>der</strong> beiden Betra<strong>ch</strong>tungen enspri<strong>ch</strong>t die Maximierung des<br />
insgesamt (ni<strong>ch</strong>t: individuell) gebildeten Nutzens <strong>der</strong>jenigen Si<strong>ch</strong>t, die gemeinhin als 'utilitaristis<strong>ch</strong>'<br />
bezei<strong>ch</strong>net wird. Es ist ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen, einen Utilitarismus zu formulieren, in dem<br />
die Gesamtnutzenmaximierung gegen an<strong>der</strong>e substantielle Ziele ausgetaus<strong>ch</strong>t wird, etwa gegen<br />
eine Mindestnutzenmaximierung, die dann dem Differenzprinzip bei Rawls sehr ähnli<strong>ch</strong> wäre; vgl.<br />
zum Ganzen D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 240 ff. (247).<br />
96
Theorie im Einzelfall moralis<strong>ch</strong>es Verhalten als ri<strong>ch</strong>tig einzustufen vermag. Daher<br />
bleibt es dabei, daß die Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie mit ihrer je beson<strong>der</strong>en<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft das wi<strong>ch</strong>tigste Unters<strong>ch</strong>eidungsmerkmal<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bilden; die einzelnen Gebrau<strong>ch</strong>sformen <strong>der</strong><br />
Vernunft ordnen si<strong>ch</strong> dem jeweils unter.<br />
e) Vertrags-, Beoba<strong>ch</strong>ter-, Diskurstheorien<br />
Übli<strong>ch</strong>erweise werden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien – vor allem Sozialvertragstheorien 264 –<br />
na<strong>ch</strong> dem Darstellungsmittel klassifiziert, dessen sie si<strong>ch</strong> bedienen. Darum bedarf es<br />
einer Begründung dafür, daß dieser Unters<strong>ch</strong>eidung hier nur untergeordnete Bedeutung<br />
beigemessen wird. Den Ausgangspunkt <strong>der</strong> Begründung bildet die These, daß<br />
die Kategorien 'Vertrag', 'Beoba<strong>ch</strong>ter' und 'Diskurs' ni<strong>ch</strong>t nur vers<strong>ch</strong>iedene Darstellungsmittel,<br />
son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Rationalitätskonzepte identifizieren (bbdd),<br />
die indes mit dem Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Kategorien als Darstellungsmittel ni<strong>ch</strong>t in allen<br />
<strong>Theorien</strong> zusammenfallen (aa, Divergenzthese). Eine Klassifizierung na<strong>ch</strong> Darstellungsmitteln<br />
ist deshalb für die Analyse von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ni<strong>ch</strong>t aussagekräftig<br />
(ee, Indifferenzeinwand).<br />
aa) Darstellungsmittel und Rationalitätskonzept (Divergenzthese)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, zumindest diejenigen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 265 , arbeiten<br />
in aller Regel mit einem <strong>der</strong> drei Darstellungsmittel 'Vertrag', 'Beoba<strong>ch</strong>ter' o<strong>der</strong><br />
'Diskurs', sofern sie ni<strong>ch</strong>t auf ein beson<strong>der</strong>es Darstellungsmittel ganz verzi<strong>ch</strong>ten und<br />
argumentativ einen moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt (moral point of view) einnehmen. 'Vertrag',<br />
'Beoba<strong>ch</strong>ter' und 'Diskurs' sind ni<strong>ch</strong>t nur Darstellungsmittel, son<strong>der</strong>n es gibt<br />
daneben au<strong>ch</strong> methodis<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede, die mit diesen Kategorien identifiziert<br />
werden. So ist eine Diskurstheorie immer dialogis<strong>ch</strong> angelegt, d.h. sie begründet<br />
ri<strong>ch</strong>tiges Handeln mit dem Zusammenwirken mehrerer Personen, während eine Beoba<strong>ch</strong>tertheorie<br />
monologis<strong>ch</strong> vorgeht, die Begründung also in <strong>der</strong> Reflexion einer<br />
einzelnen Person sieht 266 . Man kann insoweit vom voluntativen (Vertrag), perspektivis<strong>ch</strong>en<br />
(Beoba<strong>ch</strong>ter) o<strong>der</strong> argumentativen Rationalitätskonzept (Diskurs) spre<strong>ch</strong>en.<br />
Die Divergenzthese besagt, daß eine Theorie, die ein bestimmtes Darstellungsmittel<br />
benutzt, keineswegs immer au<strong>ch</strong> das entspre<strong>ch</strong>ende Rationalitätskonzept zugrundelegt<br />
267 . Am deutli<strong>ch</strong>sten wird dies beim beliebtesten Darstellungsmittel, dem<br />
Vertrag. Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie – glei<strong>ch</strong> ob sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns perspektivis<strong>ch</strong><br />
(Beoba<strong>ch</strong>ter), voluntativ (Vertrag) o<strong>der</strong> argumentativ (Diskurs) begrün-<br />
264 Vgl. oben S. 22, Fn. 7 (neuere Arbeiten zu Sozialvertragstheorien). Zur ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Bedeutung<br />
des Sozialvertrags als »Denkfigur« vgl. H. Dreier, Staatli<strong>ch</strong>e Legitimität, Grundgesetz<br />
und neue soziale Bewegung (1987), S. 149 m.w.N.<br />
265 Vgl. oben S. 78 (S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
266 Dazu unten S. 211 ff. (dialogis<strong>ch</strong>es im Gegensatz zum monologis<strong>ch</strong>en Vorgehen).<br />
267 Ähnli<strong>ch</strong> W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 45 f., <strong>der</strong> zwis<strong>ch</strong>en<br />
dem 'Darstellungsprogramm' und dem 'Begründungsprogramm' des philosophis<strong>ch</strong>en Kontraktualismus<br />
unters<strong>ch</strong>eidet.<br />
97
det – kann si<strong>ch</strong> immer des Darstellungsmittels 'Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrag' bedienen 268 .<br />
Zwar gibt es insoweit keine Beliebigkeit: ni<strong>ch</strong>t jedes Darstellungsmittel läßt si<strong>ch</strong> mit<br />
jedem Rationalitätskonzept kombinieren 269 . Do<strong>ch</strong> muß für die drei Kategorien jeweils<br />
unters<strong>ch</strong>ieden werden, ob sie nur zur Darstellung <strong>der</strong> Theorie o<strong>der</strong> au<strong>ch</strong> zur Erklärung<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft eingesetzt werden. Dabei zeigt si<strong>ch</strong>, daß die Rationalitätskonzepte<br />
'Vertrag', 'Beoba<strong>ch</strong>ter' und 'Diskurs' ni<strong>ch</strong>t deckungsglei<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong><br />
Klassifikation na<strong>ch</strong> Grundpositionen sind 270 .<br />
bb) Der Vertrag<br />
Vertragstheorien sind alle <strong>Theorien</strong>, die si<strong>ch</strong> des Darstellungsmittels 'Vertrag' bedienen<br />
271 . Das Darstellungsmittel 'Vertrag' präsentiert mehrere Personen in einer Verhandlungs-<br />
und Ents<strong>ch</strong>eidungssituation. Bei definierter Interessenlage su<strong>ch</strong>t jede<br />
Person ihren eigenen Vorteil 272 und stimmt auf dieser Grundlage freiwillig einer gegenseitigen<br />
Vereinbarung zu, die Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten für die Zukunft begründet.<br />
Das (voluntative) Rationalitätskonzept 'Vertrag' su<strong>ch</strong>t praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis im<br />
freiwilligen Interessenabglei<strong>ch</strong>. Gegenseitige Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten sowie die darauf<br />
gestützten Verhaltensweisen stellen si<strong>ch</strong> genau dann als gere<strong>ch</strong>tfertigt dar, wenn sie<br />
Gegenstand einer Vereinbarung sein können. Das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Element<br />
liegt in <strong>der</strong> geda<strong>ch</strong>ten Freiwilligkeit <strong>der</strong> Bindung, also letztli<strong>ch</strong> in dem Satz, daß dem<br />
Einwilligenden kein Unre<strong>ch</strong>t getan werden kann (volenti non fit iniuria) 273 . Vertrags-<br />
268 Für Höffes Theorie des transzendentalen Taus<strong>ch</strong>es (dazu unten S. 193 ff.) hat beispielsweise<br />
K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 47 festgestellt, daß<br />
sie zwar das Darstellungsmittel des Sozialvertrags nutzt, für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns aber<br />
auf die Perspektive eines idealen, unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters abstellt. Vgl. au<strong>ch</strong> H. Pauer-Stu<strong>der</strong>,<br />
Das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 66 ff. (67) – Unters<strong>ch</strong>eidung von individualistis<strong>ch</strong>en (Hobbes,<br />
Gauthier) und universalistis<strong>ch</strong>en (Kant, Rawls) Vertragstheorien.<br />
269 Das Darstellungsmittel des Diskurses läßt si<strong>ch</strong> beispielsweise allein mit dem Rationalitätskonzept<br />
des Diskurses sinnvoll kombinieren, ni<strong>ch</strong>t aber mit Beoba<strong>ch</strong>ter- o<strong>der</strong> Vertragsrationalität, weil die<br />
au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Darstellung vorausgesetzte Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit bei interessengeleitetem Handeln unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
mä<strong>ch</strong>tiger Realpersonen ni<strong>ch</strong>t aufre<strong>ch</strong>terhalten werden kann. Das Darstellungsmittel<br />
des Beoba<strong>ch</strong>ters und erst re<strong>ch</strong>t dasjenige des Vertrags sind hingegen für unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Rationalitätskonzepte<br />
offen.<br />
270 Beispielsweise können kantis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> als Diskurstheorien mit argumentativem und als Beoba<strong>ch</strong>tertheorien<br />
mit perspektivis<strong>ch</strong>em Rationalitätskonzept arbeiten. In beiden Fällen explizieren<br />
sie eine universalistis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft.<br />
271 An<strong>der</strong>s V. Medina, Social Contract Theories (1990), S. 5: »Contractarianism is a theory whi<strong>ch</strong> maintains<br />
that all of our basic political rights and duties are <strong>der</strong>ived from some kind of explicit or implicit<br />
contract among a collection of individuals.« Dana<strong>ch</strong> wäre Vertragsrationalität nötig. Hier<br />
wird hingegen <strong>der</strong> übli<strong>ch</strong>e weite Vertragstheoriebegriff benutzt, na<strong>ch</strong> dem es allein auf das Darstellungsmittel<br />
ankommt.<br />
272 An<strong>der</strong>s insoweit W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 46 –<br />
Die Vorteilsorientierung gehöre ni<strong>ch</strong>t nur zum Darstellungsmittel, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> zum Rationalitätskonzept<br />
des Vertrages. Das mag für (neo)hobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien gelten, ni<strong>ch</strong>t<br />
aber für die kantis<strong>ch</strong>en, weil bei ihnen <strong>der</strong> individuelle Vorteil ni<strong>ch</strong>t notwendig den Auss<strong>ch</strong>lag<br />
gibt. Zur Zuordnung <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Grundpositionen siehe unten<br />
S. 137 f. (erweiterte Klassifizierung).<br />
273 Dig. 47, 10, 1, 5 f.: »[N]ulla iniuria est, quae in volentem fiat«; vgl. au<strong>ch</strong> Thomas von Aquin, ST, II-II, 59,<br />
3: »Dicendum est ergo quod injustum, per se et formaliter loquendo, nullus potest facere nisi volens, nec pa-<br />
98
ationalität bezei<strong>ch</strong>net das selbstlegitimierende Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t, das si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den Interessenabglei<strong>ch</strong><br />
vers<strong>ch</strong>iedener Vertragsparteien in einer Verhandlung einstellt, das<br />
dur<strong>ch</strong> die Zustimmung aller Beteiligten markiert wird und das eine gegenseitige<br />
Verpfli<strong>ch</strong>tung für die Zukunft begründet 274 . Ri<strong>ch</strong>tig ist dana<strong>ch</strong> genau die Handlungsweise,<br />
auf die si<strong>ch</strong> die Betroffenen in einem hypothetis<strong>ch</strong>en Vertragss<strong>ch</strong>luß einigen<br />
könnten.<br />
Die hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition spiegelt am besten das (voluntative) Rationalitätskonzept<br />
'Vertrag' wi<strong>der</strong>. In den Interessenabglei<strong>ch</strong>, <strong>der</strong> in einer Vertragsverhandlung<br />
stattfindet, fließt das Streben <strong>der</strong> Verhandlungsparteien na<strong>ch</strong> dem eigenen Vorteil<br />
ungehin<strong>der</strong>t ein 275 . Genau darin liegt die Gewähr von Handlungsri<strong>ch</strong>tigkeit na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition. Kantis<strong>ch</strong>e Vertragstheorien, die <strong>der</strong> Vertragssituation<br />
von vornherein bestimmte moralis<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen auferlegen, bedienen<br />
si<strong>ch</strong> demgegenüber nur des Darstellungsmittels 'Vertrag'. Dafür ist Rawls Theorie das<br />
beste Beispiel 276 : bei seinem Urzustand (original position) handelt es si<strong>ch</strong> überhaupt<br />
ni<strong>ch</strong>t um eine Vertragssituation 277 ; die geda<strong>ch</strong>ten Parteien sind dur<strong>ch</strong> ihre künstli<strong>ch</strong>e<br />
Unwissenheit so weitgehend ihrer individuellen Unters<strong>ch</strong>iede beraubt, daß glei<strong>ch</strong>sam<br />
nur no<strong>ch</strong> eine einzige, künstli<strong>ch</strong>e Person übrigbleibt, die dann individuelle Vorteilsüberlegungen<br />
anstellt 278 . Darstellungsmittel und Rationalitätskonzept fallen auseinan<strong>der</strong><br />
279 .<br />
ti nisi nolens.« In <strong>der</strong> Übersetzung von Groner: »Man muß also sagen: an si<strong>ch</strong> und im eigentli<strong>ch</strong>en<br />
Sinn (formell) gespro<strong>ch</strong>en, kann niemand Unre<strong>ch</strong>t tun, es sei denn, er will, und niemand es erleiden,<br />
es sei denn gegen seinen Willen.« Zur zentralen Bedeutung des Satzes für Vertragstheorien<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>: A. Gewirth, Political Justice (1962), S. 128 ff. (129); P. Koller, Neue <strong>Theorien</strong><br />
des Sozialkontrakts (1987), S. 12 f.; W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags<br />
(1994), S. 16, 44.<br />
274 Ähnli<strong>ch</strong> W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 16 f. Kersting<br />
unters<strong>ch</strong>eidet (ebd., S. 54 ff.) innerhalb des Rationalitätskonzepts genauer zwis<strong>ch</strong>en 'Vertragsinhaltsargument',<br />
'Vertragssituationsargument' und 'Vertragsbegründungsargument'. Jedes dieser<br />
Teilargumente hat eigene S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en, die hier ni<strong>ch</strong>t untersu<strong>ch</strong>t werden können. Hier geht es zunä<strong>ch</strong>st<br />
nur um die Ungeeignetheit <strong>der</strong> Vertragstheorien als <strong>Theorien</strong>klasse; dazu soglei<strong>ch</strong> S. 102<br />
(Indifferenzeinwand).<br />
275 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 13 – Die Vertragstheorie fingiere<br />
»das sehr kluge und sehr eigennützige Individuum, das uns in <strong>der</strong> klassis<strong>ch</strong>en Nationalökonomie<br />
als <strong>der</strong> homo oeconomicus begegnet.«<br />
276 Vgl. die entspre<strong>ch</strong>ende Eins<strong>ch</strong>ätzung bei G. Lübbe, Die Auferstehung des Sozialvertrags (1977),<br />
S. 190: »Diese Fragen [zum Warum und Wie <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft] lassen si<strong>ch</strong> nun sämtli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Konstruktion eines Sozialvertrags behandeln, und es fällt s<strong>ch</strong>wer, einzusehen,<br />
inwiefern Argumente für die Vernünftigkeit einer Gesells<strong>ch</strong>aft überzeugen<strong>der</strong> werden dur<strong>ch</strong> Hinzufügen<br />
<strong>der</strong> Behauptung, sie sei wegen dieser Vernünftigkeit au<strong>ch</strong> vertragli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lossen worden.«<br />
Zustimmend K. Homann, Rationalität und Demokratie (1988), S. 213. Vgl. au<strong>ch</strong> unten S. 180<br />
ff. (Zuordnung von Rawls Theorie zu den Grundpositionen).<br />
277 Zu dieser allgemeinen Eins<strong>ch</strong>ätzung in <strong>der</strong> Sekundärliteratur etwa J. Nida-Rümelin, Die beiden<br />
zentralen Intentionen <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß von John Rawls (1990), S. 461;<br />
<strong>der</strong>s., <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei John Rawls und Otfried Höffe (1997), S. 312 f.<br />
278 Dazu unten S. 200 ff. (Urzustand bei Rawls).<br />
279 Bezei<strong>ch</strong>nen<strong>der</strong>weise hat Rawls seine Überlegungen zur Moralbegründung lange vor den vertragstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Darstellungen mit einer Beoba<strong>ch</strong>tertheorie begonnen. Seine Erstkonzeption <strong>der</strong> Theorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> publizierte er 1957; J. Rawls, Justice as Fairness (1957), S. 653 ff. Sie wurde<br />
von Anfang an als Sozialvertragstheorie angesehen – E.W. Hall, Justice as Fairness: A Mo<strong>der</strong>nized<br />
99
cc) Der Beoba<strong>ch</strong>ter<br />
Das Darstellungsmittel 'Beoba<strong>ch</strong>ter' präsentiert eine als Person geda<strong>ch</strong>te Beurteilungseinheit<br />
in <strong>der</strong> Außenperspektive 280 . Damit wird räumli<strong>ch</strong> und persönli<strong>ch</strong> die<br />
Befangenheit abgelegt, die alle übrigen Aktoren des Ges<strong>ch</strong>ehens haben. In einer Art<br />
Draufsi<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> Fernsi<strong>ch</strong>t nimmt <strong>der</strong> Beoba<strong>ch</strong>ter einen externen Standpunkt ein,<br />
sieht alles, ohne selbst beteiligt zu sein. Beoba<strong>ch</strong>tertheorien sind Standpunkttheorien<br />
und unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> von den Konsenstheorien, die auf Vertrag o<strong>der</strong> Diskurs<br />
Bezug nehmen 281 .<br />
Das (perspektivis<strong>ch</strong>e) Rationalitätskonzept 'Beoba<strong>ch</strong>ter' su<strong>ch</strong>t praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis<br />
in einem Zustand <strong>der</strong> Unvoreingenommenheit und Unparteili<strong>ch</strong>keit 282 . Das<br />
ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Element liegt in <strong>der</strong> geda<strong>ch</strong>ten Überpersönli<strong>ch</strong>keit, die sogar<br />
das Ideal <strong>der</strong> Allwissenheit eins<strong>ch</strong>ließen kann 283 und jedenfalls die Befangenheit des<br />
Einzelnen in seiner neigungs- und interessengebundenen Identität dur<strong>ch</strong> ein Element<br />
Version of the Social Contract (1957), S. 663 f. –, wenn au<strong>ch</strong> als eine beson<strong>der</strong>e; ebd., S. 663:<br />
»Perhaps the most noticeable modification is its frank fictionalization«. Die in <strong>der</strong> Literatur kaum<br />
rezipierte Beoba<strong>ch</strong>tertheorie, in <strong>der</strong> Rawls statt von »consi<strong>der</strong>ed moral judgments« no<strong>ch</strong> von »competent<br />
moral judges« spri<strong>ch</strong>t, ers<strong>ch</strong>ien bereits 1951; J. Rawls, Outline of a Decision Procedure for<br />
Ethics (1951), S. 177 ff.<br />
280 So z.B. T. Nagel, View From Nowhere (1986), S. 185 ff.; S. Kagan, The Limits of Morality (1989), S.<br />
279 ff., 350 ff.; <strong>der</strong>s., Normative Ethics (1998), S. 41 ff., 271 ff.; vgl. die Charakterisierung bei C.S.<br />
Nino,The Ethics of Human Rights (1991), S. 74. Das Klassikervorbild für Beoba<strong>ch</strong>tertheorien bietet<br />
D. Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. III: Of Morals (1740), Teil III, Abs<strong>ch</strong>nitt I: »[It is] impossible<br />
we cou'd ever converse together on any reasonable terms, were ea<strong>ch</strong> of us to consi<strong>der</strong><br />
<strong>ch</strong>aracters and persons, only as they appear from his peculiar point of view. In or<strong>der</strong>, therefore, to<br />
prevent those continual contradictions, and arrive at a more stable judgment of things, we fix on<br />
some steady and general points of views; and always, in our thoughts, place ourselves in them,<br />
whatever may be our present situation. ... Experience soon tea<strong>ch</strong>es us this method of correcting<br />
our sentiments« (Hervorhebung bei Hume). Ebenfalls als wirkmä<strong>ch</strong>tig erwies si<strong>ch</strong> die Beoba<strong>ch</strong>tertheorie<br />
von A. Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759), Teil II, Kapitel II: »But these [gratitude<br />
and resentment] ... seem proper and are approved of, when the heart of every impartial spectator<br />
entirely sympathizes with them«; ebd., Fn.: »We conceive ourselves as acting in the presence<br />
of a person quite candid and equitable, of one who has no particular relation either to ourselves,<br />
or to those whose interests are affected by our conduct, ... but is merely a man in general, an impartial<br />
spectator who consi<strong>der</strong>s our conduct with the same indifference with whi<strong>ch</strong> we regard that<br />
of other people.«; ebd., Kapitel III: »We must view them [opposite interests], neither from our<br />
own place nor yet from his, neither with our own eyes nor yet with his, but from the place and<br />
with the eyes of a third person, who has no particular connexion with either, and who judges with<br />
impartiality between us.« Smith (ebd., Kapitel IV) bezieht si<strong>ch</strong> ausdrückli<strong>ch</strong> auf Hume als einen<br />
»ingenious and agreeable philosopher«.<br />
281 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 10 f. – Konsens als verbindendes<br />
Element von Vertrags- und Diskurstheorien im Gegensatz zu Standpunkttheorien.<br />
282 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 10 ff.<br />
283 Beispielsweise K. Baier, Standpunkt <strong>der</strong> Moral (1958), S. 191: »Standpunkt eines ... Beoba<strong>ch</strong>ters ...<br />
gewissermaßen mit Gottes Augen«; C.S. Nino, The Ethics of Human Rights (1991), S. 74: »An ideal<br />
observer would be a hypothetical individual who was fully impartial, completely rational, aware<br />
of all the relevant facts, etc.« Vgl. zur »ideal observer theory« außerdem R.M. Hare, Rawls' Theory of<br />
Justice (1973), S. 89; S. Kagan, Normative Ethics (1998), S. 271 ff. Illustrativ aus <strong>der</strong> Literatur insoweit<br />
F. Dürrenmatt, Monstervortrag über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1969), S. 12 ff.<br />
100
<strong>der</strong> Universalisierung des Standpunkts erweitert 284 . Beoba<strong>ch</strong>terrationalität bezei<strong>ch</strong>net<br />
also den beson<strong>der</strong>en Standpunkt, den eine einzelne Person einnehmen kann,<br />
wenn sie zusätzli<strong>ch</strong> zu ihren eigenen Interessen au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine überindividuelle Perspektive<br />
einnimmt und so einen zumutbaren Abglei<strong>ch</strong> von egoistis<strong>ch</strong>en mit altruistis<strong>ch</strong>en<br />
Motiven begründet 285 . Ri<strong>ch</strong>tig ist dana<strong>ch</strong> genau die Handlungsweise, die den<br />
eigenen Interessen, in zumutbarem Maße korrigiert um eine hypothetis<strong>ch</strong>e Außensi<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Dinge, entspri<strong>ch</strong>t.<br />
Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition spiegelt am besten das (perspektivis<strong>ch</strong>e) Rationalitätskonzept<br />
'Beoba<strong>ch</strong>ter' wi<strong>der</strong>. Beoba<strong>ch</strong>terstatus ist nur nötig, um von eigenen Interessen<br />
und Zielen zu abstrahieren, also einen moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt einzunehmen,<br />
wie er den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition eigentümli<strong>ch</strong> ist 286 .<br />
dd) Der Diskurs<br />
Das Darstellungsmittel 'Diskurs' präsentiert mehrere Personen, die gemeinsam und<br />
ohne Zwang na<strong>ch</strong> dem su<strong>ch</strong>en, was für alle ri<strong>ch</strong>tig ist, und auf dieser Grundlage<br />
freiwillig Konsensen zustimmen, die dur<strong>ch</strong> neue Argumente relativiert werden können<br />
und dadur<strong>ch</strong> diskursiv kontrolliert bleiben.<br />
Das (argumentative) Rationalitätskonzept 'Diskurs' su<strong>ch</strong>t praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis<br />
in <strong>der</strong> Argumentation realer Personen unter idealen Bedingungen. Ri<strong>ch</strong>tig ist das,<br />
was Gegenstand eines Konsenses sein könnte. Das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Element<br />
liegt in <strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit <strong>der</strong> (geda<strong>ch</strong>ten) Argumentation und Zustimmung.<br />
Diskursrationalität bezei<strong>ch</strong>net also die praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis, die si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> einer Argumentation<br />
unter vers<strong>ch</strong>iedenen Diskursteilnehmern einstellt, dur<strong>ch</strong> den Konsens<br />
<strong>der</strong> Beteiligten markiert wird und eine gegenseitige Verpfli<strong>ch</strong>tung während <strong>der</strong><br />
Dauer des Konsenses begründet. Ri<strong>ch</strong>tig ist dana<strong>ch</strong> genau die Handlungsweise,<br />
284 Die hier angespro<strong>ch</strong>enen universalistis<strong>ch</strong>en Standpunkttheorien unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> grundlegend<br />
von den (hier ni<strong>ch</strong>t gemeinten) partikularistis<strong>ch</strong>en Standpunkttheorien, die ganz bewußt einen parteili<strong>ch</strong>en<br />
Standpunkt einnehmen; vgl. etwa S. Hekman, Truth and Method (1997), S. 349: »The original<br />
formulations of feminist standpoint theory rest on two assumptions: that all knowledge is<br />
located and situated, and that one location, that of the standpoint of women, is privileged because<br />
it provides a vantage point that reveals the truth of social reality.«; S. Harding, Whose Standpoint<br />
Needs the Regimes of Truth and Reality? (1997), S. 383: »[S]tandpoint epistemologies and methodologies<br />
were constructed in opposition to the all-powerful dictates of rationalist/empiricist epistemologies<br />
and methodologies«; P.H. Collins, Where's the Power? (1997), S. 380: »One fundamental<br />
contribution of feminist movement grounded in standpoint theory was that it aimed to bring<br />
women's group consciousness into being.«<br />
285 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 10 ff. (Kombination des persönli<strong>ch</strong>en und des überpersönli<strong>ch</strong>en<br />
Beoba<strong>ch</strong>terstandpunktes). S<strong>ch</strong>on bei Hume geht es ni<strong>ch</strong>t um einen auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
überpersönli<strong>ch</strong>en Standpunkt, son<strong>der</strong>n um einen, <strong>der</strong> egoistis<strong>ch</strong>e Motive mitberücksi<strong>ch</strong>tigt;<br />
D. Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. III: Of Morals (1740), Teil III, Abs<strong>ch</strong>nitt I: »We make allowance<br />
for a certain degree of selfishness in men«. Zu Ähnli<strong>ch</strong>keiten zwis<strong>ch</strong>en Vertrags- und<br />
Beoba<strong>ch</strong>terrationalität siehe W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags<br />
(1994), S. 51.<br />
286 Vgl. oben S. 95 (moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong>). Zum moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt und seiner Definition<br />
vgl. K. Baier, Standpunkt <strong>der</strong> Moral (1958), S. 175 ff. (191): »Standpunkt eines unabhängigen,<br />
vorurteilslosen, unparteili<strong>ch</strong>en, objektiven, leidens<strong>ch</strong>aftslosen, neutralen Beoba<strong>ch</strong>ters.«<br />
101
über die die Betroffenen in einem hypothetis<strong>ch</strong>en Diskurs eine Einigung erzielen<br />
könnten.<br />
Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition ist die einzige, die das (argumentative) Rationalitätskonzept<br />
'Diskurs' wie<strong>der</strong>gibt. Die Diskursbedingungen sind geradezu prototypis<strong>ch</strong><br />
für eine Situation, in <strong>der</strong> eigene Interessen und Ziele nur no<strong>ch</strong> als Teil von universellen,<br />
auf alle bezogenen Überlegungen auftreten.<br />
ee) Zur Ungeeignetheit <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien als <strong>Theorien</strong>klasse (Indifferenzeinwand)<br />
Darstellungsmittel eignen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als Anknüpfungspunkt für die grundlegende<br />
Klassifizierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien (Indifferenzeinwand). Das erweist si<strong>ch</strong> in<br />
<strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien, in <strong>der</strong> eine sehr uneinheitli<strong>ch</strong>e Vielfalt von<br />
theoretis<strong>ch</strong>en Ansätzen vereint ist 287 . Neben neohobbesianis<strong>ch</strong>en 288 und kantis<strong>ch</strong>en<br />
Sozialvertragstheorien 289 gibt es beispielsweise au<strong>ch</strong> sozialvertragli<strong>ch</strong>e Rekonstruktionen<br />
des Utilitarismus 290 . Die einzelnen <strong>Theorien</strong> nutzen das Darstellungsmittel<br />
des Sozialvertrags dabei in so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Weise, daß eine Ähnli<strong>ch</strong>keit nur<br />
no<strong>ch</strong> oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> besteht 291 . Denn <strong>der</strong> Kontraktualismus führt ein Leben aus zweiter<br />
Hand, bei dem die Geltung <strong>der</strong> vertragstheoretis<strong>ch</strong>en Begründung von <strong>der</strong> Anerkennung<br />
<strong>der</strong> Ausgangssituation abhängt (Relativität <strong>der</strong> Vertragsrationalität) 292 . Es<br />
kommt ents<strong>ch</strong>eidend darauf an, wie die Parteien ihre Position in <strong>der</strong> Verhandlung<br />
sehen (Interessengewißheit/-ungewißheit), wel<strong>ch</strong>e Strategie sie verfolgen (Risikobereits<strong>ch</strong>aft/Risikos<strong>ch</strong>eu),<br />
inwieweit Sanktionen jenseits <strong>der</strong> Verhandlungssituation<br />
mögli<strong>ch</strong> sind (Drohung/Gewaltfreiheit). Stehen diese Parameter fest, dann ist <strong>der</strong><br />
hypothetis<strong>ch</strong>e Vertragss<strong>ch</strong>luß nur no<strong>ch</strong> eine automatis<strong>ch</strong>e Folge, glei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Konklusion,<br />
die im Syllogismus die logis<strong>ch</strong>e Konsequenz <strong>der</strong> den Inhalt tragenden Prämissen<br />
ist 293 . Längst ni<strong>ch</strong>t alle Vertragstheorien orientieren si<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong><br />
Ausgangsposition an reiner Vertragsrationalität (Divergenzthese) 294 ; die Vertragstheorie<br />
von Rawls ist dafür ein Beispiel 295 . Würden sol<strong>ch</strong>e untypis<strong>ch</strong>en Modelle mit<br />
287 So au<strong>ch</strong> U. Steinvorth, Über die Rolle von Vertrag und Konsens in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Theorie (1986),<br />
S. 21 – 'Vieldeutigkeit'; H. Pauer-Stu<strong>der</strong>, Das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 66 ff. (67) – Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
von individualistis<strong>ch</strong>en (Hobbes, Gauthier) und universalistis<strong>ch</strong>en (Kant, Rawls) Vertragstheorien.<br />
288 Dazu unten S. 180 ff. (neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
289 Dazu unten S. 199 ff. (kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
290 Beispielsweise R.M. Hare, Rawls' Theory of Justice (1973), S. 90 f.; R.B. Brandt, The Concept of Rationality<br />
in Ethical and Political Theory (1977), S. 278: »[T]he equilibrium system that will be <strong>ch</strong>osen<br />
is one that on the evidence appears to maximize expectable utility.« In Abgrenzung zu Rawls<br />
au<strong>ch</strong> bei J. Narveson, Rawls and Utilitarianism (1982), S. 133 ff. – 'utilitarian defense of Rawls's two<br />
principles'. Vgl. unten S. 154 (Zuordnung des Utilitarismus zur aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
291 Entspre<strong>ch</strong>ende Kritik au<strong>ch</strong> bei V. Medina, Social Contract Theories (1990), S. 1.<br />
292 W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 33; <strong>der</strong>s., Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation<br />
(1997), S. 51.<br />
293 Treffen<strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong> bei W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 51.<br />
294 Dazu oben S. 97 (Divergenzthese).<br />
295 Vgl. oben S. 98 (Vertrag).<br />
102
'e<strong>ch</strong>ten' Vertragstheorien, die au<strong>ch</strong> auf das Rationalitätskonzept 'Vertrag' setzen 296 , in<br />
einen Topf geworfen, so entstünde eine klassifikatoris<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ieflage. Entgegen einer<br />
verbreiteten Klassifizierungspraxis wird deshalb in dieser Untersu<strong>ch</strong>ung die Kategorie<br />
<strong>der</strong> Sozialvertragstheorie ni<strong>ch</strong>t zur Grundlage <strong>der</strong> Darstellung, Analyse und Kritik<br />
gema<strong>ch</strong>t. Sie tritt vielmehr ergänzend neben diejenige na<strong>ch</strong> Grundpositionen <strong>der</strong><br />
politis<strong>ch</strong>en Philosophie 297 .<br />
3. Zu an<strong>der</strong>en Klassifizierungen<br />
Neben <strong>der</strong> oben vorgenommene Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen und den weiteren<br />
Differenzierungen, die diese ergänzen 298 , werden in <strong>der</strong> soziologis<strong>ch</strong>en und philosophis<strong>ch</strong>en<br />
Literatur eine Reihe alternativer Klassifizierungen vertreten. Diese können<br />
hier ni<strong>ch</strong>t alle Berücksi<strong>ch</strong>tigung finden 299 , son<strong>der</strong>n nur insoweit, als sie beson<strong>der</strong>e<br />
Bea<strong>ch</strong>tung verdienen, weil sie entwe<strong>der</strong> einen ganz an<strong>der</strong>en Ansatzpunkt wählen<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> hier getroffenen Differenzierung so ähnli<strong>ch</strong> sind, daß die Unters<strong>ch</strong>iede erst<br />
bei genauerem Hinsehen deutli<strong>ch</strong> werden.<br />
a) Reine Typen legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft (M. Weber)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien betreffen die Legitimität von Herrs<strong>ch</strong>aft in Staat und Gesells<strong>ch</strong>aft.<br />
Na<strong>ch</strong> Weber sind drei reine Typen legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft zu unters<strong>ch</strong>eiden: die<br />
legale, die traditionale und die <strong>ch</strong>arismatis<strong>ch</strong>e 300 . Legale Herrs<strong>ch</strong>aft ist dabei diejenige<br />
kraft Satzung, eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aller mo<strong>der</strong>nen, dur<strong>ch</strong> Gesetz geregelten politis<strong>ch</strong>en<br />
Verbände 301 . Traditionale Herrs<strong>ch</strong>aft ist diejenige kraft Glaubens an die Heiligkeit <strong>der</strong><br />
von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten, eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> ständis<strong>ch</strong>en<br />
Herrs<strong>ch</strong>aft, bei <strong>der</strong> eine Obrigkeit kraft eingelebter Gewöhnung mit Erfolg legitime<br />
Autorität in Anspru<strong>ch</strong> nimmt 302 . Charismatis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aft ist diejenige kraft<br />
affektueller, persönli<strong>ch</strong>er Hingabe an die Person des Herrn und seine Gnadengaben<br />
(Charisma), eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aller Ordnungen, in denen es Führer und Jünger gibt 303 .<br />
296 Dazu unten S. 180 ff. (neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
297 Dazu insbeson<strong>der</strong>e unten S. 198 ff. (<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition, unters<strong>ch</strong>ieden na<strong>ch</strong><br />
Sozialvertrags-, Standpunkt- und Diskurstheorien).<br />
298 Dazu unten S. 180 ff. (neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien); S. 199 ff. (kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
299 Zu weiteren Klassifizierungen vgl. etwa O. O'Neill, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terdifferenz und internationale<br />
Grenzen (1993), S. 417 ff. – idealisierende und relativierende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien;<br />
H. Klenner, Über vier Arten von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien (1995), S. 137 ff. – agnostis<strong>ch</strong>e, analytis<strong>ch</strong>e,<br />
formale und materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien.<br />
300 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 1 ff.; <strong>der</strong>s., Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
(1976), Bd. I, S. 124 ff.; dazu ausführli<strong>ch</strong> J. Heidorn, Legitimität und Regierbarkeit (1982),<br />
S. 12 ff.<br />
301 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 2 f. – au<strong>ch</strong> die Bürokratie.<br />
302 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 4 ff. – patriar<strong>ch</strong>ale<br />
Verwaltungsstruktur und ständis<strong>ch</strong>e Sozialstruktur als Formen.<br />
303 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 6 ff. – Führer, 'Jünger', Propheten,<br />
Kriegshelden, 'Wirts<strong>ch</strong>aftshäuptlinge'.<br />
103
Bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>ch</strong>arismatis<strong>ch</strong>en Herrs<strong>ch</strong>aft hat s<strong>ch</strong>on Weber festgestellt, daß sie –<br />
abgesehen von reinen Formen wie bei <strong>der</strong> Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem neuen Dalai Lama – dazu<br />
tendiert, in traditionale o<strong>der</strong> legale Herrs<strong>ch</strong>aft überzugehen. Ähnli<strong>ch</strong>es gilt für<br />
die Übergangstendenz von traditionaler zu legaler Herrs<strong>ch</strong>aft. S<strong>ch</strong>on deshalb empfiehlt<br />
es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, sol<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aftsformen für eine Gruppenbildung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
heranzuziehen: sie neigen dazu, in einer einzigen Gruppe, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Satzungsherrs<strong>ch</strong>aft, aufzugehen. Demgemäß greifen neuere Legitimitätstheorien, etwa<br />
diejenige Luhmanns 304 , aus Webers Typenlehre nur die Legitimitätskonzeption <strong>der</strong><br />
legalen Herrs<strong>ch</strong>aft auf 305 .<br />
Vor allem aber ist Webers Legitimitätsbegriff inkompatibel mit demjenigen <strong>der</strong><br />
normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Zwar untersu<strong>ch</strong>en beide 'soziales Handeln' im<br />
Sinne Webers 306 . Au<strong>ch</strong> Webers Unterteilung des sozialen Handelns in zweckrationales,<br />
wertrationales, affektuelles und traditionales 307 findet no<strong>ch</strong> Parallelen in <strong>der</strong> hier<br />
vorgenommenen Gruppenbildung na<strong>ch</strong> Grundpositionen 308 . Webers Begriff <strong>der</strong> Legitimität<br />
läuft aber auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf eine empiris<strong>ch</strong>e Untersu<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aft hinaus,<br />
d.h. auf die Erfors<strong>ch</strong>ung des faktis<strong>ch</strong> vorhandenen und mit Erfolg in Anspru<strong>ch</strong><br />
genommenen Legitimitätsglaubens 309 . Für Weber ist Herrs<strong>ch</strong>aft allein die Chance, Gehorsam<br />
für einen bestimmten Befehl zu finden 310 , so daß seine Typen legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft,<br />
die er als »Legitimitätsgründe« bezei<strong>ch</strong>net 311 , ni<strong>ch</strong>t deshalb 'legitim' sind, weil<br />
sie einer objektiven Re<strong>ch</strong>tfertigung zugängli<strong>ch</strong> wären. Es kommt allein auf tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Akzeptanz an 312 . Darin liegt eine Legitimitätsvorstellung, die normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
fremd ist, diese also au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erfassen kann. Denn Normativität<br />
fragt na<strong>ch</strong> den ri<strong>ch</strong>tigen Maßstäben, ni<strong>ch</strong>t nur na<strong>ch</strong> den tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en. Insoweit haben<br />
304 Dazu unten S. 148 ff.<br />
305 J. Heidorn, Legitimität und Regierbarkeit (1982), S. 116.<br />
306 M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 1: »'Handeln' soll dabei ein mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es<br />
Verhalten (einerlei ob äußerli<strong>ch</strong>es o<strong>der</strong> innerli<strong>ch</strong>es Tun, Unterlassen o<strong>der</strong> Dulden) heißen, wenn<br />
und insofern als <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. 'Soziales'<br />
Handeln aber soll ein sol<strong>ch</strong>es Handeln heißen, wel<strong>ch</strong>es seinem von dem o<strong>der</strong> den Handelnden gemeinten<br />
Sinn na<strong>ch</strong> auf das Verhalten an<strong>der</strong>er bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert<br />
ist.« (Hervorhebungen bei Weber); vgl. oben S. 50 (handlungsbezogene <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition<br />
D 1 ).<br />
307 Vgl. M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 12 ff.: Zweckrational ist soziales Handeln,<br />
das unter Einbeziehung erwarteten Fremdverhaltens eigene Zwecke anstrebt. Wertrational<br />
ist soziales Handeln, das eine bestimmte Verhaltensweise rein als sol<strong>ch</strong>e und unabhängig vom<br />
etwaigen Erfolg gebietet. Affektuell ist soziales Handeln aufgrund aktueller Gefühlslagen. Traditional<br />
ist soziales Handeln aus eingelebter Gewohnheit. Reales Handeln nähert si<strong>ch</strong> diesen reinen<br />
Formen laut Weber entwe<strong>der</strong> an o<strong>der</strong> ist aus ihnen gemis<strong>ch</strong>t (ebd., S. 13).<br />
308 Vgl. oben S. 81 ff. (traditionales Handeln gemäß <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition; zweckrationales<br />
Handeln gemäß <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
309 J. Winckelmann, Legitimität und Legalität (1952), S. 25; J. Heidorn, Legitimität und Regierbarkeit<br />
(1982), S. 69 ff.<br />
310 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 1: »Herrs<strong>ch</strong>aft, d.h. die Chance,<br />
Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden«; genauer <strong>der</strong>s., Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
(1976), Bd. I, S. 28: »Herrs<strong>ch</strong>aft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren<br />
Personen Gehorsam zu finden« (Hervorhebung bei Weber).<br />
311 M. Weber, Die drei reinen Typen <strong>der</strong> legitimen Herrs<strong>ch</strong>aft (1922), S. 1: »An 'Legitimitätsgründen'<br />
<strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aft gibt es, in ganz reiner Form, nur drei«.<br />
312 Vgl. unten S. 148 ff. (entspre<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Legitimitätsbegriff bei Luhmann).<br />
104
soziologis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aftsanalysen und normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien einen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Legitimitätsbegriff. Eine Übernahme <strong>der</strong> Gruppenbildung Webers wäre<br />
folgli<strong>ch</strong> eine nur unvollständige Wie<strong>der</strong>gabe des Spektrums von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
und deshalb hier ni<strong>ch</strong>t sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>t.<br />
b) Das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en dem Re<strong>ch</strong>ten und dem Guten (T. Nagel)<br />
Das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en dem Re<strong>ch</strong>ten und dem Guten ist eine viel untersu<strong>ch</strong>te<br />
Grundents<strong>ch</strong>eidungen in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien 313 , die wohl am konsequentesten<br />
von Nagel zu einer Klassifizierung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> herangezogen wurde 314 . Die Grenzlinie<br />
entspri<strong>ch</strong>t im Grundsatz <strong>der</strong>jenigen zwis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition auf <strong>der</strong> einen und <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Erstere bejahen ein Primat des Guten über das Re<strong>ch</strong>te, ma<strong>ch</strong>en<br />
also die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlung davon abhängig, ob sie (teleologis<strong>ch</strong>, konsequentialistis<strong>ch</strong>)<br />
315 eine bestimmte Konzeption des Guten för<strong>der</strong>n kann. Letztere<br />
bejahen ein Primat des Re<strong>ch</strong>ten über das Gute, fragen also isoliert na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
<strong>der</strong> einzelnen Handlung, glei<strong>ch</strong> ob sie vorhandene (individuelle o<strong>der</strong> kollektive)<br />
Konzeptionen des Guten zu för<strong>der</strong>n vermag o<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t. Im ersten Fall wir das tugendhafte<br />
Gute zum vorrangigen Maßstab <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung, im letzteren<br />
das moralis<strong>ch</strong> Ri<strong>ch</strong>tige. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis, also sol<strong>ch</strong>e, die jede<br />
positive Begründbarkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ablehnen (nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition),<br />
bleiben in dieser einfa<strong>ch</strong>en Einteilung unberücksi<strong>ch</strong>tigt.<br />
Die s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Zweiteilung <strong>der</strong> Positionen ist in <strong>der</strong> Analyse von Nagel zu fünf beson<strong>der</strong>s<br />
wi<strong>ch</strong>tigen Konstellationen verfeinert worden, unter denen au<strong>ch</strong> die nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition wie<strong>der</strong> eine Zuordnung findet 316 . Je na<strong>ch</strong>dem, wie das<br />
gute Leben (das Gute) zum moralis<strong>ch</strong>en Leben (dem Re<strong>ch</strong>ten) ins Verhältnis gesetzt<br />
wird, sollen fünf vers<strong>ch</strong>iedene Konstellationen resultieren. Erstens könne, wie bei<br />
Aristoteles, das moralis<strong>ch</strong>e Leben in Abhängigkeit vom guten Leben definiert werden.<br />
Eine Handlung sei dana<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie dem guten Leben diene. Zweitens solle,<br />
wie bei Platon, das gute Leben in Abhängigkeit vom moralis<strong>ch</strong>en Leben definierbar<br />
sein. Moralis<strong>ch</strong>es Handeln ist dann eine Voraussetzung für gutes Leben. Wird das<br />
Leben ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf moralis<strong>ch</strong>e Handlungen gegründet, so kann es kein<br />
gutes Leben mehr sein. Drittens könne, wie bei Nietzs<strong>ch</strong>e, das moralis<strong>ch</strong>e Leben unabhängig<br />
vom guten Leben verstanden werden; das Re<strong>ch</strong>te und das Gute bedingten<br />
einan<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> gebühre dem guten Leben im Kollisionsfall die absolute Priorität<br />
317 . Viertens sei es mögli<strong>ch</strong>, wie beim Utilitarismus und den meisten deontologi-<br />
313 Vgl. J. Rawls, Theory of Justice (1971), S. 24: »The two main concepts of ethics are those of the right<br />
and the good; ... The structure of an ethical theory is, then, largely determined by how it defines<br />
and connects these two basic notions.«<br />
314 T. Nagel, The View From Nowhere (1986), S. 195 ff.<br />
315 Zum Begriff des Konsequentialismus (consequentialism) siehe unten S. 152 (Charakteristika <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition).<br />
316 T. Nagel, The View From Nowhere (1986), S. 195 ff.<br />
317 T. Nagel, The View From Nowhere (1986), S. 196. Dana<strong>ch</strong> kann das moralis<strong>ch</strong>e Leben zwar als<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Gut angesehen werden, jedo<strong>ch</strong> nur solange, wie es ein gutes Leben ni<strong>ch</strong>t dominiert.<br />
Würde moralis<strong>ch</strong>es Handeln indes das gute Leben behin<strong>der</strong>n, so gäbe aus keinen Grund, die Moralität<br />
aufre<strong>ch</strong>tzuerhalten.<br />
105
s<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Tradition, dem moralis<strong>ch</strong>en Leben absoluten<br />
Vorrang vor dem guten Leben einzuräumen 318 . Fünftens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ließe si<strong>ch</strong><br />
eine Kollision zwis<strong>ch</strong>en dem guten und dem moralis<strong>ch</strong>en Leben dur<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t-absolute<br />
Vorrangregeln lösen. Dann wäre je na<strong>ch</strong> dem Gewi<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gründe mal dem guten<br />
Leben, mal dem moralis<strong>ch</strong>en Leben <strong>der</strong> Vorrang einzuräumen sein. Der vierten Verhältnissetzung<br />
gibt Nagel selbst den Vorzug, während <strong>der</strong> die ersten drei für s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t<br />
fals<strong>ch</strong> hält und die fünfte für unbefriedigend 319 .<br />
Der Indifferenzeinwand, <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>on gegenüber <strong>der</strong> Klassifizierung na<strong>ch</strong> Darstellungsmitteln<br />
zu erheben war (Sozialvertragstheorien) 320 , gilt au<strong>ch</strong> gegenüber <strong>der</strong> Einteilung<br />
von Nagel. Au<strong>ch</strong> hier werden mit den utilitaristis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong><br />
Begründungsansätze in einer Globalklasse zusammengefaßt, die dann die meisten<br />
<strong>der</strong> gegenwärtig vertretenen <strong>Theorien</strong> vereint, ohne <strong>der</strong>en grundlegenden Unters<strong>ch</strong>iede<br />
zu würdigen 321 .<br />
c) Effizienz, Re<strong>ch</strong>tfertigung, Wertorientierung (A. Hamlin/P. Pettit)<br />
Der Indifferenzeinwand gilt ferner au<strong>ch</strong> gegenüber <strong>der</strong> von Hamlin und Pettit vorges<strong>ch</strong>lagenen<br />
Einteilung, die bei <strong>der</strong> Analyse normativer <strong>Theorien</strong> über die ri<strong>ch</strong>tige politis<strong>ch</strong>e<br />
Ordnung dana<strong>ch</strong> fragen, ob si<strong>ch</strong> die Argumentation auf die Ma<strong>ch</strong>barkeit, die<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung o<strong>der</strong> die För<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keit für bestimmte Werte ri<strong>ch</strong>tet 322 . In <strong>der</strong> Gruppe<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigungstheorien finden si<strong>ch</strong> dann so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Ansätze wie die<br />
von Rawls, Bu<strong>ch</strong>anan, Gauthier und Nozick 323 , also <strong>Theorien</strong> sowohl <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition. Mit einer sol<strong>ch</strong>en Klassifizierung ist<br />
ähnli<strong>ch</strong> wenig gewonnen wie mit <strong>der</strong> paus<strong>ch</strong>alen Vereinigung von Vertragstheorien<br />
unter einem Da<strong>ch</strong> 324 .<br />
d) Deontologis<strong>ch</strong>e und teleologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> (M. Sandel/S. Kagan)<br />
Die Unters<strong>ch</strong>eidung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien dana<strong>ch</strong>, ob sie deontologis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong><br />
teleologis<strong>ch</strong>e Ethik explizieren, ist – soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> – bisher am ausführli<strong>ch</strong>sten<br />
318 Zwar mag generell das gute Leben des einzelnen mit dem moralis<strong>ch</strong>en Leben zusammentreffen,<br />
wie es dur<strong>ch</strong> die Summe des Nutzens für alle o<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> eine an<strong>der</strong>e Begründung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
definiert ist. Im Kollisionsfall muß si<strong>ch</strong> indes das gute Leben dem moralis<strong>ch</strong>en Leben, also einem<br />
Handeln zum Besten <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft o<strong>der</strong> na<strong>ch</strong> einem allgemeinen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsprinzip wie dem<br />
kategoris<strong>ch</strong>en Imperativ, beugen; T. Nagel, The View From Nowhere (1986), S. 196 f.<br />
319 Vgl. T. Nagel, The View From Nowhere (1986), S. 197, 199 f.<br />
320 Dazu oben S. 102 (Ungeeignetheit <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien als <strong>Theorien</strong>klasse).<br />
321 Zur Abgrenzung einer kantis<strong>ch</strong>en Grundposition vom Utilitarismus siehe etwa die ausführli<strong>ch</strong>e<br />
Begründung bei J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 150 ff.; § 27, S. 161 ff.<br />
322 A. Hamlin/P. Pettit, Normative Analysis (1989), S. 10 f. – feasibility, eligibility, desirability.<br />
323 Dazu unten S. 143 ff. (Dritter Teil).<br />
324 Bezei<strong>ch</strong>nen<strong>der</strong>weise vereint Hamlin glei<strong>ch</strong>zeitig unter <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Vertragstheorien so divergente<br />
Ansätze wie die von Rawls, Gauthier und Bu<strong>ch</strong>anan unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt einer 'contractarian<br />
strategy'; A. Hamlin, Liberty, Contract and the State (1989), S. 87 ff.<br />
106
von Sandel und Kagan vorgenommen worden 325 . Sie ist bei Sandel im Kontext mit<br />
dessen kommunitaristis<strong>ch</strong>er Theorie zu sehen 326 und entspri<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Abgrenzung<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition auf <strong>der</strong> einen und sol<strong>ch</strong>en <strong>der</strong><br />
hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. In <strong>der</strong> spezifis<strong>ch</strong><br />
kommunitaristis<strong>ch</strong>en Zuspitzung geht es bei Sandel vor allem um eine Kritik an<br />
dem liberalen Verständnis <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en losgelöst von ihrer Konzeption des Guten<br />
327 . Au<strong>ch</strong> gegenüber <strong>der</strong> Einteilung von Sandel gilt <strong>der</strong> Indifferenzeinwand, weil<br />
zu den <strong>Theorien</strong>, die er unter <strong>der</strong> Bezei<strong>ch</strong>nung 'deontologis<strong>ch</strong>er Liberalismus' zusammenfaßt,<br />
so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Ansätze gehören wie die von Hobbes, Kant und<br />
Rawls 328 . Entspre<strong>ch</strong>ende Bedenken sind gegenüber Kagans Klassifizierung begründet:<br />
zwar wird sehr treffend <strong>ch</strong>arakterisiert, daß teleologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> (positiv) das<br />
Gute erstreben, während deontologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> (nur) das S<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te verbieten 329 ,<br />
do<strong>ch</strong> finden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei Kagan in undifferenzierter Weise die Vertrags-, Beoba<strong>ch</strong>terund<br />
Universalitätstheorien unter einer 'deontologis<strong>ch</strong>en Grundlegung' vereint 330 .<br />
e) Ergebnisse<br />
In dieser Analyse konnten ni<strong>ch</strong>t alle denkbaren Klassifizierungen untersu<strong>ch</strong>t werden<br />
331 . Für die dargestellten gilt indes, daß sie für eine aussagekräftige Analyse und<br />
Kritik an <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien weniger geeignet sind als die hier verfolgte Klassifizierung<br />
na<strong>ch</strong> Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie. Gegenüber den meisten<br />
Ansätze ist <strong>der</strong> Indifferenzeinwand zu erheben, weil <strong>Theorien</strong> mit grundlegenden<br />
Unters<strong>ch</strong>ieden in einer Klasse zusammengefaßt werden. Dieser Einwand gilt vor allem<br />
gegenüber <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien, <strong>der</strong> so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong><br />
zugehören, daß die Klasse fast das gesamte Spektrum <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>e Philosophie<br />
umfaßt.<br />
III. Zum Gegenstand <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
Daß die hier interessierenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zum<br />
Gegenstand haben, wurde bereits erläutert (S<strong>ch</strong>werpunktthese) 332 . Do<strong>ch</strong> die Inhalte,<br />
325 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 54, 175 ff. (177); S. Kagan, Normative<br />
Ethics (1998), S. 25 ff., 70 ff., 189 ff., 240 ff.<br />
326 Dazu unten S. 159 ff. (epistemologis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus).<br />
327 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 175: »Only in a universe empty of telos ...<br />
is it possible to conceive a subject apart from and prior to its purposes and ends. ... In this the<br />
depth of opposition between deontological liberlalism and teleological world views most fully<br />
appears.« (Hervorhebung bei Sandel).<br />
328 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 175 f.<br />
329 Vgl. S. Kagan, Normative Ethics (1998), S. 25 ff., 70 ff.<br />
330 S. Kagan, Normative Ethics (1998), S. 240 ff. – 'Deontological Foundations'.<br />
331 Unerörtert blieb beispielsweise die (ni<strong>ch</strong>t ganz übers<strong>ch</strong>neidungsfreie) Differenzierung bei J. Nida-<br />
Rümelin, Theoretis<strong>ch</strong>e und angewandte Ethik (1996), S. 7 ff. na<strong>ch</strong> den 'Paradigmen' des Utilitarismus,<br />
Kontraktualismus, Libertarismus, <strong>der</strong> Tugendethik und kantis<strong>ch</strong>en Ethik. W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer,<br />
Grenzgötter <strong>der</strong> Moral (1997), S. 59 ff. unters<strong>ch</strong>eidet zwis<strong>ch</strong>en Diskurs- und Moraltheorien,<br />
Kommunitarismus sowie 'Differenzierungstheorien'.<br />
332 Dazu oben S. 78 (politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und die S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
107
auf die si<strong>ch</strong> einzelne <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beziehen, sind damit<br />
immer no<strong>ch</strong> so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>, daß si<strong>ch</strong> die Frage <strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong>barkeit und Vollständigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> stellt.<br />
1. Die Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
Für eine Analyse <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> stellt die Frage <strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
eine grundlegende methodis<strong>ch</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Immerhin ist es<br />
denkbar, daß die vers<strong>ch</strong>iedenen <strong>Theorien</strong> einan<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t nur unauflösli<strong>ch</strong> wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en,<br />
in diesem Sinne also unvereinbar sind, son<strong>der</strong>n bereits einen <strong>der</strong>art unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Gegenstand betra<strong>ch</strong>ten o<strong>der</strong> Blickwinkel einnehmen, daß sie als unverglei<strong>ch</strong>bar<br />
angesehen werden müssen (Inkommensurabilitätsthese) 333 . Während si<strong>ch</strong> bei bloßer<br />
Unvereinbarkeit über die Vorzüge <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Theorie treffli<strong>ch</strong> streiten<br />
läßt, muß <strong>der</strong> Kritiker angesi<strong>ch</strong>ts von Unverglei<strong>ch</strong>barkeit s<strong>ch</strong>weigen: wo ni<strong>ch</strong>t vergli<strong>ch</strong>en<br />
werden kann, wird verglei<strong>ch</strong>ende Kritik sinnlos.<br />
Die Inkommensurabilitätsthese manifestiert si<strong>ch</strong> an zwei Theorieunters<strong>ch</strong>ieden:<br />
erstens an den vers<strong>ch</strong>iedenen politis<strong>ch</strong>en Idealen, die in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien zum<br />
Ausdruck kommen (politis<strong>ch</strong>e Inkommensurabilität, dazu a), und zweitens an den vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Gegenständen, <strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> untersu<strong>ch</strong>t wird (konzeptuelle Inkommensurabilität,<br />
dazu b). Den methodis<strong>ch</strong>en Bedenken läßt si<strong>ch</strong>, soweit sie überhaupt<br />
begründet sind, mit <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese begegnen (c).<br />
a) Zur politis<strong>ch</strong>en Inkommensurabilität (J.P. Sterba)<br />
In <strong>der</strong> ersten (<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en) Variante wird die Inkommensurabilitätsthese von Sterba<br />
vertreten. Zwis<strong>ch</strong>en dem Freiheitsideal des libertären Individualisten, dem<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsideal des Sozialisten, dem Fairneßideal des Sozialdemokraten, dem Tugendideal<br />
des Kommunitaristen und dem Androgynitätsideal <strong>der</strong> Feministin 334 bestünden<br />
so grundlegende Differenzen, daß diese Ideale ni<strong>ch</strong>t nur unvereinbar, son<strong>der</strong>n<br />
sogar unverglei<strong>ch</strong>bar würden (politis<strong>ch</strong>e Inkommensurabilitätsthese) 335 . Die Glei<strong>ch</strong>heitsfor<strong>der</strong>ung<br />
des Sozialisten läßt si<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> nur vor dem Hintergrund des von<br />
ihm vertretenen Glei<strong>ch</strong>heitsideals verstehen, das Minimalstaatsstreben des libertären<br />
Individualisten nur vor dem Hintergrund seines individualistis<strong>ch</strong> geprägten Freiheitsideals.<br />
Zwis<strong>ch</strong>en den beiden kann dagegen keine sinnvolle Kommunikation<br />
über Ideale stattfinden, weil kein kleinster gemeinsamer Nenner existiert. Es fehlt bereits<br />
die Grundlage, auf <strong>der</strong> ein Verglei<strong>ch</strong> aufgebaut werden könnte.<br />
333 Vgl. grundsätzli<strong>ch</strong> zum methodis<strong>ch</strong>en Problem <strong>der</strong> Inkommensurabilität – dort am Beispiel <strong>der</strong><br />
Unglei<strong>ch</strong>artigkeit von Satz-Regelsystemen – J.-F. Lyotard, Der Wi<strong>der</strong>streit (1983), S. 215 ff. Lyotard<br />
reformuliert und verallgemeinert den Sein-Sollens-Fehls<strong>ch</strong>luß als Problem <strong>der</strong> Inkommensurabilität<br />
kognitiver und präskriptiver Sätze. Zum Fehls<strong>ch</strong>luß unten S. 261, Fn. 5.<br />
334 Gegenüberstellung bei J.P. Sterba, How to Make People Just (1988), S. 11 ff.; <strong>der</strong>s., Reconciling<br />
Conceptions of Justice (1995), S. 1 ff. Zur Kritik an dieser Gegenüberstellung siehe C.C. Gould,<br />
Comments on Reconciling Conceptions of Justice (1995), S. 53 ff.<br />
335 Vgl. J.P. Sterba, Reconciling Conceptions of Justice (1995), S. 1 ff. – Inkommensurabilität von fünf<br />
politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnissen (libertär, sozialistis<strong>ch</strong>, wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>, feministis<strong>ch</strong>,<br />
kommunitaristis<strong>ch</strong>); zuvor bereits <strong>der</strong>s., How to Make People Just (1988), S. 11 ff.<br />
108
Sterba hat vorges<strong>ch</strong>lagen, aus diesem Dilemma die Flu<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> vorn anzutreten,<br />
indem man die Unvereinbarkeit und Unverglei<strong>ch</strong>barkeit <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Ideale ignoriert,<br />
um die Gemeinsamkeit bei den aus ihnen resultierenden Handlungsgeboten zu<br />
su<strong>ch</strong>en 336 . So könnten das Re<strong>ch</strong>t auf ein wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong> zu si<strong>ch</strong>erndes Existenzminimum<br />
und das Gebot <strong>der</strong> Chancenglei<strong>ch</strong>heit ungea<strong>ch</strong>tet des jeweiligen politis<strong>ch</strong>en<br />
Ideals verteidigt werden 337 . In <strong>der</strong> Konkretisierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgeboten<br />
jenseits <strong>der</strong> Ideale könnte also eine Vereinbarkeit vers<strong>ch</strong>iedener Ansätze und zumindest<br />
insoweit eine Verglei<strong>ch</strong>barkeit gesu<strong>ch</strong>t werden.<br />
Dem ist entgegenzuhalten, daß we<strong>der</strong> die politis<strong>ch</strong>e Inkommensurabilitätsthese<br />
als Problembes<strong>ch</strong>reibung no<strong>ch</strong> die Vorgehensweise, die Sterba zur Problemlösung<br />
vorges<strong>ch</strong>lagen hat, Zustimmung verdient. Als Problembes<strong>ch</strong>reibung trifft die politis<strong>ch</strong>e<br />
Inkommensurabilitätsthese ni<strong>ch</strong>t zu, weil politis<strong>ch</strong>e Ideale ni<strong>ch</strong>t den Ausgangspunkt<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bilden, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Ergebnis. Ob das Freiheitsideal<br />
<strong>der</strong> libertären Individualistin o<strong>der</strong> das Glei<strong>ch</strong>heitsideal <strong>der</strong> Sozialistin die ri<strong>ch</strong>tige<br />
Zielvorstellung für eine gere<strong>ch</strong>te Sozialordnung abgeben, o<strong>der</strong> ob viellei<strong>ch</strong>t beide<br />
Ideale anteilig zur Formulierung politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beitragen, muß in einer<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie erst no<strong>ch</strong> begründet werden. Bezügli<strong>ch</strong> dieses Begründungsauftrags<br />
stehen die Individualistin und die Sozialistin sehr wohl im selben Anfangspunkt<br />
<strong>der</strong> Ungewißheit; s<strong>ch</strong>on deshalb bleiben ihre Entwürfe für eine gere<strong>ch</strong>te Ordnung<br />
bei aller Diskrepanz zumindest verglei<strong>ch</strong>bar – die politis<strong>ch</strong>e Inkommensurabilitätsthese<br />
ist fals<strong>ch</strong>. Darüber hinaus ist <strong>der</strong> Lösungsvors<strong>ch</strong>lag, den Sterba für das<br />
vermeintli<strong>ch</strong>e Verglei<strong>ch</strong>barkeitsproblem ma<strong>ch</strong>t, zur Bewältigung <strong>der</strong> Theorieunters<strong>ch</strong>iede<br />
ungeeignet, wenn man neben <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung au<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
ins Auge faßt. Dann genügt es ni<strong>ch</strong>t, auf die Praktikabilität des<br />
Ergebnisses zu s<strong>ch</strong>auen, son<strong>der</strong>n es müssen die Gründe angegeben werden, die die<br />
Handlungsgebote in den einzelnen Normensystemen (Liberalismus, Sozialismus)<br />
tragen. Erst eine positive Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft enthält die Gründe des<br />
Handelns und damit die Grundsätze zur Lösung aller neu auftretenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
338 .<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Inkommensurabilität von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, soweit sie mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en Idealen begründet<br />
wird (politis<strong>ch</strong>e Inkommensurabilitätsthese), ein S<strong>ch</strong>einproblem darstellt: <strong>Theorien</strong><br />
bleiben verglei<strong>ch</strong>bar, selbst wenn si<strong>ch</strong> die Befürworter vers<strong>ch</strong>iedener politis<strong>ch</strong>er<br />
Ideale unversöhnli<strong>ch</strong> zeigen.<br />
336 So die Strategie von Sterba, die dieser als 'practical reconciliationist argument' bezei<strong>ch</strong>net;<br />
J.P. Sterba, How to Make People Just (1988), S. 185. Sterba stellt die folgende These auf: »I content<br />
... that reconciliation is possible, at least at the practical level. ... liberty, equality, contractual fairness,<br />
androgyny, or the common good as the ultimate political ideal, ... when correctly interpreted,<br />
support the same practical requirements«; ebd., S. 85, ähnli<strong>ch</strong> S. 177; Begründung <strong>der</strong> Strategie<br />
S. vii, 85 ff.; Neuformulierung in <strong>der</strong>s., Reconciling Conceptions of Justice (1995), S. 2 ff.<br />
m.w.N.<br />
337 J.P. Sterba, Reconciling Conceptions of Justice (1995), S. 2.<br />
338 Vgl. oben S. 27 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft).<br />
109
) Zur konzeptuellen Inkommensurabilität<br />
aa) Mikro-, Meso- und Makrotheorien<br />
In <strong>der</strong> zweiten (<strong>der</strong> konzeptuellen) Variante wird die Inkommensurabilitätsthese<br />
kaum diskutiert 339 , obwohl sie in dieser Form eine sehr viel dringen<strong>der</strong>e methodis<strong>ch</strong>e<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung für die verglei<strong>ch</strong>ende Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien darstellt<br />
als in <strong>der</strong> (nur s<strong>ch</strong>einbar problematis<strong>ch</strong>en) 'politis<strong>ch</strong>en' Variante. Eine Inkommensurabilität<br />
würde nämli<strong>ch</strong> vor allem dann entstehen, wenn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien na<strong>ch</strong><br />
dem Gegenstand <strong>der</strong> behandelten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile <strong>der</strong>art unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Berei<strong>ch</strong>e<br />
abdecken, daß ihnen ein kleinster gemeinsamer Nenner verlorengeht und deshalb<br />
die Verglei<strong>ch</strong>barkeit endet (konzeptuelle Inkommensurabilitätsthese). Immerhin rei<strong>ch</strong>t<br />
das Gegenstandsspektrum <strong>der</strong> behandelten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile von genau definierten<br />
Einzelents<strong>ch</strong>eidungen in sehr kleinen Personengruppen (Mikrotheorien) über<br />
spezifis<strong>ch</strong>e Verteilungsprobleme in gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Teilberei<strong>ch</strong>en (Mesotheorien)<br />
340 bis hin zu <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen über die Grundstruktur einer Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt insgesamt (Makrotheorien) 341 . Damit stellt si<strong>ch</strong> die methodis<strong>ch</strong>e Frage<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Theorien</strong>, in denen zwar jeweils von '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
gespo<strong>ch</strong>en wird und bei denen es immer au<strong>ch</strong> um politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gehen<br />
kann 342 , die aber letztli<strong>ch</strong> kaum Übers<strong>ch</strong>neidungen beim Gegenstandsberei<strong>ch</strong> aufweisen,<br />
weil sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mal im Kleinen, mal im Großen untersu<strong>ch</strong>en. Teilen<br />
die sol<strong>ch</strong>ermaßen differenzierten <strong>Theorien</strong> ledigli<strong>ch</strong> eine gemeinsame »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssemantik«<br />
343 , o<strong>der</strong> gibt es Verbindungslinien, dur<strong>ch</strong> die eine Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
begründet wird? Diese Frage kann mit <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese beantwortet werden,<br />
die einen methodis<strong>ch</strong>en Brückens<strong>ch</strong>lag zwis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> vers<strong>ch</strong>iedener Gegenstandsberei<strong>ch</strong>e<br />
unternimmt.<br />
339 Eine positive Ausnahme bildet V.H. S<strong>ch</strong>midt, Bounded Justice (1993), S. 19 – bezogen auf die Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> von Walzer und Rawls.<br />
340 Mesotheorien bes<strong>ch</strong>äftigen si<strong>ch</strong> mit dem Phänomen <strong>der</strong> 'lokalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (local justice), na<strong>ch</strong><br />
dem si<strong>ch</strong> in einzelnen Institutionen und Aufgabenberei<strong>ch</strong>en bestimmte Präferenzen für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverfahren<br />
(z.B. Organspendenverteilung) herausbilden; J. Elster, Local Justice (1992), S. 18<br />
ff.; V.H. S<strong>ch</strong>midt, Soziologis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sanalyse als empiris<strong>ch</strong>e Institutionenanalyse (1995),<br />
S. 173 ff.; H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 3.<br />
341 Von einer Mikrotheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spri<strong>ch</strong>t man allgemein, wenn sie ihren Fokus auf das<br />
Individuum ri<strong>ch</strong>tet; von einer Makrotheorie, wenn es um die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
geht: H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 2 f. – dort allerdings<br />
mit spezifis<strong>ch</strong> sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en Differenzierungen zum <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sempfinden, auf<br />
die es in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ni<strong>ch</strong>t ankommt.<br />
342 Vgl. oben S. 78 (politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und die S<strong>ch</strong>werpunktthese) – ‚politis<strong>ch</strong>e' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als diejenige im Zusammenhang mit Re<strong>ch</strong>t und Staat. Ein Verteilungsproblem bei staatli<strong>ch</strong> geregelter<br />
Organtransplantation (Mesotheorie) o<strong>der</strong> eine Frage <strong>der</strong> Legitimität von Ma<strong>ch</strong>tausübung<br />
bei Vertragsgestaltungen (Mikrotheorie) gehört ebenso zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wie die verfassungskräftige<br />
Garantie von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten (Makrotheorie).<br />
343 Vgl. V.H. S<strong>ch</strong>midt, Bounded Justice (1993), S. 19: »[I]t simply makes no sense to juxtapose works<br />
whose subjects barely overlap and whi<strong>ch</strong> share little more than a common semantic – in this case,<br />
the semantic of justice.«<br />
110
) Die Skalierbarkeitsthese als Ausweg (B. Barry)<br />
Das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en Mikro- und Makrotheorien ist, ohne daß dies immer ausdrückli<strong>ch</strong><br />
betont würde 344 , als das einer we<strong>ch</strong>selseitigen Entspre<strong>ch</strong>ung festgelegt<br />
worden, dur<strong>ch</strong> die ein kritis<strong>ch</strong>er Verglei<strong>ch</strong> von <strong>Theorien</strong> aus beiden 'Theoriewelten'<br />
mögli<strong>ch</strong> wird 345 . Die im Kleinen gefundenen Prinzipien und Verfahren sollen si<strong>ch</strong><br />
ohne inhaltli<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ied o<strong>der</strong> weitere Voraussetzungen auf eine größere Gruppe von<br />
Individuen und Sa<strong>ch</strong>verhalten und damit letztli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> auf den Anwendungsberei<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Ordnung erweitern lassen, also verzerrungsfrei vom Kleinen ins Große<br />
skaliert werden können (Skalierbarkeitsthese).<br />
Die maßstäbli<strong>ch</strong>e Vergrößerbarkeit von Theorieansätzen (Skalierbarkeit) ist von<br />
großer praktis<strong>ch</strong>er Bedeutung. Denn das, was eine Theorie im Kleinen untersu<strong>ch</strong>t,<br />
wird häufig erst dadur<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig, daß si<strong>ch</strong> dieselben Grundsätze au<strong>ch</strong> auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsgemeins<strong>ch</strong>aft übertragen lassen sollen 346 . Die Skalierbarkeit<br />
ist erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>, wenn man analytis<strong>ch</strong> von Konflikten im Zweipersonenverhältnis<br />
zur Re<strong>ch</strong>tfertigung sozialer Institutionen übergehen will 347 . Dazu werden Mikrotheorien<br />
und Makrotheorien auf <strong>der</strong> Basis struktureller Merkmale einan<strong>der</strong> zugeordnet,<br />
selbst wenn sie einen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Anwendungsberei<strong>ch</strong> haben – die Ents<strong>ch</strong>eidungsrationalität<br />
<strong>der</strong> Zweipersonensituation wä<strong>ch</strong>st zur Sozialvertragstheorie,<br />
<strong>der</strong> Diskurs in <strong>der</strong> Kleingruppe wä<strong>ch</strong>st zur Kommunikationsgesells<strong>ch</strong>aft. Die<br />
Selbstverständli<strong>ch</strong>keit, mit <strong>der</strong> die meisten Autoren die Skalierbarkeit implizieren,<br />
zeigt si<strong>ch</strong> in den von ihnen gezogenen Verglei<strong>ch</strong>en zwis<strong>ch</strong>en vernünftigen Einzelfallents<strong>ch</strong>eidungen<br />
im Zweipersonenverhältnis auf <strong>der</strong> einen Seite und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
für das polits<strong>ch</strong>e Gemeinwesen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en 348 . Sol<strong>ch</strong>e Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Anwendungsberei<strong>ch</strong>e wird erst dadur<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>t,<br />
daß man Mikro- und Makrotheorien einan<strong>der</strong> we<strong>ch</strong>selseitig zuordnet. Verglei<strong>ch</strong><br />
und Zuordnung wie<strong>der</strong>um implizieren, daß si<strong>ch</strong> eine Mikrotheorie maßstäbli<strong>ch</strong><br />
vergrößern (o<strong>der</strong> eine Makrotheorie maßstäbli<strong>ch</strong> verkleinern) läßt, bis sie in den<br />
jeweils an<strong>der</strong>en <strong>Theorien</strong> eine Entspre<strong>ch</strong>ung findet 349 .<br />
344 Erwähnung des Skalierbarkeitsproblems bei J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 605: »In<br />
fact, it would be a priori rather surprising if, at the most fundamental level, the basic principles of<br />
morality should take different forms for large-scale and for small-scale situations.« Kritis<strong>ch</strong>e Erörterung<br />
bei B. Peters, Integration mo<strong>der</strong>ner Gesells<strong>ch</strong>aften (1993), S. 380 f.<br />
345 Vgl. etwa B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 293: »The result will be that theories with very different<br />
substantive conclusions will be treated together as having the same structure«; sowie S. 321<br />
– Zuordnung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> von Harsanyi und Rawls als <strong>Theorien</strong> glei<strong>ch</strong>er Struktur.<br />
346 So au<strong>ch</strong> B. Peters, Integration mo<strong>der</strong>ner Gesells<strong>ch</strong>aften (1993), S. 380 f., <strong>der</strong> dies als den Vorteil <strong>der</strong><br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien s<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t, dem inhaltli<strong>ch</strong>en Gewinn aus den Folgerungen aber skeptis<strong>ch</strong><br />
gegenübersteht.<br />
347 Exemplaris<strong>ch</strong> B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 145: »[W]e move on from fair division to social<br />
justice. By 'fair division' I mean to refer to proposed solutions to conflicts among small numbers of<br />
people ... . By 'social justice' I intend to refer to criteria to appraise social institutions«.<br />
348 B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 145.<br />
349 Implizit au<strong>ch</strong> Gauthier, <strong>der</strong> die Theorie des Verhandelns (theory of bargaining) als mit seiner Theorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verbunden bezei<strong>ch</strong>net und diese später mit Sozialvertragstheorien verglei<strong>ch</strong>t.<br />
Siehe D. Gauthier, Bargaining and Justice (1985), S. 206; <strong>der</strong>s., The Social Contract as Ideology<br />
(1977), S. 350: »Insofar as the two [contractarian and noncontractarian conceptions] are mutually<br />
supportive, all is well.«<br />
111
Die Skalierbarkeit ist, obwohl sie häufig impliziert wird, keinesfalls trivial. Was<br />
im Kleinen gere<strong>ch</strong>t ist, läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall auf größere Maßstäbe übertragen,<br />
ohne daß si<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Begründbarkeit etwas än<strong>der</strong>t. Im Gegenteil. Eine einfa<strong>ch</strong>e<br />
Überlegung zur Informiertheit <strong>der</strong> Beteiligten zeigt, daß zumindest bei <strong>der</strong> realen<br />
Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die Größe des Beteiligtenkreises einen Unters<strong>ch</strong>ied bedeutet.<br />
Nehmen wir beispielsweise den Fall, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in einem Zweipersonenverhältnis<br />
dur<strong>ch</strong> Vertragsverhandlung hergestellt werden soll. Dazu muß und<br />
kann davon ausgegangen werden, daß die beiden Beteiligten über alle relevanten<br />
Umstände und Interessen des jeweils an<strong>der</strong>en annähernd vollständig informiert sind.<br />
Vergrößert man aber den Beteiligtenkreis auf die staatli<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft, so kann<br />
bei Verhandlungen zwis<strong>ch</strong>en Gruppen (etwa einer religiösen Min<strong>der</strong>heit mit <strong>der</strong><br />
Mehrheit) die vollständige Informiertheit getrenntleben<strong>der</strong> Bevölkerungsgruppen<br />
untereinan<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr länger angenommen werden. Sie müßte erst dur<strong>ch</strong> zusätzli<strong>ch</strong>e<br />
Maßnahmen si<strong>ch</strong>ergestellt werden – etwa dur<strong>ch</strong> einen funktionierenden Meinungsmarkt<br />
(marketplace of ideas 350 ) o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e effektive Informationsmedien. Erst<br />
dadur<strong>ch</strong> wäre die Verglei<strong>ch</strong>barkeit <strong>der</strong> Makro- mit <strong>der</strong> Mikrosituation wie<strong>der</strong>hergestellt.<br />
Die Übertragung eines Ergebnisses aus <strong>der</strong> experimentellen Zweipersonensituation<br />
auf die Größenordnung eines staatli<strong>ch</strong>en Gemeinwesens kann also jedenfalls<br />
ni<strong>ch</strong>t in allen Fällen, wie von <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese vorausgesetzt, ohne inhaltli<strong>ch</strong>en<br />
Unters<strong>ch</strong>ied o<strong>der</strong> weitere Voraussetzungen ges<strong>ch</strong>ehen, son<strong>der</strong>n bedarf zusätzli<strong>ch</strong>er<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung. Wer eine Mikrotheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu einer Makrotheorie<br />
ausbauen will, um sie an<strong>der</strong>en Makrotheorien gegenüberzustellen, muß zusätzli<strong>ch</strong><br />
begründen, warum die Skalierung an den im Kleinen begründeten Ergebnissen<br />
ni<strong>ch</strong>ts än<strong>der</strong>t.<br />
Wenn die Skalierbarkeitsthese für die reale Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> also zumindest<br />
in einigen Fällen unzutreffend ist, so behält sie do<strong>ch</strong> ihren Wert. Für das<br />
ideale Begründungsmodell, wie es alle <strong>Theorien</strong> enthalten, ist die These nämli<strong>ch</strong> zutreffend.<br />
Im geda<strong>ch</strong>ten Idealzustand sind Voraussetzungen <strong>der</strong> Makrosituation (staatli<strong>ch</strong>e<br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft) ebenso hypothetis<strong>ch</strong> wie diejenigen <strong>der</strong> Mikrosituation (Gedankenexperiment<br />
mit zwei Personen). Die maßstäbli<strong>ch</strong>e Vergrößerung des Anwendungsberei<strong>ch</strong>s<br />
einer Theorie krankt also ni<strong>ch</strong>t daran, daß si<strong>ch</strong> ihre Voraussetzungen<br />
unter den Bedingungen <strong>der</strong> realen Welt verän<strong>der</strong>n. Der geda<strong>ch</strong>te Vertrag o<strong>der</strong> <strong>der</strong> geda<strong>ch</strong>te<br />
Diskurs behalten im Kleinen wie im Großen stets dieselbe Struktur.<br />
350 In heutigem Verständnis zuerst Holmes Min<strong>der</strong>heitenvotum in Abrams vs. United States, 250 U.S.<br />
616, 630 (1919): »But when men have realized that time has upset many fighting faiths, they may<br />
come to believe even more than they believe the very foundations of their own conduct that the<br />
ultimate good desired is better rea<strong>ch</strong>ed by free trade in ideas – that the best test of truth is the power<br />
of the thought to get itself accepted in the competition of the market, and that truth is the only<br />
ground upon whi<strong>ch</strong> their wishes safely can be carried out. That at any rate is the theory of our<br />
Constitution.« Vgl. dazu BVerfGE 5, 85 (135) – KPD-Verbotsurteil: »Denn es ist eine <strong>der</strong> Grundans<strong>ch</strong>auungen<br />
<strong>der</strong> freiheitli<strong>ch</strong>en Demokratie, daß nur die ständige geistige Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
zwis<strong>ch</strong>en den einan<strong>der</strong> begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politis<strong>ch</strong>en Ideen und<br />
damit au<strong>ch</strong> den sie vertretenden politis<strong>ch</strong>en Parteien <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tige Weg zur Bildung des Staatswillens<br />
ist – ni<strong>ch</strong>t in dem Sinne, daß er immer objektiv ri<strong>ch</strong>tige Ergebnisse liefere, denn dieser Weg<br />
ist a process of trial and error (I. B. Talmon), aber do<strong>ch</strong> so, daß er dur<strong>ch</strong> die ständige gegenseitige<br />
Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) ri<strong>ch</strong>tige politis<strong>ch</strong>e Linie als Resultante<br />
und Ausglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den im Staat wirksamen politis<strong>ch</strong>en Kräften gibt.«<br />
112
c) Ergebnisse<br />
In ihrer politis<strong>ch</strong>en Variante betrifft die Inkommensurabilitätsthese ein S<strong>ch</strong>einproblem,<br />
denn selbst bei unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>sten politis<strong>ch</strong>en Idealen (Ergebnissen) bleiben<br />
die <strong>Theorien</strong> zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verglei<strong>ch</strong>bar. In <strong>der</strong> konzeptuellen<br />
Variante zeigt die Inkommensurabilitätsthese zutreffend die methodis<strong>ch</strong>en Grenzen<br />
<strong>der</strong> Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Theorien</strong> auf. Im Ergebnis gelingt aber ein methodis<strong>ch</strong>er<br />
Brückens<strong>ch</strong>lag, <strong>der</strong> die Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorien si<strong>ch</strong>erstellt:<br />
Bei <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung gesamtgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Makrotheorien<br />
können au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> zum Verglei<strong>ch</strong> herangezogen werden, die si<strong>ch</strong> mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
innerhalb eines kleineren Beteiligtenkreises befassen (Mikrotheorien) 351 ,<br />
solange es um das ideale Begründungsmodell <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> geht, denn an<strong>der</strong>s als bei<br />
<strong>der</strong> realen Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> trifft insoweit die These zu, daß si<strong>ch</strong> die im<br />
Kleinen gefundenen Prinzipien o<strong>der</strong> Verfahren ohne inhaltli<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ied o<strong>der</strong><br />
weitere Voraussetzungen maßstäbli<strong>ch</strong> vergrößern lassen (Skalierbarkeitsthese). Die<br />
Inkommensurabilitätsthese trifft insoweit ni<strong>ch</strong>t zu.<br />
2. Die Vollständigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
a) Die Ergänzbarkeitsthese<br />
Bei <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese geht es um die Verglei<strong>ch</strong>barkeit von <strong>Theorien</strong>. Aber<br />
au<strong>ch</strong> unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Vollständigkeit stellen si<strong>ch</strong> Probleme, die in ganz<br />
ähnli<strong>ch</strong>er Weise gelöst werden. Wenn eine Theorie zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen behandelt, die für die Beurteilung eines staatli<strong>ch</strong>en<br />
Gemeinwesens Gewi<strong>ch</strong>t haben, so muß die Theorie, um überhaupt Aussagekraft zu<br />
behalten, implizit davon ausgehen, daß si<strong>ch</strong> an den gefundenen Ergebnissen ni<strong>ch</strong>ts<br />
verän<strong>der</strong>t, wenn sie auf die ungeklärten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen übertragen werden<br />
(Ergänzbarkeitsthese). Die Theorie geht also davon aus, daß einzelne Bausteine si<strong>ch</strong><br />
ohne inhaltli<strong>ch</strong>e Än<strong>der</strong>ung zu einer umfassenden Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
vervollständigen lassen.<br />
Au<strong>ch</strong> die Ergänzbarkeitsthese ist ni<strong>ch</strong>t trivial. Wenn beispielsweise eine Theorie<br />
nur ein einzelnes Verteilungsprinzip re<strong>ch</strong>tfertigt, etwa das Differenzprinzip bei<br />
Rawls, o<strong>der</strong> nur ein bestimmtes Verfahren für gere<strong>ch</strong>t erklärt, etwa den Diskurs bei<br />
Habermas, dann kann dies ein theoretis<strong>ch</strong>es Ergebnis sein, das bereits <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zuzuordnen ist. Do<strong>ch</strong> fehlen no<strong>ch</strong> wesentli<strong>ch</strong>e Zwis<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>ritte, um<br />
von einer vollständigen Theorie über politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spre<strong>ch</strong>en zu können:<br />
Differenzprinzip und Diskurs müssen ihre Anwendbarkeit in Fragen staatli<strong>ch</strong>er<br />
Ordnung unter Beweis stellen. Würde jetzt diese Ergänzung dazu führen, Prinzip<br />
o<strong>der</strong> Verfahren selbst wie<strong>der</strong> in Frage zu stellen, so wäre die Ergänzbarkeitsthese<br />
wi<strong>der</strong>legt. Das kann – ähnli<strong>ch</strong> wie bei <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese – immer dann ges<strong>ch</strong>ehen,<br />
wenn es si<strong>ch</strong> um die reale Anwendung von Prinzipien o<strong>der</strong> Verfahren handelt,<br />
denn dabei können im Berei<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong>er Ordnung Anwendungsbedingungen problematis<strong>ch</strong><br />
werden, die bei an<strong>der</strong>en Sa<strong>ch</strong>fragen o<strong>der</strong> kleineren Beteiligtengruppen<br />
keine S<strong>ch</strong>wierigkeiten aufwerfen. So müßte beispielsweise, wenn die Anwendung<br />
351 Dazu unten S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren).<br />
113
des Diskursprinzips in einem Modell deliberativer Politik an unvermeidbaren politis<strong>ch</strong>-realen<br />
Zwängen s<strong>ch</strong>eitern sollte, dies zu dem Rücks<strong>ch</strong>luß führen, daß ein realer<br />
Diskurs als Fundament gere<strong>ch</strong>ter sozialer Ordnung untaugli<strong>ch</strong> ist 352 .<br />
Do<strong>ch</strong> bleibt die Ergänzbarkeitsthese trotz ihrer insoweit bes<strong>ch</strong>ränkten Geltung<br />
wertvoll für alle Aussagen zur idealen Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, denn sol<strong>ch</strong>e<br />
Aussagen sind unabhängig davon ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong>, ob die realen Anwendungsbedingungen<br />
bestehen. Um beim Beispiel zu bleiben: Ein einzelner, im staatli<strong>ch</strong>en Rahmen<br />
ni<strong>ch</strong>t umsetzbarer realer Diskurs könnte keinen Zweifel daran begründen, daß ideale<br />
Diskurse als Mittel praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis grundsätzli<strong>ch</strong> taugli<strong>ch</strong> sind 353 . Das bedeutet<br />
im Ergebnis: Eine unvollständige Theorie kann das Bild eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnisses<br />
für die staatli<strong>ch</strong>e Ordnung bereits in si<strong>ch</strong> tragen, ohne es im einzelnen zu<br />
explizieren. Sol<strong>ch</strong>e Unvollständigkeit ist zumindest für die ideale Begründung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> uns<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>, weil si<strong>ch</strong> eine Theorie ohne inhaltli<strong>ch</strong>e Än<strong>der</strong>ung um weitere<br />
Bausteine ergänzen und so zu einer umfassenden Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
vervollständigen läßt (Ergänzbarkeitsthese). Folgli<strong>ch</strong> können au<strong>ch</strong> allgemein<br />
formulierte <strong>Theorien</strong> über rationales Ents<strong>ch</strong>eiden sinnvoll als <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> untersu<strong>ch</strong>t werden 354 .<br />
b) Die Erweiterbarkeitsthese<br />
Bei <strong>der</strong> Erweiterbarkeitsthese geht es, vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en, um die Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
von 'Pfli<strong>ch</strong>t' und 'Kür' in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Gegenwärtige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
sind auf eine vereinfa<strong>ch</strong>te Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Dinge konzentriert. Sie fragen<br />
nur na<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> die definitionsgemäß relevanten 'an<strong>der</strong>en' 355<br />
aktuell und selbständig lebende Mens<strong>ch</strong>en sind, also we<strong>der</strong> Tiere, Pflanzen und unbelebte<br />
Entitäten, no<strong>ch</strong> Föten o<strong>der</strong> künftige Generationen. Die <strong>Theorien</strong> blenden<br />
damit die s<strong>ch</strong>wierige Frage aus, wel<strong>ch</strong>e Entitäten als Moralsubjekte und -objekte in Frage<br />
kommen 356 . Außerdem verzi<strong>ch</strong>ten sie auf eine Differenzierung na<strong>ch</strong> dem Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t<br />
und klammern damit die feministis<strong>ch</strong>e Theorie insgesamt aus 357 .<br />
352 Dazu unten S. 239 ff. (Diskursprinzip und deliberative Politik bei Habermas).<br />
353 Vgl. unten S. 218 ff. (idealer und realer Diskurs).<br />
354 Dazu unten S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren), S. 176 ff. (<strong>Theorien</strong><br />
zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt).<br />
355 Dazu oben S. 50 (D 1 ).<br />
356 Vgl. etwa I. Persson, Eine Basis für (Interspezies-)Glei<strong>ch</strong>heit (1994), S. 281 – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erfor<strong>der</strong>e,<br />
daß das Leben bestimmter ni<strong>ch</strong>tmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Wesen den glei<strong>ch</strong>en Wert habe wie das von<br />
Mens<strong>ch</strong>en; T. Regan, Unre<strong>ch</strong>tmäßig erworbene Vorteile (1994), S. 308 ff. – zum Kriterium des inhärenten<br />
Wertes.<br />
357 Zur Kritik etwa M. Matsuda, Liberal Jurisprudence and Abstracted Visions of Human Nature<br />
(1986), S. 616: »Behind Rawls's veil, woman thinking, the terrifying Other, is abstracted out.«;<br />
I.M. Young, Impartiality and Civic Public (1987), S. 58: »[I]deals of liberalism and contract theory,<br />
su<strong>ch</strong> as formal equality and universal rationality, are deeply marred by masculine biases about<br />
what it means to be human and the nature of society.«; V. Held, Non-contractual Society (1987),<br />
S. 112 f.: »[C]ontractual relations ... discount in very fundamental ways the experience of women.«;<br />
C. Pateman, The Sexual Contract (1988), S. 1: »We hear an enormous amount about the social<br />
contract; a deep silence is maintained about the sexual contract. ... Standard accounts of the<br />
social contract theory do not discuss the whole story«; S.M. Okin, Justice, Gen<strong>der</strong>, and the Family<br />
114
S<strong>ch</strong>on Rawls hat bewußt offen gelassen, ob <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
gegenüber ni<strong>ch</strong>tmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Entitäten (Tieren, Pflanzen, unbelebten Naturobjekten)<br />
mögli<strong>ch</strong> ist und damit Gegenstand einer umfassenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie sein<br />
sollte. Au<strong>ch</strong> hat er die spezifis<strong>ch</strong>en Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten in <strong>der</strong> Unglei<strong>ch</strong>behandlung<br />
<strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter ni<strong>ch</strong>t aufgegriffen. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zwis<strong>ch</strong>en Generationen ist<br />
zwar Bestandteil seiner Theorie, hat si<strong>ch</strong> aber seitdem innerhalb <strong>der</strong> Diskussion verselbständigt<br />
358 . Au<strong>ch</strong> die internationale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> war bei Rawls ni<strong>ch</strong>t behandelt,<br />
son<strong>der</strong>n ist, wie alle diese Gegenstände, erst als Erweiterung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
diskutiert worden 359 . Rawls hat die Bes<strong>ch</strong>ränkung des Gegenstandsberei<strong>ch</strong>es<br />
damit gere<strong>ch</strong>tfertigt, daß eine zunä<strong>ch</strong>st bes<strong>ch</strong>eidener konzipierte Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
si<strong>ch</strong> später erweitern lasse 360 . Diese Erweiterbarkeitsthese ist implizit Bestandteil<br />
all jener <strong>Theorien</strong>, die si<strong>ch</strong> auf einen Grundkanon von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen kon-<br />
(1989), S. 89: »critiquing Rawls's theory for its neglect of gen<strong>der</strong>«; dies., Political Liberalism, Justice,<br />
and Gen<strong>der</strong> (1994), S. 24 ff.; S. Benhabib, Der verallgemeinerte und <strong>der</strong> konkrete An<strong>der</strong>e (1989),<br />
S. 462: »Zu Beginn <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen moralis<strong>ch</strong>en und politis<strong>ch</strong>en Theorie [erfolgte] die Ausklammerung<br />
von Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsbeziehungen aus dem Umfeld des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs überhaupt.«; H.<br />
Nagl-Docekal, Die Kunst <strong>der</strong> Grenzziehung und die Familie (1995), S. 261: »Klis<strong>ch</strong>eebild des männli<strong>ch</strong>en<br />
Haushaltsvorstands«; H. Pauer-Stu<strong>der</strong>, Das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 20: »Au<strong>ch</strong><br />
um die mo<strong>der</strong>ne Theorie steht es ni<strong>ch</strong>t besser: Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben die zeitgenössis<strong>ch</strong>en<br />
Moralphilosophen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gefragt, ob die von ihnen entwickelten Grundsätze, Thesen<br />
und Modelle Frauen als Moralsubjekte berücksi<strong>ch</strong>tigen.«; S. Baer, Würde o<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit?<br />
(1996), S. 163: »Frauen ... vers<strong>ch</strong>winden hinter dem S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens komplett und sie<br />
hatten nie Stimmen im Diskurs.«; S. Hekman, Truth and Method (1997), S. 341 (mit Bezug auf Hartsock):<br />
»[I]t is women's unique standpoint in society that provides the justification for the truth<br />
claims of feminism.«<br />
358 Vgl. z.B. M. Brumlik, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zwis<strong>ch</strong>en Generationen (1995); D.E. Lee, Generations and the<br />
Challenge of Justice (1996), S. 54 ff. – zum Fehlen eines Alterkontinuums in den U.S.A. zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> 'World War II Generation' (1906-25, 8,4% in 1994), <strong>der</strong> 'Silent Generation' (1926-1945, 17%), <strong>der</strong><br />
'Baby-Boom-Generation' (1946-1965, 30,9%), <strong>der</strong> 'Generation X' (1966-1985, 28,4%) und <strong>der</strong> 'Twenty-First-Century<br />
Generation' (1986-, 14,8%). Diese getrennte Problemstellung gilt allgemein in <strong>der</strong><br />
Moraltheorie; vgl. D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 351 ff. – Zeitabhängigkeit moralis<strong>ch</strong>er<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e als Son<strong>der</strong>problem.<br />
359 Insbeson<strong>der</strong>e für die internationale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>: T.W. Pogge, Realizing Rawls (1989) – Erweiterung<br />
von Rawls' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie auf den internationalen Maßstab. Rawls hat später einen<br />
eigenen Entwurf für die internationale Erweiterung seiner Theorie präsentiert: J. Rawls, Das Völkerre<strong>ch</strong>t<br />
(1993), S. 53 ff. (59 ff.). An<strong>der</strong>e Beispiele: D.W. Skubik, Two Models for a Rawlsian Theory<br />
of International Law and Justice (1986), S. 231 ff.; F. R. Tesón, The Kantian Theory of International<br />
Law (1992), S. 53 ff.; C. Chwaszcza, Ethik <strong>der</strong> Internationalen Beziehungen (1996), S. 155 ff. m.w.N.<br />
Kritis<strong>ch</strong> zur Verwendung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien als Legitimationsmaßstab internationalen<br />
Re<strong>ch</strong>ts T.M. Franck, The Power of Legitimacy Among Nations (1990), S. 208 ff. In <strong>der</strong> religiös-materialen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie von E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 268 wurde 'Die gere<strong>ch</strong>te<br />
Völkerordnung' hingegen von Anbeginn als integraler Bestandteil angesehen. Die von Rawls eingeführte<br />
Trennung von nationaler und internationaler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die si<strong>ch</strong> fast überall dur<strong>ch</strong>gesetzt<br />
hat, kann deshalb jedenfalls ni<strong>ch</strong>t als zwingend angesehen werden. Vgl. O. O'Neill, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terdifferenz und internationale Grenzen (1993), S. 425 – 'unliebsame Wahl'<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätzen mit kosmopolitis<strong>ch</strong>em Anspru<strong>ch</strong> und einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
die an den Staatsgrenzen halt ma<strong>ch</strong>t.<br />
360 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 20: »We may think of these problems as questions of extension.«<br />
115
zentrieren, ohne die weitergehenden Fragen, die ebenfalls zur politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
gehören 361 , begründet auszus<strong>ch</strong>ließen.<br />
Die Erweiterbarkeitsthese ist ni<strong>ch</strong>t trivial. So hat Walzer mit Re<strong>ch</strong>t darauf hingewiesen,<br />
daß <strong>der</strong> Nationalstaat keine abges<strong>ch</strong>lossene Distributionswelt ist 362 . Wenn<br />
aber die Güterverteilung zwangsläufig territorialstaatli<strong>ch</strong>e Grenzen sprengt, dann<br />
muß au<strong>ch</strong> eine Therorie über gere<strong>ch</strong>te Güterverteilung den Rahmen einer politis<strong>ch</strong>en,<br />
d.h. heute immer no<strong>ch</strong> primär staatli<strong>ch</strong>en, Sozialordnung zugunsten einer internationalen<br />
Perspektive öffnen, wenn sie den Anspru<strong>ch</strong> auf Vollständigkeit erheben<br />
will. Angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>wierigkeiten, die damit verbunden sind, überhaupt eine<br />
Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu begründen, ist es bei aller Kritik verständli<strong>ch</strong>, wenn zunä<strong>ch</strong>st<br />
dur<strong>ch</strong>weg von dem vereinfa<strong>ch</strong>ten Modell ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsloser, gegenwärtig leben<strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>en in einem Nationalstaat ausgegangen wird und die weiteren Probleme, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die in <strong>der</strong> feministis<strong>ch</strong>en Jurisprudenz betonte Ungere<strong>ch</strong>tigkeit zwis<strong>ch</strong>en<br />
den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern, vorerst aus dem Grundkanon <strong>der</strong> Theorie ausgeklammert bleiben.<br />
Do<strong>ch</strong> bevor eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, die zunä<strong>ch</strong>st nur für die Grundfragen<br />
<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Ergebnisse gefundenen hat, auf die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zwis<strong>ch</strong>en<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern, Naturentitäten, Generationen, Nationen o<strong>der</strong> Völkern übertragen<br />
wird, muß die Kritik wie<strong>der</strong> in Erinnerung gerufen werden 363 . Es besteht immer<br />
die Gefahr, daß eine Theorie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verzerrungsfrei auf die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern, gegenüber <strong>der</strong> Natur o<strong>der</strong> zwis<strong>ch</strong>en den Generationen o<strong>der</strong> Nationen<br />
übertragen läßt. S<strong>ch</strong>on Rawls hat zugestanden, daß eine Theorie dann unter Umständen<br />
revidiert werden muß 364 . Do<strong>ch</strong> es könnte mehr als eine bloße Revision nötig<br />
werden. Je na<strong>ch</strong>dem, auf wel<strong>ch</strong>e Voraussetzungen si<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
stützt, kann die implizite Erweiterbarkeitsthese insgesamt s<strong>ch</strong>eitern. Wenn etwa die<br />
feministis<strong>ch</strong>e These zutreffen sollte, daß es eine spezifis<strong>ch</strong> weibli<strong>ch</strong>e Form praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft gibt 365 , dann wäre damit jede ni<strong>ch</strong>tfeministis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
aus den Angeln gehoben.<br />
Alle Eins<strong>ch</strong>ränkungen zusammen definieren den Kreis <strong>der</strong> Gegenstände, die in<br />
den hier zu untersu<strong>ch</strong>enden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien behandelt werden. Es geht zunä<strong>ch</strong>st<br />
nur um politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter aktuell lebenden Mens<strong>ch</strong>en ohne Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
des Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ts. Fragen <strong>der</strong> Naturgere<strong>ch</strong>tigkeit, Generationengere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
o<strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tergere<strong>ch</strong>tigkeit kann man demgegenüber als Erweiterungen von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
verstehen.<br />
361 Etwas an<strong>der</strong>s O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 51 f., <strong>der</strong> zwar das Verhältnis <strong>der</strong> Staaten<br />
zueinan<strong>der</strong> und das Verhältnis <strong>der</strong> Lebenden zu den künftigen Generationen in den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
einbezogen wissen will, wegen 'Asymmetrie' aber ni<strong>ch</strong>t das Verhältnis zu unzure<strong>ch</strong>nungsfähigen<br />
Entitäten <strong>der</strong> Natur.<br />
362 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 61.<br />
363 Dazu unten S. 358 ff. (Fünfter Teil).<br />
364 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 20: »Other questions we can discuss later, and how we<br />
answer them may require us to revise answers already rea<strong>ch</strong>ed.«<br />
365 So z.B. A.M. Jaggar, Toward a Feminist Conception of Moral Reasoning (1995), S. 115 ff. m.w.N.<br />
Jaggar vertritt die These, es gebe einen 'Feministis<strong>ch</strong>en Praktis<strong>ch</strong>en Dialog' (FPD), <strong>der</strong> die Diskurstheorie<br />
von Habermas aufgreift, um sie auf ein empiris<strong>ch</strong>, begriffli<strong>ch</strong>, moralis<strong>ch</strong> und pragmatis<strong>ch</strong><br />
an<strong>der</strong>es Verständnis moralis<strong>ch</strong>er Begründung zu übertragen.<br />
116
c) Die Mindestgehaltsthese<br />
Letztli<strong>ch</strong> bleiben fünf Themenkreise, die jede Theorie politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> behandeln<br />
muß, um staatli<strong>ch</strong>e Ordnung umfassend zu würdigen. Man kann insoweit<br />
von einem substantiellen Mindestgehalt <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Gere<strong>ch</strong>igkeitstheorien spre<strong>ch</strong>en<br />
(Mindestgehaltsthese). Diese Mindestgehaltsthese wird im letzten Teil dieser Arbeit<br />
als Ausgangspunkt für die Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
wie<strong>der</strong> aufgegriffen 366 . Der 'Mindestgehalt' läßt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lagwortartig dur<strong>ch</strong> die Begriffe<br />
'Begründungsmodell', 'Institutionalisierung', 'Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te', 'Demokratie'<br />
und 'Güterverteilung' bezei<strong>ch</strong>nen 367 .<br />
Ein Begründungsmodell ist nötig, weil die Explikation von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er<br />
Weise auf eine Konzeption <strong>der</strong> allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Vernunft gestützt<br />
werden kann. Die Institutionalisierung betrifft die Frage, warum es gere<strong>ch</strong>t ist,<br />
daß eine staatli<strong>ch</strong>e Zwangsordnung überhaupt besteht. Dabei geht es um die Verteidigung<br />
von Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten gegenüber Konzepten des Anar<strong>ch</strong>ismus – ein Kernproblem<br />
<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie 368 . Für die Ma<strong>ch</strong>tkontrolle innerhalb einer staatli<strong>ch</strong>en<br />
Zwangsordnung ist sodann bedeutsam, ob und in wel<strong>ch</strong>em Umfang bestimmte<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Regelungskompetenz <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>ts- und Staatsordnung entzogen<br />
sein müssen. Mit <strong>der</strong> Thematisierung von Demokratie ist s<strong>ch</strong>lagwortartig die Frage<br />
gestellt, wel<strong>ch</strong>en Anteil die Betroffenen an <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung über staatli<strong>ch</strong>e Belange<br />
haben müssen. Und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ist mit Güterverteilung die Frage <strong>der</strong> 'sozialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
aufgeworfen, also einerseits <strong>der</strong> Mindestausstattung mit Gütern, die in einer<br />
Sozialordnung für alle gewährleistet sein muß, und an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en Befugnisse<br />
und Pfli<strong>ch</strong>ten, eine ausglei<strong>ch</strong>ende Umverteilung von Gütern zu bewirken.<br />
Bei <strong>der</strong> Beantwortung dieser fünf Fragen kann si<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
ni<strong>ch</strong>t darauf bes<strong>ch</strong>ränken, einzelne staatli<strong>ch</strong>e Gemeinwesen zu untersu<strong>ch</strong>en. Denn<br />
366 Dazu unten S. 309 (Fünf Fragen politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
367 Ähnli<strong>ch</strong>keit zu diesem Fragenkatalog haben die drei Stufen <strong>der</strong> Philosophie des Politis<strong>ch</strong>en bei<br />
O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 33 f. Au<strong>ch</strong> Höffe kann insoweit als Vertreter einer Mindestgehaltsthese<br />
angesehen werden. Au<strong>ch</strong> F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab<br />
(1996), S. 149 ff. hebt die Fragen <strong>der</strong> Freiheit (hier: Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Demokratie) und sozialen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (hier: Güterverteilung) als speziellere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprobleme außergewöhnli<strong>ch</strong>er<br />
Komplexität hervor.<br />
368 Vgl. V. Medina, Social Contract Theories (1990), S. 135 ff. sowie S. 111: »In short, social contract<br />
theorists are addressing at least two major questions: Whom should we obey? And why?« <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> 'geordneten Anar<strong>ch</strong>ie' (z.B. Bu<strong>ch</strong>anan, dazu unten S. 177 – Ideal einer geordneten Anar<strong>ch</strong>ie)<br />
sind ni<strong>ch</strong>t dasselbe wie das reine anar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ideal einer völligen Herrs<strong>ch</strong>aftslosigkeit, die<br />
zur Absage an jede Staatli<strong>ch</strong>keit führen muß; vgl. dazu M.A. Bakunin, Staatli<strong>ch</strong>keit und Anar<strong>ch</strong>ie<br />
(1873), S. 278: »Wer Staat sagt, sagt notwendigerweise Unterdrückung und folgli<strong>ch</strong> Sklaverei; ein<br />
Staat ohne Sklaverei, offen o<strong>der</strong> vers<strong>ch</strong>leiert, ist undenkbar, deshalb sind wir Feinde des Staates.«;<br />
sowie ebd., S. 308: »Auf <strong>der</strong> pangermanis<strong>ch</strong>en Fahne steht ges<strong>ch</strong>rieben: Erhaltung und Stärkung des<br />
Staates um jeden Preis; auf <strong>der</strong> Fahne <strong>der</strong> sozialen Revolution, auf unserer Fahne, wird dagegen mit<br />
Bu<strong>ch</strong>staben aus Feuer und Blut ges<strong>ch</strong>rieben stehen: Zerstörung aller Staaten, Abs<strong>ch</strong>affung <strong>der</strong> bürgerli<strong>ch</strong>en<br />
Kultur, spontane Organisation von unten na<strong>ch</strong> oben mit Hilfe freier Assoziationen befreiter Arbeitermassen<br />
und <strong>der</strong> gesamten Mens<strong>ch</strong>heit und Gründung einer neuen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft.« (Hervorhebung<br />
bei Bakunin). Ähnli<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>lossen P.J. Proudhon, Philosophie <strong>der</strong> Staatsökonomie<br />
(1846), Bd. 2, S. 213: »Das Eigenthum ist eine Einri<strong>ch</strong>tung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, und das Eigenthum<br />
ist <strong>der</strong> Diebstahl.« (Hervorhebung bei Proudhon).<br />
117
dadur<strong>ch</strong> würde die Theorie zeitli<strong>ch</strong>-räumli<strong>ch</strong> so kontingent, daß sie die Aufgabe <strong>der</strong><br />
Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr sinnvoll erfüllen könnte. Der Mindestgehalt<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, die hier untersu<strong>ch</strong>t werden sollen, besteht also darin,<br />
Antworten auf die fünf Fragen zu bieten, die zeitli<strong>ch</strong> und räumli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t kontingent<br />
und in diesem Sinne universell sind. Au<strong>ch</strong> in den abs<strong>ch</strong>ließend vorzustellenden<br />
Grundzügen einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird auf diese fünf Themenkreise<br />
<strong>der</strong> Mindestgehaltsthese zurückzukommen sein 369 .<br />
IV. Ergebnisse<br />
Unter den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind diejenigen beson<strong>der</strong>s bedeutsam, die si<strong>ch</strong> mit<br />
politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> befassen (S<strong>ch</strong>werpunktthese). Sie werden gemeinhin na<strong>ch</strong><br />
dem Darstellungsmittel klassifiziert (Vertrag, Beoba<strong>ch</strong>ter, Diskurs). Eine sol<strong>ch</strong>e Einteilung<br />
ist allein wenig aussagekräftig, weil praktis<strong>ch</strong> je<strong>der</strong> Inhalt im Gewand einer<br />
Vertragstheorie präsentiert werden kann (Indifferenzeinwand). Dagegen vermag die<br />
Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, die von den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
jeweils verfolgt werden, besser zu betonen. Sowohl die Formen des Vernunftgebrau<strong>ch</strong>s<br />
(pragmatis<strong>ch</strong>, ethis<strong>ch</strong>, moralis<strong>ch</strong>) als au<strong>ch</strong> die in den <strong>Theorien</strong> verwendeten<br />
Darstellungsmittel (Vertrag, Beoba<strong>ch</strong>ter, Diskurs) sind demgegenüber untergeordnete<br />
Unters<strong>ch</strong>eidungskriterien.<br />
Trotz des sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Anwendungsberei<strong>ch</strong>s, den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> behandeln (Mikro-, Meso-, Makrotheorien), bleiben sie verglei<strong>ch</strong>bar<br />
(Skalierbarkeitsthese). Eine vollständige Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
muß mindestens die fünf Themenkreise 'Begründungsmodell', 'Institutionalisierung',<br />
'Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te', 'Demokratie' und 'Güterverteilung' behandeln (Mindestgehaltsthese).<br />
Als beson<strong>der</strong>e, ni<strong>ch</strong>t zum Mindestkanon gehörige Themenkreise können die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
gegenüber <strong>der</strong> Natur, in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft, gegenüber zukünftigen<br />
Generationen und unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern gelten. In <strong>der</strong> Regel läßt si<strong>ch</strong> eine unvollständige<br />
Theorie ohne Argumentationsbru<strong>ch</strong> vervollständigen (Ergänzbarkeitsthese)<br />
und verliert ihre Gültigkeit ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong>, daß sie na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> auf die beson<strong>der</strong>en<br />
Themenkreise ausgedehnt wird (Erweiterbarkeitsthese).<br />
C. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Das Beson<strong>der</strong>e an prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist, daß sie si<strong>ch</strong> wesentli<strong>ch</strong><br />
auf ein Verfahren stützen, um <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu begründen 370 . Damit setzen sie voraus,<br />
daß überhaupt <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit <strong>der</strong> Einhaltung von Verfahrensregeln begründet<br />
werden kann. Eine sol<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> Verfahren begründbaren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
wird allgemein 'prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (procedural justice) – in man<strong>ch</strong>en<br />
Aspekten au<strong>ch</strong> 'natürli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (natural justice) 371 – genannt. Sie fun-<br />
369 Dazu unten S. 309 ff. (Fünf Fragen politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
370 Dazu im einzelnen unten S. 132 ff. (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
371 So bei dem von R.S. Summers und J.R. Lucas entwickelten Katalog von Ents<strong>ch</strong>eidungsregeln <strong>der</strong><br />
natürli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 130: »The rules of Natural Ju-<br />
118
giert in normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien in vers<strong>ch</strong>iedenen Formen, <strong>der</strong>en genaue<br />
Unters<strong>ch</strong>eidung für die Untersu<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> wi<strong>ch</strong>tig ist. Na<strong>ch</strong> einer allgemeinen<br />
Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (I) und des eng mit ihr verbundenen<br />
Fairneßbegriffs (II) sind darum vorerst die vier Ers<strong>ch</strong>einungsformen (III) und ihre<br />
Funktion in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien zu klären (IV), bevor auf diesem Fundament<br />
über Begriff und Klassifizierung von prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gespro<strong>ch</strong>en<br />
werden kann.<br />
I. Eine Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D M D 3 )<br />
Eine alle Einzelformen umfassende Definition des Begriffs <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
kann in Abgrenzung zum Begriff <strong>der</strong> materialen (substantiellen) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
vorgenommen werden:<br />
D M :<br />
D 3 :<br />
Materiale (substantielle) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
eines Ergebnisses (Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit). 372<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit, die dur<strong>ch</strong> Verfahren errei<strong>ch</strong>t wird<br />
(Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit). 373<br />
Die Definition ist mit dem Kriterium <strong>der</strong> 'För<strong>der</strong>ung' bewußt s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> gewählt, damit<br />
alle Formen <strong>der</strong> Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit mit ihren gemeinsamen Elementen erfaßt<br />
werden. Vor einer Erörterung dieser Formen ist darauf hinzuweisen, daß es neben<br />
einer objektiven au<strong>ch</strong> eine subjektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gibt, die vor allem<br />
in Studien <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssoziologie und Sozialpsy<strong>ch</strong>ologie untersu<strong>ch</strong>t wird 374 . Während<br />
die Qualifikation als 'objektiv' die Eignung einer Prozedur bezei<strong>ch</strong>net, normatistice<br />
are general rules of procedure designed to prevent certain sorts of injustice, particularly in<br />
individual cases. They have been formulated with legal adjudications in view rather than any<br />
other sort of political dispute, but they should not be restricted to disputes that are decided by the<br />
courts of law. The rules of Natural Justice require that no man shall be judge in his own cause;<br />
that the judge shall hear both sides of the case; that the judge shall give full consi<strong>der</strong>ation to the<br />
case; that the judge shall exclude all irrelevant consi<strong>der</strong>ations from his mind while rea<strong>ch</strong>ing a decision;<br />
that like cases shall be decided alike; that cases once settled shall not be reopened, though,<br />
according to some authorities, there should be some right of appeal; that not only shall justice be<br />
done but that it shall be seen to be done; that the judgement shall include not only the bare decision,<br />
but the reasons whi<strong>ch</strong> led to it.« Zum anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> vgl. H.L.A. Hart,<br />
Concept of Law (1961), S. 156: »[T]he procedural standards su<strong>ch</strong> as 'audi alteram partem' 'let no one<br />
be a judge in his own cause' are thought of as requirements of justice, and in England and America<br />
are often referred to as principles of Natural Justice.« (Hervorhebung bei Hart).<br />
372 Die englis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>ige Literatur benutzt die Termini 'material justice' und 'substantive justice'.<br />
373 Die englis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>ige Literatur benutzt statt 'proedural justice' gelegentli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong> 'fairness',<br />
wobei allerdings hier 'fairness at large' gemeint ist, ni<strong>ch</strong>t hingegen bloße Regeleinhaltung ('procedural<br />
fairness'). Dazu unten S. 121 (Begriff <strong>der</strong> Fairneß).<br />
374 K.F. Röhl, Procedural Justice (1997), S. 3 ff.; H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1996), S. 1 ff.<br />
119
ven Standards <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu genügen 375 , ist 'subjektiv' die Eignung einer Prozedur,<br />
na<strong>ch</strong> Meinung <strong>der</strong> Beteiligten gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorzubringen. Subjektive<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist maßgebli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Verfahrenserwartungen bestimmt 376 .<br />
Zahlrei<strong>ch</strong>e Faktoren beeinflussen sol<strong>ch</strong>e Erwartungen und werden in <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfors<strong>ch</strong>ung untersu<strong>ch</strong>t – beispielsweise die Verfahrenskontrolle<br />
dur<strong>ch</strong> die Beteiligten (process control), die Ergebniskontrolle (decision control), gute<br />
Behandlung (dignity factors), allgemeine Beteiligung (voice), Unvoreingenommenheit<br />
(impartiality factors), Glei<strong>ch</strong>behandlung (equality factor), Ergebniserwartungen (entitlement)<br />
o<strong>der</strong> Hoffnungen auf einen guten Ausgang (relative outcome) 377 . Es ist mögli<strong>ch</strong>,<br />
daß subjektive Verfahrenserwartungen und objektive Verfahrenseignung in einen<br />
Zielkonflikt geraten, wenn etwa dem Ri<strong>ch</strong>ter mehr Spielraum eingeräumt wird, um<br />
im Einzelfall eine gere<strong>ch</strong>tere Ents<strong>ch</strong>eidung mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, diese Flexibilität aber<br />
aus Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Beteiligten die 'Würde des Verfahrens' min<strong>der</strong>t 378 .<br />
Subjektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> hat Überzeugungsfunktion, umfaßt also alle<br />
prozeduralen Elemente, die geeignet sind, eine Akzeptanz <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung bei<br />
den Beteiligten tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> herbeizuführen 379 . Dabei kann es si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> um bloß symbolis<strong>ch</strong>e<br />
Elemente handeln, etwa die Gestaltung des Geri<strong>ch</strong>tsraums, das Tragen einer<br />
Robe o<strong>der</strong> die erhöhte Position des Ri<strong>ch</strong>ters sowie formale Abläufe des einzelnen<br />
Prozesses o<strong>der</strong> ganz allgemein die juristis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e 380 . Wenn etwa die Parteien eines<br />
Zivilstreits au<strong>ch</strong> deshalb von <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Prozeßergebnisses überzeugt<br />
sind, weil die Würde des Geri<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> eine erhöhte Sitzposition unterstri<strong>ch</strong>en<br />
wird, dann genügt diese Überzeugungswirkung, um das Podest als Verfahrenselement<br />
einer subjektiven prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> anzusehen, selbst wenn objektive<br />
Auswirkungen auf das Prozeßergebnis ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>weisbar sind. Zwar sind Verfahrenselemente,<br />
die subjektiv vertrauensbildend wirken, meist au<strong>ch</strong> objektiv einer ri<strong>ch</strong>tigen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung dienli<strong>ch</strong> (z.B. <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> bei<strong>der</strong> Parteien auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör<br />
– audiatur et altera pars). Do<strong>ch</strong> ist dieser Zusammenhang ni<strong>ch</strong>t zwingend. Deshalb<br />
bleibt die subjektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in den hier interessierenden normativen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien regelmäßig ausgeklammert. Subjektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
wird – genau wie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgefühle, Empathie<br />
und Intuition – im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande eine Rolle spielen 381 . Im<br />
375 E. A. Lind/T. R. Tyler, The Social Psy<strong>ch</strong>ology of Procedural Justice, S. 3.<br />
376 K.F. Röhl, Procedural Justice (1997), S. 4.<br />
377 Zu den Faktoren und ihrer empiris<strong>ch</strong>en Untersu<strong>ch</strong>ung im Geltungsberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Zivilprozeßordnung<br />
siehe C. Rennig, Subjective Procedural Justice and Civil Procedure (1997), S. 207 ff.<br />
(218 ff.); allgemein H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 8 f.<br />
378 Zu diesem Beispiel C. Rennig, Subjective Procedural Justice and Civil Procedure (1997), S. 218 f.<br />
379 Im englis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> wird diese tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Akzeptanz übli<strong>ch</strong>erweise als Legitimität<br />
(legitimacy) bezei<strong>ch</strong>net und von <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Begründbarkeit im Sinne einer vernünftigen<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung (Legitimation, legitimation) unters<strong>ch</strong>ieden.<br />
380 Zu Verhaltenskonsistenz, Vertrauen und Würde als Faktoren, die zur subjektiven prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beitragen siehe C. Rennig, Subjective Procedural Justice and Civil Procedure (1997),<br />
S. 221 f. m.w.N.<br />
381 Relevanz für normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien kann etwa dort bestehen, wo die <strong>Theorien</strong> auf intuitive<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile als Begründungselement zurückgreifen. Vgl. etwa zum Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t<br />
bei Rawls unten S. 284 ff. (kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
120
folgenden ist mit prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> nur die objektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
gemeint.<br />
II. Der Begriff <strong>der</strong> Fairneß (D 3 ' D F )<br />
Es gibt drei konstitutive Elemente <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>: Erstens müssen<br />
die Anwendungsbedingungen des Verfahrens vorliegen, also alle sogenannten Hintergrundbedingungen,<br />
die eine Anwendbarkeit des Verfahrens überhaupt erst ermögli<strong>ch</strong>en<br />
(background circumstances) 382 . Zweitens müssen die Verfahrensregeln korrekt<br />
eingehalten werden, wozu ihre ri<strong>ch</strong>tige Interpretation gehört (procedural fairness)<br />
383 . Drittens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> muß – und dies ist das anspru<strong>ch</strong>svollste Element – das<br />
Verfahren selbst als gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>nd begründet sein (fairness as su<strong>ch</strong>, fairness of<br />
the procedure). Erst die gemeinsame Implementation aller drei Elemente (Hintergrundbedingungen,<br />
Regeleinhaltung, Verfahrensbegründung) bewirkt prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Die Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 3 muß also genauer<br />
wie folgt verstanden werden:<br />
D 3 ':<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit, die unter den Anwendungsbedingungen<br />
eines als gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>nd begründeten<br />
Verfahrens dur<strong>ch</strong> die korrekte Einhaltung <strong>der</strong> Verfahrensregeln<br />
errei<strong>ch</strong>t wird.<br />
Die Elemente werden häufig als Fairneßelemente von Verfahren bezei<strong>ch</strong>net, d.h. als<br />
Hintergrundfairneß (background fairness), Anwendungsfairneß (procedural fairness)<br />
und Prozedurfairneß (fairness of the procedure). Der Begriff <strong>der</strong> Fairneß wird damit<br />
zum S<strong>ch</strong>lüsselbegriff <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>illernden<br />
Vielfalt <strong>der</strong> Wortbedeutungen 384 kann nur eine weite Begriffsbestimmung alle Gehalte<br />
adäquat einfangen:<br />
382 B. Barry, Political Argument (1965), S. 98 f.: »Background Fairness [asks] whether the background<br />
conditions are satisfactory. ... Procedural fairness rules out one boxer having a piece of lead inside<br />
his gloves, but background fairness would also rule out any undue disparity in the weight of the<br />
boxers«.<br />
383 B. Barry, Political Argument (1965), S. 97: »Procedural Fairness. To say that a procedure is being<br />
fairly operated is to say that the formalities whi<strong>ch</strong> define the procedure have been correctly adhered<br />
to.« Gelegentli<strong>ch</strong> wird in dieser Ri<strong>ch</strong>tung aus sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t außerdem 'interaktionale<br />
Fairneß' gefor<strong>der</strong>t: H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1996), S. 1 – Wenn man die Prozedur als abstrakt-generelle Verfahrensklasse (z.B. das Verfahren<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Strafprozeßordnung) von ihrer Implementation in <strong>der</strong> konkret-individuellen Interaktion<br />
(z.B. einem Strafprozeß) unters<strong>ch</strong>eidet, so ergibt si<strong>ch</strong> die Sequenz 'Prozedur – Interaktion – Ergebnis',<br />
bei dem die interaktionale Fairneß in <strong>der</strong> psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong> besten Umsetzung prozeduraler<br />
Fairneß liegt, etwa dur<strong>ch</strong> Höfli<strong>ch</strong>keit und Ungezwungenheit.<br />
384 Zu den vers<strong>ch</strong>iedenen Fairneßbegriffen aus sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t etwa H.W. Bierhoff, Sozialpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 1 ff.; aus re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t P.J.<br />
Tettinger, Fairneß und Waffenglei<strong>ch</strong>heit (1984), S. 2 ff.; <strong>der</strong>s., Fairness als Re<strong>ch</strong>tsbegriff (1997), S.<br />
578 ff. m.w.N.; außerdem J. Berkemann, Fairneß als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1989), S. 223 ff.; D. Steiner, Das<br />
Fairneßprinzip im Strafprozeß (1995), S. 31 ff.<br />
121
D F :<br />
Fairneß ist <strong>der</strong> Inbegriff <strong>der</strong> Verfahrensri<strong>ch</strong>tigkeit bei sol<strong>ch</strong>en<br />
Prozeduren und ihrer Dur<strong>ch</strong>führung (Prozeß), die<br />
selbst ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert sind.<br />
Die Fairneß in D F ist verfahrensbezogen und dadur<strong>ch</strong> immer inhaltsunabhängig. Im<br />
Sinne dieser Inhaltsunabhängigkeit können beispielsweise politis<strong>ch</strong>e Parteien im<br />
Wahlkampf 'Fairneßabkommen' s<strong>ch</strong>ließen, ohne <strong>der</strong> inhaltli<strong>ch</strong>en Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
ihre S<strong>ch</strong>ärfe zu nehmen 385 . Dieser verfahrensbezogene Fairneßbegriff <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie ist ni<strong>ch</strong>t identis<strong>ch</strong> mit dem Fairneßbegriff <strong>der</strong> englis<strong>ch</strong>en Umgangsspra<strong>ch</strong>e,<br />
denn dort steht 'Fairneß' außerdem no<strong>ch</strong> für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines Ergebnisses<br />
386 . In D F ist 'Fairneß' hingegen ein Platzhalter für alle Einzelgebote des<br />
Verfahrens 387 . Daß sie dabei vor allem strikte Einhaltung aller festgelegten Regeln<br />
verlangt, ist nur einer ihrer Gehalte (Anwendungsfairneß) 388 . Als Inbegriff <strong>der</strong> Verfahrensri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
fungiert 'Fairneß' als »programmatis<strong>ch</strong>es Optimierungsgebot« von<br />
Verfahren 389 .<br />
Prozeduren und Prozesse müssen selbst ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert sein, um sinnvoll von<br />
Fairneß spre<strong>ch</strong>en zu können 390 . Der Massenmör<strong>der</strong> mag beim Genozid na<strong>ch</strong> einem<br />
no<strong>ch</strong> so ausgeklügelten Verfahren töten – Fairneß kann er dabei ni<strong>ch</strong>t erzeugen, weil<br />
er das Verfahren nur aus Effizienz, Gewohnheit o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Gründen einhält, es<br />
ihm aber jedenfalls ni<strong>ch</strong>t darum geht, damit die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses zu begründen.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Verfahren sind ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert. Wird das glei<strong>ch</strong>e Ergebnis<br />
(<strong>der</strong> Tod eines Mens<strong>ch</strong>en) hingegen als Vollstreckung eines Todesurteils na<strong>ch</strong> einem<br />
geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prozeß bewirkt, dann soll die Dur<strong>ch</strong>führung des Verfahrens einen<br />
Beitrag zur Begründung des Ergebnisses leisten: Das Verfahren ist ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert<br />
und man kann sinnvoll von Fairneß spre<strong>ch</strong>en.<br />
385 Zur weitgehenden Inhaltsunabhängigkeit und Verfahrensorientierung sol<strong>ch</strong>er Fairneßabkommen<br />
vgl. R. Stark, Ehrens<strong>ch</strong>utz in Deuts<strong>ch</strong>land (1996), S. 215 ff. (215): »Kernstück des Abkommens war<br />
hier die S<strong>ch</strong>affung einer gemeinsamen S<strong>ch</strong>iedsstelle zur Überwa<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> getroffenen Vereinbarungen.<br />
... Die Ents<strong>ch</strong>eidungen <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>iedsstelle waren unverzügli<strong>ch</strong> von den Pressediensten <strong>der</strong><br />
betroffenen Parteien zu veröffentli<strong>ch</strong>en.«<br />
386 Webster's Third New International Dictionary (1986): »fair: ... 7a: <strong>ch</strong>aracterized by honesty and justice:<br />
free from fraud, injustice, prejudice, or favoritism ... syn ... or implies a quality or result in an<br />
action ... « (Hervorhebungen im Original). Die Umgangsspra<strong>ch</strong>e<br />
beurteilt als 'fair', ähnli<strong>ch</strong> wie beim umgangsspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Prädikat 'gere<strong>ch</strong>t', selbst sol<strong>ch</strong>e Ergebnisse,<br />
die ni<strong>ch</strong>t auf ein Handeln von Mens<strong>ch</strong>en zurückzuführen sind – beispielsweise S<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>läge<br />
und Naturkatastrophen.<br />
387 Exemplaris<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> Verfassungsjudikatur in Deuts<strong>ch</strong>land: BVerfGE 49, 220 (225) – wirksamer<br />
Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz; 57, 250 (290) – bestes Beweismittel; 65, 171 (174 ff.) – Anwesenheit des Re<strong>ch</strong>tsbeistands;<br />
70, 297 (308) – umfassende Sa<strong>ch</strong>aufklärung; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NJW<br />
1996, S. 1811 f. – Versäumnis des Geri<strong>ch</strong>ts. Zur Analyse und weiteren Beispielen siehe P.J. Tettinger,<br />
Fairness als Re<strong>ch</strong>tsbegriff (1997), S. 580 ff.<br />
388 Im Sportre<strong>ch</strong>t nennt man sie das formelle Element <strong>der</strong> Fairneß; P.J. Tettinger, Fairness als Re<strong>ch</strong>tsbegriff<br />
(1997), S. 591 m.w.N.<br />
389 P.J. Tettinger, Fairness als Re<strong>ch</strong>tsbegriff (1997), S. 594 f.<br />
390 Zum Verhältnis von Ri<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1978), S. 242: »Ein Son<strong>der</strong>fall des Anspru<strong>ch</strong>s auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit ist <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.«<br />
122
Damit ist deutli<strong>ch</strong>, warum 'Fairneß' als Ausdruck eines <strong>der</strong> Gebote <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
anzusehen 391 und mit 'prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' synonym zu verwenden ist 392 :<br />
Denn wenn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 1 die Ri<strong>ch</strong>tigkeit von sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenem<br />
Handeln bedeutet und Fairneß in D F gerade <strong>der</strong>jenige 'Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanteil' eines Handelns<br />
ist, <strong>der</strong> inhaltsunabhängig im Verfahren gewonnen werden kann, dann wird<br />
bei <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 3 die För<strong>der</strong>ung von Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
dur<strong>ch</strong> Verfahren genau mit demjenigen 'Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanteil' bewirkt, den <strong>der</strong> Begriff<br />
<strong>der</strong> Fairneß bezei<strong>ch</strong>net:<br />
D F ':<br />
Fairneß ist genau das, was in <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses<br />
ausma<strong>ch</strong>t.<br />
Zum Verständnis von Fairneß und prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist es wi<strong>ch</strong>tig, die Abgrenzung<br />
zwis<strong>ch</strong>en den drei Fairneßelementen deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Als einfa<strong>ch</strong>e Illustration<br />
kann das Beispiel eines Tennisspiels dienen. Substantielle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit)<br />
ist dann verwirkli<strong>ch</strong>t, wenn <strong>der</strong> bessere Spieler gewinnt. Zu<br />
den Anwendungsbedingungen, unter denen das Spiel als Verfahren den Sieg des besseren<br />
Spielers beför<strong>der</strong>n kann, gehört unter an<strong>der</strong>em, daß beide Spieler tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> gewinnen<br />
wollen und jeweils mit ihrer bevorzugten Ausrüstung spielen dürfen (Hintergrundfairneß,<br />
background fairness). Ferner ist Regeleinhaltung gefor<strong>der</strong>t, die Spieler<br />
dürfen beispielsweise ni<strong>ch</strong>t von einem Ball, <strong>der</strong> die Linie trifft, behaupten, daß er ins<br />
Aus ging; günstigstenfalls wird ein unparteiis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter die Regeleinhaltung<br />
besorgen (Anwendungsfairneß, procedural fairness). Zur Verfahrensbegründung<br />
gehört, daß die Spielregeln selbst in einer Weise gestaltet sind, die das Spiel zur Ermittlung<br />
des besseren Spielers för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>einen lassen. So ist beispielsweise ein<br />
gelegentli<strong>ch</strong>er Seitenwe<strong>ch</strong>sel vorzusehen, weil sonst die Gefahr besteht, daß <strong>der</strong> bessere<br />
Spieler verliert, nur weil er gegen die Sonne spielen mußte (Prozedurfairneß,<br />
fairness of the procedure). Sind die Spielregeln in diesem Sinne 'fair', ist außerdem das<br />
Verhalten <strong>der</strong> Spieler 'fair' und findet das Spiel unter 'fairen' Voraussetzungen statt,<br />
so kann man als Folgerung aus diesen Fairneßelementen mindestens die Aussage treffen,<br />
daß das Spiel zur Ermittlung des besseren Spielers 'för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>' ist. Die Dur<strong>ch</strong>führung<br />
des Spiels führt folgli<strong>ch</strong> zu prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von D 3 .<br />
Das Beispiel vermag aber no<strong>ch</strong> mehr zu zeigen, als die bloße Illustration <strong>der</strong> Fairneßelemente.<br />
Es läßt si<strong>ch</strong> daran entwickeln, wie man relative Aussagen über prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> treffen kann, wo es an einer absoluten Meßbarkeit fehlt. Denn es<br />
ist ohne weiteres einsi<strong>ch</strong>tig, daß in dem Beispiel die Einführung eines unparteiis<strong>ch</strong>en<br />
391 Instruktiv aus <strong>der</strong> Verfassungsjudikatur in Deuts<strong>ch</strong>land: BVerfGE 70, 297 (308): »[F]aires, re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>es<br />
Verfahren ... folgt letztli<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>«.<br />
392 Vgl. J. Berkemann, Fairneß als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1989), S. 226 ff. – Fairneß als Inbegriff <strong>der</strong> prozeduralen<br />
Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik. Gelegentli<strong>ch</strong> wird Fairneß sogar als Inbegriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t angesehen; H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 154: »The distinctive<br />
features of justice and their special connexion with law begin to emerge if it is observed that most<br />
of the criticism made in terms of just and unjust could equally well be conveyed by the words<br />
'fair' and 'unfair'.« Diese Konzentration auf prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erklärt si<strong>ch</strong> bei Hart aus<br />
seiner re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en Grundhaltung.<br />
123
Tenniss<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ters zu einer weitergehenden prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> führen<br />
muß. Der unparteiis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter kann besser als die parteiis<strong>ch</strong>en Spieler für<br />
die Regeleinhaltung sorgen und Ents<strong>ch</strong>eidungen über die Anwendungsbedingungen<br />
(Wind, Regen, Material) treffen. Ein Spiel mit S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter wird darum in aller Regel<br />
den besseren Spieler si<strong>ch</strong>erer ermitteln als ein sol<strong>ch</strong>es ohne S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter. Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten: Tennisspiele mit S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter sind prozedural gere<strong>ch</strong>ter als sol<strong>ch</strong>e<br />
ohne S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter. Diese relative Aussage können wir treffen, au<strong>ch</strong> ohne etwas<br />
über die absolute Eignung des Tennisspiels zur Ermittlung <strong>der</strong> besseren Spielerin zu<br />
wissen. Dabei wird au<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>, daß prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Gegensatz zur<br />
Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit graduell bestehen kann; ein Verfahren kann mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> für die Errei<strong>ch</strong>ung eines gere<strong>ch</strong>ten Ergebnisses sein 393 .<br />
Das Beispiel geht über eine bloße Illustration <strong>der</strong> Fairneßelemente au<strong>ch</strong> insoweit<br />
hinaus, als das Tennisspiel mehr als nur 'för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>' zur Ermittlung <strong>der</strong> besseren<br />
Spielerin ist. Die Dur<strong>ch</strong>führung eines Spiels ist die einzige Mögli<strong>ch</strong>keit zu ermitteln,<br />
wel<strong>ch</strong>er Spieler besser ist. Es gibt keinen allwissenden, objektiven Beoba<strong>ch</strong>ter, <strong>der</strong><br />
diese Frage ents<strong>ch</strong>eiden könnte. Selbst wenn es ihn gäbe, würden ihm spielunabhängige<br />
Kriterien für die Beurteilung <strong>der</strong> relativen Spielerqualität in einem festgelegten<br />
Zeitpunkt fehlen, denn es geht ja gerade um das Bessersein zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt, mit an<strong>der</strong>en Worten: bei einem bestimmten Spiel. Mangels verfahrensunabhängiger<br />
Kriterien bleibt also nur die Dur<strong>ch</strong>führung des Spiels als Kriterium dafür,<br />
wer <strong>der</strong> besser Spieler ist. Dies ist ein beson<strong>der</strong>er Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Ergebnis-<br />
und Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit, <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t bei allen, aber do<strong>ch</strong> bei dem wi<strong>ch</strong>tigen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverfahren <strong>der</strong> reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> besteht 394 . Damit<br />
stellt si<strong>ch</strong> die allgemeine und soglei<strong>ch</strong> zu behandelnde Frage, wel<strong>ch</strong>e Formen prozeduraler<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> na<strong>ch</strong> den beson<strong>der</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften einzelner Verfahren unters<strong>ch</strong>ieden<br />
werden können.<br />
III. Vier Formen prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Enumerationsthese)<br />
Es können vier Formen innerhalb <strong>der</strong> objektiven prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unters<strong>ch</strong>ieden<br />
und in ihrer Bedeutung für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bewertet werden. Die<br />
Abgrenzung orientiert si<strong>ch</strong> dabei mit Ausnahme zweier Details an <strong>der</strong> von Rawls<br />
vorges<strong>ch</strong>lagenen, wie sie inzwis<strong>ch</strong>en allgemein gebräu<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist 395 . Rawls unters<strong>ch</strong>ei-<br />
393 Zur Eigens<strong>ch</strong>aft <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>tgradualität <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit na<strong>ch</strong> D 1 siehe oben S. 52 ff. (Sollensbezug<br />
und 'binär kodierte' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Im Gegensatz zum <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat kann<br />
dasjenige <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> graduell verwirkli<strong>ch</strong>t werden, denn die För<strong>der</strong>ung mag,<br />
wie das Beispiel zeigt, mehr o<strong>der</strong> weniger intensiv ausfallen. Das heißt in <strong>der</strong> Fairneßterminologie:<br />
Ein Ergebnis kann nur ganz o<strong>der</strong> gar ni<strong>ch</strong>t 'gere<strong>ch</strong>t' sein; das Verfahren, das zur Ermittlung<br />
des Ergebnisses geführt hat, kann hingegen mehr o<strong>der</strong> weniger 'fair' sein. Entspre<strong>ch</strong>end können<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien einerseits absolute Aussagen über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Ergebnissen<br />
treffen und an<strong>der</strong>erseits relative Aussagen darüber, wel<strong>ch</strong>e Verfahrensbedingungen gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>li<strong>ch</strong><br />
sind; vgl. unten S. 221 (idealer Diskurs als regulative Idee); S. 317 ff. (Begründung<br />
von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie).<br />
394 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 127 (reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
395 Selbst in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik; vgl. etwa C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva im<br />
deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t (1993), S. 58 f. m.w.N.<br />
124
det grundlegend zwis<strong>ch</strong>en vollkommener, unvollkommener, reiner und quasi-reiner<br />
prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 396 .<br />
Die objektive prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird abs<strong>ch</strong>ließend in diesen vier Formen<br />
erfaßt (Enumerationsthese). Das folgt (analytis<strong>ch</strong>) daraus, daß si<strong>ch</strong> die vier Formen<br />
jeweils aus dem Vorliegen o<strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>tvorliegen zweier Kriterien ergeben. Das erste<br />
Kriterium ist die Definitionswirkung, die einer Form <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses zukommen kann. Das zweite Kriterium ist die<br />
Vollkommenheit (d.h. Ausnahmslosigkeit) des Verfahrens bei <strong>der</strong> Hervorbringung eines<br />
gere<strong>ch</strong>ten Ergebnisses. Daraus ergibt si<strong>ch</strong> folgende Aufteilung <strong>der</strong> Formen:<br />
Vollkommenheit<br />
Unvollkommenheit<br />
Keine Definitionswirkung<br />
(dienende Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit)<br />
Vollkommene prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3a )<br />
Unvollkommene prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3b )<br />
Definitionswirkung<br />
(definitoris<strong>ch</strong>e Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit)<br />
Reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3c )<br />
Quasi-reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3d )<br />
1. Formen <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Die beiden Formen, denen keine Definitionswirkung zukommt, können gemeinsam<br />
als dienende Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit bezei<strong>ch</strong>net werden, weil sie nur als Mittel zur<br />
Errei<strong>ch</strong>ung eines Ergebnisses benutzt werden, das unabhängig vom Verfahren als<br />
gere<strong>ch</strong>t begründet ist.<br />
a) Vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3a )<br />
D 3a :<br />
Vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (perfect procedural<br />
justice) ist diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei<br />
<strong>der</strong> ein Verfahren mit Si<strong>ch</strong>erheit eine angemessene Annäherung<br />
an ein verfahrensunabhängig als gere<strong>ch</strong>t begründetes<br />
Ergebnis bewirkt.<br />
Ein Beispiel für vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Aufteilung einer Torte,<br />
bei <strong>der</strong> die Person, die s<strong>ch</strong>neidet, das letzte Stück erhält. Geht man davon aus,<br />
396 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 85 ff.; § 32, S. 201 – 'perfect', 'imperfect', 'pure' und 'quasipure<br />
procedural justice'. Allgemein zu den Formen: ebd., § 14, S. 85 ff.; § 32, S. 201; § 54, S. 361 f.<br />
Speziell zur vollkommenen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>: ebd., § 14, S. 85 f.; § 54, S. 359 f.; vgl. J. Berkemann,<br />
Fairneß als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1989), S. 226 ff. – zustimmend aus re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t.<br />
Speziell zur quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 85<br />
ff.; § 32, S. 201; § 54, S. 361 f.<br />
125
daß die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit in genau glei<strong>ch</strong> großen Stücken besteht, so wird das<br />
Verfahren die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit im Sinne <strong>der</strong> allgemeinen Definition 'för<strong>der</strong>n',<br />
indem es mit Si<strong>ch</strong>erheit eine angemesse Annäherung an die bezweckten glei<strong>ch</strong> großen<br />
Stücke bewirkt 397 . Denn die mit dem S<strong>ch</strong>neiden beauftragte Person wird, weil<br />
sie bei <strong>der</strong> Verteilung erst na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Auswahl dur<strong>ch</strong> die an<strong>der</strong>en zum Zuge kommt,<br />
aus ihrem Eigeninteresse an einem mögli<strong>ch</strong>st großen Anteil bestrebt sein, ihr na<strong>ch</strong><br />
den Umständen Bestes zu tun, um glei<strong>ch</strong> große Stücke zu erzeugen (Verfahrensbegründung).<br />
Das funktioniert indes nur, wenn sie tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ein Interesse an<br />
einem mögli<strong>ch</strong>st großen Tortenstück hat (Anwendungsbedingung) und am konzentrierten<br />
Arbeiten ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Ablenkung gehin<strong>der</strong>t wird (Regeleinhaltung).<br />
An dem Beispiel zeigt si<strong>ch</strong> ein Charakteristikum <strong>der</strong> vollkommenen prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. S<strong>ch</strong>on bevor die Torte anges<strong>ch</strong>nitten ist, steht fest, worin die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
zu sehen ist: in etwa glei<strong>ch</strong> großen Stücken. Es gibt also ein Kriterium<br />
außerhalb des Verfahrens, meist ein Verteilungskriterium, an dem die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
gemessen wird 398 . Das unters<strong>ch</strong>eidet vollkommene (und au<strong>ch</strong> unvollkommene)<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von <strong>der</strong> reinen und quasi-reinen prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei denen verfahrensexterne Kriterien fehlen, so daß eine Definitionswirkung<br />
für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses eintritt.<br />
b) Unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3b )<br />
D 3b :<br />
Unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (imperfect<br />
procedural justice) ist diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
bei <strong>der</strong> ein Verfahren ni<strong>ch</strong>t mit Si<strong>ch</strong>erheit eine angemessene<br />
Annäherung an ein verfahrensunabhängig als gere<strong>ch</strong>t<br />
begründetes Ergebnis bewirkt.<br />
Eine Zusammens<strong>ch</strong>au von D 3 und D 3b ergibt, daß das Verfahren die Bewirkung eines<br />
gere<strong>ch</strong>ten Ergebnisses zumindest för<strong>der</strong>n muß, an<strong>der</strong>erseits die bloße Einhaltung <strong>der</strong><br />
Verfahrensregeln ni<strong>ch</strong>t immer ein akzeptables Ergebnis bewirkt. Das Verfahren<br />
ma<strong>ch</strong>t ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>er. Als Beispiel kann hier das Re<strong>ch</strong>tsver-<br />
397 Die 'angemessene Annäherung' ist ni<strong>ch</strong>t Teil <strong>der</strong> von Rawls verwendeten Definition. Vgl. Rawls,<br />
Theory of Justice (1971), § 14, S. 85: »[I]t is possible to devise a procedure that is sure to give the<br />
desired outcome.« (Hervorhebung hinzugefügt, A.T.) Die Definition von Rawls ist indes so ni<strong>ch</strong>t<br />
geeignet, den von Rawls selbst gewählten Beispielfall <strong>der</strong> Tortenaufteilung sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>t zu <strong>ch</strong>arakterisieren.<br />
Denn keine Hand s<strong>ch</strong>neidet so si<strong>ch</strong>er, daß wirkli<strong>ch</strong> genau glei<strong>ch</strong>e Stücke entstehen.<br />
Diese Ungenauigkeit ist aber uns<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>, denn eine für diesen Fall angemessene Annäherung an<br />
das gere<strong>ch</strong>te Ergebnis <strong>der</strong> exakten Glei<strong>ch</strong>verteilung liegt s<strong>ch</strong>on dann vor, wenn so genau wie na<strong>ch</strong><br />
den Umständen mögli<strong>ch</strong> geteilt wird. Diese lei<strong>ch</strong>te Korrektur an Rawls' Begriffsbestimmung än<strong>der</strong>t<br />
an <strong>der</strong> Bedeutung dieser Form prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>ts.<br />
398 Zu diesem Charakteristikum J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 85; im begriffli<strong>ch</strong>en Ansatz<br />
übereinstimmend C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva im deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t<br />
(1993), S. 58 ff.; U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses (1996), S. 423.<br />
126
fahren na<strong>ch</strong> den Regeln des Strafprozeßre<strong>ch</strong>ts dienen 399 . Die Verfahrensregeln sind<br />
generell geeignet, ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis zu för<strong>der</strong>n, indem sie in den meisten Fällen<br />
nur bei denjenigen zur Verurteilung führen, die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> einer Straftat s<strong>ch</strong>uldig<br />
sind (Verfahrensbegründung). Aber selbst wenn <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>ter kein eigenes Interesse<br />
am Ausgang des Verfahrens hat (Anwendungsbedingung) und alle Re<strong>ch</strong>tsvors<strong>ch</strong>riften<br />
bea<strong>ch</strong>tet (Regeleinhaltung) ist nie ganz ausges<strong>ch</strong>lossen, daß es do<strong>ch</strong> zu einem<br />
Fehlurteil kommen kann. Wird ein Uns<strong>ch</strong>uldiger verurteilt, so ist dies au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als<br />
eine 'angemessene Annäherung' an die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit aus Gründen <strong>der</strong> Prozeßökonomie<br />
hinnehmbar 400 . Folgli<strong>ch</strong> 'för<strong>der</strong>t' das Strafverfahren die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
bleibt aber dabei stets unvollkommen.<br />
2. Formen <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Die beiden Formen, denen eine Definitionswirkung zukommt, können gemeinsam<br />
als definitoris<strong>ch</strong>e Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit bezei<strong>ch</strong>net werden. Bei ihnen gibt es keine<br />
verfahrensunabhängigen Kriterien, mit denen ein Ergebnis als gere<strong>ch</strong>t begründet<br />
werden könnte 401 . Die Begründung liegt im Verfahren selbst.<br />
a) Reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3c )<br />
D 3c :<br />
Reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (pure procedural justice)<br />
ist diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> ein Verfahren<br />
mit Si<strong>ch</strong>erheit ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis bewirkt,<br />
wobei es kein verfahrensunabhängiges Kriterium für die<br />
Beurteilung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit gibt (Definitionswirkung).<br />
Mit Rawls kann man sagen, daß die Umstände das Verfahren als gere<strong>ch</strong>t definieren<br />
(Verfahrensbegründung) 402 . Das erwähnte Tennisspiel bietet hierfür ein Beispiel 403 .<br />
Die Dur<strong>ch</strong>führung des Spiels bildet die einzige Mögli<strong>ch</strong>keit zu begründen, warum<br />
eine Spielerin besser ist als die an<strong>der</strong>e. Entspre<strong>ch</strong>ende Beispiele finden si<strong>ch</strong> bei allen<br />
399 Ebenso im Ergebnis U. Neumann, Materiale und prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Strafverfahren<br />
(1989), S. 52 ff. (70) – Mit <strong>der</strong> Annahme reiner prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> würden »die Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
einer Re<strong>ch</strong>tfertigung des Urteils dur<strong>ch</strong> Verfahren überzogen.«<br />
400 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Strafprozeßre<strong>ch</strong>tsliteratur U. Neumann, Materiale und prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
im Strafverfahren (1989), S. 53: »Das Prozeßziel <strong>der</strong> auf Wahrheit beruhenden gere<strong>ch</strong>ten<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung führt zu einer klaren Dominanz des materiellen Strafre<strong>ch</strong>ts gegenüber dem<br />
Strafprozeßre<strong>ch</strong>t. Das Verfahrensre<strong>ch</strong>t wird auf te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Funktionen reduziert; man bes<strong>ch</strong>einigt<br />
ihm eine 'existentielle Abhängigkeit' vom materiellen Re<strong>ch</strong>t.«<br />
401 C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva im deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t (1993), S. 58:<br />
»Das prägende Charakteristikum ... ist das Fehlen eines unabhängigen Kriteriums für die Beurteilung<br />
<strong>der</strong> Frage, ob das Ergebnis des Verfahrens eine faire Verteilung darstellt«.<br />
402 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 86: »[T]here is a correct or fair procedure su<strong>ch</strong> that the<br />
outcome is likewise correct or fair, whatever it is, ... the background circumstances define a fair<br />
procedure.«<br />
403 Dazu oben S. 121 ff. (Begriff <strong>der</strong> Fairneß und Tennisbeispiel).<br />
127
Glücksspielen: ganz glei<strong>ch</strong> wie <strong>der</strong> Würfel fällt o<strong>der</strong> die Kugel rollt, das Ergebnis ist<br />
immer gere<strong>ch</strong>t, solange die Spielregeln eingehalten wurden. Wo ein sol<strong>ch</strong>er Zusammenhang<br />
zwis<strong>ch</strong>en Verfahrens- und Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit gegeben ist, liegt ein<br />
Verfahren <strong>der</strong> reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> vor 404 . Die Anwendung eines Verfahrens<br />
dieser Art, soweit sie ri<strong>ch</strong>tig erfolgt (Anwendungsbedingungen, Regeleinhaltung),<br />
definiert das Ergebnis als gere<strong>ch</strong>t. Für Verfahren <strong>der</strong> reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
gilt folgli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Satz: Etwas (z.B. eine Situation, Institution, Person, Norm,<br />
Handlung) 405 ist genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn es das Ergebnis des Verfahrens ist (Definitionswirkung).<br />
Für ni<strong>ch</strong>t real dur<strong>ch</strong>geführte (hypothetis<strong>ch</strong>e) Verfahren <strong>der</strong> rein<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die in einem prozeduralen Gedankenexperiment bestehen,<br />
gilt entspre<strong>ch</strong>end: Etwas ist genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn es das Ergebnis eines<br />
Verfahrens sein könnte.<br />
b) Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (D 3d )<br />
D 3d :<br />
Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (quasi-pure procedural<br />
justice) ist diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei<br />
<strong>der</strong> ein Verfahren ni<strong>ch</strong>t mit Si<strong>ch</strong>erheit ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis<br />
bewirkt, wobei es kein verfahrensunabhängiges<br />
Kriterium für die Beurteilung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
gibt.<br />
Wie bei <strong>der</strong> unvollkommenen ergibt au<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> quasi-reinen 406 prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
eine Zusammens<strong>ch</strong>au von D 3 und D 3d , daß das Verfahren die Bewirkung<br />
eines gere<strong>ch</strong>ten Ergebnisses zumindest för<strong>der</strong>n muß, an<strong>der</strong>erseits die bloße Einhaltung<br />
<strong>der</strong> Verfahrensregeln ni<strong>ch</strong>t immer ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis bewirkt. Laut Rawls<br />
soll das typis<strong>ch</strong>e Beispiel im Gesetzgebungsverfahren zu sehen sein. Gesetze seien<br />
bei Einhaltung des Gesetzgebungsverfahrens definitionsgemäß gere<strong>ch</strong>t, solange sie<br />
im Berei<strong>ch</strong> des na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Verfassung Erlaubten liegen 407 . Eine sol<strong>ch</strong>e Aussage s<strong>ch</strong>eint<br />
das Verhältnis von Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf den Kopf zu stellen. Denn ni<strong>ch</strong>t <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ist <strong>der</strong> Maßstab, an dem si<strong>ch</strong> das Re<strong>ch</strong>t zu messen hat, son<strong>der</strong>n es kann<br />
umgekehrt das Re<strong>ch</strong>t definieren, was als gere<strong>ch</strong>t anzusehen ist. Verständli<strong>ch</strong> wird<br />
die Aussage erst aus Rawls Verwendung <strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in einem vierstufigen Modell zunehmen<strong>der</strong> Konkretisierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Ordnung. Auf je<strong>der</strong> Stufe ist jeweils die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong><br />
darüberliegenden Stufe als Vorgabe zu respektieren. Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ist nur auf einer untergeordneten Stufe mögli<strong>ch</strong>; ihr ist ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen<br />
vorgegeben. Es wird eine implizite Anwendungsbedingung des Verfahrens<br />
404 So au<strong>ch</strong> U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses (1996), S. 423; N. Duxbury,<br />
Random Justice (1999), S. 43 ff. (Beispiele), S. 131 ff. (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>), S. 146 ff. (Verglei<strong>ch</strong><br />
mit dem Windhundprinzip: first come, first served).<br />
405 Dazu oben S. 48 (Vielfalt <strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong>en Gegenstände und Transponierbarkeitsthese).<br />
406 Die deuts<strong>ch</strong>e Übersetzung von Rawls Theorie spri<strong>ch</strong>t statt dessen von 'fast-reiner' Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit:<br />
J. Rawls, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1979), § 31, S. 229. Das drückt die in 'quasi-pure'<br />
enthaltene Skepsis ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end aus. Abgesehen von dieser Abwei<strong>ch</strong>ung entspri<strong>ch</strong>t die hier<br />
gewählte Terminologie <strong>der</strong>jenigen <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Übersetzung.<br />
407 J. Ralws, Theory of Justice (1971), S. 201.<br />
128
konstituiert: quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> besteht nur, soweit die Lösungen,<br />
zwis<strong>ch</strong>en denen im Verfahren gewählt wird, alle gere<strong>ch</strong>t im Sinne <strong>der</strong> übergeordneten<br />
Stufe <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung sind. Wählt <strong>der</strong> Gesetzgeber dagegen eine<br />
Gesetzesfassung, die im Li<strong>ch</strong>te übergeordneter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien ni<strong>ch</strong>t bestehen<br />
kann, so fehlt es an einer Anwendungsbedingung <strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Die Wahlents<strong>ch</strong>eidung des Gesetzgebers ist dann ni<strong>ch</strong>t mehr prozedural<br />
gere<strong>ch</strong>t.<br />
Von <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> die quasi-reine<br />
dadur<strong>ch</strong>, daß das gere<strong>ch</strong>te Ergebnis vor <strong>der</strong> Verfahrensdur<strong>ch</strong>führung no<strong>ch</strong> unbestimmt<br />
ist. Von <strong>der</strong> reinen Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> die quasi-reine<br />
dadur<strong>ch</strong>, daß die Definitionswirkung nur bedingt eintritt. Worin besteht angesi<strong>ch</strong>ts<br />
dieser Unbestimmtheit und Bedingtheit überhaupt die 'För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> substantiellen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' im Sinne von D 3 ? Sie liegt darin, daß das Verfahren ni<strong>ch</strong>t nur aus <strong>der</strong><br />
unbestimmten Vielzahl mögli<strong>ch</strong>er Ergebnisse eines auswählt (Definitionswirkung),<br />
son<strong>der</strong>n in aller Regel als Folge <strong>der</strong> Verfahrensbedingungen au<strong>ch</strong> zur Wahl eines Ergebnisses<br />
führt, das innerhalb des übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmens liegt. Im<br />
Beispiel: Die öffentli<strong>ch</strong>e Parlamentsdebatte führt in <strong>der</strong> Regel zu verfassungskonformen<br />
Gesetzen. Das Ergebnis wird dadur<strong>ch</strong> prima facie – vorbehaltli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung<br />
– als gere<strong>ch</strong>t definiert.<br />
IV. Die Funktionen prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Multifunktionsthese)<br />
Das Konzept <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird mit ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Funktionen<br />
in Re<strong>ch</strong>tsdogmatik und Re<strong>ch</strong>tstheorie eingesetzt (Multifunktionsthese). Das<br />
folgt aus <strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Eignung <strong>der</strong> vier Formen für die Begründung und<br />
Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
1. Dienende Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Betra<strong>ch</strong>ten wir zunä<strong>ch</strong>st die Formen <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit, so fällt<br />
auf, daß beide ein Kriterium außerhalb des Verfahrens voraussetzen, meist ein Prinzip<br />
<strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit, mit dem si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung des Verfahrens beurteilen läßt. Vollkommene und<br />
unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wirken nur instrumentell zur Verfolgung<br />
verfahrensextern gere<strong>ch</strong>tfertigter Ziele 408 . Sie haben keine Begründungs-, son<strong>der</strong>n<br />
nur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungsfunktion, indem sie helfen, an<strong>der</strong>weitig begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> Realität zu bewirken. Man muß s<strong>ch</strong>on vorher wissen, was gere<strong>ch</strong>t<br />
ist (Glei<strong>ch</strong>verteilung <strong>der</strong> Torte, Verurteilung nur <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>uldigen), und nutzt das Verfahren<br />
dann ledigli<strong>ch</strong>, um dieses verfahrensextern begründete gere<strong>ch</strong>te Ergebnis tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
zu errei<strong>ch</strong>en. Das Verfahren hat nur na<strong>ch</strong>geordnete, 'dienende' Funktion 409 .<br />
408 Zum grundlegenden Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en externer und interner Re<strong>ch</strong>tfertigung – allerdings dort<br />
bezogen auf Unglei<strong>ch</strong>behandlungen und den allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatz – vgl. S. Huster, Re<strong>ch</strong>te<br />
und Ziele (1993), S. 165 ff.<br />
409 A. Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er, Function of Procedural Justice (1997), S. 108 ff.<br />
129
Die Re<strong>ch</strong>tsdogmatik, insbeson<strong>der</strong>e die des Prozeßre<strong>ch</strong>ts, stützt si<strong>ch</strong> auf die dienende<br />
Funktion vollkommener o<strong>der</strong> unvollkommener prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 410 :<br />
Verfahrensregeln des Beweisre<strong>ch</strong>ts dienen <strong>der</strong> Wahrheitsfindung, Verteidigungsbefugnisse<br />
dienen dem S<strong>ch</strong>utz vor Fehlurteilen. In den (selteneren) Fällen vollkommener<br />
prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> führt die Einhaltung <strong>der</strong> Verfahrensvors<strong>ch</strong>riften mit<br />
Si<strong>ch</strong>erheit zu einer 'angemessenen' – das heißt in diesem Zusammenhang: zu einer<br />
ni<strong>ch</strong>t revisiblen – Annäherung an das als gere<strong>ch</strong>t erkannte Ergebnis. Das kann etwa<br />
bei einem Re<strong>ch</strong>tsverfahren na<strong>ch</strong> Zivilprozeßre<strong>ch</strong>t gelten, wenn eine Beweislastents<strong>ch</strong>eidung<br />
getroffen wird und die materiell re<strong>ch</strong>tskräftige Ents<strong>ch</strong>eidung (solange<br />
kein Wie<strong>der</strong>aufnahmegrund vorliegt) als angemessene Annäherung an das als gere<strong>ch</strong>t<br />
erkannte Ergebnis (Ansprü<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> den tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Vorgängen) qualifiziert<br />
wird. An<strong>der</strong>s als beim fals<strong>ch</strong>en Strafurteil würde man hier ni<strong>ch</strong>t von einem 'Fehlurteil'<br />
o<strong>der</strong> 'Justizirrtum' spre<strong>ch</strong>en 411 . Die Obliegenheit, daß je<strong>der</strong> selbst für die Dur<strong>ch</strong>setzbarkeit<br />
<strong>der</strong> eigenen zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ansprü<strong>ch</strong>e zu sorgen hat, ist im Rahmen <strong>der</strong><br />
Beweislastverteilung hinzunehmen, das Ergebnis einer Beweislastents<strong>ch</strong>eidung angemessen<br />
412 .<br />
In <strong>der</strong> Regel ist die zugrundegelegte prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> aber unvollkommen,<br />
weil selbst bei Einhaltung aller Verfahrensregeln das Verfahrensergebnis ni<strong>ch</strong>t<br />
in jedem Fall eine angemessene Annäherung an die Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit ist. Am<br />
Beispiel des Strafverfahrens wurde dieser Zusammenhang bereits erörtert 413 . Unvollkommen<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> nimmt darum zwar an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung<br />
teil, hat jedo<strong>ch</strong> wegen <strong>der</strong> mit ihr verbundenen Unsi<strong>ch</strong>erheit nur einen Status,<br />
<strong>der</strong> si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lagwortartig als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sför<strong>der</strong>ungsfunktion kennzei<strong>ch</strong>nen läßt.<br />
2. Definitoris<strong>ch</strong>e Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Bei den Formen <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit läßt si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
des Ergebnisses ni<strong>ch</strong>t unabhängig von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung des Verfahrens beur-<br />
410 Weitere Beispiele etwa bei J. Berkemann, Fairneß als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1989), S. 223 ff.<br />
411 Der Wertungsunters<strong>ch</strong>ied muß ni<strong>ch</strong>t notwendig moralis<strong>ch</strong>, son<strong>der</strong>n er kann au<strong>ch</strong> ökonomis<strong>ch</strong> begründet<br />
werden; R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 553.<br />
412 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Strafprozeßre<strong>ch</strong>tsliteratur U. Neumann, Materiale und prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
im Strafverfahren (1989), S. 56 f., 62 f. – zum Zusammenhang von Wie<strong>der</strong>aufnahmegründen<br />
und materieller Re<strong>ch</strong>tskraft mit <strong>der</strong> Funktion prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in realen Geri<strong>ch</strong>tsverfahren.<br />
Neumanns Zweifel an <strong>der</strong> 'dienenden Funktion' des Strafprozesses (S. 58) betreffen<br />
ni<strong>ch</strong>t die hier angespro<strong>ch</strong>ene 'dienende Funktion' <strong>der</strong> vollkommenen und unvollkommenen<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Erstere betrifft das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en Prozessre<strong>ch</strong>t und materiellem<br />
Re<strong>ch</strong>t, letztere fragt nur dana<strong>ch</strong>, ob ein verfahrensexternes Kriterium für die Beurteilung <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> besteht. Das ist s<strong>ch</strong>on immer dann <strong>der</strong> Fall, wenn überhaupt irgendein Wie<strong>der</strong>aufnahmegrund<br />
anerkannt ist, <strong>der</strong> über bloße Verfahrensmängel hinausgeht, also etwa wenn beim<br />
Strafprozeß neue Tatsa<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> Beweismittel vorliegen (§ 359 Nr. 5 StPO) o<strong>der</strong> beim Zivil- und<br />
Verwaltungsprozeß in den Fällen des Prozeßbetrugs (§ 580 Nr. 1-4 ZPO, § 153 I VwGO). Denn<br />
darin beweist si<strong>ch</strong>, daß die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> das Verfahren<br />
definiert wird. Es kommt also ni<strong>ch</strong>t darauf an, ob si<strong>ch</strong> die Wie<strong>der</strong>aufnahmegründe »überwiegend<br />
wie<strong>der</strong>um auf Defizite im Berei<strong>ch</strong> des Verfahrens« beziehen; so aber Neumann, ebd.,<br />
S. 56. Treffend hingegen M. Kriele, Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1963), S. 34: S<strong>ch</strong>on das Zugeständnis,<br />
ein Urteil könne ungere<strong>ch</strong>t sein, besage »letztli<strong>ch</strong>, daß die Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t allein<br />
in prozessualen Fragen zu su<strong>ch</strong>en sind, son<strong>der</strong>n daß es materiale Kriterien geben muß.«<br />
413 Dazu oben S. 126 (Strafverfahren als Verfahren unvollkommen prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
130
teilen. Das bietet den Vorteil, keine verfahrensexternen Kriterien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
bestimmen zu müssen 414 . Statt dessen findet si<strong>ch</strong> im Verfahren selbst das (prozedurale)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterium verkörpert. Es genügt, die Verfahrensregeln zu bea<strong>ch</strong>ten,<br />
um ein qua definitionem gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis zu bewirken. Reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> stellt diesen Zusammenhang ausnahmslos in allen Fällen her und hat<br />
dadur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungsfunktion.<br />
Das trifft im Grundsatz au<strong>ch</strong> für die unvollkommene Variante <strong>der</strong> quasi-reinen<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu 415 , jedo<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong> Eins<strong>ch</strong>ränkung, daß die Einhaltung<br />
<strong>der</strong> Verfahrensregeln nur prima facie das Ergebnis als gere<strong>ch</strong>t definiert. Das Verfahren<br />
begründet keine Si<strong>ch</strong>erheit, son<strong>der</strong>n stellt die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Verfahrensergebnisses<br />
unter den Vorbehalt <strong>der</strong> Vereinbarkeit mit übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterien.<br />
Es ist ein übergeordneter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen mit unbestimmt vielen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsmögli<strong>ch</strong>keiten begründet, in dessen Grenzen si<strong>ch</strong> die quasi-reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> halten muß und in aller Regel als Folge <strong>der</strong> Verfahrensbedingungen<br />
au<strong>ch</strong> hält. Wird unter den mögli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidungen eine getroffen, so ist<br />
das Resultat dieser Wahl qua definitionem gere<strong>ch</strong>t; werden die Grenzen hingegen ausnahmsweise<br />
verlassen, so ist sie wegen Verstoßes gegen den übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen<br />
ungere<strong>ch</strong>t. Die Form erzeugt demna<strong>ch</strong> wi<strong>der</strong>legli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> nimmt an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungsfunktion<br />
teil, hat jedo<strong>ch</strong> wegen <strong>der</strong> mit ihr verbundenen Unsi<strong>ch</strong>erheit nur einen Status,<br />
<strong>der</strong> si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lagwortartig als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>swahlfunktion kennzei<strong>ch</strong>nen läßt.<br />
V. Ergebnisse<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die För<strong>der</strong>ung von Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit dur<strong>ch</strong> Verfahren.<br />
Sie tritt abs<strong>ch</strong>ließend in vier Formen auf. Nur die reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
läßt eine Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu, die ohne verfahrensexterne <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterien<br />
und ohne einen übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen auskommt.<br />
Die quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bedarf dagegen immer eines übergeordneten<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmens. Die beiden 'dienenden' Formen, die unvollkommene<br />
und die vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, eignen si<strong>ch</strong> allein ni<strong>ch</strong>t zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung,<br />
son<strong>der</strong>n sind auf verfahrensexterne Kriterien angewiesen.<br />
Es kann darum ni<strong>ch</strong>t verwun<strong>der</strong>n, wenn prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorien,<br />
wie die folgenden Beispiele im einzelnen zeigen werden, si<strong>ch</strong> vorwiegend<br />
auf reine und ergänzend auf quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> stützen.<br />
Demgegenüber stellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik<br />
vorwiegend auf die dienenden Formen <strong>der</strong> vollkommenen und unvollkommenen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ab. Auf diese Trennungslinie wird beim beson<strong>der</strong>en Begriff <strong>der</strong> 'prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie' zurückzukommen sein 416 .<br />
414 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 87.<br />
415 Vgl. J. Berkemann, Fairneß als Re<strong>ch</strong>tsprinzip (1989), S. 227; die bei den dortigen Beispielen (Sportre<strong>ch</strong>t,<br />
Losverfahren bei Studienplatzvergabe, formale Chancenglei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Parteien) erwähnte<br />
'reine' Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit ist tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eine 'quasi-reine', weil sie im verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Rahmen stattfindet.<br />
416 Dazu unten S. 133 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie).<br />
131
D. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
I. Eine Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie (D 4 )<br />
Bei '<strong>Prozedurale</strong>n <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' 417 handelt es si<strong>ch</strong> um eine beson<strong>der</strong>e<br />
Form <strong>der</strong> 'prozeduralen <strong>Theorien</strong>' (D P ) – genauer: um einen Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> 'prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit' (D R ). Der Begriff <strong>der</strong> 'prozeduralen Theorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' läßt si<strong>ch</strong> damit in folgenden Stufen bestimmen:<br />
D P :<br />
D R :<br />
D 4N :<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> sind <strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen eine<br />
Aussage genau dann wahr o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das<br />
Ergebnis einer bestimmten Prozedur sein kann.<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit sind <strong>Theorien</strong>,<br />
na<strong>ch</strong> denen eine normative Aussage N genau dann<br />
ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur<br />
P sein kann. 418<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>,<br />
na<strong>ch</strong> denen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau dann ri<strong>ch</strong>tig<br />
ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur<br />
P sein kann.<br />
Diese normbezogene Definition entspri<strong>ch</strong>t den normbezogenen Begriffsbestimmungen<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in D 1N und <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie in D 2N . Sie drückt außerdem<br />
reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von D 3d aus. Ohne inhaltli<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ied<br />
läßt si<strong>ch</strong> dazu eine handlungsbezogene Definition entspre<strong>ch</strong>end D 1 und D 2<br />
formulieren:<br />
D 4 :<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>,<br />
die die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit Verfahren begründen.<br />
417 Die hier definierten '<strong>Prozedurale</strong>n <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' müssen von '<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' unters<strong>ch</strong>ieden werden. Bei ersteren geht es um das <strong>Prozedurale</strong> <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong>,<br />
bei letzteren um das <strong>Prozedurale</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Zwar hängen beide Theoriegruppen zusammen,<br />
weil in aller Regel eine Theorie über Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit selbst dem Begründungsmodell<br />
<strong>der</strong> Verfahrenstheorien folgt. Das ist aber ni<strong>ch</strong>t zwingend. Es wäre au<strong>ch</strong> denkbar, Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
material zu begründen (Beispiel: 'Es ist ein Gebot Gottes, daß je<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>ter<br />
au<strong>ch</strong> die an<strong>der</strong>e Partei anhört!'). Hier besteht <strong>der</strong> Ausgangspunkt demgegenüber allein im Begriff<br />
<strong>der</strong> 'Verfahrenstheorie', ni<strong>ch</strong>t in dem <strong>der</strong> 'Theorie über Verfahren'. Das unters<strong>ch</strong>eidet die Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
grundlegend von primär prozeßre<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>en Studien, etwa <strong>der</strong>jenigen von<br />
R. Hoffmann, Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit (1992), S. 84 ff., 105 ff.; dort insbeson<strong>der</strong>e S. 158: »Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
[wird] zu einem prozeduralen Reflex materialer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.« Mit unglückli<strong>ch</strong>er<br />
Verquickung bei<strong>der</strong> Aspekte (Verfahrenstheorie und Theorie des Verfahrens) ebd., S. 166 ff.<br />
418 Vgl. R. Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1979), S. 95:<br />
»D: Eine normative Aussage N ist ri<strong>ch</strong>tig genau dann, wenn sie das Ergebnis <strong>der</strong> Prozedur P sein<br />
kann.« Ebenso A. Aarnio/R. Alexy/A. Peczenik, Grundlagen <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1983),<br />
S. 41.<br />
132
D 4 ':<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>,<br />
die die Behauptung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines<br />
Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt<br />
<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit mit Verfahren begründen.<br />
Die Definitionen D 4 und D 4N setzen jeweils voraus, daß si<strong>ch</strong> das Verfahren auf die<br />
Begründung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bezieht. Wenn im folgenden ohne weitere Qualifizierung<br />
von einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie gespro<strong>ch</strong>en wird, so ist eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorie<br />
gemeint. Dies ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> prozeduralen Theorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im engeren Sinne.<br />
II. Zu prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien (D 4E )<br />
Als prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im weiteren Sinne kann man au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
verstehen 419 . Au<strong>ch</strong> sie explizieren prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
na<strong>ch</strong> D 3 , was si<strong>ch</strong> in folgen<strong>der</strong> Definition ausdrücken läßt:<br />
D 4E : <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien sind<br />
<strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen die reale Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
dadur<strong>ch</strong> geför<strong>der</strong>t wird, daß man ein als gere<strong>ch</strong>t<br />
begründetes Verfahren, dessen Anwendungsbedingungen<br />
vorliegen, korrekt dur<strong>ch</strong>führt.<br />
Bei <strong>der</strong> Prozeduralität in sol<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> handelt es si<strong>ch</strong> um etwas grundlegend<br />
an<strong>der</strong>es als bei Begründungsverfahren. Erzeugungs- und Begründungsverfahren<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ma<strong>ch</strong>en in je eigener Weise von dem Konzept <strong>der</strong> prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gebrau<strong>ch</strong>; erstere nutzen Formen <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
und ihrer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungsfunktion, letztere die Formen <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en<br />
Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungsfunktion 420 . Bereits<br />
die Untersu<strong>ch</strong>ung zum Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie hat ergeben, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
immer auf externe Maßstäbe für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
dessen, was sie real bewirken wollen, angewiesen sind 421 . Das Strafverfahren, das<br />
über den einzelnen Prozeß die Verurteilung eines s<strong>ch</strong>uldigen Straftäters bewirkt, ist<br />
nur dann ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungsverfahren, wenn begründet werden kann,<br />
daß <strong>der</strong> Straftatbestand überhaupt strafwürdig ist. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung wäre<br />
ohne <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung ziellos. Au<strong>ch</strong> die Definition D 4E ('ein als gere<strong>ch</strong>t begründetes<br />
Verfahren') drückt das aus: Es gilt ein Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung.<br />
Ein Begründungsmodell kann ohne die reale Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gebildet<br />
werden, aber die reale Erzeugung ist ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, ohne daß begründet wird, warum<br />
ein Ergebnis gere<strong>ch</strong>t sein soll.<br />
419 So insbeson<strong>der</strong>e R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107 ff. Zum Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en<br />
Begründungs- und Erzeugungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bereits oben S. 88 ff.<br />
420 Dazu oben S. 131 (Ergebnisse zur prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
421 Dazu oben S. 88 (Begründungs- und Erzeugungstheorien).<br />
133
Angesi<strong>ch</strong>ts dieser Unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>keit und des Aufeinan<strong>der</strong>angewiesenseins von<br />
Erzeugung und Begründung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird es fragli<strong>ch</strong>, wann eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
insgesamt als 'prozedural' bezei<strong>ch</strong>net werden kann. Die Antwort<br />
muß si<strong>ch</strong> unabhängig von den Erzeugungsverfahren allein dana<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>ten, ob materiale<br />
o<strong>der</strong> prozedurale Rationalität bei <strong>der</strong> Begründung zur Anwendung kommt.<br />
Wird beispielsweise in einem Strafverfahren ein Dieb na<strong>ch</strong> allen Regeln <strong>der</strong> Verfahrenskunst<br />
seiner Straftat überführt, so genügt das allein ni<strong>ch</strong>t, um von <strong>der</strong> Anwendung<br />
einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zu spre<strong>ch</strong>en. Die Strafe könnte ja au<strong>ch</strong><br />
darin bestehen, daß ihm in Befolgung eines Gottesgebotes die Hand abges<strong>ch</strong>lagen<br />
wird, also in einer material begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbehauptung.<br />
Im Ergebnis gilt: Von einer 'prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie' sollte man ni<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on dann spre<strong>ch</strong>en, wenn die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung auf Verfahren gestützt<br />
wird, son<strong>der</strong>n nur, wenn au<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung prozedural erfolgt. Stützt<br />
si<strong>ch</strong> dagegen die reale Erzeugung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf Verfahren, ohne explizit eine<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung damit zu verbinden, so sollte <strong>der</strong> Klarstellung<br />
halber von einer 'prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie' gespro<strong>ch</strong>en werden.<br />
Nur eine sol<strong>ch</strong>ermaßen verdeutli<strong>ch</strong>te Begriffsbildung kann die mißli<strong>ch</strong>e Folge verhin<strong>der</strong>n,<br />
daß alle materialen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> glei<strong>ch</strong>zeitig als prozedurale<br />
<strong>Theorien</strong> angesehen werden müßten, weil es praktis<strong>ch</strong> keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
gibt, bei <strong>der</strong>en realer Umsetzung ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Verfahren nötig<br />
würden. Die Definitionen in D 4 und D 4N setzen demgemäß für eine prozedurale<br />
Theorie begriffsnotwendig voraus, daß die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit Verfahren<br />
begründet wird.<br />
III. Zur Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
1. Die Klassifizierung bei A. Kaufmann<br />
Arthur Kaufmann versteht unter prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> alle <strong>Theorien</strong>,<br />
die Aussagen über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> aus einem gedankli<strong>ch</strong>en Verfahren ableiten 422 .<br />
Ihr Charakteristikum soll in dem Versu<strong>ch</strong> liegen, Inhalte aus bloßer Form zu gewinnen<br />
423 . Na<strong>ch</strong> Kaufmann gehören Vertragstheorien und Diskurstheorien zu den so<br />
verstandenen prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 424 . Als Prototypen dieser<br />
<strong>Theorien</strong>gruppen untersu<strong>ch</strong>t er die Sozialvertragstheorie von Rawls und die Diskurstheorie<br />
von Habermas 425 . Neben diese »zwei wi<strong>ch</strong>tigsten Modelle« stellt Kaufmann<br />
422 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 10 f.<br />
423 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11: »Heute werden diese Versu<strong>ch</strong>e<br />
meist als 'prozedurale <strong>Theorien</strong>' <strong>der</strong> Wahrheit bzw. <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bezei<strong>ch</strong>net.« Kaufmann<br />
führt dies auf die kantis<strong>ch</strong>e Tradition zurück; siehe ebd., S. 9: »Kant denkt ni<strong>ch</strong>t objektivistis<strong>ch</strong><br />
und ni<strong>ch</strong>t subjektivistis<strong>ch</strong>, son<strong>der</strong>n prozeßhaft. ... Der kategoris<strong>ch</strong>e Imperativ bedeutet denn au<strong>ch</strong><br />
gar ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es als das Unterfangen, inhaltli<strong>ch</strong>e moralis<strong>ch</strong>e Aussagen aus einem gedankli<strong>ch</strong>en<br />
Verfahren abzuleiten.«<br />
424 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 13 ff. ('Vertragsmodell'), 16 ff.<br />
('Diskursmodell').<br />
425 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 13 ff. Die glei<strong>ch</strong>e exemplaris<strong>ch</strong>e<br />
Auswahl findet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei L. Kern, Von Habermas zu Rawls (1986), S. 83 ff.<br />
134
außerdem die Systemtheorie, insbeson<strong>der</strong>e diejenige Luhmanns, als eine weitere<br />
Gruppe prozeduraler <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 426 . Für die Systemtheorie Luhmanns<br />
ma<strong>ch</strong>t er dabei selbst die Eins<strong>ch</strong>ränkung, daß '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' im Sinne <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophie dort gerade ni<strong>ch</strong>t anerkannt wird 427 . Insgesamt ergibt si<strong>ch</strong> folgende<br />
Klassifizierung:<br />
(1) Materiale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(2) <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(a) Sozialvertragstheorien (z.B. Rawls)<br />
(b) Diskurstheorien (z.B. Habermas)<br />
(c) Systemtheorien (z.B. Luhmann)<br />
Diese Zusammenstellung erklärt si<strong>ch</strong> daraus, daß Kaufmann im weiteren Verlauf seiner<br />
Studie die <strong>Theorien</strong> von Luhmann, Rawls und Habermas alle aus dem glei<strong>ch</strong>en<br />
Grund verwirft. In allen drei Fällen lasse si<strong>ch</strong> zeigen, daß <strong>der</strong> Versu<strong>ch</strong>, aus einer<br />
konsequent dur<strong>ch</strong>geführten reinen prozeduralen Theorie Inhalte zu gewinnen, fehls<strong>ch</strong>lagen<br />
müsse 428 .<br />
Die dur<strong>ch</strong> dieses Wi<strong>der</strong>legungsziel motivierte Klassifizierung kann ni<strong>ch</strong>t überzeugen.<br />
Sieht man einmal von <strong>der</strong> Systemtheorie ab, die mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
ohnehin ni<strong>ch</strong>ts zu tun hat und au<strong>ch</strong> von Kaufmann in seiner Studie ni<strong>ch</strong>t weiter<br />
untersu<strong>ch</strong>t wird, so läuft das S<strong>ch</strong>ema auf eine Di<strong>ch</strong>otomie von Sozialvertragstheorien<br />
und Diskurstheorien hinaus 429 . Diese Konkretisierung <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
verna<strong>ch</strong>lässigt Standpunkttheorien, kann also die monologis<strong>ch</strong>en Konzeptionen<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, wie sie etwa in <strong>Theorien</strong> des unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters<br />
expliziert werden, ni<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigen. Außerdem gibt es (prozedurale)<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien, die ni<strong>ch</strong>t zu einem vollständigen Sozialvertragsmodell ausgebaut<br />
werden 430 . Au<strong>ch</strong> sie bleiben in Kaufmanns Darstellung unberücksi<strong>ch</strong>tigt. Bezieht<br />
man alle prozeduralen <strong>Theorien</strong> mit ein, so spitzt si<strong>ch</strong> die Frage na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> rationalen<br />
Begründbarkeit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption ni<strong>ch</strong>t auf die Darstellungsmit-<br />
426 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11.<br />
427 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11: »Für Luhmann gibt es so etwas<br />
wie 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit', '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', 'Wahrheit' überhaupt ni<strong>ch</strong>t; ... Es kommt ni<strong>ch</strong>t darauf an, daß<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' verwirkli<strong>ch</strong>t wird (sie gibt es ja ni<strong>ch</strong>t), son<strong>der</strong>n daß das System funktioniert, indem<br />
es soziale Komplexität reduziert.« Diese Eins<strong>ch</strong>ätzung ist zutreffend; vgl. unten S. 148 ff. (Theorie<br />
<strong>der</strong> sozialen Systeme).<br />
428 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11: »Er [<strong>der</strong> Entwurf Luhmanns]<br />
zeigt aber au<strong>ch</strong>, daß eine konsequent dur<strong>ch</strong>geführte rein prozedurale Theorie keine Inhalte mehr<br />
zuläßt.«; S. 15: »[Bei Rawls] hat si<strong>ch</strong> gezeigt, daß die normativen Inhalte gar ni<strong>ch</strong>t, jedenfalls ni<strong>ch</strong>t<br />
allein, aus dem Verfahren gewonnen sind.«; S. 19: »Der rationale, konsenserzielende Diskurs als<br />
sol<strong>ch</strong>er sagt uns ni<strong>ch</strong>t, was wahr o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig ist, und ni<strong>ch</strong>t, was wir tun sollen. Erst wenn man dem<br />
Diskurs einen Inhalt, ein 'Thema', gibt, <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t mit dem Diskurs ineinsfällt, kann die Diskursbzw.<br />
Konsensustheorie als Wahrheits- und Ri<strong>ch</strong>tigkeitstheorie fungieren.« S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zusammenfassend<br />
S. 20: »Allen diesen rein prozeduralen <strong>Theorien</strong> ist gemeinsam, daß die Inhalte ers<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
sind.« So bereits <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t und Rationalität (1988), S. 34. Ebenso D. v.d. Pfordten,<br />
Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 270.<br />
429 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11.<br />
430 Dazu unten S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren), S. 176 ff. (<strong>Theorien</strong><br />
zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt).<br />
135
tel von Vertrag und Diskurs zu, son<strong>der</strong>n vielmehr auf die Frontenstellung zwis<strong>ch</strong>en<br />
Diskursrationalität und Ents<strong>ch</strong>eidungsrationalität 431 .<br />
2. Die Klassifizierung bei R. Dreier<br />
Eine umfassen<strong>der</strong>e Klassifizierung <strong>der</strong> normativen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien hat Ralf<br />
Dreier vorges<strong>ch</strong>lagen 432 :<br />
(1) Materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
(a) vom Naturre<strong>ch</strong>tstypus<br />
(b) vom Vernunftre<strong>ch</strong>tstypus 433<br />
(c) u.U. au<strong>ch</strong> »Reine Gefühlstheorien« 434<br />
(2) <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
(a) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
(!) <strong>Theorien</strong> staatli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>tserzeugung<br />
(") <strong>Theorien</strong> privatautonomer Re<strong>ch</strong>tserzeugung<br />
(b) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorien<br />
(!) Argumentationstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Perelman, Alexy)<br />
(") Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Rawls 435 )<br />
Dieses S<strong>ch</strong>ema stellt die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en Begründungs- und Erzeugungstheorien<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ins Zentrum – eine Unters<strong>ch</strong>eidung, die si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong><br />
Definition bei R. Dreier nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lägt: »<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind normative<br />
<strong>Theorien</strong> über Methoden <strong>der</strong> Erzeugung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen; sie sind darauf geri<strong>ch</strong>tet, Verfahren zu entwickeln,<br />
<strong>der</strong>en Bedingungen und Regeln eingehalten werden müssen, wenn man gere<strong>ch</strong>tes<br />
Re<strong>ch</strong>t erzeugen o<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteile rational begründen will.« 436 Diese Definition<br />
stellt dem philosophis<strong>ch</strong>en Begründungselement ein spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>es Erzeugungselement<br />
an die Seite und führt so zu einem juristis<strong>ch</strong> erweiterten Begriff <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, wie er im allgemeinen sinnvoll ist und s<strong>ch</strong>on oben zugrundegelegt<br />
wurde 437 . Für die Bestimmung von prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien führt<br />
Dreiers weite Definition indes zu <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>on erwähnten Begriffsverwirrung, daß au<strong>ch</strong><br />
materiale Begründungstheorien regelmäßig als prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
angesehen werden müssen, weil au<strong>ch</strong> sie zur Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
431 An<strong>der</strong>s A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11, <strong>der</strong> Vertragstheorien<br />
und Diskurstheorien als die zwei wi<strong>ch</strong>tigsten 'Modelle' prozeduraler <strong>Theorien</strong> ansieht. Wie hier<br />
R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107, 115; dazu soglei<strong>ch</strong>.<br />
432 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107; zustimmend M.R. Deckert, Folgenorientierung in<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995), S. 194.<br />
433 Zu dem Umstand, daß die meisten Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien in den prozeduralen Theoriegattungen<br />
<strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition zu verorten sein dürften, vgl. oben S. 89 (Naturre<strong>ch</strong>ts-<br />
und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien).<br />
434 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 108.<br />
435 Zur Kritik <strong>der</strong> Einordnung von Rawls' Theorie als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie siehe S. 180 (Theorie <strong>der</strong><br />
Maximin-Wahl?).<br />
436 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107.<br />
437 Zu Begründungs- und Erzeugungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bereits oben S. 88.<br />
136
auf ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Verfahren setzen 438 . Außerdem drückt Dreiers S<strong>ch</strong>ema,<br />
indem es Erzeugungs- und Begründungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf dieselbe<br />
Ebene stellt, das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en den Theoriegruppen ni<strong>ch</strong>t befriedigend aus.<br />
Das Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung 439 muß dazu führen, daß jede <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung,<br />
sei sie prozedural o<strong>der</strong> material, einem Begründungsmodell zugeordnet<br />
wird und si<strong>ch</strong> deshalb nur no<strong>ch</strong> als unselbständiger Teil dieser Begründungstheorie<br />
darstellt.<br />
3. Die Klassifizierung in Anlehnung an R. Alexy<br />
Die von Robert Alexy vorges<strong>ch</strong>lagene Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen, die<br />
s<strong>ch</strong>on bei den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien im allgemeinen zugrundegelegt wurde 440 , kann<br />
au<strong>ch</strong> zur Unters<strong>ch</strong>eidung von materialen und prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
beitragen. In Anlehnung an Alexys Einteilung ergibt si<strong>ch</strong> für normative <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
folgendes S<strong>ch</strong>ema 441 :<br />
(1) 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> = nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(2) Materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien = aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(3) <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
(a) Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> = hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(b) Universalistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien = kantis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
Dana<strong>ch</strong> gilt <strong>der</strong> Satz: <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind genau diejenigen<br />
<strong>Theorien</strong>, die zur hobbesianis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition gehören. Im Gegensatz<br />
zur Einteilung na<strong>ch</strong> Kaufmann hat dies den Vorteil, daß die prozeduralen<br />
<strong>Theorien</strong> abs<strong>ch</strong>ließend erfaßt werden 442 . An<strong>der</strong>s als bei R. Dreier werden die Erzeugungstheorien<br />
ni<strong>ch</strong>t auf eine Stufe mit den Begründungstheorien gestellt, son<strong>der</strong>n es<br />
kann hinter je<strong>der</strong> Grundposition wie<strong>der</strong> materiale und prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
geben. Entspre<strong>ch</strong>end <strong>der</strong> These vom Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
bleiben sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> unselbständige Teile <strong>der</strong> sie tragenden Begründungstheorien.<br />
4. Eine erweiterte Klassifizierung<br />
Berücksi<strong>ch</strong>tigt man einige Unterformen, so ergibt si<strong>ch</strong> die erweiterte Klassifizierung,<br />
die im folgenden zugrundegelegt wird. Beispielhaft sind einige Vertreter prozeduraler<br />
<strong>Theorien</strong> in dem S<strong>ch</strong>ema aufgeführt:<br />
438 Dazu oben S. 133 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien).<br />
439 Dazu oben S. 133 f. (Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung).<br />
440 Dazu oben S. 81 ff. (vier Grundpositionen); vgl. oben S. 103 ff. (an<strong>der</strong>e Klassifizierungen).<br />
441 Die Grundpositionen stammen von Alexy, ni<strong>ch</strong>t hingegen die ihnen hier zugeordneten Bezei<strong>ch</strong>nungen<br />
als 'Antitheorien' bzw. 'materiale' und 'prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien'.<br />
442 Vgl. oben S. 84 (abs<strong>ch</strong>ließendes S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
137
(1) 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> = nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(2) Materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien = aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(3) <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
(a) Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> = hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(!) Ni<strong>ch</strong>tvertragli<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens (Braithwaite)<br />
(") Neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien (Nozick, Bu<strong>ch</strong>anan)<br />
(b) Universalistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien = kantis<strong>ch</strong>e Grundposition<br />
(!) Kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien (Rawls)<br />
(") Standpunkttheorien (Nagel)<br />
(#) Diskurstheorien (Apel, Habermas, Alexy)<br />
Das S<strong>ch</strong>ema zeigt, wie prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dana<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>ieden<br />
werden können, wel<strong>ch</strong>e Antwort sie auf die Frage na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Begründbarkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
geben, o<strong>der</strong> allgemein: wel<strong>ch</strong>e Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft sie<br />
verfolgen.<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien (rational <strong>ch</strong>oice theories 443 ) urteilen dana<strong>ch</strong>, wie si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en<br />
'vernünftigerweise' in Ents<strong>ch</strong>eidungssituationen verhalten. Sie definieren Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren<br />
444 und nehmen das Ents<strong>ch</strong>eidungsverhalten egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierer<br />
als Ausgangspunkt, um die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns zu erklären 445 .<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien in diesem Sinne sind nur die <strong>Theorien</strong>, die na<strong>ch</strong> dem Verhalten<br />
egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierer fragen (hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition), ni<strong>ch</strong>t etwa<br />
alle Sozialvertragstheorien (au<strong>ch</strong>: kantis<strong>ch</strong>e Grundposition) o<strong>der</strong> gar alle Nutzenmaximierungstheorien<br />
des Utilitarismus (aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition) 446 .<br />
Universalistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien untersu<strong>ch</strong>en, wie si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en 'vernünftigerweise'<br />
verhalten, wenn sie ni<strong>ch</strong>t nur eigennützig ihren Neigungen na<strong>ch</strong>geben,<br />
son<strong>der</strong>n si<strong>ch</strong> als autonome Selbstgesetzgeber fragen, was au<strong>ch</strong> für an<strong>der</strong>e, letztli<strong>ch</strong><br />
sogar für alle das Ri<strong>ch</strong>tige ist. Im Zentrum <strong>der</strong> Diskussion steht dabei die kantis<strong>ch</strong>e<br />
Sozialvertragstheorie von Rawls. Do<strong>ch</strong> sollen in dieser Untersu<strong>ch</strong>ung als Gegenpol<br />
zu den Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien vor allem die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> rationalen Argumentation<br />
in ihrer Ausprägung als <strong>Theorien</strong> des rationalen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses<br />
443 Hier wird 'rational <strong>ch</strong>oice theory' dur<strong>ch</strong>weg mit 'Theorie rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung' o<strong>der</strong> einfa<strong>ch</strong> 'Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie'<br />
übersetzt, da die wörtli<strong>ch</strong>e Übersetzung ('Theorie rationaler Wahl') ni<strong>ch</strong>t in<br />
glei<strong>ch</strong>er Weise geeignet ist, diejenigen Ents<strong>ch</strong>eidungen zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, die eine Auswahlmögli<strong>ch</strong>keit<br />
erst gestalten.<br />
444 Eine allgemeine Definition hierfür findet si<strong>ch</strong> bei J.R. Lucas, Principles of Politics (1966), S. 366: »A<br />
decision procedure is the method of deciding disputes that is common to members of a community.«<br />
Dabei ist ein Disput die Uneinigkeit über Handeln, ni<strong>ch</strong>t Ideen (S. 11). Das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren<br />
wird nötig, wenn vernünftige Diskussion und Argumentation keinen Konsens bewirken<br />
und das Gewaltverbot, das eine Gemeins<strong>ch</strong>aft begriffli<strong>ch</strong> erst ausma<strong>ch</strong>t, eine (friedli<strong>ch</strong>e) Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
erfor<strong>der</strong>t (S. 11).<br />
445 G. Kir<strong>ch</strong>gässner, Homo oeconomicus (1991), S. 12 ff., 45 ff. – eigener Vorteil als Charakteristikum;<br />
R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 4, 264 ff. – Eigeninteresse, Anreizorientierung.<br />
446 Zu an<strong>der</strong>en Verwendungen des Begriffs <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie vgl. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 116 f. (au<strong>ch</strong> kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
138
(discourse theories) 447 untersu<strong>ch</strong>t werden. Sie betra<strong>ch</strong>ten Verhalten, das aus Kommunikation<br />
hervorgeht o<strong>der</strong> hervorgehen könnte und erklären die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns<br />
damit, daß bestimmte, rationalitätsverbürgende Regeln in <strong>der</strong> handlungsbestimmenden<br />
Kommunikation eingehalten werden.<br />
IV. Die Grenzziehung zwis<strong>ch</strong>en materialen und prozeduralen <strong>Theorien</strong><br />
Der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en ontologis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>tslehren und aufkläreris<strong>ch</strong>em<br />
Vernunftre<strong>ch</strong>t, dem gegenwärtige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien in ihrer Mehrzahl zuzure<strong>ch</strong>nen<br />
sind, wurde bereits erörtert 448 . Es sind aber keinesfalls alle neueren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
prozedural, son<strong>der</strong>n es gibt au<strong>ch</strong> <strong>Theorien</strong> aufkläreris<strong>ch</strong>en Vernunftre<strong>ch</strong>ts,<br />
die man als materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>ch</strong>arakterisieren kann, weil sie<br />
ohne Rückgriff auf Verfahren substantielle Annahmen zum Ausgangspunkt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
wählen 449 . Die Zuordnung sol<strong>ch</strong>er <strong>Theorien</strong> (Kommunitarismus,<br />
Utilitarismus) zur aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition und damit zu den materialen<br />
<strong>Theorien</strong> wird im dritten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung genauer begründet 450 . Do<strong>ch</strong><br />
es gibt einige Grenzziehungsprobleme zwis<strong>ch</strong>en materialen und prozeduralen <strong>Theorien</strong>,<br />
die allgemeiner Natur sind und deshalb vorab geklärt werden können.<br />
1. Die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en Begründung und Ergebnis<br />
Die Regel, daß ein Verfahrensbezug in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung eine Theorie no<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t zur 'prozeduralen' ma<strong>ch</strong>t, wurde bereits in <strong>der</strong> Definition und Klassifizierung<br />
angespro<strong>ch</strong>en 451 . Diese Abgrenzungsregel beruht auf <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung und ihren Ergebnissen – den moralis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen,<br />
die dann in <strong>der</strong> realen Welt verwirkli<strong>ch</strong>t werden wollen. Die Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
von Begründung und Begründungsergebnis führt zu weiteren Abgrenzungsregeln<br />
zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Theorien</strong>. Zunä<strong>ch</strong>st gilt, daß eine<br />
Theorie ihren prozeduralen Charakter ni<strong>ch</strong>t verliert, wenn sie oberste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
begründet, die dann als materiale Ziele (teleologis<strong>ch</strong>) verfolgt werden<br />
452 . Denn <strong>der</strong>lei Effekte beoba<strong>ch</strong>tet man bei je<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, die von<br />
prozeduraler Begründung zu realen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gelangt. Wenn beispielsweise<br />
Rawls oberste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien begründet, die dann als Leitbil<strong>der</strong><br />
für die Gestaltung <strong>der</strong> Sozialordnung dienen, so bleibt seine Theorie eine prozedura-<br />
447 Zum Begriff <strong>der</strong> Argumentationstheorie siehe R. Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie <strong>der</strong><br />
juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1979), S. 94 f. Zur Klassifizierung prozeduraler <strong>Theorien</strong> vgl. <strong>der</strong>s.,<br />
Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 30.<br />
448 Dazu oben S. 89 (Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien).<br />
449 Dazu oben S. 89 (Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien, Beispiele: Brunner, Grisez, Finnis).<br />
450 Dazu unten S. 152 ff. (<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
451 Dazu oben S. 132 ff. (Definition <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie).<br />
452 Ebenso T. Vesting, <strong>Prozedurale</strong>s Rundfunkre<strong>ch</strong>t (1997), S. 99; a.A. R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 113 f. (113): Die Theorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaats sei eine 'gemis<strong>ch</strong>t<br />
prozedural-materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie', weil zu ihr au<strong>ch</strong> die materiale Gewährleistung von<br />
Mens<strong>ch</strong>en- und Bürgerre<strong>ch</strong>ten gehöre, die den Staatsgewalten Grenzen setzten.<br />
139
le 453 . Gerade darin liegt ja <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung, daß am Ende<br />
handlungsleitende Regeln befolgt und Prinzipien so weit wie mögli<strong>ch</strong> verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
werden können. Teleologis<strong>ch</strong>e Gehalte des als gere<strong>ch</strong>t begründeten Ergebnisses ma<strong>ch</strong>en<br />
eine prozedurale Theorie ni<strong>ch</strong>t zur materialen, solange die letzten Gründe in<br />
Verfahrensüberlegungen liegen. Eine ganz entspre<strong>ch</strong>ende Regel kann für eine Wertorientierung<br />
in <strong>der</strong> Sozialordnung formuliert werden: Axiologis<strong>ch</strong>e Gehalte eines als<br />
gere<strong>ch</strong>t erkannten Ergebnisses ma<strong>ch</strong>en eine prozedurale Theorie ni<strong>ch</strong>t zur materialen.<br />
Und au<strong>ch</strong> für ethis<strong>ch</strong>e Gehalte 454 läßt si<strong>ch</strong> entspre<strong>ch</strong>endes formulieren: Eine<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie wird ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on dadur<strong>ch</strong> zur materialen, daß sie<br />
im Ergebnis zu einer Konzeption <strong>der</strong> tugendhaften Person führt 455 .<br />
2. Die Unters<strong>ch</strong>eidung na<strong>ch</strong> dem S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung<br />
S<strong>ch</strong>wieriger wird die Abgrenzung zwis<strong>ch</strong>en materialen und prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
dort, wo die materialen Gehalte ni<strong>ch</strong>t nur im Ergebnis, son<strong>der</strong>n<br />
s<strong>ch</strong>on in <strong>der</strong> Begründung eine Rolle spielen. Das ist bis zu einem gewissen Grad unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
456 . Wer ein Verfahren egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierung anwendet,<br />
setzt damit bereits voraus, daß Mens<strong>ch</strong>en Interessen, Neigungen und ausrei<strong>ch</strong>end<br />
Verstand haben, um zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Handlungsweisen rational zu wählen<br />
457 . Wer ein Verfahren <strong>der</strong> Universalisierung vertritt, benötigt die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Fähigkeit, einen moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt einzunehmen. Da die Übergänge von <strong>der</strong>lei<br />
materialen Annahmen über sol<strong>ch</strong>e anthropologis<strong>ch</strong>en Konstanten zu einer prozeduralen<br />
Verfahrensbegründung fließend sind, bleibt letztli<strong>ch</strong> nur die Lösung, die Abgrenzung<br />
dana<strong>ch</strong> vorzunehmen, ob <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung auf materialen<br />
o<strong>der</strong> prozeduralen Überlegungen beruht 458 .<br />
Mit diesem vage ers<strong>ch</strong>einenden Kriterium lassen si<strong>ch</strong> prozedurale <strong>Theorien</strong> denno<strong>ch</strong><br />
ausrei<strong>ch</strong>end klar identifizieren, weil ihnen eine Begründungsstrategie gemein<br />
ist, die sie erkennbar ma<strong>ch</strong>t. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> versu<strong>ch</strong>en, die materialen Annahmen<br />
so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> wie mögli<strong>ch</strong> zu halten und die prozeduralen Überlegungen so stark wie mögli<strong>ch</strong><br />
453 Dazu unten S. 203 (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in Rawls' Theorie).<br />
454 Zur Ethik als <strong>der</strong> individuellen o<strong>der</strong> kollektiven Konzeption des Guten vgl. oben S. 94 (ethis<strong>ch</strong>er<br />
Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft na<strong>ch</strong> Habermas).<br />
455 Vgl. J. Nida-Rümelin, Die beiden zentralen Intentionen <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß<br />
von John Rawls (1990), S. 466.<br />
456 So au<strong>ch</strong> J. Nida-Rümelin, Die beiden zentralen Intentionen <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß<br />
von John Rawls (1990), S. 466: »Jede normativ-ethis<strong>ch</strong>e Theorie enthält – zumindest implizit –<br />
au<strong>ch</strong> eine Konzeption <strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en Person.« H. Kits<strong>ch</strong>elt, Moralis<strong>ch</strong>es Argumentieren und Sozialtheorie<br />
(1980), S. 406: Eine prozedurale Theorie sei »immer s<strong>ch</strong>on im Rahmen einer anthropologis<strong>ch</strong><br />
orientierten Rekonstruktion moralis<strong>ch</strong>er Kompetenzen <strong>der</strong> Person zu lesen« (Hervorhebung bei<br />
Kits<strong>ch</strong>el). Mit an<strong>der</strong>em Akzent W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags<br />
(1994), S. 43 in Fn. 29 a.E.: »[Es] gilt, daß jedes Verfahren bestimmte, prozeduralistis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t begründbare<br />
normative Bedingungen erfüllen muß, um als Legitimationsinstanz theoretis<strong>ch</strong> und<br />
praktis<strong>ch</strong> verwendet werden zu können.« Zu weitgehend deshalb M.R. Deckert, Folgenorientierung<br />
in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995), S. 194 (»Die nur-prozeduralen <strong>Theorien</strong> verzi<strong>ch</strong>ten auf jeden<br />
materialen Gehalt.«) und K.-E. Hain, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (2001), S. 195.<br />
457 Ähnli<strong>ch</strong> A. Cortina, Diskursethik und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 246.<br />
458 Umgekehrt abgrenzend M.R. Deckert, Folgenorientierung in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995), S. 194 –<br />
'Au<strong>ch</strong>-materiale' <strong>Theorien</strong> seien sol<strong>ch</strong>e, die den S<strong>ch</strong>werpunkt im materialen Berei<strong>ch</strong> haben.<br />
140
auszubauen 459 . <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sind also deshalb prozedural, weil<br />
sie den S<strong>ch</strong>werpunkt ihrer Argumentation darauf legen, was in einem Verfahren rationaler<br />
Abwägung für den Einzelnen na<strong>ch</strong> seinen Interessen optimal ist. Diskurstheorien<br />
sind prozedural, weil sie dana<strong>ch</strong> fragen, was im Verfahren des Diskurses als<br />
Ergebnis erzeugt werden könnte. Anthropologis<strong>ch</strong>e Naturre<strong>ch</strong>tslehren sind hingegen<br />
material, weil sie vor allem auf Bedürfnisse des Mens<strong>ch</strong>en abstellen, ohne daß es<br />
wesentli<strong>ch</strong> auf die Verfahren ankäme, mit denen sol<strong>ch</strong>e Bedürfnisse befriedigt werden<br />
460 . Die Abgrenzung na<strong>ch</strong> dem S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung führt dazu, daß<br />
eine im Grunde gere<strong>ch</strong>tigkeitsskeptis<strong>ch</strong>e positivistis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tstheorie wie diejenige<br />
H.L.A. Harts wegen des Fehlens je<strong>der</strong> Verfahrensüberlegung allein dur<strong>ch</strong> die Annahme<br />
eines Minimalgehalts des Naturre<strong>ch</strong>ts (minimum content of natural law) 461 als<br />
materiale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie anzusehen ist.<br />
V. Das Vertragsmodell und das Geri<strong>ch</strong>tsmodell (R. Dreier)<br />
Ralf Dreier vertritt die These, daß si<strong>ch</strong> alle Verfahren, die in prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
vorges<strong>ch</strong>lagen werden, letztli<strong>ch</strong> auf zwei Grundmodelle und <strong>der</strong>en<br />
Kombination zurückführen lassen: auf das Vertragsmodell und das Geri<strong>ch</strong>tsmodell<br />
462 . Das Vertragsmodell beruhe dabei auf <strong>der</strong> Vorstellung, daß das einem jeden<br />
Zustehende (suum cuique) dur<strong>ch</strong> Übereinkunft aller, die es angeht, festzulegen sei.<br />
Das Geri<strong>ch</strong>tsmodell verlange demgegenüber, daß im Streitfall eine neutrale, beson<strong>der</strong>s<br />
qualifizierte Instanz zu ents<strong>ch</strong>eiden habe. Aus dem Bedingungs- und Regelbestand<br />
dieser beiden Grundmodelle sollen si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Dreier alle an<strong>der</strong>en Verfahrensmodelle,<br />
etwa das Gesetzgebungsmodell o<strong>der</strong> das Modell wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Wahrheitsfindung,<br />
zusammensetzen lassen 463 .<br />
Das mag stimmen, do<strong>ch</strong> genügt die Unters<strong>ch</strong>eidung ni<strong>ch</strong>t als Analysemittel, weil<br />
si<strong>ch</strong> die Verfahren jeweils auf ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Weise aus diesen 'Grundmodel-<br />
459 Vgl. C.K. Kaufman, The Nature of Justice (1980), S. 223 – im Konflikt zwis<strong>ch</strong>en substantiellen und<br />
prozeduralen Kriterien gebührt den prozeduralen <strong>der</strong> Vorrang.<br />
460 Als eine sol<strong>ch</strong>e Theorie kann beispielsweise die objektivistis<strong>ch</strong>e Werttheorie (self-evident basic values)<br />
von Finnis angesehen werden; vgl. oben S. 89 (Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien).<br />
Ebenfalls materiale <strong>Theorien</strong> sind diejenigen, die ganz ohne Verfahrensüberlegungen unmittelbar<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung moralis<strong>ch</strong>er Regeln fragen, etwa wie bei B. Gert, Die moralis<strong>ch</strong>en Regeln<br />
(1966), S. 116 ff.<br />
461 H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 189 ff.: Die Tatsa<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Verletzli<strong>ch</strong>keit des Mens<strong>ch</strong>en<br />
(human vulnerability), <strong>der</strong> Bedürftigkeit trotz begrenzter Resourcen (limited resources) und <strong>der</strong> bloß<br />
begrenzten Uneigennützigkeit (limited altruism) führe notwendig zu integritätss<strong>ch</strong>ützenden Geboten<br />
<strong>der</strong> Unterlassung; die <strong>der</strong> näherungsweisen Glei<strong>ch</strong>heit (approximate equality) führe notwendig<br />
zur Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>tigkeit aller; die des begrenzten Verständnisses und <strong>der</strong> begrenzten Willensstärke<br />
(limited un<strong>der</strong>standing and strength of will) führe notwendig zur Gehorsamserzwingung dur<strong>ch</strong><br />
Sanktionen. Vgl. dazu Harts These, daß – wenn überhaupt – ein Naturre<strong>ch</strong>t darin bestünde, allen<br />
Mens<strong>ch</strong>en ein glei<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t auf Freiheit zuzuweisen: H.L.A. Hart, Are There Any Natural Rights?<br />
(1955), S. 77 ff. Eine verwandte, aber do<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e, s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bedeutung verbindet si<strong>ch</strong> dagegen<br />
mit <strong>der</strong> These Jellineks vom 'ethis<strong>ch</strong>en Minimum'; dazu oben S. 30, Fn. 14.<br />
462 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 112 ff.<br />
463 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 112 f.<br />
141
len' zusammensetzen 464 . So bildet si<strong>ch</strong> in neohobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertragstheorien<br />
<strong>der</strong> Konsens nur im Ausglei<strong>ch</strong> egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierung, während in kantis<strong>ch</strong>en<br />
Sozialvertragstheorien eine universalistis<strong>ch</strong>e Komponente enthalten ist, die<br />
na<strong>ch</strong> Dreiers Einteilung dem Geri<strong>ch</strong>tsmodell zuzus<strong>ch</strong>reiben wäre. Diskurstheorien<br />
und kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien kombinieren jeweils Elemente des Vertragsmodells<br />
(Konsens 465 ) und des Geri<strong>ch</strong>tsmodells (Universalität) und sind do<strong>ch</strong> im Ergebnis<br />
deutli<strong>ch</strong> zu unters<strong>ch</strong>eiden. Wegen <strong>der</strong> nahezu grenzenlosen Vielfalt unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er<br />
Kombinationsmögli<strong>ch</strong>keiten wird die Einteilung in Grundmodelle hier<br />
ni<strong>ch</strong>t weiter verfolgt.<br />
VI. Ergebnisse<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im engeren Sinne sind nur sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong>,<br />
die zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf Verfahren zurückgreifen. Es handelt si<strong>ch</strong><br />
dabei um genau diejenigen <strong>Theorien</strong>, die <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie zuzure<strong>ch</strong>nen sind. Für diese <strong>Theorien</strong> ist<br />
kennzei<strong>ch</strong>nend, daß sie materiale Annahmen so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> wie mögli<strong>ch</strong> halten und die<br />
prozeduralen Begründungselemente so stark wie mögli<strong>ch</strong> ausbauen. Als prozedurale<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im weiteren Sinne kann man au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
verstehen; <strong>der</strong>en Verfahren bleiben aber auf verfahrensexterne<br />
Kriterien zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung angewiesen.<br />
464 Das gesteht au<strong>ch</strong> Dreier zu: R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 112.<br />
465 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 115 benutzt die Bezei<strong>ch</strong>nung 'Konsensmodell' synonym<br />
mit <strong>der</strong> des 'Vertragsmodells'.<br />
142
Dritter Teil:<br />
Einige <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Die einzelnen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sollen hier zunä<strong>ch</strong>st nur in ihren Grundzügen<br />
dargestellt und auf innere Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit hin untersu<strong>ch</strong>t werden (Konsistenz).<br />
Im übrigen bleibt die Analyse <strong>der</strong> äußeren Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit (Kohärenz) und alle<br />
übrige Kritik dem vierten Teil vorbehalten 1 , denn viele Einwände gelten für ganze<br />
Theoriegruppen und setzen deshalb einen Überblick über das Spektrum voraus. Die<br />
Darstellung folgt <strong>der</strong> zuvor begründeten Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen <strong>der</strong><br />
politis<strong>ch</strong>en Philosophie 2 und erstreckt si<strong>ch</strong> auf die ni<strong>ch</strong>tprozeduralen Theoriegruppen<br />
<strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en und aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition, weil diese als Gegenmodelle<br />
zu den prozeduralen <strong>Theorien</strong> Bea<strong>ch</strong>tung verdienen. Die Auswahl <strong>der</strong><br />
<strong>Theorien</strong> zielt ni<strong>ch</strong>t auf Vollständigkeit, son<strong>der</strong>n soll das Spektrum <strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
beispielhaft umreißen.<br />
A. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis)<br />
I. Charakteristika<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition verbindet die These, daß<br />
si<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t bestimmen läßt. In <strong>der</strong> These, daß na<strong>ch</strong> den streitig<br />
gewordenen materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen <strong>der</strong> Naturre<strong>ch</strong>tslehren au<strong>ch</strong><br />
die rationalistis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungen des Vernunftre<strong>ch</strong>ts fehlges<strong>ch</strong>lagen<br />
sein sollen, liegt das beson<strong>der</strong>e Verdienst Nietzs<strong>ch</strong>es 3 . Allein diese grundlegende<br />
Skepsis gegenüber je<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Rationalität 4 – und damit au<strong>ch</strong> gegenüber <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis) – ist gemeint, wenn hier von nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>er<br />
Grundposition die Rede ist 5 . Im übrigen gibt es ni<strong>ch</strong>t viele Skeptiker, die au<strong>ch</strong> Nietz-<br />
1 Dazu unten S. 261 ff. (Vierter Teil).<br />
2 Vgl. oben S. 80 ff. (Klassifizierung).<br />
3 Zu dieser Eins<strong>ch</strong>ätzung au<strong>ch</strong> A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 341; J. Habermas, Eintritt<br />
in die Postmo<strong>der</strong>ne: Nietzs<strong>ch</strong>e als Drehs<strong>ch</strong>eibe (1985), S. 129: »[Die] beiden von Nietzs<strong>ch</strong>e gebahnten<br />
... Wege... in die Postmo<strong>der</strong>ne«.<br />
4 Vgl. F. Nietzs<strong>ch</strong>e, Götzen-Dämmerung (1888), Die 'Vernunft' in <strong>der</strong> Philosophie, Nr. 5, S. 960 –<br />
Vernunft als »alte betrügeris<strong>ch</strong>e Weibsperson«. Siehe au<strong>ch</strong> oben S. 82, Fn. 201 f. sowie soglei<strong>ch</strong><br />
Fn. 6. Außerdem J. Habermas, Eintritt in die Postmo<strong>der</strong>ne: Nietzs<strong>ch</strong>e als Drehs<strong>ch</strong>eibe (1985),<br />
S. 129: »Nietzs<strong>ch</strong>e verdankt seinen ma<strong>ch</strong>ttheoretis<strong>ch</strong> entwickelten Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne einer demaskierenden<br />
Vernunftkritik, die si<strong>ch</strong> selbst außerhalb des Horizonts <strong>der</strong> Vernunft stellt.«<br />
5 Zur Identifizierung <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition mit grundlegen<strong>der</strong> Skepsis gegenüber<br />
dem Begriff <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft (1993), S. 11 f.; ähnli<strong>ch</strong> H. Klenner, Über die vier Arten von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
gegenwärtiger Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1995), S. 137 (»Agnostiker«). Genau genommen wäre bei <strong>der</strong><br />
kritis<strong>ch</strong>en Distanz zur praktis<strong>ch</strong>en Vernunft zwis<strong>ch</strong>en Relativismus, Skeptizismus und Nihilismus<br />
zu unters<strong>ch</strong>eiden; vgl. S. Rosen, Nihilism (1969), S. 72 ff., 94 ff. (Nihilismus bei Nietzs<strong>ch</strong>e). Hier<br />
143
s<strong>ch</strong>es Begründung seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skritik teilen würden. Nietzs<strong>ch</strong>e hat die Skepsis<br />
als S<strong>ch</strong>wert gegen <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e und bürgerli<strong>ch</strong>e Moral entwickelt und in seinem<br />
moralkritis<strong>ch</strong>en Werk sozialdarwinistis<strong>ch</strong> zugespitzt: Nur die egoistis<strong>ch</strong>e und lebensfroh<br />
instinktive Herrenmoral eines 'Übermens<strong>ch</strong>en' entspre<strong>ch</strong>e dem alles beherrs<strong>ch</strong>enden<br />
Willen zur Ma<strong>ch</strong>t und sei im Gegensatz zur Sklavenmoral das einzig Ri<strong>ch</strong>tige<br />
im mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Sollen 6 . Die neuen Werte, die Nietzs<strong>ch</strong>e im 'Übermens<strong>ch</strong>en'<br />
verkörpert sah, gehen maßgebli<strong>ch</strong> auf S<strong>ch</strong>openhauers 'Willen zur Ma<strong>ch</strong>t' zurück 7 . Sie<br />
betonen die zentrale Rolle des Ma<strong>ch</strong>twillens als einer blinden und irrationalen Kraft,<br />
mit <strong>der</strong> die Gedanken <strong>der</strong> Aufklärung wi<strong>der</strong>legt und dur<strong>ch</strong> einen grundlegenden<br />
Pessimismus und Skeptizismus ersetzt werden.<br />
Den Standpunkt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis wird nur einnehmen, wer die Su<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als von vornherein aussi<strong>ch</strong>tslos o<strong>der</strong> als endgültig ges<strong>ch</strong>eitert ansieht.<br />
Der moralis<strong>ch</strong>e Nihilismus lehnt bereits die Existenz von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ab 8 ,<br />
<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>e Relativismus behauptet ihre Unents<strong>ch</strong>eidbarkeit 9 und <strong>der</strong> Emotivismus<br />
definiert die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> hinweg, indem er normativen und axiologis<strong>ch</strong>en Sätzen<br />
einen Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit aberkennt 10 . <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition<br />
enthalten insofern eine moralis<strong>ch</strong>e Bankrotterklärung, also gerade die Antithese<br />
zur Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Ihr verbindendes Element liegt in <strong>der</strong> Ablehnung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Kategorie des Sollens. Damit können alle <strong>Theorien</strong> zur<br />
nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition gere<strong>ch</strong>net werden, die die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfrage für sinnlos<br />
o<strong>der</strong> unents<strong>ch</strong>eidbar und konsequenterweise in <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie für<br />
irrelevant halten. In ihnen wird die Frage 'Was soll i<strong>ch</strong> tun?' ohne einen Rückgriff<br />
wird demgegenüber jede <strong>der</strong> Spielarten <strong>der</strong> Vernunftskepsis in einem weiten Sinn als 'Skeptizismus'<br />
verstanden.<br />
6 Vgl. F. Nietzs<strong>ch</strong>e, Also spra<strong>ch</strong> Zarathustra (1883), Zarathustras Vorrede, Nr. 7, S. 287: »I<strong>ch</strong> will die<br />
Mens<strong>ch</strong>en den Sinn ihres Seins lehren: wel<strong>ch</strong>er ist <strong>der</strong> Übermens<strong>ch</strong>, <strong>der</strong> Blitz aus <strong>der</strong> dunklen<br />
Wolke Mens<strong>ch</strong>.«; <strong>der</strong>s., Zur Genealogie <strong>der</strong> Moral (1887), Vorrede, Nr. 6, S. 768: »So daß gerade<br />
die Moral daran s<strong>ch</strong>uld wäre, wenn eine an si<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>e hö<strong>ch</strong>ste Mä<strong>ch</strong>tigkeit und Pra<strong>ch</strong>t des Typus<br />
Mens<strong>ch</strong> niemals errei<strong>ch</strong>t würde?« (Hervorhebung bei Nietzs<strong>ch</strong>e).<br />
7 Vgl. A. S<strong>ch</strong>openhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), S. 691 (Kritik <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Philosophie):<br />
»O<strong>der</strong> sind etwa au<strong>ch</strong> die Vors<strong>ch</strong>riften, wel<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> kluge und konsequente, überlegte<br />
und weitsehende Ma<strong>ch</strong>iavelli dem Fürsten gibt, unvernünftig?« (Hervorhebung bei S<strong>ch</strong>openhauer).<br />
8 Vgl. S. Rosen, Nihilism (1969), S. 72 ff., 94 ff. (Nihilismus bei Nietzs<strong>ch</strong>e).<br />
9 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 145 (re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>er Relativismus Kelsens). Zum Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Skeptizismus<br />
i.S.v. Nihilismus einerseits und Relativismus an<strong>der</strong>erseits G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik<br />
(1983), S. 62 ff. (76 ff.).<br />
10 Dazu insbeson<strong>der</strong>e C.L. Stevenson, Ethics and Language (1944), S. 22, 81 – die Bedeutung des Satzes<br />
'This is good.' ers<strong>ch</strong>öpfe si<strong>ch</strong> in <strong>der</strong>jenigen des Satzes 'I approve of this; do so as well.' Ausdrückli<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> A.J. Ayer, Spra<strong>ch</strong>e, Wahrheit und Logik (1947), S. 135: »Wir werden uns darauf<br />
konzentrieren zu zeigen, daß Wertaussagen ... ni<strong>ch</strong>t im eigentli<strong>ch</strong>en Sinne bedeutsam, son<strong>der</strong>n<br />
einfa<strong>ch</strong> Gefühlsausdrücke sind, die we<strong>der</strong> wahr no<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong> sein können.« Als 'Emotivismus'<br />
kann generell diejenige ni<strong>ch</strong>tmetaphysis<strong>ch</strong>e, metaethis<strong>ch</strong>e Theorie gelten, die, an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> Deskriptivismus<br />
(Naturalismus, Intuitionismus), eine Fakten/Werte-Di<strong>ch</strong>otomie anerkennt, aber<br />
axiologis<strong>ch</strong>e Sätze, etwa die mit dem allgemeinsten Wertprädikat 'gut', als bloße Auffor<strong>der</strong>ungen<br />
interpretiert, weil er davon ausgeht, daß Werturteile im Gegensatz zu Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen<br />
we<strong>der</strong> wahr o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig no<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong> sein können. Vgl. zur Einteilung ni<strong>ch</strong>tmetaphysis<strong>ch</strong>er, metaethis<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Theorien</strong> H. Pauer-Stu<strong>der</strong>, Das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 195 ff.<br />
144
auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beantwortet, entwe<strong>der</strong> weil das Handeln überhaupt keiner Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
bedarf, o<strong>der</strong> weil eine inhaltli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung unmögli<strong>ch</strong> ist.<br />
Mit dem Gesagten ist klar, daß <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition keine<br />
materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sein können, denn die inhaltli<strong>ch</strong>e Festlegung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> lehnen sie gerade ab. Es handelt si<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um prozedurale<br />
<strong>Theorien</strong> im Sinne von D 4 . Zwar bleibt den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptikern mangels inhaltli<strong>ch</strong>er<br />
Anknüpfungspunkte letztli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es übrig, als auf bestimmte Verfahren<br />
zur Regelung <strong>der</strong> sozialen Ordnung zu setzen. Sie sind deshalb prozedural in<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung. Aber in <strong>der</strong> Einhaltung gedankli<strong>ch</strong>er Verfahren sehen<br />
sie keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung 11 .<br />
Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition erweisen si<strong>ch</strong> also bei genauer<br />
Betra<strong>ch</strong>tung we<strong>der</strong> als materiale no<strong>ch</strong> als prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n sie sind <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis. Man könnte, weil sie die Antithese<br />
zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> enthalten, au<strong>ch</strong> von Antitheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spre<strong>ch</strong>en.<br />
II.<br />
Theorie des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus (H. Kelsen)<br />
Man kann als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptiker zugestehen, daß die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> insofern etwas<br />
mit Re<strong>ch</strong>t zu tun hat, als sie ein Motiv für die Gestaltung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung ist,<br />
und glei<strong>ch</strong>zeitig darauf bestehen, daß es sinnlos ist, über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu spre<strong>ch</strong>en,<br />
weil vers<strong>ch</strong>iedene <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen als glei<strong>ch</strong>ermaßen gültig o<strong>der</strong> ungültig<br />
angesehen werden müssen. Dies ist die Position des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus,<br />
wie Kelsen ihn in <strong>der</strong> 'Reinen Re<strong>ch</strong>tslehre' entwickelt hat 12 . Das Re<strong>ch</strong>t ist dana<strong>ch</strong><br />
ein System von Zwangsnormen, das einer vorpositiven Re<strong>ch</strong>tfertigung ni<strong>ch</strong>t bedarf<br />
und ihrer au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t fähig ist. Eine praktis<strong>ch</strong>e Vernunft, die Begründungen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
generieren könnte, gibt es ni<strong>ch</strong>t 13 . Damit wird jede Politisierung und geisteswissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Bewertung aus <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tslehre verbannt (juristis<strong>ch</strong>er Wertrelativismus)<br />
14 . Die Sollensanordnungen re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Normen gelten ohne den Rückgriff<br />
auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 15 . Über diese re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>e Trennungsthese hinaus sagt Kelsen<br />
aber au<strong>ch</strong> Grundlegendes über die Mögli<strong>ch</strong>keit praktis<strong>ch</strong>er Vernunft: Was <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
inhaltli<strong>ch</strong> und absolut ist, entziehe si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Beurteilung; es<br />
11 Vgl. J. Habermas, Eintritt in die Postmo<strong>der</strong>ne: Nietzs<strong>ch</strong>e als Drehs<strong>ch</strong>eibe (1985), S. 119 f.: Nietzs<strong>ch</strong>e<br />
habe das »kritis<strong>ch</strong>e Vermögen <strong>der</strong> Werts<strong>ch</strong>ätzung ni<strong>ch</strong>t als ein Moment <strong>der</strong> Vernunft anerkannt,<br />
das wenigstens prozedural, im Verfahren argumentativer Begründung, mit objektivieren<strong>der</strong> Erkenntnis<br />
und moralis<strong>ch</strong>er Einsi<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> zusammenhängt.«<br />
12 H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 357, 366 ff., sowie insbeson<strong>der</strong>e S. 403 f.: »Eine<br />
positivistis<strong>ch</strong>e und das heißt realistis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tslehre behauptet ni<strong>ch</strong>t – wie immer wie<strong>der</strong> betont<br />
werden muß –, daß es keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gebe, ... Sie leugnet ni<strong>ch</strong>t, daß die Gestaltung einer positiven<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung dur<strong>ch</strong> die Vorstellung irgendeiner <strong>der</strong> vielen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen bestimmt<br />
werden kann und in <strong>der</strong> Regel tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> bestimmt wird.«<br />
13 H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 419 – Die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft sei ein logis<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t haltbarer Begriff. Ähnli<strong>ch</strong> bereits A. Ross, Kritik <strong>der</strong> sogenannten praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1933), S. 19: »Ganz glei<strong>ch</strong>, unter wel<strong>ch</strong>em Namen die praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis auftritt; [sie] ist in<br />
si<strong>ch</strong> wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>svoll. ... Das Ergebnis <strong>der</strong> Analyse: <strong>der</strong> sogenannte Begriff einer praktis<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
ist kein e<strong>ch</strong>ter Begriff«.<br />
14 Zu dieser Bezei<strong>ch</strong>nung R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 99, 117 f.<br />
15 H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1960), S. 402 ff.<br />
145
gebe allenfalls eine 'relative Lösung' des Problems <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 16 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
sind bei Kelsen aus dem Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis in denjenigen <strong>der</strong> Bekenntnis<br />
verdrängt, können also nur no<strong>ch</strong> als hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>e Gewissensents<strong>ch</strong>eidung<br />
o<strong>der</strong> als Glaube an Gott gelten 17 .<br />
Die aus Kelsens <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis resultierende »relativistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sphilosophie«<br />
18 enthält glei<strong>ch</strong>wohl eine Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von<br />
D 2 . So, wie die bewußte Abwendung von allen Religionen selbst wie<strong>der</strong> ein Bekenntnis<br />
ausdrückt, so liegt au<strong>ch</strong> in Kelsens <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis eine positive Aussage<br />
über ri<strong>ch</strong>tiges Handeln. Wer nämli<strong>ch</strong> absolute <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als irrationales Ideal ablehnt,<br />
dem bleibt in politis<strong>ch</strong>-sozialer Konsequenz das Gebot <strong>der</strong> gegenseitigen Toleranz,<br />
das Kelsen glei<strong>ch</strong>setzt mit gegenseitiger A<strong>ch</strong>tung von Freiheit 19 . Die Demokratie<br />
wird nur insoweit zur gere<strong>ch</strong>ten Staatsform, als sie Toleranz und Freiheit<br />
si<strong>ch</strong>ert 20 . Kelsens Demokratietheorie ist dabei keine prozedurale Theorie im Sinne<br />
von D 4 . Denn dazu müßte sowohl die Begründung als au<strong>ch</strong> die Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
prozedural bestimmt werden. Bei Kelsen gilt die Demokratie genau dann<br />
als gere<strong>ch</strong>te Staatsform, wenn das demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren ein vorbestimmtes Ziel<br />
individueller Freiheit verwirkli<strong>ch</strong>en kann (unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
i.S.v. D 3b ). In seiner Theorie ist also die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung prozedural.<br />
Das gilt indes ni<strong>ch</strong>t für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Insoweit ist Kelsen Skeptiker,<br />
weil seine relativistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sphilosophie eine Beurteilung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen<br />
als ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zuläßt.<br />
III. Theorie <strong>der</strong> spontanen sozialen Ordnung (F.A. Hayek)<br />
Eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> marktzentrierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie entwickelt Hayek<br />
aus seinem Modell <strong>der</strong> spontanen Ordnung in sozialen Systemen 21 . Spontane Ordnung<br />
im Sinne Hayeks ist dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net, daß si<strong>ch</strong> Individuen innerhalb vorausgesetzter,<br />
angemessener Rahmenbedingungen, die unter mögli<strong>ch</strong>st geringem<br />
Zwang (minimal coercion) universell befolgt werden, na<strong>ch</strong> ihren pragmatis<strong>ch</strong>rationalen<br />
Eigeninteressen selbständig (d.h. ohne äußere Steuerung) arrangieren.<br />
Die im Ergebnis eintretende Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tslage weise die Fähigkeit zur Selbstkorrektur<br />
und insofern Stabilität auf und könne verteiltes Wissen besser nutzen als eine<br />
direktive Organisation 22 . Modellfall ist für Hayek die liberale Marktwirts<strong>ch</strong>aft im Ge-<br />
16 H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 17: »Das Absolute im allgemeinen und absolute Werte<br />
im beson<strong>der</strong>en sind jenseits <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Vernunft, für die nur eine bedingte und in diesem<br />
Sinne relative Lösung des Problems <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als des Problems <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Verhaltens mögli<strong>ch</strong> ist.«; S. 40: »Wenn die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
uns irgend etwas lehren kann, ist es die Vergebli<strong>ch</strong>keit des Versu<strong>ch</strong>es, auf rationalem Wege eine<br />
absolut gültige Norm gere<strong>ch</strong>ten Verhaltens zu finden ...«.<br />
17 R. Walter, Hans Kelsen, die Reine Re<strong>ch</strong>tslehre und das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 231 ff.<br />
18 Begriff bei H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 40.<br />
19 Ausführli<strong>ch</strong> H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 40-43.<br />
20 H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 15 f., 41 f.<br />
21 Zur Abgrenzung von Kelsen siehe F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 48 ff.<br />
22 Vgl. die Kritik an den Begriffen <strong>der</strong> sozialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit bei F.A.<br />
Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 62 ff.; zur Ablehnung direktiver Organisation<br />
siehe R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 120.<br />
146
gensatz zur sozialistis<strong>ch</strong>en Planwirts<strong>ch</strong>aft. Sein Gedanke einer mit minimalem<br />
Zwang auskommenden spontanen Ordnung hat aber darüber hinaus – ähnli<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
'Great Society' von Adam Smith o<strong>der</strong> <strong>der</strong> 'offenen Gesells<strong>ch</strong>aft' von Karl Popper – den<br />
Charakter eines politis<strong>ch</strong>en Ideals 23 . Das Ideal versteht au<strong>ch</strong> den mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn<br />
als Fähigkeit zur Bildung spontaner Ordnung 24 . Moralis<strong>ch</strong>e Regeln<br />
seien Ergebnisse spontaner Ordnung und ni<strong>ch</strong>t Ausdruck steuern<strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft 25 . In einer ri<strong>ch</strong>tigen und gere<strong>ch</strong>ten Sozialordnung ersetze <strong>der</strong> selbstorganisierende<br />
und si<strong>ch</strong> selbst generierende (endogene) 'Organismus' die künstli<strong>ch</strong> von außen<br />
konstruierte und dur<strong>ch</strong> Direktiven geregelte (exogene) 'Organisation' 26 .<br />
Die resultierende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie kann nur eine sol<strong>ch</strong>e weitestgehen<strong>der</strong><br />
staatli<strong>ch</strong>er Abstinenz sein. Hayek wendet si<strong>ch</strong> gegen einen konstruktivistis<strong>ch</strong>en Rationalismus,<br />
<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> drei Grundannahmen <strong>ch</strong>arakterisiert werden kann 27 : Erstens<br />
geht er davon aus, daß alle sozialen Ordnungen das Ergebnis bewußter Gestaltung<br />
sind und sein sollten 28 ; zweitens nimmt er an, daß mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vernunft ausrei<strong>ch</strong>t,<br />
um alle relevanten Faktoren mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Existenz bei <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aftsgestaltung<br />
einzubeziehen 29 ; und drittens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> impliziert er, daß alle Institutionen, die<br />
ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>tbar die Errei<strong>ch</strong>ung sanktionierter Ziele för<strong>der</strong>n, abges<strong>ch</strong>afft werden sollten<br />
30 . Dem stellt Hayek gegenüber, daß es in mo<strong>der</strong>nen Gesells<strong>ch</strong>aften Einigkeit über<br />
die allgemeinen Prinzipien sozialer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> o<strong>der</strong> eine einheitli<strong>ch</strong>e Konzeption<br />
des Guten ni<strong>ch</strong>t gibt und jede autoritative Festlegung dur<strong>ch</strong> ein Individuum o<strong>der</strong> die<br />
Regierung glei<strong>ch</strong>ermaßen willkürli<strong>ch</strong> wäre, weil si<strong>ch</strong> die Frage <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ein-<br />
23 R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 120 f.<br />
24 Zu diesem Verständnis des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinns als Gespür für die s<strong>ch</strong>on vorhandene ri<strong>ch</strong>tige<br />
Ordnung, ni<strong>ch</strong>t dagegen als Vernunftbegabung, siehe F.A. Hayek, Primacy of the Abstract (1968),<br />
S. 46: »[O]ur capacity to judge actions of our own or of others as just or unjust, must be based on<br />
the possession of highly abstract rules governing our actions, although we are not aware of their<br />
existence and even less capable of articulating them in words.« Vgl. dazu <strong>der</strong>s., Confusion of Language<br />
in Political Thought (1967), S. 81: »What we call the 'sense of justice' is nothing but that capacity<br />
to act in accordance with non-articulated rules, and what is described as finding or discovering<br />
justice consists in trying to express in words the yet unarticulated rules by whi<strong>ch</strong> a particular<br />
decision is judged.«<br />
25 Hayek hat beispielsweise unter Berufung auf Charles Darwin, David Hume und Adam Smith bei<br />
glei<strong>ch</strong>zeitiger Abgrenzung vom Sozialdarwinismus (Social Darwinism) Humes' These: »The rules<br />
of morality, therefore, are not conclusions of our reason.« (D. Hume, A Treatise of Human Nature,<br />
Bd. III: Of Morals (1740), Teil I: Of Virtue and Vice in General, Abs<strong>ch</strong>nitt I: Moral Distinctions not<br />
Derived from Reason; ähnli<strong>ch</strong> <strong>der</strong>s., ebd., Teil III, Abs<strong>ch</strong>nitt I) dahin konkretisiert, daß Moralität<br />
ein unters<strong>ch</strong>eidbares Vermögen zwis<strong>ch</strong>en Instinkt und Vernunft ist: »a system of restraints on our<br />
animal instincts whi<strong>ch</strong> we sentimentally dislike and whose functions transcended our intellectual<br />
comprehension«; F.A. Hayek, Rules of Morality (1987), S. 227 ff. (235).<br />
26 F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. I (1973), S. 35 ff.<br />
27 Zur Analyse siehe R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 187.<br />
28 Kritik des 'constructivist rationalism' bei F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. I (1973), S. 5<br />
ff.<br />
29 Kritik dieser 'Cartesian tradition' bei F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. I (1973), S. 29 ff.<br />
30 Deutli<strong>ch</strong> etwa die Kritik als 'scientific error' bei F.A. Hayek, Errors of Constructivism (1970), S. 13:<br />
»Constructivists ... demand that all those grown values not visibly serving approved ends ...<br />
should be discarded to offer individuals improved prospects of a<strong>ch</strong>ieving their different and often<br />
conflicting goals.«<br />
147
zelner Verteilungsergebnisse einer vernünftigen Erkenntnis s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t entziehe 31 . In<br />
dieser Situation soll allein <strong>der</strong> liberale Markt als natürli<strong>ch</strong>es, vorpositives Faktum das<br />
prozedurale Kriterium für ri<strong>ch</strong>tiges Handeln bilden: wenige Regeln stecken den<br />
Rahmen ab, innerhalb dessen si<strong>ch</strong> ökonomis<strong>ch</strong>e und soziale Selbstkoordination abspielen<br />
kann. An die Stelle eines zielbezogenen Konsequentialismus tritt ein mittelbezogener<br />
Prozeduralismus 32 . Hayeks Skepsis ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> sowohl gegen Vernunfterkenntnisse<br />
über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Verteilungsergebnissen als au<strong>ch</strong> gegen die<br />
Vorhersehbarkeit pragmatis<strong>ch</strong>-rationalen Verhaltens. Allein das prozedurale Kriterium<br />
des Marktes soll als unverdä<strong>ch</strong>tiger Agent <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Bestand haben.<br />
Au<strong>ch</strong> Hayeks Theorie ist keine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie im Sinne von D 4 .<br />
Die Prozedur des Marktes dient allein <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
selbst ist hingegen – wie bei Kelsen – inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t begründbar 33 .<br />
IV. Theorie <strong>der</strong> sozialen Systeme (N. Luhmann)<br />
Die neuere Systemtheorie Luhmanns 34 hat die Aussagen seines Frühwerks zur prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ('Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren' 35 ) unangetastet gelassen 36 .<br />
Neue wie alte S<strong>ch</strong>riften basieren auf einer grundlegenden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis.<br />
Luhmann meint, mit Argumenten könne man dem ri<strong>ch</strong>tigen Handeln ni<strong>ch</strong>t näher<br />
kommen 37 . Er versteht praktis<strong>ch</strong>e Vernunft allein als 'operative Vernunft' 38 . Seine<br />
Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren fragt nur, ob Ents<strong>ch</strong>eidungen innerhalb gewisser Tole-<br />
31 F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 75, 96 f.; sowie S. 42 zur Unmögli<strong>ch</strong>keit<br />
einer positiven inhaltli<strong>ch</strong>en Bestimmung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Die Unzugängli<strong>ch</strong>keit für Kriterien<br />
praktis<strong>ch</strong>er Vernunft ist von R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 220 zu Re<strong>ch</strong>t<br />
als 'ethis<strong>ch</strong>er Skeptizismus' in Hayeks beson<strong>der</strong>er und moralis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wer zu verortenden Form des<br />
Liberalismus geortet worden.<br />
32 F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 110: »[T]he Great Society ... is merely<br />
means-connected and not ends-connected.« Zum Begriff des Konsequentialismus (consequentialism)<br />
siehe unten S. 152 (Charakteristika <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
33 Zuordnungsversu<strong>ch</strong>e zu kantis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> utilitaristis<strong>ch</strong>en Ansätzen sind deshalb zum S<strong>ch</strong>eitern<br />
verurteilt; vgl. C. Kukathas, Hayek and Mo<strong>der</strong>n Liberalism (1989), S. 201 – Es ließen si<strong>ch</strong> bei Hayek<br />
zwar kantis<strong>ch</strong>e, kon<strong>servat</strong>ive und utilitaristis<strong>ch</strong>e Argumente erkennen, diese würden aber ni<strong>ch</strong>t<br />
zu einer Moraltheorie verbunden.<br />
34 N. Luhmann, Das Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 332 f. – ausdrückli<strong>ch</strong>e Berufung auf das Frühwerk.<br />
Hier kann auf die spezifis<strong>ch</strong>en re<strong>ch</strong>tssoziologis<strong>ch</strong>en Aspekte <strong>der</strong> Theorie ni<strong>ch</strong>t eingegangen<br />
werden. Allein die Aussagen zur Unmögli<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung jenseits des<br />
bloßen Akzeptierens eines Handelns dur<strong>ch</strong> die Betroffenen ist im vorliegenden Zusammenhang<br />
relevant.<br />
35 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969). Vgl. zur Bestätigung: <strong>der</strong>s., <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in<br />
den Re<strong>ch</strong>tssystemen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesells<strong>ch</strong>aft (1973), S. 144 f. – Das <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterium<br />
werde neu gefaßt dur<strong>ch</strong> die For<strong>der</strong>ung na<strong>ch</strong> 'adäquater Komplexität' eines Re<strong>ch</strong>tssystems, die genau<br />
dann bestehen soll, »wenn sie mit konsistentem Ents<strong>ch</strong>eiden im System no<strong>ch</strong> vereinbar ist.«<br />
Ebenso: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft (1993), S. 225. Vgl. dazu die Kritik bei R. Dreier, Zu Luhmanns<br />
systemtheoretis<strong>ch</strong>er Neuformulierung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblems (1974), S. 194 ff.<br />
36 S. Ma<strong>ch</strong>ura, The Individual in the Shadow of Powerful Institutions (1997), S. 181.<br />
37 N. Luhmann, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in den Re<strong>ch</strong>tssystemen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesells<strong>ch</strong>aft (1973), S. 144 mit<br />
Fn. 33.<br />
38 N. Luhmann, Die Systemreferenz von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1974), S. 203.<br />
148
anzen von den Betroffenen akzeptiert werden, solange die Verfahrensregeln in <strong>der</strong><br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung eingehalten werden 39 . Der sol<strong>ch</strong>ermaßen verkürzte Legitimationsbegriff<br />
zeigt eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis, die <strong>der</strong>jenigen des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus<br />
ähnelt 40 . Luhmann will dur<strong>ch</strong> sein Legitimationsverständnis ältere naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Begründungen o<strong>der</strong> taus<strong>ch</strong>förmige Methoden <strong>der</strong> Konsensbildung ersetzen<br />
41 . Es komme für 'Legitimation' allein auf das tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Akzeptieren an, das<br />
ni<strong>ch</strong>t einmal eine subjektive Überzeugung von <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Werte, Re<strong>ch</strong>tfertigungsprinzipien,<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsprämissen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Inhalte einer Ents<strong>ch</strong>eidung voraussetzt.<br />
Auss<strong>ch</strong>laggebend für sol<strong>ch</strong>e 'Legitimation' ist allein das Hinnehmen von<br />
Einzelents<strong>ch</strong>eidungen im Sinne einer freiwilligen Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Verhaltenserwartung<br />
42 .<br />
Obwohl Luhmann von 'Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren' spri<strong>ch</strong>t und genau diejenigen<br />
institutionalisierten Verfahren in Re<strong>ch</strong>t und Politik untersu<strong>ch</strong>t, die in einer politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zentral sind 43 , handelt es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um eine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie im Sinne von D 4 . Denn es geht ni<strong>ch</strong>t um die Begründung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit Verfahren, son<strong>der</strong>n allein um die Umstrukturierung von Verhaltenserwartungen<br />
dur<strong>ch</strong> geregeltes Ges<strong>ch</strong>ehen 44 . Das Verfahren als ents<strong>ch</strong>eidungsorientiertes<br />
soziales System soll ni<strong>ch</strong>t <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> realisieren, son<strong>der</strong>n ledigli<strong>ch</strong> eine<br />
Komplexitätsreduzierung bewirken und Orientierungshilfen bieten. Ein Geri<strong>ch</strong>tsverfahren<br />
begründet beispielsweise ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> Legitimität, daß ihm dur<strong>ch</strong> die<br />
Verfahrensbedingungen eine ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Wirkung zukommt, son<strong>der</strong>n<br />
allein dadur<strong>ch</strong>, daß es ein wirksames Si<strong>ch</strong>abfinden mit <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung zu errei<strong>ch</strong>en<br />
vermag 45 . Es geht ni<strong>ch</strong>t um das Begründen <strong>der</strong> Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidung als ri<strong>ch</strong>tig<br />
und gere<strong>ch</strong>t, son<strong>der</strong>n um das Si<strong>ch</strong>abfinden mit dem Urteil. Luhmanns 'Legitimation'<br />
ist eine »Selbstlegitimation« innerhalb des autonomen Systems 'Re<strong>ch</strong>t' 46 . Die Verfahrensregeln<br />
müssen ledigli<strong>ch</strong> so ausgeri<strong>ch</strong>tet sein, daß sie Akzeptanz erzeugen<br />
können. Ob das zufällig mit Regeln zusammenfällt, die eine Ents<strong>ch</strong>eidung ri<strong>ch</strong>tig<br />
und gere<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>en, ist (jedenfalls unmittelbar) ni<strong>ch</strong>t von Belang 47 . Die Funktion<br />
des Verfahrens liegt in <strong>der</strong> Symbolbildung, in <strong>der</strong> »Ausgestaltung des Verfahrens als<br />
39 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 28.<br />
40 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 171-187 – 'sozialges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>tspositivismus'.<br />
41 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 31.<br />
42 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 30 ff., 120. Vgl. <strong>der</strong>s., <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in den<br />
Re<strong>ch</strong>tssystemen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesells<strong>ch</strong>aft (1973), S. 131, 153 – Der Geltungsgrund des positiven<br />
Re<strong>ch</strong>ts liege ni<strong>ch</strong>t länger in normimmanenten Qualitäten, son<strong>der</strong>n nur no<strong>ch</strong> in seiner Än<strong>der</strong>barkeit<br />
selbst, in seiner Negierbarkeit.<br />
43 Vgl. unten S. 334 ff. (Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts:<br />
parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung, Geri<strong>ch</strong>tsverfahren, Verwaltungsverfahren, Wahlen).<br />
44 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 37.<br />
45 Vgl. N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 109.<br />
46 Vgl. N. Luhmann, Selbstlegitimation des Staates (1981), S. 75 ff.<br />
47 Eine mögli<strong>ch</strong>e mittelbare Wirkung könnte dadur<strong>ch</strong> bestehen, daß Verfahren immerhin einen allgemeinen<br />
Glauben an das System benötigen, selbst wenn sie nur Akzeptanz erzeugen sollen. Insoweit<br />
kann man bei Luhmanns Theorie von einer bloß 'teilweisen Erklärung' <strong>der</strong> Verfahrenswirkung<br />
spre<strong>ch</strong>en; S. Ma<strong>ch</strong>ura, The Individual in the Shadow of Powerful Institution (1997), S. 188.<br />
149
eines Dramas, das ri<strong>ch</strong>tige und gere<strong>ch</strong>te Ents<strong>ch</strong>eidung symbolisiert« 48 , ohne sie tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
begründen zu müssen; es kennt we<strong>der</strong> normative no<strong>ch</strong> moralis<strong>ch</strong>e Aspekte<br />
49 . Mit Re<strong>ch</strong>t ist diese Position als »Verfahren statt Legitimation« 50 und »<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ohne <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>« bezei<strong>ch</strong>net worden 51 . Als Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>tsfindungsprozesses<br />
stieß sie in <strong>der</strong> Jurisprudenz bisher dur<strong>ch</strong>weg auf Ablehnung 52 .<br />
Hier ist eine Bewertung entbehrli<strong>ch</strong>. Es genügt die Feststellung, daß Luhmanns systemtheoretis<strong>ch</strong>es<br />
Verfahrensmodell einen an<strong>der</strong>en Legitimitätsbegriff als die normativen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien verwendet 53 und insgesamt Ausdruck eines grundlegenden<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus ist und insoweit <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
zugere<strong>ch</strong>net werden kann. Dieser <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus ist ni<strong>ch</strong>t für jede<br />
Systemtheorie des Re<strong>ch</strong>ts zwingend 54 , prägt aber jedenfalls die Theorie Luhmanns.<br />
V. Theorie <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne (K.-H. Ladeur)<br />
Die postmo<strong>der</strong>nen Gegenentwürfe zum Projekt <strong>der</strong> Aufklärung sind so vielfältig,<br />
daß si<strong>ch</strong> eine gemeinsame Charakterisierung weitgehend verbietet. Verbunden werden<br />
die <strong>Theorien</strong> aber dur<strong>ch</strong> eine allgemeine Vernunftskepsis 55 . Zur Illustration <strong>der</strong><br />
Vernunft- und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis kann hier die postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie dienen,<br />
die Ladeur auf <strong>der</strong> Grundlage facettenrei<strong>ch</strong>er postmo<strong>der</strong>ner und poststrukturalistis<strong>ch</strong>er<br />
Kritiken (J. Derrida 56 , J.-F. Lyotard 57 , P. Ricœur 58 ) in Anlehnung an autopoie-<br />
48 N. Luhmann, Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren (1969), S. 124; gegen die Sinnhaftigkeit einer sol<strong>ch</strong>en<br />
»symbolis<strong>ch</strong>en« Funktion des Verfahrens, in <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeits- und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sansprü<strong>ch</strong>e aufgegeben<br />
werden G. Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation (1979), S. 259 mit Fn. 42.<br />
49 Vgl. die Kritik bei J. S<strong>ch</strong>aper, Studien zur Theorie und Soziologie des geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Verfahrens<br />
(1985), S. 226 f.<br />
50 J. Heidorn, Legitimität und Regierbarkeit (1982), S. 118.<br />
51 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 183.<br />
52 Vor allem bei J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (1970), S. 201 ff. (207: »peinli<strong>ch</strong>e Verzerrung<br />
<strong>der</strong> Wirkli<strong>ch</strong>keit«), aber etwa au<strong>ch</strong> bei R. Zippelius, Legitimation im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat<br />
(1981), S. 87 ff.; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> offenen Gesells<strong>ch</strong>aft (1996), S. 87<br />
ff.; R. Dreier, Zu Luhmanns systemtheoretis<strong>ch</strong>er Neuformulierung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblems<br />
(1974), S. 194 ff. (aus Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie).<br />
53 Vgl. R. Zippelius, Legitimation im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat (1981), S. 84 ff. (87) – Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
<strong>der</strong> 'Legitimation' und 'Legitimität' in den normativen Wissens<strong>ch</strong>aften von <strong>der</strong>jenigen<br />
in <strong>der</strong> Soziologie.<br />
54 Z.B. vertritt G. Teubner, Re<strong>ch</strong>t als autopoietis<strong>ch</strong>es System (1989) eine systemtheoretis<strong>ch</strong>e Position,<br />
die ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong>ermaßen gere<strong>ch</strong>tigkeitsskeptis<strong>ch</strong> ist wie diejenige Luhmanns; vgl. G. Teubner, Alter<br />
Pars Audiatur (1996), S. 218: »Eine Re<strong>ch</strong>tsordnung stellt si<strong>ch</strong> in dem Ausmaße <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, als sie ni<strong>ch</strong>t nur die interne Konsistenz des Re<strong>ch</strong>ts erwirkli<strong>ch</strong>te, son<strong>der</strong>n<br />
zuglei<strong>ch</strong> die Eigenrationalität <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en beteiligten Diskurse re<strong>ch</strong>tsintern adäquat zu rekonstruieren<br />
versu<strong>ch</strong>te.«<br />
55 W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Grenzgötter <strong>der</strong> Moral (1997), S. 41 – postmo<strong>der</strong>ne <strong>Theorien</strong> als »Feld von letztli<strong>ch</strong><br />
irrationalistis<strong>ch</strong>en Ethikbegründungen«; vgl. außerdem <strong>der</strong>s., Was bleibt na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Dekonstruktion?<br />
(1998), S. 143 f., 157 ff. Zur Kontingenz aller <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen etwa R. Rorty,<br />
Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989), S. 12 ff.<br />
56 Vgl. etwa J. Derrida, Force de loi (1990), S. 971 – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sei selbst für die, die an sie glauben,<br />
ni<strong>ch</strong>t erkennbar; S. 947 – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als eine Erfahrung, die ni<strong>ch</strong>t erfahrbar sei. Vgl. dazu<br />
S.K. White, Political Theory and Postmo<strong>der</strong>nism (1991), S. 115 f.<br />
150
tis<strong>ch</strong>e (H.R. Maturana/F.J. Varela 59 ), systemtheoretis<strong>ch</strong>e (N. Luhmann 60 , G. Teubner 61 )<br />
und ordoliberale (F.A. Hayek 62 ) <strong>Theorien</strong> entwickelt hat.<br />
Na<strong>ch</strong> Ladeur wird die Idee einer 'Universalität <strong>der</strong> Vernunft' dur<strong>ch</strong> die Vorstellung<br />
von einer Vielfalt gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Beziehungsnetzwerke ersetzt 63 . Die »auf<br />
dem klassis<strong>ch</strong>en Subjekt aufbauende Vernunftordnung« geht in dem neuen Chaos<br />
<strong>der</strong> Systemvielfalt unter 64 . Es gibt keine gemeinsamen normativen Projekte mehr,<br />
son<strong>der</strong>n nur no<strong>ch</strong> ein zwis<strong>ch</strong>en den Individuen 'zerstreutes Orientierungswissen' 65 ,<br />
das Ausdruck einer 'transversalen, relationalen Vernunft' sei 66 . Aus dem Deutungsmuster<br />
<strong>der</strong> 'Autopoiesis sozialer Systeme' (N. Luhmann) folge, daß au<strong>ch</strong> das Re<strong>ch</strong>tssystem<br />
seine Selbstorganisation ni<strong>ch</strong>t unter Rückgriff auf eine 'universelle Vernunft'<br />
betreibe 67 , son<strong>der</strong>n vielmehr aus einer 'Selbstinterpretation' heraus bestehe, die einen<br />
kreativen, experimentellen und generativen Charakter habe 68 .<br />
Die postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie Ladeurs ist keine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, au<strong>ch</strong> keine<br />
prozedurale. Ladeur betont selbst, daß die von ihm untersu<strong>ch</strong>te Prozeduralisie-<br />
57 Vgl. vor allem das für den philosophis<strong>ch</strong>en Postmo<strong>der</strong>nismus geradezu programmatis<strong>ch</strong>e Werk<br />
von J.-F. Lyotard, La Condition postmo<strong>der</strong>ne (1979). Abs<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>end dazu <strong>der</strong>s., Die Aufklärung<br />
(1988), S. 103 ff. – Vernunft solle ni<strong>ch</strong>t geleugnet, son<strong>der</strong>n nur in den Plural gesetzt werden.<br />
Grundlegend vernunftkritis<strong>ch</strong> bereits <strong>der</strong>s., Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen (1979), S. 187 f. – Beliebigkeit<br />
<strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keitsregeln ('Metapräskriptiven') und <strong>der</strong> Legitimationserzählungen.<br />
Zur Philosophie Lyotards: W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Lyotard zur Einführung (1988), S. 7 ff., 75 ff.; <strong>der</strong>s.,<br />
Grenzgötter <strong>der</strong> Moral (1997), S. 465 ff. – pluralistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; W. Wels<strong>ch</strong>, Unsere postmo<strong>der</strong>ne<br />
Mo<strong>der</strong>ne (1987), S. 31 ff., 169 ff., 227 ff. – Genealogie, Programmatik, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption;<br />
<strong>der</strong>s., Vernunft (1995), S. 305 ff. – Vernunftverwirrung.<br />
58 Vgl. P. Ricœur, Soi-même comme un autre (1990), S. 230, 274; allgemein zum postmo<strong>der</strong>nen<br />
Re<strong>ch</strong>tsverständnis: T.R. Kearns/A. Sarat, Legal Justice and Injustice (1996), S. 6 f.<br />
59 Vgl. dazu H.R. Maturana/F.J. Varela, Der Baum <strong>der</strong> Erkenntnis (1984), S. 7 ff. (9) – Versu<strong>ch</strong>, lebende<br />
Systeme als Prozeß zu verstehen; S. 227 f. – Spra<strong>ch</strong>e als Selbstbes<strong>ch</strong>reibung; S. 258 f. – es gebe keinen<br />
festen Bezugspunkt für unsere Bes<strong>ch</strong>reibung, son<strong>der</strong>n nur »Me<strong>ch</strong>anismen <strong>der</strong> Erzeugung unserer<br />
selbst als Bes<strong>ch</strong>reiber und Beoba<strong>ch</strong>ter«.<br />
60 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 107 ff. Dazu oben S. 148 (Theorie <strong>der</strong> sozialen<br />
Systeme).<br />
61 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 112 – Bezugnahme auf den Gedanken selbstreferentieller<br />
Systemkomponenten (Struktur, Prozeß, Identität u.v.m.) bei G. Teubner, Re<strong>ch</strong>t als autopoietis<strong>ch</strong>es<br />
System (1987), S. 44 f., 49.<br />
62 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 194, 202. Dazu oben S. 146 (Theorie <strong>der</strong> spontanen<br />
sozialen Ordnung).<br />
63 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 83, sowie S. 167 – Pluralität <strong>der</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
(und natürli<strong>ch</strong>en) Umwelten.<br />
64 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 85, sowie S. 105 – 'Chaos' als Generator neuer<br />
Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Nutzung verteilten Wissens.<br />
65 Vgl. K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 95 – Dort in Abgrenzung von <strong>der</strong> »Habermass<strong>ch</strong>en<br />
Lesart <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität«, die Autonomie »normativ als gemeinsames<br />
Projekt« verstehe und damit den wahren Charakter <strong>der</strong> Kollektivität verfehle.<br />
66 Vgl. K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 107 – neuer Vernunftbegriff; S. 103 – eigenständige,<br />
'relationale' Logik <strong>der</strong> (Selbst-)Beoba<strong>ch</strong>tung.<br />
67 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 110.<br />
68 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 168 – Unter Abgrenzung gegenüber Teubners<br />
Vorstellung eines 'internen Steuerungsprogramms'.<br />
151
ung »keine Annäherung an die Wahrheit und Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts« bedeutet 69 .<br />
Die Kommunikation wird ni<strong>ch</strong>t als Verfahren zur Erkenntnis <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
son<strong>der</strong>n auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> als eine unzielgeri<strong>ch</strong>tete 'Cocktail-Party' mit Zufallsergebnissen<br />
verstanden 70 .<br />
VI. Ergebnisse<br />
Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition verbindet eine grundlegende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis.<br />
Ihr Credo ist, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t begründet werden<br />
kann. Soweit die <strong>Theorien</strong> auf Verfahren setzen, um Ents<strong>ch</strong>eidungen über<br />
Handlungsweisen herbeizuführen, wird diesen Verfahren keine gere<strong>ch</strong>tigkeitsbegründende<br />
Wirkung zugeordnet; diese sind vielmehr bloß Mittel zur Errei<strong>ch</strong>ung<br />
eines ni<strong>ch</strong>tprozedural bestimmten Zwecks (Toleranz bei Kelsen, spontane soziale<br />
Ordnung bei Hayek 71 und Ladeur 72 , Akzeptanz bei Luhmann).<br />
B. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition (Konzeption des Guten)<br />
I. Charakteristika<br />
Der politis<strong>ch</strong>en Philosophie in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Tradition ist eigentümli<strong>ch</strong>, daß sie<br />
eine bestimmte Konzeption des guten Lebens für allgemeinverbindli<strong>ch</strong> hält und die<br />
praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit dana<strong>ch</strong> bestimmt, ob ein Handeln das vorgegebene Ziel des<br />
guten Lebens (teleologis<strong>ch</strong>) för<strong>der</strong>n kann 73 . Das Handeln ist also ni<strong>ch</strong>t um seiner<br />
selbst willen gesollt und deshalb (deontologis<strong>ch</strong>) ri<strong>ch</strong>tig, son<strong>der</strong>n Ri<strong>ch</strong>tigkeit definiert<br />
si<strong>ch</strong> (axiologis<strong>ch</strong>) in Abhängigkeit von dem als wertvoll erkannten 'Guten' 74 .<br />
69 K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 212.<br />
70 Vgl. K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 93 – Bezugnahme auf Varela.<br />
71 Vgl. S. Brittan, Role and Limits of Government (1983), S. 53 – Ni<strong>ch</strong>t nur das ordoliberale Verfahrensmodell,<br />
son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> die individuelle Freiheit, die zu dessen Funktionieren gewährleistet<br />
werden müsse, sei bei Hayek instrumentell.<br />
72 Das gilt jedenfalls für das Verständnis des Marktes als eines 'Entdeckungsverfahrens'; vgl.<br />
K.-H. Ladeur, Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 194, 202 – Bezugnahme auf Hayek.<br />
73 So z.B. A. MacIntyre, Whose Justice? Whi<strong>ch</strong> Rationality? (1988), S. 2: »[T]o be practically rational ...<br />
is to act in su<strong>ch</strong> a way as to a<strong>ch</strong>ieve the ultimate and true good of human beings«. Vgl. H. S<strong>ch</strong>nädelba<strong>ch</strong>,<br />
Was ist Neoaristotelismus? (1986), S. 51 (Realisierung des Guten in <strong>der</strong> Welt). Zur teleologis<strong>ch</strong>en<br />
Orientierung in <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Ethik im Gegensatz zur deontologis<strong>ch</strong>en Orientierung<br />
in <strong>der</strong> Diskursethik siehe K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik<br />
(1992), S. 36.<br />
74 Vgl. Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, I 1 (1094a 1-3), wona<strong>ch</strong> das Gute das ist, na<strong>ch</strong> dem alles<br />
Handeln strebt. Zum Gegensatz von teleologis<strong>ch</strong>-axiologis<strong>ch</strong>en und deontologis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong><br />
vgl. D. Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism (1965), S. vii: »Teleologists claim that the rightness<br />
of acts depends solely ... upon their contribution towards intrinsically good states of affairs. ... Deontologists<br />
deny this; they maintain that ... right acts, regardless of their good or bad effects, must<br />
conform to moral rules.« (Hervorhebung bei Lyons); P. Ricœur, Soi-même comme un autre (1990),<br />
S. 230: »Est-ce bien encore du plan éthique et téléologique, et non moral et déontologique, que relève<br />
le sens de la justice?«<br />
152
Dur<strong>ch</strong> die inhaltli<strong>ch</strong>en Ziele werden <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition insgesamt<br />
zu substantiellen <strong>Theorien</strong>, die si<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung grundlegend<br />
von den prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
unters<strong>ch</strong>eiden 75 . Von den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
grenzen sie si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> ab, daß sie praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit überhaupt für begründbar<br />
halten und insofern keinem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus huldigen.<br />
Was hier als aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition bezei<strong>ch</strong>net ist, wird in <strong>der</strong> englis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen<br />
Literatur gelegentli<strong>ch</strong> mit dem Begriff des Konsequentialismus (consequentialism)<br />
erfaßt. Der Begriff steht indes in uneinheitli<strong>ch</strong>em Gebrau<strong>ch</strong>. In <strong>der</strong> Regel<br />
wird damit die Zielorientiertheit des Utilitarismus verallgemeinert 76 . Dadur<strong>ch</strong> ist<br />
letztli<strong>ch</strong>, wie hier, eine Verbindungslinie zwis<strong>ch</strong>en Utilitarismus und Kommunitarismus<br />
hergestellt und <strong>der</strong>en Ähnli<strong>ch</strong>keit zu ontologis<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>tslehren aufgezeigt 77 .<br />
Konsequentialismus in diesem Sinn umfaßt jede teleologis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> axiologis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (im Gegensatz zu deontologis<strong>ch</strong>en Konzeptionen),<br />
fragt also immer na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung einer kollektiven Konzeption des Guten,<br />
beim Paradebeispiel des Utilitarismus na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> kollektiven Nutzenmaximierung 78 .<br />
Konsequentialismus ist ni<strong>ch</strong>t auf Utilitarismus bes<strong>ch</strong>ränkt 79 und erfor<strong>der</strong>t au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t,<br />
daß je<strong>der</strong> erdenkli<strong>ch</strong>e Lebensberei<strong>ch</strong> einem Primat des Gemeinwohls untersteht 80 ;<br />
man kann eine politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
75 Dazu oben S. 139 ff. (Grenzziehung zwis<strong>ch</strong>en materialen und prozeduralen <strong>Theorien</strong>).<br />
76 Vgl. J.L. Mackie, Can There Be a Right-Based Moral Theory (1978), S. 168: »We are familiar with<br />
goal-based or consequentialist moral views and with duty-based or deontological ones«; D. Parfit,<br />
Reasons and Persons (1984), S. 24: »[There] are different versions of Consequentialism, or C. C's central<br />
claim is (C1) There is one ultimate moral aim: that outcomes be as good as possible.«; S. S<strong>ch</strong>effler,<br />
Rejection of Consequentialism (1994), S. 167: »Consequentialists hold that the right act in any<br />
situation is the one that will produce the best overall outcome«. S<strong>ch</strong>effler versteht 'consequentialism'<br />
an an<strong>der</strong>er Stelle allerdings enger als in dieser Definition; vgl. ebd., S. 2. Außerdem S. Kagan,<br />
Normative Ethics (1998), S. 59 ff. (63) – universalistis<strong>ch</strong>er und individualistis<strong>ch</strong>er Konsequentialismus.<br />
77 Zur Parallele zwis<strong>ch</strong>en Utilitarismus und ontologis<strong>ch</strong>er Naturre<strong>ch</strong>tslehre vgl. etwa B. Barry, Justice<br />
as Impartiality (1995), S. 76: »Although utilitarianism and Thomism differ substantively at almost<br />
every point, they agree that justice and morality are cut from the same cloth. ... In both cases,<br />
we start with a conception of the good that is to be a<strong>ch</strong>ieved, as far as possible. We then assess potential<br />
rules of justice by their conduciveness to the a<strong>ch</strong>ievement of that good. Principles of justice<br />
have a purely <strong>der</strong>ivative status: they function as guides to the selection of appropriate rules.«<br />
78 S. Kagan, Normative Ethics (1998), S. 63 – universalistis<strong>ch</strong>er und individualistis<strong>ch</strong>er Konsequentialismus:<br />
»A common proposal is to call all su<strong>ch</strong> theories teleological.« (Hervorhebung bei Kagan).<br />
Zum Gegensatz von teleologis<strong>ch</strong>en/axiologis<strong>ch</strong>en zu deontologis<strong>ch</strong>en Konzeptionen D. Lyons,<br />
Forms and Limits of Utilitarianism (1965), S. vii; S. S<strong>ch</strong>effler, Rejection of Consequentialism (1994),<br />
S. 2: »In contrast to consequentialist conseptions, standard deontological views maintain that it is<br />
sometimes wrong to do what will produce the best available outcome overall.« Vgl. unten S. 167<br />
ff. (hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition), S. 198 ff. (kantis<strong>ch</strong>e Grundposition).<br />
79 An<strong>der</strong>s S. S<strong>ch</strong>effler, Rejection of Consequentialism (1994), S. 2 ff. – Konsequentialismus sei nur<br />
Handlungskonsequentialismus im Sinne des Handlungsutilitarismus (act utilitarianism).<br />
80 So aber das an<strong>der</strong>e Begriffsverständnis bei B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 23: »There is,<br />
however, a system according to whi<strong>ch</strong> duty extends to all areas of life, even including the <strong>ch</strong>oice<br />
of friends. This is consequentialism, un<strong>der</strong>stood here as the doctrine that everyone has a duty to<br />
perform at ea<strong>ch</strong> moment the action that will, in his estimation, maximize the total amount of good<br />
in the universe.«<br />
153
entwerfen, ohne den Kreis <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten Handlungen auf private Lebensberei<strong>ch</strong>e<br />
(z.B. 'gute' Wahl von Freunden, 'gute' Erziehung von Kin<strong>der</strong>n) zu erstrecken. Abzugrenzen<br />
ist <strong>der</strong> Konsequentialismus dagegen von individueller Nutzenmaximierung,<br />
denn soweit Eigennutz über Gemeinnutz gestellt wird, ist das ein Charakteristikum<br />
<strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Tradition 81 .<br />
II.<br />
<strong>Theorien</strong> des (ontologis<strong>ch</strong>en) Naturre<strong>ch</strong>ts<br />
Naturre<strong>ch</strong>tslehren wurden bereits dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net, daß sie ein Bekenntnis<br />
zu einer bestimmten Konzeption des Guten enthalten 82 . Damit sind sie glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition. Für sie ist genau das<br />
Handeln ri<strong>ch</strong>tig und gere<strong>ch</strong>t, das die vorgefaßte Konzeption des Guten zu för<strong>der</strong>n<br />
vermag. Am deutli<strong>ch</strong>sten ist dies bei den Religionslehren 83 . Ihr <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnis<br />
orientiert si<strong>ch</strong> an Glaubenszielen, die ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Erkenntnis zugängli<strong>ch</strong> sind,<br />
son<strong>der</strong>n nur dur<strong>ch</strong> ein Bekenntnis subjektiv verbindli<strong>ch</strong> werden können. Aber ni<strong>ch</strong>t<br />
nur Religionslehren weisen diesen Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Bekenntnis und Zielorientierung<br />
auf. Au<strong>ch</strong> die Marxistis<strong>ch</strong>-Leninistis<strong>ch</strong>e Ideologie mit ihrem kommunistis<strong>ch</strong>en<br />
Gesells<strong>ch</strong>aftsideal enthält einen Absolutheitsanspru<strong>ch</strong> ihrer Ziele, <strong>der</strong> mit<br />
Re<strong>ch</strong>t als Parallele zu den Religionslehren identifiziert wurde 84 .<br />
III. <strong>Theorien</strong> des Utilitarismus<br />
Utilitarismus wählt im Gegensatz zu Naturre<strong>ch</strong>tslehren ein formales Kriterium <strong>der</strong><br />
Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit als vorgegebenen, absoluten Maßstab: das größte Glück <strong>der</strong><br />
größten Zahl. Die Beson<strong>der</strong>heit des Utilitarismus liegt ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> Nutzenmaximie-<br />
81 Dazu unten S. 167 ff. (hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition). Eindringli<strong>ch</strong> zur Abgrenzung utilitaristis<strong>ch</strong>er<br />
von sowohl hobbesianis<strong>ch</strong>er als au<strong>ch</strong> kantis<strong>ch</strong>er Normbegründung R.B. Brandt, The Concept<br />
of Rationality in Ethical and Political Theory (1977), S. 272 ff.<br />
82 Dazu, daß Naturre<strong>ch</strong>tslehren hier immer als sol<strong>ch</strong>e im engeren Sinn verstanden sind, also als ontologis<strong>ch</strong>e<br />
Naturre<strong>ch</strong>tslehren, siehe oben S. 89 (Naturre<strong>ch</strong>ts- und Vernunftre<strong>ch</strong>tslehren).<br />
83 Zur Ähnli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en und theologis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung vgl. L. Müller,<br />
Islam und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 102: »Wir haben festgestellt, daß die Funktion sowohl <strong>der</strong><br />
naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> theologis<strong>ch</strong>en Begründung von Re<strong>ch</strong>t ein- und dieselbe ist, nämli<strong>ch</strong><br />
die, bestimmte Re<strong>ch</strong>tsinhalte auf einer metare<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ebene zu verwurzeln. Dadur<strong>ch</strong> sollen sie<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Disposition entzogen werden. Jedenfalls insoweit weisen naturre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e und theologis<strong>ch</strong>e<br />
Begründungsversu<strong>ch</strong>e keine Unters<strong>ch</strong>iede auf«.<br />
84 J.A. S<strong>ch</strong>umpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), S. 19: »In einer wi<strong>ch</strong>tigen Hinsi<strong>ch</strong>t<br />
ist <strong>der</strong> Marxismus Religion. Dem Gläubigen bietet er erstens ein System von letzten Zielen,<br />
die den Sinn des Leben[s] enthalten und absolute Maßstäbe sind, na<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>en Ereignisse und<br />
Taten beurteilt werden können; und zweitens bietet er si<strong>ch</strong> als Führer zu jenen Zielen, was glei<strong>ch</strong>bedeutend<br />
ist mit einem Erlösungsplan und mit <strong>der</strong> Aufdeckung des Übels, von dem die<br />
Mens<strong>ch</strong>heit o<strong>der</strong> ein auserwählter Teil <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>heit erlöst werden soll.« (Hervorhebung bei<br />
S<strong>ch</strong>umpeter). Als ni<strong>ch</strong>tmarxistis<strong>ch</strong>er Sozialist konnte S<strong>ch</strong>umpeter diese Aussage ni<strong>ch</strong>t unparteiis<strong>ch</strong><br />
treffen; inhaltli<strong>ch</strong> zutreffend ist sie glei<strong>ch</strong>wohl. Parallelisierung von religiösem Naturre<strong>ch</strong>t und<br />
Marxismus au<strong>ch</strong> bei H. Klenner, Über die vier Arten von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien gegenwärtiger<br />
Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1995), S. 140 f.<br />
154
ung – insoweit gibt es eine Übereinstimmung mit den <strong>Theorien</strong> zur Optimierung<br />
des individuellen Nutzens in <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition –, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
darin, daß <strong>der</strong> größte Gesamtnutzen zu einem kollektiven Ziel erklärt wird. Dur<strong>ch</strong><br />
dieses Ziel, und sei es bloß formal, gehören utilitaristis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> zur aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition 85 .<br />
S<strong>ch</strong>on unter den Klassikern des Utilitarismus (J. Bentham, J.S. Mill, H. Sidgwick) 86<br />
ist das Spektrum <strong>der</strong> utilitaristis<strong>ch</strong>en Einzelansätze so breit, daß eine Gesamtdarstellung<br />
o<strong>der</strong> gar Gesamtwi<strong>der</strong>legung wenig aussi<strong>ch</strong>tsrei<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint 87 . Bereits mit dem<br />
Übergang von Bentham auf seinen S<strong>ch</strong>üler Mill beginnt ein Utilitarismus <strong>der</strong> zweiten<br />
Generation 88 . Die zunehmende Ausdifferenzierung utilitaristis<strong>ch</strong>en Gedankenguts<br />
ma<strong>ch</strong>t jede vereinheitli<strong>ch</strong>ende Darstellung spätestens seit <strong>der</strong> Überwindung des<br />
Handlungsutilitarismus (act utilitarianism) dur<strong>ch</strong> den Regelutilitarismus (rule utilitarianism)<br />
unmögli<strong>ch</strong> 89 . Es seien deshalb als Beispiele nur zwei aktuelle Modelle <strong>der</strong><br />
utilitaristis<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en Philosophie erwähnt.<br />
85 Vgl. D. Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism (1965), S. vii – Utilitarismus als teleologis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit; beson<strong>der</strong>s deutli<strong>ch</strong> P. Ricœur, Soi-même comme un autre (1990), S. 230:<br />
»tradition téléologique, incarnée par l'utilitarisme«; sowie S. 267: »L'utilitarisme est en effet une<br />
doctrine téléologique, dans la mesure où il définit la justice par la maximisation du bien pour le<br />
plus grand nombre.«<br />
86 Differenzierend zu Hauptvertretern des Utilitarismus D. Lyons, In the Interest of the Governed<br />
(1973), S. 21 ff. – bereits Mill habe Utilitarismus universell verstanden und damit an<strong>der</strong>s als Bentham.<br />
Vgl. au<strong>ch</strong> R.B. Brandt, Ethical Theory (1959), S. 396 – Grundlagen des Regelutilitarismus<br />
s<strong>ch</strong>on bei Mill, ni<strong>ch</strong>t aber bei Bentham.<br />
87 Denno<strong>ch</strong> gibt es Versu<strong>ch</strong>e einer allgemeinen Wi<strong>der</strong>legung; vgl. etwa J. Rawls, Theory of Justice<br />
(1971), § 28, S. 167 ff. (difficulties with average utility); D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 24<br />
ff. (how consequentialism is indirectly self-defeating). Differenzierter S. S<strong>ch</strong>effler, Rejection of<br />
Consequentialism (1994), S. 20 (Formulierung einer 'hybriden' Theorie): »More specifically, I believe<br />
that a plausible agent-centred prerogative would allow ea<strong>ch</strong> agent to assign a certain proportionately<br />
greater weight to his own interests than to the interests of other people. I would then<br />
allow the agent to promote the non-optimal outcome of his <strong>ch</strong>oosing«. Dazu unten S. 269 (Kritik<br />
des Utilitarismus).<br />
88 Zu den Unters<strong>ch</strong>ieden, s<strong>ch</strong>on den Vertretern des klassis<strong>ch</strong>en Utilitarismus, siehe oben Fn. 86, sowie<br />
W. Lasars, Die klassis<strong>ch</strong>-utilitaristis<strong>ch</strong>e Begründung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1982), S. 24 ff. Zu den<br />
Entwicklungslinien <strong>der</strong> utilitaristis<strong>ch</strong>en Ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te von Bentham über Mill und Sidgwick bis<br />
zu Moore siehe A. Ross, Kritik <strong>der</strong> sogenannten praktis<strong>ch</strong>en Erkenntnis (1933), S. 119 ff.<br />
89 Unters<strong>ch</strong>eidung mit diesen Begriffen erstmals bei R.B. Brandt, Ethical Theory (1959), S. 380 ff., 413<br />
ff. (380): »[H]edonistic utilitarianism and ideal utilitarianism. These two forms of universal result<br />
theory ... we shall group together unter the title of 'act-utilitarianism.'« Sowie ebd., S. 413: »[T]he<br />
thesis of rule utilitarianism is, roughly, that an act is a persons's duty if and only i[f] it is required<br />
by the ideal rules for his community – those the conscientious following of whi<strong>ch</strong> would have<br />
maximum net expectable utility.« Zur genauen Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Formen<br />
des Handlungs- und Regelutilitarismus D. Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism (1965), S. 8<br />
ff., 121 ff. (9): »Roughly speaking ..., Act-Utilitarianism is the theory that one should always perform<br />
acts the effects of whi<strong>ch</strong> would be at least as good as those of any alternative. These are right<br />
actions; all others are wrong. It is one's duty, or over-all obligation, to perform right acts only; and<br />
thus if one act has the best consequences, that act is the thing to be done.« (Hervorhebung bei Lyons).<br />
155
Zu den gegenwärtig vertretenen <strong>Theorien</strong>, die einen Utilitarismus um normative<br />
Bes<strong>ch</strong>ränkungen ergänzen, gehört <strong>der</strong> '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sutilitarismus' von Trapp 90 .<br />
Au<strong>ch</strong> hier werden die Präferenzen <strong>der</strong> Einzelnen in die Gesamtheit <strong>der</strong> individuellen<br />
Nutzenfunktionen eingere<strong>ch</strong>net 91 . In <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung über die Handlungsweise<br />
mit dem größten Gesamtnutzen sollen dabei au<strong>ch</strong> moralis<strong>ch</strong>e Präferenzen<br />
eingehen, also etwa die individuelle Befriedigung, die eine Person daraus zieht, daß<br />
sie si<strong>ch</strong> wohltätig verhält 92 . Zu einem normativ angerei<strong>ch</strong>erten '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sutilitarismus'<br />
wird das Kalkül spätestens dadur<strong>ch</strong>, daß bestimmte Präferenzen, etwa Sadismus,<br />
als illegitim ausges<strong>ch</strong>lossen werden 93 .<br />
Der ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e 94 Utilitarismus Harsanyis versu<strong>ch</strong>t, zwei Grundprobleme<br />
des klassis<strong>ch</strong>en Utilitarismus zu überwinden: den Einzelaktbezug und die<br />
interpersonalen Nutzenverglei<strong>ch</strong>e. Als Regelutilitarismus anerkennt die Theorie den<br />
einzelaktunabhängigen Nutzen, den Personen einem System von individuellen Re<strong>ch</strong>ten<br />
und Pfli<strong>ch</strong>ten zuweisen 95 . Es soll ihnen dadur<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong> sein, moralis<strong>ch</strong>e Prinzipien<br />
aus Eigennutz anzuerkennen (moral commitment), selbst wenn sie im einzelnen<br />
Anwendungsfall einmal ni<strong>ch</strong>t nützli<strong>ch</strong> sein sollten. Das Nutzenkalkül will Harsanyi<br />
plausibler ma<strong>ch</strong>en, indem er (in Anknüpfung an die kardinalen Nutzenfunktionen<br />
<strong>der</strong> Spieltheorie) die Interaktionspartner den Nutzen an<strong>der</strong>er aus <strong>der</strong>en Si<strong>ch</strong>t (ni<strong>ch</strong>t<br />
aus <strong>der</strong> eigenen) eins<strong>ch</strong>ätzen läßt 96 . Interpersonale Nutzenverglei<strong>ch</strong>e werden so<br />
dur<strong>ch</strong> ein Verfahren ersetzt, das dem Abglei<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Handlungsstrategien<br />
in <strong>der</strong> Spieltheorie entspri<strong>ch</strong>t. Für eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption ist es dann ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr nötig, einen interpersonal gültigen Maßstab für Nutzen festzulegen 97 .<br />
Beide Beispiele zeigen, wie <strong>der</strong> klassis<strong>ch</strong>e Utilitarismus zu einer mo<strong>der</strong>nen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
weiterentwickelt werden kann. Do<strong>ch</strong> bleiben sie dabei stets dem<br />
Ziel verhaftet, daß die Legitimation im größten Glück <strong>der</strong> größten Zahl liegt. Dieses<br />
90 R. Trapp, 'Ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>er' Utilitarismus (1988), S. 297 ff.<br />
91 R. Trapp, 'Ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>er' Utilitarismus (1988), S. 292 ff. – individuelle Interessen.<br />
92 Vgl. R. Trapp, 'Ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>er' Utilitarismus (1988), S. 311 – summum bonorum; S. 323 –<br />
angenommene Präferenzen.<br />
93 R. Trapp, 'Ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>er' Utilitarismus (1988), S. 323 ff. (324) – »ethis<strong>ch</strong>er Filter«; <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sutilitarismus<br />
sei »axiologis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t autark«.<br />
94 Vgl. unten S. 174 – Harsanyis Verbindung von Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie und Utilitarismus impliziert<br />
ni<strong>ch</strong>t, daß Ents<strong>ch</strong>eidungstheoretiker generell zum Utilitarismus neigen. Ohne moraltheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Zusätze bleiben sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> vielmehr Mikrotheorien, die allenfalls den Makrotheorien des<br />
neohobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertrags zuzuordnen sind. Harsanyi ist in seinen moralis<strong>ch</strong>en Theorieerweiterungen<br />
unter den Ents<strong>ch</strong>eidungstheoretikern eine Ausnahme; vgl. D. Gauthier, On the Refutation<br />
of Utilitarianism (1982), S. 144 ff. – utilitaristis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> von Bentham bis Harsanyi seien<br />
inkompatibel mit <strong>der</strong> Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft in Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien.<br />
95 J.C. Harsanyi, Morality and the Theory of Rational Behaviour (1977), S. 56 ff.; <strong>der</strong>s., Rule Utilitarianism,<br />
Rights, Obligations and the Theory of Rational Behavior (1980), S. 115: »The most important<br />
advantage that rule utilitarianism as an ethical theory has over act utilitarianism lies in ist ability<br />
to give full recognition to the moral and social importance of individual rights and personal obligations.«<br />
(Hervorhebung bei Harsanyi).<br />
96 Vgl. J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 600: »Consequently, vNM [von Neumann-Morgenstern]<br />
utility functions have a completely legitimate place in ethics because they express the subjective<br />
importance people atta<strong>ch</strong> to their vaious needs and interests.«<br />
97 Vgl. J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 600 – Beispiel zum 'concept of justice'.<br />
156
Ziel ist ni<strong>ch</strong>t mehr dur<strong>ch</strong> Verfahren begründet. Deshalb handelt es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, son<strong>der</strong>n um sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition.<br />
IV. <strong>Theorien</strong> des Kommunitarismus<br />
Unter den gegenwärtig diskutierten <strong>Theorien</strong> mit aristotelis<strong>ch</strong>er Grundposition sind<br />
vor allem diejenigen des Kommunitarismus (communitarianism) herauszustellen 98 ,<br />
<strong>der</strong>en Kernaussage die Gemeins<strong>ch</strong>aftsgebundenheit des Individuums ist: Das Individuum<br />
findet seinen Lebenssinn und seine Würde vollständig erst dur<strong>ch</strong> die Einbindung<br />
in die Gemeins<strong>ch</strong>aft 99 . Dadur<strong>ch</strong> grenzt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Kommunitarismus von allen<br />
individualistis<strong>ch</strong>en Strömungen ab, die ihren Ausdruck vor allem in Vertragstheorien<br />
gefunden haben 100 . Denn aristotelis<strong>ch</strong>e Tugendhaftigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong><br />
laut kommunitaristis<strong>ch</strong>er Deutung ni<strong>ch</strong>t allein na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> je eigenen (subjektiven)<br />
Konzeption des Guten, son<strong>der</strong>n dana<strong>ch</strong>, was für den einzelnen (objektiv) »als<br />
Mens<strong>ch</strong> wirkli<strong>ch</strong> gut ist« 101 . Damit verbunden ist eine tendenziell positive Ans<strong>ch</strong>auung<br />
von sozialer Ordnung als einem für die individuelle Freiheit ni<strong>ch</strong>t nur bedrohli<strong>ch</strong>en,<br />
son<strong>der</strong>n diese Freiheit für den Mens<strong>ch</strong>en als zoon politikon erst ermögli<strong>ch</strong>enden<br />
Gebilde 102 . Insoweit gibt es eine Verwandts<strong>ch</strong>aft zu Hegels polititis<strong>ch</strong>er Philosophie<br />
und seinem Begriff <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit 103 . Man könnte, da es für die hier vorgenommene<br />
Klassifizierung letztli<strong>ch</strong> nur auf das Charakteristikum des Eigenwertes einer dur<strong>ch</strong><br />
Gesells<strong>ch</strong>aft und Staat verkörperten Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft ankommt, beim Kommunitarismus<br />
au<strong>ch</strong> von einer 'hegelianis<strong>ch</strong>en Grundposition' spre<strong>ch</strong>en 104 . Allerdings<br />
hat si<strong>ch</strong> MacIntyre als wohl bekanntester Vertreter des Neoaristotelismus 105 ohne An-<br />
98 Zur Zuordnung des Kommunitarismus zur aristotelis<strong>ch</strong>en Tradition au<strong>ch</strong> H. Brunkhorst, Demokratie<br />
als Solidarität unter Fremden (1996), S. 21.<br />
99 C. Taylor, Quellen des Selbst (1994), S. 72 f. Vgl. die Begriffsbestimmung bei W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Rezeption<br />
des kommunitaris<strong>ch</strong>en Denkens (1996), S. 3: »Das kommunitaris<strong>ch</strong>e Projekt ist <strong>der</strong> Versu<strong>ch</strong><br />
einer Wie<strong>der</strong>belebung von Gemeins<strong>ch</strong>aftsdenken unter den Bedingungen postmo<strong>der</strong>ner<br />
Dienstleistungsgesells<strong>ch</strong>aften.« Treffende Glei<strong>ch</strong>setzung von 'Kommunitarismus' mit 'Gemeins<strong>ch</strong>aftsdenken'<br />
au<strong>ch</strong> bei W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes<br />
(1998), S. 338 ff.<br />
100 V. Medina, Social Contract Theories (1990), S. 116.<br />
101 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 202.<br />
102 Vgl. A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 203; H. S<strong>ch</strong>nädelba<strong>ch</strong>, Was ist Neoaristotelismus?<br />
(1986), S. 50 (Rückbindung <strong>der</strong> Ethik an jeweils s<strong>ch</strong>on gelebtes Ethos), 51 (Vernunft in <strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te).<br />
103 H. S<strong>ch</strong>nädelba<strong>ch</strong>, Was ist Neoaristotelismus? (1986), S. 41 f. – Hegel selbst als Neoaristoteliker;<br />
V. Medina, Social Contract Theories (1990), S. 116 ff.; W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des<br />
Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 1 – Liberalismuskritik bei Hegel und im Kommunitarismus.<br />
104 Zur Zuordnung des Neohegelianismus zum Neoaristotelismus siehe R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1993), S. 12 m.w.N. Zur Entgegensetzung von hegelianis<strong>ch</strong>em<br />
Sittli<strong>ch</strong>keits- und kantis<strong>ch</strong>em Moralitätsverständnis siehe beispielsweise F.J. Kelly,<br />
An Analysis of Hegel's Theory of Social Morality (1998), S. 188 ff. m.w.N.<br />
105 Na<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>er Eins<strong>ch</strong>ätzung kommt Charles Taylor die Ehre des »führenden kommunitaris<strong>ch</strong>en<br />
Philosophen« zu und ist Amitai Etzioni maßgebli<strong>ch</strong> für die Begründung <strong>der</strong> kommunitaris<strong>ch</strong>en<br />
'Plattform' gewesen; W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Rezeption des kommunitaris<strong>ch</strong>en Denkens (1996), S. 4. Vgl.<br />
unten S. 167 (Eins<strong>ch</strong>ätzung des Kommunitarismus im Ergebnis). Wie hier für einen qualitativen<br />
157
knüpfung an Hegel direkt auf Aristoteles als »Vertreter einer langen Tradition« 106 gestützt<br />
und so für den Kommunitarismus die Entgegensetzung von kantis<strong>ch</strong>er und<br />
aristotelis<strong>ch</strong>er Grundposition in <strong>der</strong> anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en Literatur etabliert 107 .<br />
Es gibt einige gemeinsame Merkmale <strong>der</strong> kommunitaristis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong>. Zunä<strong>ch</strong>st<br />
wenden si<strong>ch</strong> alle Vertreter des Kommunitarismus kritis<strong>ch</strong> gegen den in <strong>der</strong><br />
westli<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en Philosophie dominierenden Liberalismus 108 . Als politis<strong>ch</strong>e,<br />
soziologis<strong>ch</strong>e und philosophis<strong>ch</strong>e Denkri<strong>ch</strong>tung hat si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Kommunitarismus erst<br />
dur<strong>ch</strong> seine Kritik am Liberalismus konstituiert – die Kritik ist <strong>der</strong> gemeinsame Nenner<br />
<strong>der</strong> sonst sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Vertreter 109 . Charles Taylor hat für die gegenwärtige<br />
Philosophie in den Vereinigten Staaten treffend von einem liberalistis<strong>ch</strong>en<br />
Lager ('Team L') mit J. Rawls, R. Dworkin, T. Nagel und T.M. Scanlon und einem kommunitaristis<strong>ch</strong>en<br />
Lager ('Team K') mit M.J. Sandel, A. MacIntyre und M. Walzer gespro<strong>ch</strong>en<br />
110 . In <strong>der</strong> kommunitaristis<strong>ch</strong>en Kritik am Liberalismus lassen si<strong>ch</strong> heute<br />
vier Elemente unters<strong>ch</strong>eiden, die mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>werpunktsetzung in allen<br />
<strong>Theorien</strong> vertreten werden 111 :<br />
1. die Kritik am atomistis<strong>ch</strong>en Personenkonzept;<br />
2. die Kritik an <strong>der</strong> fehlenden integrativen Kraft individualistis<strong>ch</strong>er Gesells<strong>ch</strong>aftstheorien;<br />
3. die Kritik am Neutralitätsanspru<strong>ch</strong> des Liberalismus und<br />
4. die Kritik am Universalismus in Moraltheorien 112 .<br />
Über die Ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des Kommunitarismus, also über Herkunftslinien jenseits<br />
<strong>der</strong> in <strong>der</strong> 80er Jahren festzustellenden Herauskristallisierung als Strömung, herrs<strong>ch</strong>t<br />
Neubeginn <strong>der</strong> Liberalismuskritik Taylors mit MacIntyre au<strong>ch</strong> H. Brunkhorst, Demokratie als Solidarität<br />
unter Fremden (1996), S. 21.<br />
106 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 197.<br />
107 MacIntyre sieht die ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verbindung Hegels zu Platon und Aristoteles zwar, hält die<br />
politis<strong>ch</strong>e Philosophie Hegels aber in ents<strong>ch</strong>eidenden Punkten für »wenig überzeugend« und »außerordentli<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t begründet«: A. MacIntyre, A Short History of Ethics (1966), S. 199 ff., 208 ff.<br />
(209). Zur Abgrenzung von Nietzs<strong>ch</strong>e vor allem die beiden Kapitel zu 'Nietzs<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> Aristoteles?'<br />
in A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 149 ff., 341 ff.<br />
108 So au<strong>ch</strong> H. Joas, Vorges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Kommunitarismus-Diskussion (1993), S. 50.<br />
109 A.A. offenbar W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes (1998),<br />
S. 344 mit Fn. 24, S. 346 f., 349 ff. Die von ihm entworfene »idealtypis<strong>ch</strong>e Skizze« läßt bezei<strong>ch</strong>nen<strong>der</strong>weise<br />
offen, ob es für einen »universalistis<strong>ch</strong>en« o<strong>der</strong> »liberalen Kommunitarismus« überhaupt<br />
Vertreter gibt, die »dem diskutierten Kommunitarismustyp zugere<strong>ch</strong>net werden« können;<br />
siehe ebd., S. 344 mit Fn. 24. Jedenfalls bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en Diskussion ers<strong>ch</strong>einen<br />
die ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>ten Mis<strong>ch</strong>formen gerade ni<strong>ch</strong>t »typis<strong>ch</strong>« für kommunitaristis<strong>ch</strong>es Gedankengut.<br />
110 C. Taylor, Aneinan<strong>der</strong> vorbei (1993), S. 103. Den Kommunitaristen ist außerdem Taylor selbst zuzure<strong>ch</strong>nen.<br />
111 Vgl. R. Forst, Kommunitarismus und Liberalismus (1993), S. 183 ff. Eine an<strong>der</strong>e Charakterisierung<br />
dur<strong>ch</strong> vier »Kernpunkte« (Gruppenabgrenzung, Gruppenzugehörigkeit, Pluralismus, anthropologis<strong>ch</strong>-sozialtheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Ausri<strong>ch</strong>tung) findet si<strong>ch</strong> bei W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie<br />
des Grundgesetzes (1998), S. 340 ff.<br />
112 Wenn im Zusammenhang mit dem Kommunitarismus gelegentli<strong>ch</strong> von 'Universalität' gespro<strong>ch</strong>en<br />
wird, dann ist damit eine an<strong>der</strong>e gemeint als die in <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Tradition – eine 'perspektivis<strong>ch</strong>e<br />
Universalität'; M. Fisk, Justice and Universality (1995), S. 227 ff.<br />
158
Einigkeit nur insoweit, als Ursprünge bei Hegel anzusiedeln sind 113 . Insbeson<strong>der</strong>e die<br />
erste <strong>der</strong> oben erwähnten Gemeinsamkeiten steht in <strong>der</strong> direkten Na<strong>ch</strong>folge von Hegels<br />
Auffassung über das sittli<strong>ch</strong> situierte Selbst 114 . Walzer bringt es auf den Punkt,<br />
wenn er meint, Mens<strong>ch</strong>en ohne Sozialbindung seien keine Mens<strong>ch</strong>en, son<strong>der</strong>n »mythis<strong>ch</strong>e<br />
Figuren« 115 . Sandel konkretisiert: in das Personenkonzept müsse au<strong>ch</strong> die<br />
konkrete Einbettung von Individuen in ihre vers<strong>ch</strong>iedenen gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Verhältnisse<br />
einbezogen werden, also die Zugehörigkeit zur Stadt- o<strong>der</strong> Dorfgemeins<strong>ch</strong>aft,<br />
zu Familie, Klasse, Nation o<strong>der</strong> Volk 116 . Zugespitzt auf eine Hegel/Kant-<br />
Di<strong>ch</strong>otomie könnte man sagen: Der Kommunitarismus betont die Sittli<strong>ch</strong>keit im Sinne<br />
einer sozialübli<strong>ch</strong>en Moralität und kommt dadur<strong>ch</strong> zu einer Moral partikulärer<br />
Bindungen 117 , wohingegen <strong>der</strong> Liberalismus na<strong>ch</strong> den unparteiis<strong>ch</strong>en Prinzipien einer<br />
universellen Moral su<strong>ch</strong>t 118 .<br />
1. Epistemologis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus (M.J. Sandel)<br />
Abgesehen von <strong>der</strong> gemeinsamen Frontenstellung gegen den Liberalismus haben die<br />
Positionen innerhalb des kommunitaristis<strong>ch</strong>en Lagers ni<strong>ch</strong>t viel gemein. Eine verbindende<br />
Rolle unter den vers<strong>ch</strong>iedenen Spielarten des Kommunitarismus spielt allein<br />
Sandel, dessen 1982 vorgelegte Rawls-Kritik 119 erst die lebhafte Diskussion auslöste,<br />
die später zum Kristallisationspunkt all jener Auffassungen wurde, die unter<br />
dem Oberbegriff 'Kommunitarismus' (communitarianism) firmieren. Zwar war au<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>on vor 1982 <strong>der</strong> Personenbegriff bei Rawls kritisiert worden, aber erst Sandel hat<br />
die Theorie vermittels einer Kritik ihres Mens<strong>ch</strong>enbildes grundsätzli<strong>ch</strong> in Frage gestellt<br />
120 .<br />
Der Kommunitarismus Sandels findet seinen Ausgangspunkt in <strong>der</strong> Selbsterkenntnis<br />
des Mens<strong>ch</strong>en als Gemeins<strong>ch</strong>aftswesen und kann deshalb s<strong>ch</strong>lagwortartig<br />
als 'epistemologis<strong>ch</strong>' bezei<strong>ch</strong>net werden 121 . In seinem S<strong>ch</strong>lüsselargument zur Gemeins<strong>ch</strong>aftsgebundenheit<br />
des Mens<strong>ch</strong>en stellt Sandel den bei Rawls herausgearbeite-<br />
113 Ni<strong>ch</strong>t zufällig finden si<strong>ch</strong> ausgere<strong>ch</strong>net Personen wie Charles Taylor – in den USA bekannt dur<strong>ch</strong><br />
seine Hegel-Monographie – im kommunitaristis<strong>ch</strong>en Lager; vgl. A. Honneth, Individualisierung<br />
und Gemeins<strong>ch</strong>aft (1994), S. 17. Zur Bedeutung von Aristoteles und Hegel für den Kommunitarismus<br />
au<strong>ch</strong> M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. ix. Im übrigen wird darüber<br />
diskutiert, ob Ursprünge au<strong>ch</strong> beim amerikanis<strong>ch</strong>en Pragmatismus von John Dewey o<strong>der</strong> bei Alexis<br />
de Tocqueville zu finden sind.<br />
114 R. Forst, Kommunitarismus und Liberalismus (1993), S. 183.<br />
115 M. Walzer, Die kommunitaristis<strong>ch</strong>e Kritik am Liberalismus (1993), S. 162.<br />
116 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 172.<br />
117 Vgl. A. MacIntyre, Ist Patriotismus eine Tugend? (1993), S. 102.<br />
118 Zur Gegensätzli<strong>ch</strong>keit von Kommunitarismus und Universalismus H. Brunkhorst, Demokratie als<br />
Solidarität unter Fremden (1996), S. 25 ff.<br />
119 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 50 ff., 122 ff.<br />
120 Zu dieser Eins<strong>ch</strong>ätzung R. Forst, Kommunitarismus und Liberalismus (1993), S. 183. Die Kritik<br />
des Personenbegriffs findet si<strong>ch</strong> bei M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 47 ff.<br />
(50 ff.).<br />
121 Zur Selbsteins<strong>ch</strong>ätzung Sandels vgl. die Ausführungen zum 'constitutive self-un<strong>der</strong>standing' im<br />
Kapitel 'moral epistemology of justice': M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982),<br />
S. 168 ff. (171 f.), sowie zum 'epistemological claim' S. 182 f.<br />
159
ten Gemeins<strong>ch</strong>aftsverständnissen einer 'instrumental community' und einer 'sentimental<br />
community' eine dritte gegenüber. Diese 'constitutive community' zei<strong>ch</strong>ne<br />
si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> aus, daß Mens<strong>ch</strong>en ihr ni<strong>ch</strong>t nur mehr o<strong>der</strong> weniger freiwillig angehören,<br />
son<strong>der</strong>n daß sie erst dur<strong>ch</strong> die vorgefundene Gemeins<strong>ch</strong>aftszugehörigkeit erkennen,<br />
wer sie selbst sind 122 . Es sei ihnen ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, si<strong>ch</strong> selbst unabhängig von<br />
ihrer Gemeins<strong>ch</strong>aftsbindung wahrzunehmen, wie dies in je<strong>der</strong> liberalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
vorausgesetzt werde 123 . We<strong>der</strong> sei <strong>der</strong> einzelne frei, si<strong>ch</strong> seine Konzeption<br />
des Guten ganz unabhängig von an<strong>der</strong>en zu su<strong>ch</strong>en, no<strong>ch</strong> könne den an<strong>der</strong>en<br />
eine völlige Wahlfreiheit für ihre Ziele und Lebenspläne zugestanden werden,<br />
ohne damit glei<strong>ch</strong>zeitig die Identität jedes Gemeins<strong>ch</strong>aftsmitglieds zu beeinflussen<br />
und zu gefährden 124 . Das individualistis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enbild stellt si<strong>ch</strong> vor diesem<br />
Hintergrund ni<strong>ch</strong>t als Befreiung dar, son<strong>der</strong>n raubt dem einzelnen seinen Charakter<br />
und liefert ihn <strong>der</strong> Willkür unbegrenzter Wahlfreiheit des moralis<strong>ch</strong>en Handelns<br />
aus 125 : Freunds<strong>ch</strong>aft, Güte und Liebe werden zu bloßen Instrumenten einer egozentris<strong>ch</strong>en<br />
Wahl umgedeutet und dadur<strong>ch</strong> entstellt 126 .<br />
Da si<strong>ch</strong> Sandels Kommunitarismus bewußt auf die Kritik am Liberalismus konzentriert<br />
127 , ist es ni<strong>ch</strong>t ganz einfa<strong>ch</strong>, daraus auf die konkrete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption<br />
zu s<strong>ch</strong>ließen, zu <strong>der</strong> seine Form des Kommunitarismus führen müßte. Wi<strong>ch</strong>tig<br />
ist zunä<strong>ch</strong>st, daß Sandel bei aller Liberalismuskritik ni<strong>ch</strong>t insgesamt antiliberal eingestellt<br />
ist, son<strong>der</strong>n den Liberalismus vielmehr als Projekt <strong>der</strong> Befreiung würdigt 128 .<br />
Was im Ergebnis an<strong>der</strong>s ist, wenn man die liberalismusgeprägte Re<strong>ch</strong>ts- und Sozialordnung<br />
dur<strong>ch</strong> eine neue Gemeins<strong>ch</strong>aftsbezogenheit uminterpretiert, indem man<br />
Universalismus dur<strong>ch</strong> Kontextualismus ersetzt, wird bei Sandel, soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>,<br />
ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> dargelegt. Ein konkreter Unters<strong>ch</strong>ied könnte darin liegen, daß es<br />
aus kommunitaristis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t beispielsweise zulässig ist, in einer Stadt pornographis<strong>ch</strong>e<br />
Bu<strong>ch</strong>läden allein deshalb zu verbieten, weil sie gegen die Lebensweise und<br />
122 Die S<strong>ch</strong>lüsselstelle findet si<strong>ch</strong> bei M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 150: »A<br />
theory of community whose province extended to the subject as well as the object of motivations<br />
would be individualistic in neither the conventional sense nor in Rawls'. It would ... differ from<br />
Rawls' conception in that community would describe not just a feeling but a mode of selfun<strong>der</strong>standing<br />
partly constitutive of the agent's identity. On this strong view, to say that the<br />
members of a society are bound by a sense of community is not simply to say that a great many of<br />
them profess communitarian sentiments and pursue communitarian aims, but rather that they<br />
conceive their identity – the subject and not just the object of their feelings and aspirations – as defined<br />
to some extent by the community of whi<strong>ch</strong> they are a part. For them, community describes<br />
not just what they have as fellow citizens but also what they are, not a relationship they <strong>ch</strong>oose (as<br />
in a voluntary association) but an atta<strong>ch</strong>ment they discover, not merely an attribute but a constituent<br />
of their identity. In contrast to the instrumental and sentimental conceptions of community,<br />
we might describe this strong view as the constitutive conception.« Die S<strong>ch</strong>lüsselstelle findet si<strong>ch</strong><br />
nahezu wortglei<strong>ch</strong> wie<strong>der</strong>holt au<strong>ch</strong> auf S. 173.<br />
123 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 179.<br />
124 Vgl. M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 179.<br />
125 M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 177 ff. (179 f.).<br />
126 Vgl. M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 180 f.<br />
127 So heißt es am Anfang bei M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 1.<br />
128 Beispielsweise M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982), S. 175 ff.<br />
160
Werte in dieser Stadt verstoßen 129 . Es kommt also ni<strong>ch</strong>t mehr darauf an, ob eine Bes<strong>ch</strong>ränkung<br />
individueller Re<strong>ch</strong>te aufgrund universeller Erwägungen überall zur Zulässigkeit<br />
von Verboten führen müßte. Die konkreten Sitten bilden einen eigenständigen<br />
und unter Umständen den einzigen Grund für die Legitimität eines Verbotes.<br />
Verallgemeinert man diesen Beispielsfall, so kann man sagen, daß Kommunitaristen<br />
eher bereit sind, Individualre<strong>ch</strong>te zur Wahrung traditioneller Lebensweisen und<br />
überkommener Wertvorstellungen <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft zu bes<strong>ch</strong>ränken. Bei dieser<br />
Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Dinge wird au<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>, warum kommunitaristis<strong>ch</strong>es Gedankengut so<br />
aktuell in die politis<strong>ch</strong>e Diskussion Amerikas paßt, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Verfall von Sitten (moral<br />
community) und nationaler Identität (patriotism) beklagt wird. Abgesehen von sol<strong>ch</strong>en<br />
Tendenzaussagen lassen si<strong>ch</strong> die kommunitaristis<strong>ch</strong>en Strömungen aber ni<strong>ch</strong>t<br />
als Einheit verstehen, son<strong>der</strong>n müssen je für si<strong>ch</strong> untersu<strong>ch</strong>t werden.<br />
2. Neoaristotelis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus (A. MacIntyre)<br />
Na<strong>ch</strong> dem neoaristotelis<strong>ch</strong>en Kommunitarismus MacIntyres liegt die praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
allein darin, einen persönli<strong>ch</strong>en Standpunkt gegen Einwände dur<strong>ch</strong> immer<br />
bessere Gründe abzusi<strong>ch</strong>ern, bis Unstimmigkeiten, Auslassungen und Erklärungslücken<br />
mit <strong>der</strong> Zeit vers<strong>ch</strong>winden 130 . Die Bindung an einen persönli<strong>ch</strong>en Standpunkt<br />
wirkt si<strong>ch</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> als Bindung an eine bestimmte Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
aus 131 . Nur innerhalb einer sol<strong>ch</strong>en Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft sei überhaupt praktis<strong>ch</strong>e<br />
Erkenntnis mögli<strong>ch</strong> 132 . Wie an<strong>der</strong>e Standpunkttheorien, insbeson<strong>der</strong>e die s<strong>ch</strong>on erwähnten<br />
Beoba<strong>ch</strong>tertheorien, grenzt si<strong>ch</strong> diese Konzeption von Vertrags- und Diskursrationalität<br />
ab. Sie erklärt jede Aussage über das ri<strong>ch</strong>tige Handeln für persönli<strong>ch</strong><br />
befangen und kommt konsequenterweise zu dem Ergebnis, daß die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Universalität<br />
glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>er Art fru<strong>ch</strong>tlos sei. MacIntyre hält deshalb den Liberalismus<br />
mit seinem Programm, universelle Vernunftprinzipien zu begründen, für ges<strong>ch</strong>eitert<br />
133 . Die vom Liberalismus geltend gema<strong>ch</strong>te Neutralität habe si<strong>ch</strong> ungewollt<br />
selbst zu einer Tradition entwickelt, sei also ni<strong>ch</strong>t traditionsneutral. Da <strong>der</strong> Liberalismus<br />
ni<strong>ch</strong>t begründbar sei, bleibe nur die Rückbesinnung auf die politis<strong>ch</strong>e Philosophie<br />
<strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition 134 .<br />
129 So das Beispiel bei A. Gutman, Die kommunitaristis<strong>ch</strong>en Kritiker des Liberalismus (1993), S. 79,<br />
die es einer mündli<strong>ch</strong>en Äußerung von Sandel zuweist.<br />
130 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 144 f. (in Anknüpfung an das Verständnis praktis<strong>ch</strong>er Rationalität<br />
bei Aristoteles), 355 f. (für Entwicklungsstufen in <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft).<br />
131 MacIntyre unters<strong>ch</strong>eidet beispielhaft die aristotelis<strong>ch</strong>e, die augustinis<strong>ch</strong>e und die calvinistis<strong>ch</strong>e<br />
Tradition und spri<strong>ch</strong>t von einer »Rationalität <strong>der</strong> Traditionen«: A. MacIntyre, Whose Justice?<br />
(1988), S. 349 ff.<br />
132 So ausdrückli<strong>ch</strong> A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 350: »[T]here is no other way to engage in<br />
the formulation, elaboration, rational justification, and criticism of accounts of practical rationality<br />
and justice except from within some one particular tradition in conversation, cooperation, and<br />
conflict with those who inhabit the same tradition.«<br />
133 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 57 ff. (74). Deutli<strong>ch</strong> die Worte zu Begründbarkeit und<br />
Existenz von Natur- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten, ebd., S. 98: »[D]ie Wahrheit ist einfa<strong>ch</strong>: es gibt keine<br />
sol<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te, und <strong>der</strong> Glaube daran entspri<strong>ch</strong>t dem Glauben an Hexen und Einhörner.«<br />
134 Vgl. A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 345: »Meine eigene S<strong>ch</strong>lußfolgerung ist absolut<br />
klar. Auf <strong>der</strong> einen Seite fehlt uns trotz <strong>der</strong> Bemühungen von drei Jahrhun<strong>der</strong>ten Moralphiloso-<br />
161
In den Konsequenzen <strong>der</strong> Rationalitätskritik grenzt si<strong>ch</strong> MacIntyre von <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition ab 135 . Die traditionsgebundene Rationalität bedeute<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Relativismus in dem Sinne, daß zwis<strong>ch</strong>en rivalisierenden Traditionen keine<br />
Argumentation mögli<strong>ch</strong> sei und deshalb überhaupt keine rationale Begründbarkeit<br />
mehr bestehe, und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Perspektivismus in dem Sinne, daß man aus einer Tradition<br />
heraus keine allgemeinen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsansprü<strong>ch</strong>e erheben könne 136 . Denn die<br />
größtdenkbare Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Wahrheit liege ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> immerwährenden Korrespondenz<br />
einer Vorstellung zu Tatsa<strong>ch</strong>en (Korrespondenztheorie <strong>der</strong> Wahrheit),<br />
son<strong>der</strong>n allein in <strong>der</strong> gegenwärtigen und dialektis<strong>ch</strong> so weit wie mögli<strong>ch</strong> gegen Einwände<br />
abgesi<strong>ch</strong>erten Behauptung 137 . Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Wahrheit unterliegen damit<br />
einer ständigen Entwicklung, werden innerhalb einer Tradition immer aufs Neue getestet,<br />
und können sogar dazu führen, daß eine Tradition, die si<strong>ch</strong> in einer Erkenntniskrise<br />
(epistemological crisis) befindet, Erklärungsmodelle einer konkurrierenden<br />
Tradition übernimmt 138 . Standpunkte innerhalb einer Tradition wie au<strong>ch</strong> die Traditionen<br />
selbst sind also falsifizierbar 139 . Es gibt Forts<strong>ch</strong>ritt in <strong>der</strong> Erkenntnis. Einzelne<br />
Behauptungen sind we<strong>der</strong> (relativistis<strong>ch</strong>) alle glei<strong>ch</strong> unbegründet no<strong>ch</strong> (perspektivistis<strong>ch</strong>)<br />
auf die Mitglie<strong>der</strong> einer Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft bes<strong>ch</strong>ränkt 140 .<br />
MacIntyre vertritt damit einen 'lebendigen' Traditionsbegriff, <strong>der</strong> Traditionstreue<br />
we<strong>der</strong> als Gegensatz zum Konfikt no<strong>ch</strong> als sol<strong>ch</strong>en zur Vernunft sieht 141 . Traditionen<br />
verkörpern historis<strong>ch</strong> erweiterte Argumentation und kontinuierli<strong>ch</strong>e Konflikte. Sie<br />
leben von <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> in ihnen relevanten Tugenden. Der anspru<strong>ch</strong>svolle Tugendbegriff<br />
läßt bereits erkennen, daß na<strong>ch</strong> MacIntyre »mo<strong>der</strong>ne Politik keine Sa<strong>ch</strong>e<br />
mit wirkli<strong>ch</strong>em moralis<strong>ch</strong>em Konsens sein kann« 142 . Zwar könne es eine traditionsgere<strong>ch</strong>te<br />
und damit legitime Regierungsform geben, weil die Dur<strong>ch</strong>setzung <strong>der</strong> Gesetze,<br />
die Si<strong>ch</strong>erung von Großzügigkeit und Freiheit sowie die Beseitigung von Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten<br />
eine regierungsförmige Organisation erfor<strong>der</strong>e. Mo<strong>der</strong>ne Staaten –<br />
glei<strong>ch</strong> ob liberal, kon<strong>servat</strong>iv, radikal o<strong>der</strong> sozialistis<strong>ch</strong> – drückten aber in ihren institutionellen<br />
Formen – beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Billigung von Individualismus und Habsu<strong>ch</strong>t<br />
phie und einem Jahrhun<strong>der</strong>t Soziologie no<strong>ch</strong> immer jede einheitli<strong>ch</strong>e, rational vertretbare Darlegung<br />
eines liberalen, individualistis<strong>ch</strong>en Standpunktes; und an<strong>der</strong>erseits kann die aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Tradition auf eine Weise neu formuliert werden, die die Verständli<strong>ch</strong>keit und Rationalität unserer<br />
moralis<strong>ch</strong>en und sozialen Haltungen und Verpfli<strong>ch</strong>tungen wie<strong>der</strong>herstellt.«<br />
135 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 353, 368.<br />
136 Vgl. A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 352 f.<br />
137 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 358. Hier zeigt si<strong>ch</strong> eine auffällige Übereinstimmung zum<br />
Wahrheits- und Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff <strong>der</strong> Diskurstheorie, auf den no<strong>ch</strong> einzugehen sein wird (unten<br />
S. 291 ff. – Kritik am Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>). MacIntyre spri<strong>ch</strong>t indes ni<strong>ch</strong>t von diskursiver o<strong>der</strong><br />
kommunikativer, son<strong>der</strong>n von traditionsbegründeter Erkenntnis (tradition-constituted enquiry,<br />
S. 360). Sie folgt dem Gedanken einer letztendli<strong>ch</strong>en Wahrheit, über <strong>der</strong>en Erkennen si<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
Geist nie gewiß sein kann (S. 360 f.). Vgl. unten S. 291 ff. (Kritik des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>s in Diskurstheorien;<br />
Korrespondenz- und Konsensustheorien).<br />
138 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 358 ff. (364 f.).<br />
139 Zum hier verwendeten Falsifikationsbegriff unten S. 264, Fn. 20.<br />
140 Vgl. A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 366 ff.<br />
141 Ausführli<strong>ch</strong>e Abgrenzung vom Traditionsbegriffs Burkes in A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend<br />
(1984), S. 296 f.<br />
142 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 337.<br />
162
sowie in <strong>der</strong> Erhebung des Marktes zu einer zentralen sozialen Institution – eine systematis<strong>ch</strong>e<br />
Ablehnung von Traditionen aus und müßten deshalb »einfa<strong>ch</strong> verworfen<br />
werden« 143 .<br />
3. Multikultureller Kommunitarismus (C. Taylor)<br />
Der Kommunitarismus Charles Taylors 144 , <strong>der</strong> in seinem Verständnis mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Identität au<strong>ch</strong> 'romantis<strong>ch</strong>' genannt werden könnte 145 , verdient das Attribut 'multikulturell'<br />
vor allem, weil Taylor zu diesem Thema, soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, das detaillierteste<br />
Anwendungsbeispiel formuliert hat 146 . Die Liberalismuskritik Taylors ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong><br />
gegen die 'desengagierte Vernunft', d.h. gegen die Unterwerfung aller Gefühle und<br />
Leidens<strong>ch</strong>aften unter die Vernunft, die dadur<strong>ch</strong> zur alleinigen Quelle <strong>der</strong> Moral<br />
wird 147 . Desengagierte Vernunft bedeutet na<strong>ch</strong> Taylor au<strong>ch</strong> eine Ans<strong>ch</strong>auung des<br />
Subjekts als unsituiertes, punktförmiges Selbst. Eine sol<strong>ch</strong>e Grundhaltung verortet er<br />
beispielsweise in den Darstellungs- und Denkfiguren <strong>der</strong> körperlosen Seele bei Descartes,<br />
<strong>der</strong> punktförmigen Kraft <strong>der</strong> Selbstwie<strong>der</strong>herstellung bei Locke und dem reinen<br />
Vernunftwesen bei Kant 148 . Mit <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> desengagierten Vernunft verbindet<br />
si<strong>ch</strong> bei Taylor die ents<strong>ch</strong>iedene Ablehnung sowohl des Utilitarismus 149 als<br />
au<strong>ch</strong> aller prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft 150 .<br />
Taylor zeigt am Beispiel des Multikulturalismus, zu wel<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ieden die<br />
kommunitaristis<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>tweise gegenüber dem herrs<strong>ch</strong>enden Liberalismus in konkreten<br />
Fragen <strong>der</strong> sozialen Ordnung führen kann. So birgt das Eintreten für kollektive<br />
Ziele, d.h. insbeson<strong>der</strong>e au<strong>ch</strong> für gemeinsame Traditionen, immer die Gefahr in<br />
si<strong>ch</strong>, daß Grundre<strong>ch</strong>te an<strong>der</strong>er beeinträ<strong>ch</strong>tigt werden 151 . Das vorherrs<strong>ch</strong>ende Verständnis<br />
des Liberalismus ('Liberalismus 1' 152 ) geht deshalb davon aus, daß die Individualre<strong>ch</strong>te<br />
zusammen mit Diskriminierungsverboten stets Vorrang vor kollektiven<br />
143 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 339.<br />
144 Der hier dargestellte Kommunitarismus Charles Taylors sollte ni<strong>ch</strong>t verwe<strong>ch</strong>selt werden mit demjenigen<br />
Mi<strong>ch</strong>ael Taylors, dessen For<strong>der</strong>ung na<strong>ch</strong> einem Erstarken <strong>der</strong> small communities si<strong>ch</strong> vor allem<br />
aus einer grundsätzli<strong>ch</strong>en Ablehnung <strong>der</strong> Staatli<strong>ch</strong>keit speist (anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus);<br />
vgl. M. Taylor, Anar<strong>ch</strong>y and Cooperation (1976), S. 132 ff. (destruction of small communities);<br />
<strong>der</strong>s., Community, Anar<strong>ch</strong>y, and Liberty (1982). Dazu unten S. 333 ff. (Institutionalisierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und die Thesen von M. Taylor).<br />
145 Vgl. nur die zahlrei<strong>ch</strong>en Bezugnahmen auf das Identitätsverständnis <strong>der</strong> Romantik in C. Taylor,<br />
Quellen des Selbst (1994), S. 729 ff., 869, 875; kritis<strong>ch</strong> gegenüber bestimmten neoromantis<strong>ch</strong>en<br />
Auffassungen aber S. 79.<br />
146 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 13 ff.<br />
147 C. Taylor, Quellen des Selbst (1994), S. 262 ff. (275 f.), 869.<br />
148 C. Taylor, Quellen des Selbst (1994), S. 887 f.<br />
149 C. Taylor, Quellen des Selbst (1994), S. 871.<br />
150 Die »prozedurale Auffassung des Ri<strong>ch</strong>tigen« sei ein »Übel«: C. Taylor, Quellen des Selbst (1994),<br />
S. 867 f.<br />
151 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 47 f.<br />
152 Diese vereinfa<strong>ch</strong>ende Referenzierung als Liberalismus 1 und 2 wird hier übernommen von<br />
M. Walzer, Kommentar zum Multikulturalismus (1992), S. 109 f.<br />
163
Zielen haben sollen 153 . Traditionalismus hat in einer sol<strong>ch</strong>en Welt nur Raum, wo Individualre<strong>ch</strong>te<br />
an<strong>der</strong>er ni<strong>ch</strong>t gemin<strong>der</strong>t werden, im Ergebnis also nur als folkloristis<strong>ch</strong>e<br />
Färbung <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t geregelten Gemeins<strong>ch</strong>aftsberei<strong>ch</strong>e. Am Beispiel <strong>der</strong><br />
französis<strong>ch</strong>en Kultur im kanadis<strong>ch</strong>en Quebec zeigt Taylor, daß eine Gesells<strong>ch</strong>aft, die<br />
ihren kollektiven Zielen ähnli<strong>ch</strong> große Bedeutung wie individuellen Re<strong>ch</strong>ten gibt, zu<br />
einer sol<strong>ch</strong>en 'prozeduralen Republik' in Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> geraten muß 154 . Daraus folgert<br />
er, daß das politis<strong>ch</strong>e Gemeinwesen des Liberalismus si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t neutral gegenüber<br />
allen in ihm vereinten kulturellen Min<strong>der</strong>heiten verhält 155 . Geboten sei darum<br />
ein an<strong>der</strong>es, mit dem ersten ni<strong>ch</strong>t vereinbares 156 Modell des Liberalismus ('Liberalismus<br />
2'), bei dem si<strong>ch</strong> das Gemeinwesen um eine kollektive Konzeption des guten<br />
Lebens herum organisiere, glei<strong>ch</strong>zeitig aber – und das ist <strong>der</strong> liberale Gehalt – die<br />
wi<strong>ch</strong>tigsten Grundre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong>er a<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> diese Konzeption selbst ni<strong>ch</strong>t zueigen<br />
ma<strong>ch</strong>en 157 . Damit drängt Taylor die von ihm kritisierte 'desengagierte Vernunft' zurück<br />
und vers<strong>ch</strong>afft den als 'kollektive Ziele' verkleideten Gefühlen und Leidens<strong>ch</strong>aften<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en neuen Raum, wie sie ihn im 'Liberalismus 1' ni<strong>ch</strong>t finden konnten.<br />
Nur so könne eine liberale Ordnung gefunden werden, ohne daß die Beteiligten ihre<br />
(gemeins<strong>ch</strong>afts- und traditionsgeprägte) Identität preisgeben müßten 158 . Ähnli<strong>ch</strong> wie<br />
bei Sandel zeigt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>e Effekt eher in Nuancen: die neue Si<strong>ch</strong>tweise habe<br />
»fast unvermeidli<strong>ch</strong> gewisse Abwandlungen <strong>der</strong> Gesetze zur Folge« 159 . Die größere<br />
Bedeutung liegt im Grundsätzli<strong>ch</strong>en: Taylor will den 'differenz-blinden' Liberalismus,<br />
<strong>der</strong> kulturelle Neutralität verspri<strong>ch</strong>t, ohne sie einhalten zu können, dur<strong>ch</strong> eine bewußt<br />
kulturbezogene Gesells<strong>ch</strong>aftsordnung ersetzen, die im Wege <strong>der</strong> multikulturellen<br />
Dur<strong>ch</strong>dringung von Gemeins<strong>ch</strong>aften zu einer langsamen Anglei<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
kollektiven Ziele führen kann, ohne daß auf dem Weg dorthin einzelne<br />
Kulturen und die mit ihnen verbundene Indentität ihrer Mitglie<strong>der</strong> aufgegeben werden<br />
müßten 160 .<br />
4. Lokaler Kommunitarismus (M. Walzer)<br />
Der Kommunitarismus Walzers kann 'lokal' genannt werden, denn er betont – wie die<br />
Fors<strong>ch</strong>ung zu 'local justice' 161 – die Unters<strong>ch</strong>iede, die die Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit je<br />
153 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 49. Taylor nennt ausdrückli<strong>ch</strong> John Rawls, Ronald Dworkin<br />
und Bruce Ackerman als prominente Vertreter dieser Auffassung im angloamerikanis<strong>ch</strong>en Raum.<br />
Die These stimmt als politis<strong>ch</strong>e Folgerung darüber hinaus für alle an<strong>der</strong>en <strong>Theorien</strong>, die einen<br />
Vorrang des Re<strong>ch</strong>ten vor dem Guten einräumen, d.h. für alle deontologis<strong>ch</strong>en im Gegensatz zu teleologis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Theorien</strong>. Taylor selbst betont (ebd., S. 49), daß diese Trennlinie <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und substantiellen <strong>Theorien</strong> entspri<strong>ch</strong>t.<br />
154 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 51 ff.<br />
155 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 52.<br />
156 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 54.<br />
157 Taylor zählt hierzu das Re<strong>ch</strong>t auf Leben und persönli<strong>ch</strong>e Freiheit, das Re<strong>ch</strong>t auf fairen Prozeß, Redefreiheit,<br />
Religionsfreiheit und ähnli<strong>ch</strong> elementare Re<strong>ch</strong>te; C. Taylor, Multikulturalismus (1992),<br />
S. 52 f.<br />
158 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 55.<br />
159 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 55.<br />
160 C. Taylor, Multikulturalismus (1992), S. 56 ff.<br />
161 Dazu oben S. 108, Fn. 340 (Mesotheorien und local justice).<br />
164
na<strong>ch</strong> ihrem Sa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong> annimmt. Walzers <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie liegt dabei eine<br />
Konzeption zugrunde, die er 'komplexe Glei<strong>ch</strong>heit' nennt. »In allen mo<strong>der</strong>nen Gesells<strong>ch</strong>aften«<br />
soll diese »ein gültiger Standard« sein 162 und glei<strong>ch</strong>zeitig ein Garant<br />
gegen Totalitarismus 163 . Komplexe Glei<strong>ch</strong>heit ist eine Konzeption <strong>der</strong> Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
innerhalb einer politis<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aft 164 . Sie grenzt si<strong>ch</strong> vom 'System<br />
<strong>der</strong> einfa<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>heit' ab, die dem Idealbild folgt, daß alles käufli<strong>ch</strong> ist und alle<br />
glei<strong>ch</strong> viel Geld haben 165 . Selbst wenn eine sol<strong>ch</strong>e einfa<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>heit jemals bestehen<br />
sollte, sei sie als Verteilungssystem instabil, weil dur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Begabungen<br />
und damit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Erfolge im Warentaus<strong>ch</strong> sehr s<strong>ch</strong>nell Monopole<br />
bei den drei dominanten Gütern Rei<strong>ch</strong>tum, Ma<strong>ch</strong>t und Bildung entstehen würden.<br />
Funktionsfähig wäre das System <strong>der</strong> einfa<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>heit nur dur<strong>ch</strong> fortgesetzte<br />
staatli<strong>ch</strong>e Intervention bei glei<strong>ch</strong>zeitiger politis<strong>ch</strong>er Ma<strong>ch</strong>tkontrolle. Die universellen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien, die in liberalen <strong>Theorien</strong> wie <strong>der</strong> von Rawls begründet<br />
werden, stellten si<strong>ch</strong> in diesem Zusammenhang als Interventionsregeln für eine Monopolkontrolle<br />
dur<strong>ch</strong> den Staat dar.<br />
Walzer vertritt demgegenüber die These, daß es keine einheitli<strong>ch</strong>en Verteilungsprinzipien<br />
für alle Gemeins<strong>ch</strong>aften und alle Güter geben kann. Vers<strong>ch</strong>iedene Verteilungssphären<br />
seien ni<strong>ch</strong>t kongruent zueinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n jeweils autonom 166 . Erstens<br />
re<strong>ch</strong>tfertigen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e politis<strong>ch</strong>e Ordnungen und Ideologien unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Verteilungen 167 . Vor allem aber gelte zweitens, daß »vers<strong>ch</strong>iedene Güter vers<strong>ch</strong>iedene<br />
Verteilungsregeln innerhalb ein und <strong>der</strong>selben Gesells<strong>ch</strong>aft verlangen.« 168 Statt<br />
eines singulären Distributionskriteriums kommen im System <strong>der</strong> komplexen Glei<strong>ch</strong>heit<br />
vielmehr je na<strong>ch</strong> Distributionssphäre 169 drei unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Distributionsprinzipien<br />
zur Anwendung: freier Austaus<strong>ch</strong>, Verdienst und Bedürfnis 170 . Walzer belegt<br />
mit zahlrei<strong>ch</strong>en Beispielen, wie unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> die Verteilungsprinzipien in Daseinsvorsorge,<br />
Warenhandel, Ämterverteilung, Arbeit, Freizeit, Bildung, Verwands<strong>ch</strong>aft,<br />
Religion, sozialer Anerkennung und Politik ausfallen können und wel<strong>ch</strong>e Varianzen<br />
dabei dur<strong>ch</strong> Kulturunters<strong>ch</strong>iede und zeitli<strong>ch</strong>en Wandel eintreten 171 . Angesi<strong>ch</strong>ts<br />
<strong>der</strong> unendli<strong>ch</strong>en Zahl mögli<strong>ch</strong>er Lebensweisen folgert er, daß eine bestehende<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft dann gere<strong>ch</strong>t sei, wenn sie ihr konkretes Leben in einer Weise bestimme,<br />
die den Vorstellungen ihrer Mitglie<strong>der</strong> entspre<strong>ch</strong>e 172 . Was in einer Gemeins<strong>ch</strong>aft un-<br />
162 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 11.<br />
163 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 445.<br />
164 Vgl. M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 61 ff., 65 ff.<br />
165 Hierzu und zum folgenden M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 41 ff.<br />
166 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 448.<br />
167 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 26 ff.<br />
168 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 12.<br />
169 Vgl. M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 448 f. – Die Unters<strong>ch</strong>eidung na<strong>ch</strong> Distributionssphären<br />
bedeute wandelbare soziale Sinngebung für Güter je na<strong>ch</strong> Sa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong>.<br />
170 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 51 ff.<br />
171 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 108 ff., insbeson<strong>der</strong>e S. 203 ff. (209 ff.) zur Meritokratie<br />
in Gestalt des <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Examenssystems für Ämter im kaiserli<strong>ch</strong>en Dienst und S. 336 ff.<br />
(338 ff.) zum Bürgerball als organisiertem Heiratsmarkt.<br />
172 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 441.<br />
165
gere<strong>ch</strong>t ist, kann in einer an<strong>der</strong>en gere<strong>ch</strong>t sein 173 . Damit stellt si<strong>ch</strong> für die Theorie<br />
Walzers die Frage, was überhaupt no<strong>ch</strong> als ungere<strong>ch</strong>t gelten soll. Ungere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
identifiziert er mit <strong>der</strong> Dominanz einzelner Personen gegenüber an<strong>der</strong>en 174 . Verteilung<br />
muß einen 'geziemenden Respekt' (due respect) vor den Ansi<strong>ch</strong>ten und Meinungen<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en ausdrücken, statt dur<strong>ch</strong> Vorherrs<strong>ch</strong>aft einen Dur<strong>ch</strong>griff auf das<br />
Verteilungsergebnis zu erzwingen 175 . Die oberste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm in einem System<br />
<strong>der</strong> komplexen Glei<strong>ch</strong>heit ist darum, daß ni<strong>ch</strong>t alles käufli<strong>ch</strong> sein darf 176 . Im<br />
Wege <strong>der</strong> Abstraktion dieser Grundregel formuliert Walzer zur Charakterisierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption <strong>der</strong> komplexen Glei<strong>ch</strong>heit ein 'offenes Distributionsprinzip'<br />
177 :<br />
N oD :<br />
»Kein soziales Gut X sollte ungea<strong>ch</strong>tet seiner Bedeutung<br />
an Männer und Frauen, die im Besitz eines an<strong>der</strong>en Gutes<br />
Y sind, einzig und allein deshalb verteilt werden,<br />
weil sie dieses Y besitzen.«<br />
Was Tyrannei und mo<strong>der</strong>nen Totalitarismus <strong>ch</strong>arakterisiert, ist na<strong>ch</strong> diesem Distributionsprinzip<br />
ni<strong>ch</strong>t die absolute Ma<strong>ch</strong>tfülle, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>der</strong> Umstand, daß<br />
die Ma<strong>ch</strong>t dazu eingesetzt wird, willkürli<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> glei<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>altend in Distributionssphären<br />
einzugreifen, um Dinge zu erlangen, die si<strong>ch</strong> sonst ni<strong>ch</strong>t von selbst<br />
einstellen würden – »ein ni<strong>ch</strong>t enden<strong>der</strong> Kampf um die Herrs<strong>ch</strong>aft außerhalb <strong>der</strong> eigenen<br />
Lebenssphäre« 178 . Das System <strong>der</strong> komplexen Glei<strong>ch</strong>heit stelle si<strong>ch</strong> als das<br />
Gegenteil des Totalitarismus dar, denn es setze maximale Differenzierung an die<br />
Stelle maximaler Glei<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>altung 179 . Erst dur<strong>ch</strong> die Garantenstellung gegenüber<br />
dem Totalitarismus könne (komplexe) Glei<strong>ch</strong>heit überhaupt zum Ziel in einem freiheitli<strong>ch</strong>en<br />
Staat werden und als ein Argument au<strong>ch</strong> gegen die 'Tyrannei des Geldes'<br />
im nordamerikanis<strong>ch</strong>en Kapitalismus gelten 180 . S<strong>ch</strong>lagwortigartig faßt Walzer zusammen:<br />
»Gute Zäune garantieren gere<strong>ch</strong>te Gesells<strong>ch</strong>aften.« 181<br />
173 Vgl. das Beispiel zur Unglei<strong>ch</strong>verteilung von Korn in einer na<strong>ch</strong> Kastensystem organisierten indis<strong>ch</strong>en<br />
Dorfgemeins<strong>ch</strong>aft: M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 441 f. Walzer spri<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong><br />
in an<strong>der</strong>em Zusammenhang dafür aus, daß ein kulturorientierter Liberalismus ('Liberalismus 2')<br />
in vielen Nationalstaaten angemessen, ein re<strong>ch</strong>teorientierter Liberalismus ('Liberalismus 1') dagegen<br />
in Einwan<strong>der</strong>ergesells<strong>ch</strong>aften wie den Vereinigten Staaten o<strong>der</strong> dem kanadis<strong>ch</strong>en Bundesstaat<br />
geboten sei; M. Walzer, Kommentar zum Multikulturalismus (1992), S. 111 ff. (114 ff.).<br />
174 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 46 ff., 451. Hier ergeben si<strong>ch</strong> Parallelen zum neueren<br />
verfassungsdogmatis<strong>ch</strong>en Verständnis des Glei<strong>ch</strong>heitsgebots als gruppenbezogenes Dominierungsverbot;<br />
U. Sacksofsky, Grundre<strong>ch</strong>t auf Glei<strong>ch</strong>behandlung (1991), S. 312 ff. Entspre<strong>ch</strong>end für<br />
die Interpretation als Hierar<strong>ch</strong>isierungsverbot S. Baer, Würde o<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit? (1996), S. 235 ff.<br />
(240).<br />
175 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 451.<br />
176 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 12.<br />
177 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 50.<br />
178 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 444.<br />
179 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 445.<br />
180 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 440 ff. (445 ff.).<br />
181 M. Walzer, Sphären <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1983), S. 449.<br />
166
V. Ergebnisse<br />
Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition halten eine bestimmte Konzeption<br />
des guten Lebens für allgemeinverbindli<strong>ch</strong>; <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beurteilt si<strong>ch</strong> in Abhängigkeit<br />
von dem als wertvoll erkannten 'Guten'.<br />
Die vers<strong>ch</strong>iedenen Spielarten des Kommunitarismus führen im Ergebnis zu sehr<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Der Kommunitarismus von Sandel, Taylor<br />
und Walzer zeigt si<strong>ch</strong> dabei ni<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>ieden genug antiliberalistis<strong>ch</strong>, um einen<br />
wirkli<strong>ch</strong>en Kontrast zum individualistis<strong>ch</strong>en Grundtenor westli<strong>ch</strong>er Demokratien<br />
bilden zu können 182 . Diese Uns<strong>ch</strong>ärfe beweist si<strong>ch</strong> beson<strong>der</strong>s bei so zurückhaltenden<br />
Vors<strong>ch</strong>lägen wie dem 'Liberalismus 2' Taylors 183 . Einzig MacIntyre sorgt mit seinen<br />
ents<strong>ch</strong>lossenen Thesen über das S<strong>ch</strong>eitern <strong>der</strong> Aufklärung für eine griffige Position:<br />
Wer wie MacIntyre die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te als eine Frage des Glaubens, ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft ansieht, setzt den hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong>, die<br />
dur<strong>ch</strong>weg Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te für rational begründbar halten, tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eine grundsätzli<strong>ch</strong><br />
an<strong>der</strong>e Konzeption <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> entgegen. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Kommunitarismus spitzt si<strong>ch</strong> deshalb mit einiger Bere<strong>ch</strong>tigung<br />
immer mehr auf eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Thesen MacIntyres zu 184 .<br />
Die materiellen Konzeptionen des Guten in Naturre<strong>ch</strong>tslehren und im Kommunitarismus<br />
stimmen mit <strong>der</strong> formellen Konzeption des Guten im Utilitarismus darin<br />
überein, daß ihre Ziele selbst ni<strong>ch</strong>t mehr dur<strong>ch</strong> Verfahren überprüft, son<strong>der</strong>n nur<br />
no<strong>ch</strong> gesetzt werden. Insoweit kann man von einem partiellen Begründungsverzi<strong>ch</strong>t<br />
spre<strong>ch</strong>en. Bei Naturre<strong>ch</strong>tslehren wird <strong>der</strong> materielle Begründungsmaßstab für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
('göttli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'), beim Utilitarismus das formelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip<br />
('größtes Glück <strong>der</strong> größten Zahl') und beim Kommunitarismus die Bindung<br />
an eine kollektive Konzeption des Guten ('Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft') ni<strong>ch</strong>t mehr hinterfragt.<br />
Insoweit sind die <strong>Theorien</strong> nur bekenntnis-, ni<strong>ch</strong>t erkenntnisfähig.<br />
C. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition (Ents<strong>ch</strong>eidungsrationalität)<br />
I. Charakteristika (T RC D 1RC D 4RC )<br />
Den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition ist eigentümli<strong>ch</strong>, daß sie – im<br />
Gegensatz zu <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition – die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des<br />
Handelns für begründbar halten, dabei aber – im Gegensatz zur aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition – ni<strong>ch</strong>t eine bestimmte Konzeption des guten Lebens verfolgen. Vielmehr<br />
werden Handlungen ungea<strong>ch</strong>tet <strong>der</strong> sozialen Ordnung, die si<strong>ch</strong> aus ihnen<br />
ergibt, für si<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet als (deontologis<strong>ch</strong>) ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong> beurteilt. Sie sind<br />
182 Zur Kritik dieser relativen Unents<strong>ch</strong>lossenheit <strong>der</strong> Kommunitaristen S. Tönnies, Kommunitarismus<br />
– diesseits und jenseits des Ozeans (1986) S. 14: »... eine moralis<strong>ch</strong>e Aufrüstung, die nützli<strong>ch</strong><br />
ist, aber in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Theorie ni<strong>ch</strong>ts zu su<strong>ch</strong>en hat.«<br />
183 Dazu oben S. 163 (Multikultureller Kommunitarismus).<br />
184 Ähnli<strong>ch</strong>e Betonung <strong>der</strong> zentralen Bedeutung <strong>der</strong> Theorie MacIntyres au<strong>ch</strong> bei H. Brunkhorst, Demokratie<br />
als Solidarität unter Fremden (1996), S. 21.<br />
167
aus intrinsis<strong>ch</strong>en (<strong>der</strong> Handlungsweise selbst innewohnenden) Gründen ri<strong>ch</strong>tig, ni<strong>ch</strong>t<br />
aus extrinsis<strong>ch</strong>en. Insoweit besteht Übereinstimmung mit den no<strong>ch</strong> zu erörternden<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Tradition 185 , von denen si<strong>ch</strong> die hobbesianis<strong>ch</strong>en aber<br />
dadur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eiden, daß sie dezidiert 'unmoralis<strong>ch</strong>' sind 186 . <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition sind alle explizit – o<strong>der</strong> bei älteren Sozialvertragstheorien<br />
implizit – <strong>Theorien</strong> des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens (rational <strong>ch</strong>oice theories, decision<br />
theories) 187 . Als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien begründen sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsweise<br />
allein mit individueller Nutzenmaximierung – diese wird für sie zum<br />
Inbegriff <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft 188 .<br />
Der Rational-Choice-Ansatz wurde in <strong>der</strong> 'außermarktli<strong>ch</strong>en Ökonomie' geprägt<br />
und versteht si<strong>ch</strong> dort als »Anwendung des ökonomis<strong>ch</strong>en Verhaltensmodells auf Fragestellungen,<br />
die übli<strong>ch</strong>erweise an<strong>der</strong>en Verhaltenswissens<strong>ch</strong>aften vorbehalten waren«<br />
189 und damit glei<strong>ch</strong>zeitig als Gegenbegriff zu dem in <strong>der</strong> Soziologie, Politik und<br />
Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (mit Ausnahme <strong>der</strong> ökonomis<strong>ch</strong>en Analyse des Re<strong>ch</strong>ts 190 ) verbreiteten<br />
soziologis<strong>ch</strong>en Verhaltensmodell, na<strong>ch</strong> dem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Verhalten »als dur<strong>ch</strong><br />
moralis<strong>ch</strong>e Einflüsse und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Strömungen bestimmt« 191 angesehen<br />
wird. Demgegenüber kann das ökonomis<strong>ch</strong>e Verhaltensmodell 'moralfrei' dur<strong>ch</strong><br />
fünf grundlegende Elemente bes<strong>ch</strong>rieben werden 192 : 1. methodis<strong>ch</strong>en Individualismus<br />
193 , 2. systematis<strong>ch</strong>e Reaktion auf Anreize, 3. Trennung zwis<strong>ch</strong>en Präferenzen<br />
und Eins<strong>ch</strong>ränkungen, 4. Eigennutzorientierung, 5. Mögli<strong>ch</strong>keitsraum und Institutionen.<br />
185 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 198 ff. (<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
186 Mit bemerkenswerter Offenheit R.B. McKenzie/G. Tullock, Homo Oeconomicus (1984), S. 27: »Der<br />
ökonomis<strong>ch</strong>e Ansatz ist unmoralis<strong>ch</strong>. Die Wirts<strong>ch</strong>aftswissens<strong>ch</strong>aften bes<strong>ch</strong>äftigt nämli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t,<br />
was sein sollte o<strong>der</strong> wie si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en verhalten sollen, son<strong>der</strong>n es geht nur darum zu verstehen,<br />
warum si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en so verhalten.«<br />
187 An<strong>der</strong>e Bezei<strong>ch</strong>nungen sind 'Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien', '<strong>Theorien</strong> rationaler Wahl' bzw. '<strong>Theorien</strong><br />
praktis<strong>ch</strong>er Rationalität', wobei in letzterer Bezei<strong>ch</strong>nung ein Rationalitätsbegriff benutzt wird, <strong>der</strong><br />
enger ist als <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> 'praktis<strong>ch</strong>en Vernunft'. Gelegentli<strong>ch</strong> ist au<strong>ch</strong> von Gesells<strong>ch</strong>aftstheorien<br />
des strategis<strong>ch</strong>en Interaktionismus o<strong>der</strong> kurz von RC-<strong>Theorien</strong> die Rede; B. Peters, Integration<br />
mo<strong>der</strong>ner Gesells<strong>ch</strong>aften (1993), S. 378 ff.<br />
188 J. Dreier, Rational Preference: Decision Theory as a Theory of Practical Rationality (1996), S. 271 f.<br />
189 B.S. Frey, Außermarktli<strong>ch</strong>e Ökonomie (1997), S. 362.<br />
190 Zur Ausnahme B.S. Frey, Außermarktli<strong>ch</strong>e Ökonomie (1997), S. 367. Zur ökonomis<strong>ch</strong>en Analyse<br />
des Re<strong>ch</strong>ts vor allem R.A. Posner, Problems of Jurisprudence (1990), S. 353 ff. m.w.N.; <strong>der</strong>s., Economic<br />
Analysis of Law (1992), S. 21 ff., 261 ff. („The Moral Content of the Common Law“); C. Kir<strong>ch</strong>ner,<br />
Ökonomis<strong>ch</strong>e Theorie des Re<strong>ch</strong>ts (1997), S. 7 ff.<br />
191 B.S. Frey, Außermarktli<strong>ch</strong>e Ökonomie (1997), S. 366. An diesem Befund än<strong>der</strong>t si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />
dadur<strong>ch</strong>, daß über den Moralbezug im Re<strong>ch</strong>tsbegriff zwis<strong>ch</strong>en positivistis<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>tpositivistis<strong>ch</strong>en<br />
Strömungen Streit besteht. Man kann den Re<strong>ch</strong>tsbegriff (mit <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tspositivistis<strong>ch</strong>en<br />
Trennungsthese) moralfrei und glei<strong>ch</strong>wohl das Verhaltensmodell moralbezogen bestimmen – etwa<br />
für die Erklärung von Re<strong>ch</strong>tsgenese und Re<strong>ch</strong>tsbefolgung. Der Re<strong>ch</strong>tspositivismus führt ni<strong>ch</strong>t<br />
zwingend zu einer Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie.<br />
192 B.S. Frey, Außermarktli<strong>ch</strong>e Ökonomie (1997), S. 362 ff. Ähnli<strong>ch</strong> C. Kir<strong>ch</strong>ner, Ökonomis<strong>ch</strong>e Theorie<br />
des Re<strong>ch</strong>ts (1997), S. 12 ff.<br />
193 Zur Abgrenzung des methodis<strong>ch</strong>en vom normativen Individualismus C. Kir<strong>ch</strong>ner, Ökonomis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie des Re<strong>ch</strong>ts (1997), S. 20 f.<br />
168
Im hier interessierenden Zusammenhang <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie geht es zentral<br />
um das vierte Element, die Eigennutzorientierung 194 . Zwar spielen au<strong>ch</strong> Methodenindividualismus,<br />
Präferenzisolation und Mögli<strong>ch</strong>keitsraum eine mittelbare Rolle<br />
in ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, weil sie si<strong>ch</strong> gewissermaßen<br />
dur<strong>ch</strong> die Hintertür des Rationalitätskalküls eins<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en. Do<strong>ch</strong> geht es im Kern allein<br />
um rational <strong>ch</strong>oice theories als Begründungstheorien des rationalen Verhaltens, ni<strong>ch</strong>t<br />
dagegen um die (no<strong>ch</strong> stärker divergierenden) rational <strong>ch</strong>oice theories, die als Anwendungstheorien<br />
in <strong>der</strong> Ökonomie Verwendung finden. Die Verknüpfung zwis<strong>ch</strong>en<br />
Grundlagenfors<strong>ch</strong>ung und ökonomis<strong>ch</strong>er Anwendungstheorie ist naturgemäß eng,<br />
do<strong>ch</strong> läßt si<strong>ch</strong> die Unters<strong>ch</strong>eidung trenns<strong>ch</strong>arf dana<strong>ch</strong> vornehmen, ob eine Theorie<br />
si<strong>ch</strong> die Rahmenbedingungen <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft, insbeson<strong>der</strong>e die Marktwirkungen, zur<br />
Voraussetzung ma<strong>ch</strong>t (ökonomis<strong>ch</strong>e Anwendungstheorie) o<strong>der</strong> ob sie die Analyse<br />
<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungsstrategien unter grundsätzli<strong>ch</strong> beliebigen Voraussetzungen betreibt<br />
(Begründungstheorie <strong>der</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung).<br />
Das Eigennutz-Axiom, wie es für die Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft in allen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien gilt, läßt si<strong>ch</strong> in folgendem Theorem ausdrücken:<br />
T RC :<br />
Die Handlung X einer Person P ist genau dann ri<strong>ch</strong>tig,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> bei Abwägung aller Vor- und Na<strong>ch</strong>teile für<br />
P als die vorteilhafteste darstellt.<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff, <strong>der</strong> mit T RC definiert ist, bes<strong>ch</strong>reibt nur eine Ri<strong>ch</strong>tigkeit aus<br />
Si<strong>ch</strong>t des egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierers. Das bedeutet mehr als nur einen irgendwie<br />
gearteten Rückgriff auf ein Vorteilskalkül. Rawls hat gezeigt, daß man auf<br />
Erkenntnisse <strong>der</strong> Spieltheorie 195 zurückgreifen kann, ohne das Vorteilskalkül als<br />
ents<strong>ch</strong>eidend für überindividuelle Ri<strong>ch</strong>tigkeit anzusehen 196 . Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition gehen indes von einem Glei<strong>ch</strong>klang zwis<strong>ch</strong>en egostis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierung<br />
und überindividueller Ri<strong>ch</strong>tigkeit aus. Begründbar sind dana<strong>ch</strong><br />
auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Handlungsweisen, die si<strong>ch</strong> als Ausdruck individueller Nutzenmaximierung<br />
verstehen lassen. Das Darstellungsmittel für diese Verknüpfung ist<br />
<strong>der</strong> Sozialvertrag: Mit dem Übergang von <strong>der</strong> Begründung individueller Einzelents<strong>ch</strong>eidungen<br />
zur Begründung <strong>der</strong> Regeln sozialer Ordnung wird die Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie<br />
zur hobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertragstheorie 197 . Dabei überwindet sie bestimmte<br />
Defizite <strong>der</strong> individuenbezogenen Legitimation, wie sie si<strong>ch</strong> im Gefangenendilemma<br />
und Trittbrettfahrerproblem ausdrücken 198 , dur<strong>ch</strong> einen unter allen erzwingbaren<br />
Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrag – es entsteht eine 'Vertragstheorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens'<br />
194 G. Kir<strong>ch</strong>gässner, Homo oeconomicus (1991), S. 45 ff. – eigener Vorteil als Charakteristikum.<br />
195 Dazu unten S. 270 ff. (spieltheoretis<strong>ch</strong>e Grundlegung).<br />
196 Dazu unten S. 180 (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl). Einen ähnli<strong>ch</strong>en Zusammenhang hat Barry am<br />
Beispiel <strong>der</strong> Theorie Harsanyis belegt, <strong>der</strong> einerseits Verfe<strong>ch</strong>ter einer Vernunftkonzeption <strong>der</strong> rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung ist, an<strong>der</strong>erseits dieser Konzeption aber keine Verbindli<strong>ch</strong>keit als ethis<strong>ch</strong>es<br />
Kriterium zuerkennt, son<strong>der</strong>n eine utilitaristis<strong>ch</strong>e Position daraus begründet; B. Barry, Theories of<br />
Justice (1989), S. 76 m.w.N. Dazu oben S. 154 ff. (utilitaristis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> am Beispiel Harsanyis),<br />
unten S. 174 (Harsanyis Theorie <strong>der</strong> Verhandlungsführung).<br />
197 Dazu unten S. 180 ff. (neohobbesianis<strong>ch</strong>er Sozialvertrag).<br />
198 Dazu unten S. 276 ff. (Gefangenendilemma), S. 333 ff. (Trittbrettfahrerproblem).<br />
169
('rational <strong>ch</strong>oice contractarianism' 199 ). Die Treue zum (hypothetis<strong>ch</strong>en) Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrag<br />
s<strong>ch</strong>ulden die Beteiligten genau dann, wenn si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Vertrag aus <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>t jedes<br />
einzelnen als vorteilhaft und deshalb als rational, vernünftig und ri<strong>ch</strong>tig erweist<br />
200 . Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns folgen also aus <strong>der</strong> Vorteilhaftigkeit<br />
für jeden Einzelnen. Verbindet man T RC mit <strong>der</strong> allgemeinen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition<br />
in D 1 , so ist <strong>der</strong> spezifis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien<br />
und <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> errei<strong>ch</strong>t:<br />
D 1RC :<br />
D 4RC :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen<br />
sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen Handelns, auf das si<strong>ch</strong><br />
egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer einigen (würden).<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sind<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, na<strong>ch</strong> denen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm<br />
N genau dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis<br />
einer Prozedur P des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sein kann.<br />
Beim Übergang von <strong>der</strong> Einzelents<strong>ch</strong>eidung zum Sozialvertrag muß es einen individuellen<br />
Vorteil geben, um dessentwillen si<strong>ch</strong> die Beteiligten überhaupt auf ein Miteinan<strong>der</strong><br />
einlassen, statt si<strong>ch</strong> in einem fortwährenden Gegeneinan<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong><br />
aufs neue na<strong>ch</strong> den je eigenen Vorteilen in <strong>der</strong> Einzelsituation zu ri<strong>ch</strong>ten. Der<br />
Übergang vom (ni<strong>ch</strong>tkooperativen) Krieg aller gegen alle (T. Hobbes) in die<br />
(kooperative) Zivilgesells<strong>ch</strong>aft ges<strong>ch</strong>ieht um <strong>der</strong> Kooperationsvorteile willen, die für<br />
jeden einzelnen damit verbunden sind. Hier wird anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e Freiheit gegen<br />
staatli<strong>ch</strong> organisierte Si<strong>ch</strong>erheit getaus<strong>ch</strong>t, weil für jeden Einzelnen damit ein Vorteil<br />
verbunden ist. Dabei bleibt es im Prinzip glei<strong>ch</strong>gültig, ob <strong>der</strong> Kooperationsvorteil in<br />
<strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>erung s<strong>ch</strong>on bestehen<strong>der</strong> Güter, insbeson<strong>der</strong>e des Lebens und <strong>der</strong><br />
körperli<strong>ch</strong>en Integrität, o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>affung neuer Güter dur<strong>ch</strong> Produktion besteht.<br />
In jedem Fall stellen si<strong>ch</strong> zwei Fragen, die eine Theorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
beantworten muß: erstens die Frage, wel<strong>ch</strong>er Grad von Kooperation begründet ist,<br />
und zweitens die Frage, wie die Kooperationsgewinne ri<strong>ch</strong>tigerweise verteilt werden<br />
sollen – sei es dur<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>te Zuordnung von Re<strong>ch</strong>ten (Anspru<strong>ch</strong> auf Lohn, Eigentum<br />
an Frü<strong>ch</strong>ten und an<strong>der</strong>en Produkten), sei es dur<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>te Zuordnung von<br />
Pfli<strong>ch</strong>ten (Steuern und an<strong>der</strong>e Abgaben, Wehrpfli<strong>ch</strong>t). Für diese Fragen beim<br />
Übergang von Konflikt zu Kooperation ist innerhalb <strong>der</strong> Grundlagendiskussionen<br />
zur rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung die Spieltheorie zuständig, die versu<strong>ch</strong>t, »das rationale<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen abzuleiten, in denen <strong>der</strong><br />
199 So <strong>der</strong> treffende Begriff bei J.L. Coleman, Risks and Wrongs (1992), S. 3. Coleman (S. 3) definiert<br />
diese Form als eine Vertragstheorie mit <strong>der</strong> zentralen Annahme, daß legitime politis<strong>ch</strong>e Autorität<br />
eine beson<strong>der</strong>e Lösung für das Problem des Marktversagens ist, wie es in den Verteilungsstrukturen<br />
des Gefangenendilemmas für viele mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Interaktionen in einem Naturzustand auftritt.<br />
200 Zur Glei<strong>ch</strong>setzung von Vorteilhaftigkeit, Rationalität (rationality), Vernunft (reason) und Ri<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
wie sie in allen <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens vorgenommen wird, siehe beispielhaft<br />
D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 150.<br />
170
Erfolg des einzelnen ni<strong>ch</strong>t nur vom eigenen Handeln, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> von den<br />
Aktionen an<strong>der</strong>er abhängt.« 201<br />
Die Antwort auf die erste Frage wird im Grundsatz einheitli<strong>ch</strong> beantwortet, denn<br />
sie kann direkt aus <strong>der</strong> ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(T RC ) abgeleitet werden. Die Grenze für weitergehende Kooperation und damit<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tige Grad von Kooperation ist dann errei<strong>ch</strong>t, wenn jede weitergehende<br />
Kooperation, die einen Vorteil für mindestens einen Beteiligten bedeutet,<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig für mindestens einen an<strong>der</strong>en Beteiligten na<strong>ch</strong>teilig wäre. Das Kriterium<br />
für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines We<strong>ch</strong>sels von einem Weniger zu einem Mehr an Kooperation<br />
ist also dasjenige <strong>der</strong> Pareto-Optimalität 202 . Damit wird indes nur <strong>der</strong> Grad, ni<strong>ch</strong>t<br />
hingegen die konkrete Art <strong>der</strong> Kooperation bestimmt, denn es gibt eine Vielzahl von<br />
Kooperationskonstellationen, die alle Pareto-optimal sind, bei denen also niemand<br />
etwas gewinnen kann, ohne daß glei<strong>ch</strong>zeitig ein an<strong>der</strong>er etwas verliert. Das Kriterium<br />
ist denno<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig, denn es bildet in Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien den Ausgangspunkt<br />
für die Kritik an wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>en Umverteilungstendenzen: Die Solidarität<br />
<strong>der</strong> 'Starken' mit den 'S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en' ist na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft nur in denjenigen Fällen gere<strong>ch</strong>tfertigt, in denen sie<br />
für jeden Beteiligten (d.h. au<strong>ch</strong> für die leistungsfähigen 'Starken') vorteilhaft ist.<br />
Die Antwort auf die zweite Frage wird von den einzelnen <strong>Theorien</strong> rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidens unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> beantwortet. Es gibt vom Standpunkt <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition mehrere Mögli<strong>ch</strong>keiten, eine ri<strong>ch</strong>tige (gere<strong>ch</strong>te) Verteilung <strong>der</strong><br />
Kooperationsgewinne zu begründen. Die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> den Kriterien für diese Verteilung<br />
von Kooperationsgewinnen entwickelt si<strong>ch</strong> zur Zentralfrage aller Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien.<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Tradition werden<br />
im folgenden daraufhin untersu<strong>ch</strong>t und dana<strong>ch</strong> eingeteilt, wel<strong>ch</strong>e Antwort sie auf<br />
diese Frage geben.<br />
II.<br />
<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren<br />
Ältere Sozialvertragstheorien haben zur Begründung sozialer Ordnung regelmäßig<br />
das Bild des Naturzustands bemüht, um einen vorpolitis<strong>ch</strong>en Ausgangspunkt zu<br />
gewinnen, von dem aus si<strong>ch</strong> die Ents<strong>ch</strong>eidung für eine staatli<strong>ch</strong>e Ordnung als rational<br />
erweist 203 . Je s<strong>ch</strong>limmer dieser Naturzustand ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t werden konnte, je<br />
glaubwürdiger er si<strong>ch</strong> als »Krieg aller gegen alle« 204 erwies, <strong>der</strong> das Leben <strong>der</strong> Men-<br />
201 W. Güth, Spieltheorie (1997), S. 3512. Dazu im einzelnen unten S. 270 ff. (Kritik spieltheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Grundlegung).<br />
202 Dazu unten S. 273 (zwei Bedingungen rationaler Verhandlung).<br />
203 Zur aktuellen Bedeutung des Naturzustands in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung siehe R. Nozick,<br />
Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 6 ff.<br />
204 Ein 'bellum omnia contra omnes' findet si<strong>ch</strong> erstmals bei T. Hobbes, Vom Bürger (1642), Vorwort:<br />
»Darauf zeige i<strong>ch</strong> nun, daß <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en außerhalb <strong>der</strong> bürgerli<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
(den i<strong>ch</strong> den Naturzustand zu nennen mir erlaube) nur <strong>der</strong> Krieg aller gegen alle ist, und daß in<br />
diesem Kriege alle ein Re<strong>ch</strong>t auf alles haben.« Der Gedanke wird wie<strong>der</strong> aufgegriffen in <strong>der</strong>s., Leviathan<br />
(1651), Kapitel 13: »Hereby it is manifest, that during the time men live without a common<br />
Power to keep them all in awe, they are in that condition whi<strong>ch</strong> is called Warre; and su<strong>ch</strong> a<br />
warre, as is of every man, against every man. ... Whatsoever therefore is consequent to a time of<br />
171
s<strong>ch</strong>en »einsam, arm, unangenehm, brutal und kurz« 205 ma<strong>ch</strong>t, desto eher konnte das<br />
Argument überzeugen, daß <strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> Anar<strong>ch</strong>ie in die Staatli<strong>ch</strong>keit für<br />
jeden einzelnen, au<strong>ch</strong> den 'Starken', vorteilhaft sei 206 . Mit dieser Gesamtents<strong>ch</strong>eidung<br />
für o<strong>der</strong> gegen Staatli<strong>ch</strong>keit war aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts über die ri<strong>ch</strong>tige Verteilung<br />
von Re<strong>ch</strong>ten und Pfli<strong>ch</strong>ten innerhalb eines Staatswesens gesagt. So konnte einerseits<br />
Hobbes den Sozialvertrag zur Re<strong>ch</strong>tfertigung au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> absolutistis<strong>ch</strong>en Herrs<strong>ch</strong>aft heranziehen<br />
207 , während etwa Nozick ihn für die Begründung eines Minimalstaates anführt<br />
208 . Diese unbefriedigende Beliebigkeit rührt letztli<strong>ch</strong> daher, daß jede Staatli<strong>ch</strong>keit<br />
den Vorteil eines höheren Niveaus si<strong>ch</strong>er genießbarer Güter für alle bietet, ohne<br />
daß si<strong>ch</strong> ausma<strong>ch</strong>en ließe, wel<strong>ch</strong>e unter den vorteilhaften Organisationsformen für<br />
die Beteiligten optimal ist.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Spieltheorie 209 ist in diesem Jahrhun<strong>der</strong>t etwas klarer geworden, in<br />
wel<strong>ch</strong>en Fällen eine ni<strong>ch</strong>t nur irgendwie vorteilhafte, son<strong>der</strong>n insgesamt optimale<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung vorliegt. Die <strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren, die<br />
letztli<strong>ch</strong> alle auf Nash zurückgehen, geben den Rahmen vor, innerhalb dessen si<strong>ch</strong> eine<br />
no<strong>ch</strong> zu erörternde Varianz von Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien entwickelt hat. Na<strong>ch</strong> den<br />
<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren wird jeweils die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Verhandlungsma<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Parteien zum Kriterium für die Ents<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en<br />
vers<strong>ch</strong>iedenen Pareto-optimalen Ergebnissen gema<strong>ch</strong>t. Übersetzt in die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssemantik<br />
lautet die prozedurale Bedingung: Gere<strong>ch</strong>t ist dasjenige Pareto-optimale<br />
Verteilungsergebnis, das deshalb Ausdruck einer rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung ist,<br />
weil es dur<strong>ch</strong> Ausübung von Verhandlungsma<strong>ch</strong>t zustandegekommen ist (Ma<strong>ch</strong>tproporzbedingung)<br />
210 . Die Theorie zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren ist<br />
Warre, where every man is Enemy to every man; the same is consequent to the time, wherein men<br />
live without other security, than what their own strength, and their own invention shall furnish<br />
them withall.« Au<strong>ch</strong> das 'homo homini lupus' stammt aus <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>rift 'Vom Bürger' (1642): ebd.,<br />
Widmung: »Nun sind si<strong>ch</strong>er beide Sätze wahr: Der Mens<strong>ch</strong> ist ein Gott für den Mens<strong>ch</strong>en, und: Der<br />
Mens<strong>ch</strong> ist ein Wolf für den Mens<strong>ch</strong>en; jener, wenn man die Bürger untereinan<strong>der</strong>, dieser, wenn man<br />
die Staaten untereinan<strong>der</strong> verglei<strong>ch</strong>t.«<br />
205 T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 13: »Nature has made men so equall, in the faculties of body,<br />
and mind; ... the weakest has strength enough to kill the strongest, either by secret ma<strong>ch</strong>ination,<br />
or by confe<strong>der</strong>acy with others, that are in the same danger with himselfe. ... And the life of man,<br />
[is] solitary, poore, nasty, brutish, and short.«<br />
206 T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 17: »The finall Cause, End, or Designe of men ... is the foresight<br />
of their own pre<strong>servat</strong>ion, and of a more contented life thereby«. Zu dem Zusammenhang<br />
zwis<strong>ch</strong>en negativem Naturzustandsbild und Überzeugungskraft des Staatsbildungsarguments<br />
R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 3 ff.<br />
207 T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 30: »Of the Office of the Soveraign Representative«.<br />
208 Dazu unten S. 183 ff. (Theorie des libertären Minimalstaates).<br />
209 Dazu unten S. 270 ff. (Kritik spieltheoretis<strong>ch</strong>er Grundlegung).<br />
210 Die Ma<strong>ch</strong>tproporzbedingung wird von Nash auf drei Unterbedingungen rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
zurückgeführt. (1) Die zugrundegelegten Nutzenfaktoren sollen einheitsunabhängig sein, eine<br />
Verzehnfa<strong>ch</strong>ung aller Einzelnutzenfaktoren einer Partei also immer no<strong>ch</strong> zum glei<strong>ch</strong>en Ergebnis<br />
führen. Dem wird dur<strong>ch</strong> die Multiplikation entspro<strong>ch</strong>en. (2) Die Nutzenfaktoren sollen symmetris<strong>ch</strong><br />
sein, so daß identis<strong>ch</strong>e Nutzenfaktoren <strong>der</strong> Parteien zu einer Glei<strong>ch</strong>verteilung führen. Dem<br />
wird dur<strong>ch</strong> eine Normalisierung <strong>der</strong> Faktoren im Berei<strong>ch</strong> 0.0 bis 1.0 Re<strong>ch</strong>nung getragen. (3) Die<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung muß unabhängig von irrelevanten (d.h. unerrei<strong>ch</strong>baren) Alternativen sein. Diese<br />
Bedingung betrifft den Fall, daß si<strong>ch</strong> bei bestimmten Konstellationen <strong>der</strong> Gesamtumfang des Gewinns<br />
und damit mögli<strong>ch</strong>erweise alle Nutzenfaktoren <strong>der</strong> Parteien vers<strong>ch</strong>ieben. Dann dürfen in<br />
172
von J.F. Nash, J.C. Harsanyi und R. Selten in Stufen zu einem allgemeinen Analyseinstrument<br />
<strong>der</strong> Sozialwissens<strong>ch</strong>aften entwickelt worden 211 . Als Werkzeuge <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungsanalyse<br />
sind die Ergebnisse au<strong>ch</strong> für Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(rational <strong>ch</strong>oice theories) zentral.<br />
1. Theorie <strong>der</strong> unglei<strong>ch</strong>en Verhandlungsma<strong>ch</strong>t (J.F. Nash)<br />
Nash hat die Ents<strong>ch</strong>eidungsprozedur als Optimierung <strong>der</strong> relativen Nutzenfaktoren konkretisiert<br />
und damit das Phänomen unglei<strong>ch</strong>er Verhandlungsma<strong>ch</strong>t (bargaining power)<br />
zum formalen Bestandteil seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie gema<strong>ch</strong>t 212 . Die relativen<br />
Nutzenfaktoren <strong>der</strong> Parteien sind repräsentiert dur<strong>ch</strong> Werte zwis<strong>ch</strong>en 0 (dem Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt)<br />
und 1 (dem Maximalnutzen bei <strong>der</strong> jeweiligen Wuns<strong>ch</strong>vereinbarung).<br />
Sol<strong>ch</strong>e relativen Nutzenfaktoren haben bereits von Neumann/Morgenstern im<br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> hypothetis<strong>ch</strong>en Wahl zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Lotterien<br />
eingeführt 213 . Die Optimierung relativer Nutzenfaktoren läßt si<strong>ch</strong> anhand eines Beispiels<br />
zur Verteilung des Kooperationsgewinns verdeutli<strong>ch</strong>en: Angenommen A und<br />
B haben die Mögli<strong>ch</strong>keit, dur<strong>ch</strong> Zusammenarbeit bei <strong>der</strong> Produktion einen Kooperationsgewinn<br />
zu erzielen, also gemeinsam mehr zu erhalten, als wenn je<strong>der</strong> für si<strong>ch</strong><br />
arbeitete. B benötigt dringend einen kleinen Geldbetrag, um eine lästige S<strong>ch</strong>uld zu<br />
beglei<strong>ch</strong>en, während A s<strong>ch</strong>uldenfrei und sorglos ist. Dann hat A eine größere Verhandlungsma<strong>ch</strong>t.<br />
Für ihn ist <strong>der</strong> persönli<strong>ch</strong>e Nutzen aus <strong>der</strong> Kooperation in etwa<br />
proportional zum Gewinnanteil, also Nutzenfaktor 0 für keinen und 1 für 100%-igen<br />
Gewinnanteil. B dagegen ist mit einem kleinen Gewinnanteil bereits überproportional<br />
geholfen, er hat also zum Beispiel bereits Nutzenfaktor 0,5 bei nur 20%-<br />
igem Gewinnanteil 214 . Je na<strong>ch</strong>dem wie groß dieser Unters<strong>ch</strong>ied in <strong>der</strong> Verhandlungsma<strong>ch</strong>t<br />
ist, bildet die Multiplikation <strong>der</strong> Nutzenfaktoren von A und B ein Optimum<br />
bereits bei weniger als 50%-igem Gewinnanteil für B, zum Beispiel bei 30% für B und<br />
70% für A. Eine sol<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>verteilung ist na<strong>ch</strong> Nash eine rational begründete<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung und damit gere<strong>ch</strong>t, weil sie den größten relativen Gesamtnutzen für<br />
die Parteien realisiert.<br />
Die relativen Nutzenfaktoren ma<strong>ch</strong>en für die Spieler einen Verglei<strong>ch</strong> und Abglei<strong>ch</strong><br />
ihrer jeweiligen Spielstrategien mögli<strong>ch</strong>. Nash konnte 1950 zeigen, daß in bestimmten<br />
Spielen ein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand eintritt, das sogenante Nasheiner<br />
Art Intervalls<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>telung <strong>der</strong> Parametrisierung nur no<strong>ch</strong> die neuen Nutzenfaktoren zur Grundlage<br />
<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung gema<strong>ch</strong>t werden.<br />
211 Der Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en den Einzeltheorien wird au<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>, daß diese drei<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftler im Jahre 1994 gemeinsam mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezei<strong>ch</strong>net wurden;<br />
vgl. Königli<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Akademie <strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aften, Bank of Sweden Prize in Economic<br />
Sciences in Memory of Alfred Nobel, 1994, Pressemitteilung vom 11. Oktober 1994: John<br />
C. Harsanyi (Berkeley, USA); John F. Nash (Princeton, USA); Reinhard Selten (Bonn, Germany) »for<br />
their pioneering analysis of equilibria in the theory of non-cooperative games.«<br />
212 Vgl. J.F. Nash, The Bargaining Problem (1950), S. 158: »Now since our solution should consist of<br />
rational expectations of gain by the two bargainers, ... [it should give] ea<strong>ch</strong> the amount of satisfaction<br />
he should expect to get.«<br />
213 J. v. Neumann/O. Morgenstern, The Theory of Games (1944).<br />
214 Zur Erläuterung: Nutzenfaktor 0,5 bei 20%-igem Gewinnanteil bedeutet, daß es B glei<strong>ch</strong>gültig ist,<br />
ob er 20% si<strong>ch</strong>er (d.h. mit 100%-iger Chance) o<strong>der</strong> 100% mit 50%-iger Chance bekommt.<br />
173
Equilibrium 215 . Na<strong>ch</strong> seiner Beweisführung, die no<strong>ch</strong> heute die Grundlage fast aller<br />
spieltheoretis<strong>ch</strong>er Modelle bildet, gibt es in jedem Spiel mit einer endli<strong>ch</strong>en Anzahl<br />
von Spielern, die beliebige Strategien verfolgen, mindestens einen Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand,<br />
bei dem alle Spieler eine für sie optimale Strategie gefunden haben. Dies folge<br />
daraus, daß die Spieler vollständiges Wissen über die Struktur des Spiels und die jeweiligen<br />
Präferenzen ihrer Mitspieler haben; sie können dann für jeden Mitspieler<br />
dessen optimale Gegenstrategie zu den eigenen Verhaltensalternativen erre<strong>ch</strong>nen<br />
und dadur<strong>ch</strong> die eigenen Erwartungen so lange anpassen, bis si<strong>ch</strong> ein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand<br />
einstellt, bei dem niemand mehr ein Interesse daran hat, die eigene<br />
Strategie zu verän<strong>der</strong>n.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß na<strong>ch</strong> Nash in Verhandlungssituationen<br />
mit vollständiger gegenseitiger Informiertheit die Verfolgung egoistis<strong>ch</strong>er<br />
Strategien zu einem Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand führt, in dem si<strong>ch</strong> die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Verhandlungsma<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Beteiligten nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lägt.<br />
2. Theorie <strong>der</strong> Verhandlungsführung (J.C. Harsanyi)<br />
Nash ging von Voraussetzungen aus, wie sie in <strong>der</strong> sozialen Realität nur selten vorkommen,<br />
nämli<strong>ch</strong> von einer vollständigen gegenseitigen Informiertheit aller Spielteilnehmer.<br />
Erst diese vollständige Informiertheit sollte die rationalistis<strong>ch</strong>e Interpretation<br />
des Nash-Equilibriums mögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en. Demgegenüber konnte Harsanyi im<br />
Jahr 1967 zeigen, daß jede unvollständige Information spieltheoretis<strong>ch</strong> als eine unsi<strong>ch</strong>ere<br />
Information behandelt werden kann. Ents<strong>ch</strong>eidungen unter Unsi<strong>ch</strong>erheit waren<br />
aber bereits spieltheoretis<strong>ch</strong> erfaßbar. Dur<strong>ch</strong> Harsanyis Erweiterung galt folgli<strong>ch</strong><br />
nunmehr die erweiterte These, daß es bei jedem Spiel mindestens ein Nash-<br />
Equilibrium gibt.<br />
Für Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist ni<strong>ch</strong>t nur diese allgemeine<br />
Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tsthese, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> Harsanyis Verfahrensdeutung <strong>der</strong> Nutzenoptimierung<br />
ein Gewinn. Harsanyi hat die Optimierung relativer Nutzenfaktoren in einer<br />
Prozedur <strong>der</strong> Verhandlungsführung formuliert 216 . Im Ergebnis entspri<strong>ch</strong>t seine<br />
Lösung <strong>der</strong> von Nash 217 . Die Prozedur ist als Pfli<strong>ch</strong>t zum nä<strong>ch</strong>sten Zugeständnis in<br />
einer Reihe von Angeboten und Gegenangeboten definiert. Wenn im obigen Beispiel<br />
A eine Glei<strong>ch</strong>verteilung in den Raum stellt (ohne sie verbindli<strong>ch</strong> anzubieten), dann<br />
ist B <strong>der</strong>jenige, wel<strong>ch</strong>er beim Ni<strong>ch</strong>tzustandekommen am meisten zu verlieren hätte,<br />
weil er auf die Kooperation dringen<strong>der</strong> angewiesen ist. Er muß darum das nä<strong>ch</strong>ste<br />
Zugeständnis ma<strong>ch</strong>en, beispielsweise 95% Gewinnanteil für A. Bei einem sol<strong>ch</strong>en<br />
Angebot hätte nunmehr A beim hypothetis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>eitern <strong>der</strong> Verhandlung am meisten<br />
zu verlieren. Ihn trifft darum die Pfli<strong>ch</strong>t zum nä<strong>ch</strong>sten Zugeständnis. Die Prozedur<br />
wird solange angewandt, bis als Ergebnis des Näherungsprozesses eine Lösung<br />
im Raum steht, bei <strong>der</strong>en Ni<strong>ch</strong>tzustandekommen beide Parteien glei<strong>ch</strong>viel zu<br />
verlieren hätten.<br />
215 J.F. Nash, Non-cooperative Games (1951), S. 286 ff.<br />
216 Vgl. J.C. Harsanyi, Rational Behavior and Bargaining Equilibrium (1982).<br />
217 Zu dem Unters<strong>ch</strong>ied, daß Harsanyi als Utilitarist ni<strong>ch</strong>t den S<strong>ch</strong>ritt von rationaler Wahl zu moralis<strong>ch</strong>er<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit ma<strong>ch</strong>t, siehe bereits oben S. 154 (utilitaristis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong>).<br />
174
3. Theorie <strong>der</strong> relevanten Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustände (R. Selten)<br />
Ein na<strong>ch</strong> wie vor ni<strong>ch</strong>t vollständig gelöstes Problem <strong>der</strong> Theorie von Nash und Harsanyi<br />
liegt darin, daß mehrere Nash-Equilibria vorkommen können. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
läßt si<strong>ch</strong> zeigen, daß unter mehreren mögli<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszuständen au<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
Eintritt eines sol<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts am wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>sten sein kann, das ni<strong>ch</strong>t den<br />
Gesamtnutzen optimiert 218 . Das Problem multipler Equilibria wurde von Selten in<br />
einem Konzept <strong>der</strong> Perfektion von Nash-Equilibria behandelt 219 . Die Theorie von Selten<br />
enthält die – in Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> umstrittene 220 – These,<br />
daß Drohungen in <strong>der</strong> Kalkulation relativer Nutzenfaktoren nur dann berücksi<strong>ch</strong>tigt<br />
werden dürfen, wenn sie au<strong>ch</strong> glaubhaft sind 221 . Es geht also ni<strong>ch</strong>t mehr nur um die<br />
unglei<strong>ch</strong>e Verhandlungsma<strong>ch</strong>t, son<strong>der</strong>n zusätzli<strong>ch</strong> um die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Bereits<strong>ch</strong>aft,<br />
diese Ma<strong>ch</strong>t nötigenfalls au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ädigend einzusetzen. Für die Eins<strong>ch</strong>ätzung <strong>der</strong><br />
Theorie kommt es ni<strong>ch</strong>t auf die Einzelheiten zu den perfekten Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszuständen<br />
an, son<strong>der</strong>n nur auf den Umstand, daß Selten die Bedingung <strong>der</strong> realistis<strong>ch</strong>en<br />
Drohung ni<strong>ch</strong>t etwa aus einem rationalistis<strong>ch</strong>en Kalkül ableitet, son<strong>der</strong>n als Voraussetzung<br />
selbst setzt 222 . Es handelt si<strong>ch</strong> ledigli<strong>ch</strong> um eine Annahme, die für den Beweis<br />
perfekter Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustände nützli<strong>ch</strong> ist, selbst aber in <strong>der</strong> Theorie ni<strong>ch</strong>t begründet<br />
wird.<br />
4. Ergebnisse<br />
Die spieltheoretis<strong>ch</strong>en Konstrukte <strong>der</strong> 'relativen Nutzenfaktoren' und 'Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tspunkte'<br />
führen zu einem Modell für rationale Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung, das den<br />
simplen Darstellungsmitteln <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien überlegen ist. Das Kalkül<br />
kann aber die Verhaltenspräferenzen, auf denen es aufbaut, selbst ni<strong>ch</strong>t begründen.<br />
Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für die Frage <strong>der</strong> Risikobereits<strong>ch</strong>aft und die Mögli<strong>ch</strong>keit und<br />
Wirkung von Drohungen.<br />
218 J.C. Harsanyi, Rule-Utilitarianism, Rights, Obligations and the Theory of Rational Behavior (1980),<br />
S. 117 ff.<br />
219 R. Selten, Spieltheoretis<strong>ch</strong>e Behandlung eines Oligopolmodells (1965), S. 306 ff., 309 ff.<br />
220 Dieses spieltheoretis<strong>ch</strong>e Element von Selten findet si<strong>ch</strong> in den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien von Lucas<br />
und Gauthier in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Gestalt, wird an<strong>der</strong>erseits von Bu<strong>ch</strong>anan und Braithwaite gerade<br />
ni<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt. Zu <strong>der</strong>en <strong>Theorien</strong> soglei<strong>ch</strong> S. 176 ff. (<strong>Theorien</strong> zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt).<br />
221 Vgl. R. Selten, Spieltheoretis<strong>ch</strong>e Behandlung eines Oligopolmodells (1965), S. 308: »Diese Drohung<br />
muß aber wirkungslos bleiben, wenn Spieler 2 si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im voraus bindend auf ihre Dur<strong>ch</strong>führung<br />
festlegen kann.«<br />
222 Vgl. R. Selten, Spieltheoretis<strong>ch</strong>e Behandlung eines Oligopolmodells (1965), S. 306: »Eine weitere<br />
Annahme, von <strong>der</strong> wir ausgehen werden, besteht darin, daß wir ein 'wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es' Verhalten<br />
unterstellen. Damit ist gemeint, daß je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oligopolisten davor zurücks<strong>ch</strong>reckt, einen seiner<br />
Konkurrenten aus dem Markt zu verdrängen. Diese Annahme hat viel für si<strong>ch</strong>, denn je<strong>der</strong> Verdrängungskampf<br />
birgt s<strong>ch</strong>wer kalkulierbare Risiken.« Sowie S. 323: »Allzu aggressive Strategien<br />
wurden von vornherein von <strong>der</strong> Betra<strong>ch</strong>tung ausges<strong>ch</strong>lossen.«<br />
175
III. <strong>Theorien</strong> zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt (nonagreement basepoint)<br />
Die ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>ten <strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren begründen,<br />
wel<strong>ch</strong>e Verteilung bei vorgegebenem Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt (nonagreement basepoint)<br />
rational ist 223 . Die geringere Verhandlungsma<strong>ch</strong>t (bargaining power) einer Partei führt<br />
dazu, daß es für diese rational ist, bei vorgegebenem Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt s<strong>ch</strong>on mit<br />
einem geringeren Anteil am Kooperationsgewinn zufrieden zu sein. Von den <strong>Theorien</strong><br />
wird ni<strong>ch</strong>ts darüber gesagt, wel<strong>ch</strong>en Einfluß die Beteiligten auf den Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt<br />
nehmen können, an dem das Rationalitätskalkül ansetzt 224 . <strong>Theorien</strong><br />
über Szenarien maximaler Drohung gehen an<strong>der</strong>s vor. Na<strong>ch</strong> ihnen ist grundsätzli<strong>ch</strong><br />
eine Glei<strong>ch</strong>verteilung des Kooperationsgewinns rational. Allerdings soll si<strong>ch</strong> diese<br />
Glei<strong>ch</strong>verteilung dana<strong>ch</strong> bemessen, was die Beteiligten im Verglei<strong>ch</strong> zu einer (hypothetis<strong>ch</strong>en)<br />
Situation maximaler Drohung erhalten würden. Der Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt<br />
besteht also ni<strong>ch</strong>t in bloßem Kooperationsverzi<strong>ch</strong>t, son<strong>der</strong>n in einer<br />
geda<strong>ch</strong>ten Gegners<strong>ch</strong>aft.<br />
1. Theorie des hypothetis<strong>ch</strong>en Drohspiels (R.B. Braithwaite)<br />
Na<strong>ch</strong> Braithwaite ergibt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt aus einem hypothetis<strong>ch</strong>en<br />
Drohspiel 225 . Zur Verdeutli<strong>ch</strong>ung seines Ansatzes greift Braithwaite auf ein inzwis<strong>ch</strong>en<br />
klassis<strong>ch</strong>es Beispiel zurück: Pianist P und Trompeter T leben in bena<strong>ch</strong>barten<br />
Räumen und haben jeden Tag glei<strong>ch</strong>zeitig Gelegenheit für Übungen. Ihre Verhandlung<br />
geht darüber, wer an wievielen Tagen des Monats spielen darf. Die<br />
Wuns<strong>ch</strong>vereinbarung lautet für jeden, daß er selbst immer und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e nie musiziert.<br />
Der Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt wird ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> bei<strong>der</strong>seitigen Spielverzi<strong>ch</strong>t, son<strong>der</strong>n<br />
dur<strong>ch</strong> die jeweils größte Drohung gegenüber dem Na<strong>ch</strong>barn definiert, bezei<strong>ch</strong>-<br />
223 Gelegentli<strong>ch</strong> wird statt von basepoint au<strong>ch</strong> von baseline gespro<strong>ch</strong>en; R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and<br />
Utopia (1974), S. 177; B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 56-95; W.A. Edmundson, Is Law Coercive?<br />
(1995), S. 83 ff. Der von Braithwaite benutzte Begriff des basepoints ist vorzugswürdig, denn er<br />
drückt treffend aus, daß es um eine ganz bestimmte ni<strong>ch</strong>tkooperative Verglei<strong>ch</strong>ssituation geht,<br />
von <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Kooperationsgewinn glei<strong>ch</strong>mäßig zu verteilen ist. Ein an<strong>der</strong>er, mit basepoint inhaltsglei<strong>ch</strong>er<br />
Begriff ist die initial bargaining position; dazu D. Gauthier, Morals by Agreement<br />
(1986), S. 190 ff. Zu diversen mögli<strong>ch</strong>en Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkten als Basis für die rationale Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
siehe B. Barry, ebd., S. 56 ff.<br />
224 Es gehört zu den s<strong>ch</strong>wierigsten Problemen <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens und Sozialvertragstheorien,<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> einer Ausgangsposition <strong>der</strong> Unglei<strong>ch</strong>heit zu begründen. Von präsumptiver<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eines (d.h. jedes) status quo bis hin zur notwendigen Ableitung aus einem<br />
Zustand ursprüngli<strong>ch</strong>er (hypothetis<strong>ch</strong>-historis<strong>ch</strong>er) Glei<strong>ch</strong>heit wird hier alles vertreten. Einzelne<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheoretiker erklären die Ausgangsposition <strong>der</strong> Parteien zum integralen Bestandteil<br />
<strong>der</strong> Theorie; D. Gauthier, Morals by Agreement, S. 191 f.: »Rationale Prozeduren führen<br />
nur dann zu rational akzeptablen Ergebnissen, wenn sie ihrerseits von einer rational akzeptablen<br />
Ausgangspositions ausgehen.« Zur zentralen Bedeutung <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung über den Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt<br />
für die Verteilungsre<strong>ch</strong>tfertigung R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974),<br />
S. 177.<br />
225 Vgl. zum Übergang von einer antagonistis<strong>ch</strong>en 'unklugen' zu einer 'klugen' Strategie R.B. Braithwaite,<br />
Theory of Games as a Tool for the Moral Philosopher (1955), S. 45: »[T]here being no other<br />
satisfactory criterion for interpersonal fairness, ea<strong>ch</strong> collaborator should be regarded as benefiting<br />
equally by a <strong>ch</strong>ange from a prudential to a counter-prudential when his colleague is holding to his<br />
prudential strategy.«<br />
176
net also die Situation, in <strong>der</strong> P und T ständig gegeneinan<strong>der</strong> anspielen (Drohspielbedingung).<br />
Nun ist aber Pianist P empfindli<strong>ch</strong>er gegenüber dem glei<strong>ch</strong>zeitigen<br />
Spielen. Die gegenseitige Drohung belastet P folgli<strong>ch</strong> stärker als T. Entspre<strong>ch</strong>end<br />
hat P einen größeren Nutzen von je<strong>der</strong> wie au<strong>ch</strong> immer gearteten Kooperation. Relativ<br />
zum dur<strong>ch</strong> Drohung gekennzei<strong>ch</strong>neten Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt muß eine Glei<strong>ch</strong>verteilung<br />
<strong>der</strong> Nutzengewinne also in einer Unglei<strong>ch</strong>verteilung <strong>der</strong> Spielzeiten resultieren.<br />
Ohne daß es hier auf eine genaue Beispielre<strong>ch</strong>nung ankäme 226 , wäre P soviel<br />
weniger Spielzeit als T einzuräumen, daß beide den glei<strong>ch</strong>en Nutzengewinn aus <strong>der</strong><br />
Gesamtkooperation ziehen. Gere<strong>ch</strong>t ist dana<strong>ch</strong> das Ergebnis, das deshalb Ausdruck<br />
einer rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung ist, weil es den relativ zu einer Grundposition gegenseitiger<br />
S<strong>ch</strong>ädigungsdrohung (Drohspielbedingung) entstehenden Nutzengewinn<br />
glei<strong>ch</strong>mäßig auf die Parteien verteilt.<br />
2. Theorie <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Wahl (J.M. Bu<strong>ch</strong>anan)<br />
a) Das Ideal einer geordneten Anar<strong>ch</strong>ie<br />
Bu<strong>ch</strong>anan gilt als einer <strong>der</strong> ersten Theoretiker, <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> neueren ökonomis<strong>ch</strong>en Theorie modelliert hat 227 . Die von ihm gemeinsam<br />
mit Tullock begründete Theorie <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Wahl (public <strong>ch</strong>oice theory 228 ) fragt dana<strong>ch</strong>,<br />
wel<strong>ch</strong>e politis<strong>ch</strong>e Ordnung entstehen müßte, wenn die Beteiligten in einer Art<br />
Marktordnung <strong>der</strong> Sozialmodelle auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ihrem Eigeninteresse folgten 229 . Als<br />
Antwort präsentiert Bu<strong>ch</strong>anan eine Sozialvertragstheorie, in <strong>der</strong> ein Szenario maximaler<br />
Drohung zur Grundlage gema<strong>ch</strong>t wird 230 . Die stark am Effizienzdenken orientierte<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie kann im Spektrum <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien als ökonomis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption bezei<strong>ch</strong>net werden. Sie geht davon aus, daß <strong>der</strong> ideale Sozialzustand<br />
in einer 'geordneten Anar<strong>ch</strong>ie' bestünde 231 . In <strong>der</strong> ungeordneten Anar<strong>ch</strong>ie als einem<br />
Zustand unbes<strong>ch</strong>ränkter Handlungsfreiheiten ergibt si<strong>ch</strong> die natürli<strong>ch</strong>e Güterverteilung<br />
daraus, daß si<strong>ch</strong> Grenznutzen und Grenzkosten für zusätzli<strong>ch</strong>en Aufwand die<br />
Waage halten. Diese natürli<strong>ch</strong>e Verteilung ist aber wegen <strong>der</strong> hohen Verteidigungskosten<br />
auf einem niedrigen Niveau angesiedelt. Denn im Naturzustand fehle es an<br />
226 Dazu R.B. Braithwaite, Theory of Games as a Tool for the Moral Philosopher (1955), S. 26 ff.<br />
227 Diese beson<strong>der</strong>e Bedeutung zeigt si<strong>ch</strong> darin, daß Bu<strong>ch</strong>anan im Jahre 1986 mit dem Nobelpreis für<br />
Ökonomie ausgezei<strong>ch</strong>net wurden; vgl. Königli<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Akademie <strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aften,<br />
Bank of Sweden Prize in Economic Sciences in Memory of Alfred Nobel, 1995, Pressemitteilung<br />
vom 16. Oktober 1986: James McGill Bu<strong>ch</strong>anan (Virginia, USA) »for his development of the contractual<br />
and constitutional bases for the theory of economic and political decision-making.«<br />
228 J.M. Bu<strong>ch</strong>anan/G. Tullock, The Calculus of Consent (1962); G.J. Stigler, The Citizen and the State<br />
(1975); J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975). Die Theorie wird heute überwiegend dur<strong>ch</strong> Beiträge<br />
in <strong>der</strong> Zeits<strong>ch</strong>rift 'Public Choice' vorangetrieben.<br />
229 Vgl. B. Ackerman, We The People (1991), S. 308 ff. (311) – Charakterisierung und Kritik <strong>der</strong> public<br />
<strong>ch</strong>oice theory; C. Kir<strong>ch</strong>ner, Ökonomis<strong>ch</strong>e Theorie des Re<strong>ch</strong>ts (1997), S. 23 ff. – public <strong>ch</strong>oice als »Ökonomis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie <strong>der</strong> Verfassung«.<br />
230 J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 60 ff.<br />
231 Zum Idealzustand einer 'geordneten Anar<strong>ch</strong>ie' und seiner Unmögli<strong>ch</strong>keit siehe J.M. Bu<strong>ch</strong>anan,<br />
Limits of Liberty (1975), S. 189.<br />
177
einer anerkannten Trennungslinie zwis<strong>ch</strong>en mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Interessensphären 232 .<br />
Daraus entstehen zwangsläufig Konflikte: Gibt es beispielsweise in einer geda<strong>ch</strong>ten<br />
Welt mit zwei Mens<strong>ch</strong>en nur einen einzigen Obstbaum, so fehlt jedes Kriterium dafür,<br />
wer wann wel<strong>ch</strong>e Frü<strong>ch</strong>te beanspru<strong>ch</strong>en darf. Ni<strong>ch</strong>t zwangsläufig gewinnt immer<br />
<strong>der</strong> Stärkere. Au<strong>ch</strong> wer in körperli<strong>ch</strong>er Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>ch</strong>ancenrei<strong>ch</strong> ist,<br />
könnte mangels Ausdauer o<strong>der</strong> Wa<strong>ch</strong>samkeit unterliegen 233 . In einer geda<strong>ch</strong>ten<br />
Zweipersonenwelt vers<strong>ch</strong>wenden die Beteiligten ihre Energie. Sie sind so sehr mit<br />
<strong>der</strong> Organisation und Verteidigung ihres Vorteils bes<strong>ch</strong>äftigt, daß die Zeit unbeeinträ<strong>ch</strong>tigten<br />
Genusses gering bleibt. Bu<strong>ch</strong>anan argumentiert deshalb, daß s<strong>ch</strong>on in einer<br />
geda<strong>ch</strong>ten Welt mit zwei Personen die vertragli<strong>ch</strong>e Abgrenzung <strong>der</strong> individuellen<br />
Handlungsberei<strong>ch</strong>e für alle besser ist als eine natürli<strong>ch</strong>e Verteilung 234 . Zur Konfliktvermeidung<br />
seien darum Eigentumsre<strong>ch</strong>te und Vertragsfreiheit festzulegen und<br />
von einer staatli<strong>ch</strong>en Zwangsgewalt zu si<strong>ch</strong>ern. Erst dur<strong>ch</strong> Eigentumsre<strong>ch</strong>te und<br />
Vertragsfreiheit wird die Begründung ökonomis<strong>ch</strong>er Austaus<strong>ch</strong>beziehungen mögli<strong>ch</strong>,<br />
die ihrerseits dem unerrei<strong>ch</strong>baren Ideal einer geordneten Anar<strong>ch</strong>ie am nä<strong>ch</strong>sten<br />
kommen und darum die Grundlage einer optimalen sozialen Ordnung bilden. Insoweit<br />
besteht die rationale Notwendigkeit für einen im übrigen neutralen, protektiven<br />
Staat.<br />
b) Das Drohspiel als Sozialvertrag<br />
Bu<strong>ch</strong>anan entwirft einen zweistufigen Sozialvertrag: Der konstitutionelle Vertrag <strong>der</strong><br />
ersten Stufe verteilt einen Gütergrundbestand und regelt die Re<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Beteiligten<br />
daran. Der postkonstitutionelle Vertrag <strong>der</strong> zweiten Stufe regelt den Austaus<strong>ch</strong> privater<br />
und die Bereitstellung öffentli<strong>ch</strong>er Güter (public goods).<br />
Für den konstitutionellen Vertrag sind na<strong>ch</strong> Bu<strong>ch</strong>anan die unglei<strong>ch</strong>en Neigungen<br />
und Fähigkeiten <strong>der</strong> Beteiligten zu berücksi<strong>ch</strong>tigen. Jedem Individuum kommen eigene<br />
Präferenz- und Produktionsfunktionen zu. Läßt man diese Funktionen in einer<br />
Welt knapper Ressourcen zunä<strong>ch</strong>st ohne Bes<strong>ch</strong>ränkung in einer vorvertragli<strong>ch</strong>en<br />
Phase aufeinan<strong>der</strong>prallen, so stellt si<strong>ch</strong> ein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand ein, bei dem keine<br />
Person einen Anreiz hat, ihr Verhalten zu än<strong>der</strong>n. Dieser Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand<br />
enthält die natürli<strong>ch</strong>e Güterverteilung in <strong>der</strong> Anar<strong>ch</strong>ie. Das Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t kann au<strong>ch</strong><br />
darin bestehen, daß einzelne Mens<strong>ch</strong>en getötet o<strong>der</strong>, gewissermaßen als mil<strong>der</strong>es<br />
Mittel zu ihrer Verni<strong>ch</strong>tung, dur<strong>ch</strong> einen Sklavereivertrag verpfli<strong>ch</strong>tet werden, für<br />
die Herrs<strong>ch</strong>enden Dienste zu leisten 235 . Der Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand bildet einen<br />
Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt, <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> die Entwaffnung im Rahmen <strong>der</strong> konstitutionellen<br />
232 J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 198 wendet si<strong>ch</strong> insbeson<strong>der</strong>e gegen den von Locke behaupteten<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf natürli<strong>ch</strong>e Produkte und die Frü<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> eigenen Arbeit.<br />
233 Vgl. das Argument bei T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 13: »Nature has made men so equall, ...<br />
the weakest has strength enough to kill the strongest, either by secret ma<strong>ch</strong>ination, or by confe<strong>der</strong>acy<br />
with others«. Die spätere Bedeutung des Arguments folgte vor allem daraus, daß sie als<br />
Grundlage für das Konsensgebot galt; vgl. D. Hume, On the Original Contract (1741), S. 357:<br />
»When we consi<strong>der</strong> how nearly equal all men are in their bodily force, and even in their mental<br />
powers and faculties, till cultivated by education, we must necessarily allow that nothing but their<br />
own consent could at first associate them together and subject them to any authority.«<br />
234 J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 192.<br />
235 J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 60 ff.<br />
178
Vereinbarung festges<strong>ch</strong>rieben wird. Mit <strong>der</strong> Entwaffnung sind glei<strong>ch</strong>zeitig die Grenzen<br />
<strong>der</strong> Handlungsfreiheit (limits of liberty) und die korrespondierenden Eigentumsre<strong>ch</strong>te<br />
festgelegt. Insgesamt enthält <strong>der</strong> konstitutionelle Vertrag also drei Elemente,<br />
die zusammen die protektive Funktion des Staates bestimmen: den Entwaffnungsvertrag,<br />
die Definition von Eigentumsre<strong>ch</strong>ten und die Bedingungen für die Ausübung<br />
von Zwangsgewalt. Er enthält darüberhinaus als viertes Element die Grenzen für<br />
die produktive Funktion des Staates, also die Bestimmungen darüber, wann das Kollektiv<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungen über Bereitstellung und Finanzierung öffentli<strong>ch</strong>er Güter treffen<br />
darf.<br />
Der postkonstitutionelle Vertrag baut auf diesem vierten Element des konstitutionellen<br />
Vertrags auf. Die spontan entstehenden Marktbeziehungen zwis<strong>ch</strong>en Beteiligten<br />
des konstitutionellen Vertrags sind wegen hoher Transaktionskosten im Mehrpersonenverhältnis<br />
und wegen des Free-Ri<strong>der</strong>-Problems 236 ni<strong>ch</strong>t geeignet, effiziente<br />
Ergebnisse zu liefern. Für eine effiziente Bereitstellung öffentli<strong>ch</strong>er Güter müssen<br />
Regeln über eine kollektive Ents<strong>ch</strong>eidung <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft in einem weiteren Sozialvertrag<br />
festgelegt werden. Dieser postkonstitutionelle Vertrag unterliegt den Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
des vorausgehenden konstitutionellen Vertrags.<br />
Insgesamt kann man Bu<strong>ch</strong>anans Theorie als prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
verstehen, die darlegt, daß selbst krasseste Unglei<strong>ch</strong>behandlungen (Sklaverei) aus<br />
<strong>der</strong> Perspektive hobbesianis<strong>ch</strong>er Sozialvertragstheorien 'gere<strong>ch</strong>t' ers<strong>ch</strong>einen können,<br />
wenn man die individuelle Nutzenmaximierung mit dem gedankli<strong>ch</strong>en Modell des<br />
hypothetis<strong>ch</strong>en Drohspiels kombiniert.<br />
3. Theorie <strong>der</strong> realistis<strong>ch</strong>en Verhaltenshypothesen (J.R. Lucas)<br />
Lucas, <strong>der</strong> die Erkenntnisse von Nash, Harsanyi und Selten in grundlegen<strong>der</strong> Weise<br />
um eine Theorie <strong>der</strong> rationalen Erwartungen (rational expectations) erweitert hat, lehnt<br />
die von Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan verwendete Drohspielbedingung als für rationales<br />
Verhalten ni<strong>ch</strong>t relevant ab 237 . Wer seine eigene kluge Strategie wähle, also diejenige,<br />
die die eigenen Interessen am besten för<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> si<strong>ch</strong>ert, <strong>der</strong> würde ni<strong>ch</strong>t von ihr<br />
abwei<strong>ch</strong>en, nur um Vergeltung an <strong>der</strong> Gegenpartei zu üben 238 . Wenn maximal effektive<br />
Drohstrategien angewandt werden sollen, so müßten diese, um glaubwürdig zu<br />
sein, au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> eine realistis<strong>ch</strong>e Bindung an das angedrohte Verhalten gestützt<br />
sein 239 . Das sei aber real ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Fall, da si<strong>ch</strong> keine Partei von <strong>der</strong> bei<strong>der</strong>seitigen<br />
Vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terung irgendwel<strong>ch</strong>e Vorteile erhoffen könne. Der realistis<strong>ch</strong>e und damit<br />
ri<strong>ch</strong>tige Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt liege also ni<strong>ch</strong>t in einem Szenario maximaler Drohung,<br />
son<strong>der</strong>n die Beteiligten seien wie gegenseitig desinteressierte Mitarbeiter einer Uni-<br />
236 Als Free-Ri<strong>der</strong>-, Trittbrettfahrer- o<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>warzfahrer-Problem wird die Tendenz einzelner Individuen<br />
bezei<strong>ch</strong>net, si<strong>ch</strong> unerkannt an den Frü<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong> Massenkooperation zu beteiligen, ohne einen<br />
eigenen Beitrag zu leisten. Dazu unten S. 333 (Trittbrettfahrerproblem).<br />
237 J.R. Lucas, Moralists and Gamesmen (1959), S. 1 ff. (9). Ebenso, wenn au<strong>ch</strong> ohne Begründung, Selten;<br />
dazu oben S. 175 (Theorie <strong>der</strong> relevanten Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tspunkte).<br />
238 Vgl. J.R. Lucas, Moralists and Gamesmen (1959), S. 9 f.<br />
239 Vgl. J.R. Lucas, Moralists and Gamesmen (1959), S. 9 f.<br />
179
versität anzusehen: Sie sind we<strong>der</strong> Freunde no<strong>ch</strong> Feinde und behandeln einan<strong>der</strong> distanziert,<br />
wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unhöfli<strong>ch</strong> 240 .<br />
4. Ergebnisse<br />
<strong>Theorien</strong> zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt modellieren rationales Ents<strong>ch</strong>eiden etwas an<strong>der</strong>s<br />
als die spieltheoretis<strong>ch</strong>en Kalküle zu relativen Nutzenfaktoren. Bei ihnen geht<br />
es im Kern um die Frage, ob ein Drohspiel in die Bere<strong>ch</strong>nung <strong>der</strong> Ausgangsposition<br />
einbezogen werden muß und zu wel<strong>ch</strong>en Ergebnissen das führen würde. Diese Frage<br />
muß na<strong>ch</strong> wie vor als unbeantwortet angesehen werden 241 .<br />
IV. <strong>Theorien</strong> des neohobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertrags<br />
Neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien sind diejenigen <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens,<br />
die als Prozedur des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens im Sinne von D 4RC eine<br />
hypothetis<strong>ch</strong>e Vereinbarung egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierer über die soziale Ordnung<br />
(Sozialvertrag) annehmen. Von den bislang behandelten <strong>Theorien</strong> unters<strong>ch</strong>eiden<br />
sie si<strong>ch</strong> in ihrem Gegenstandsberei<strong>ch</strong>: Sozialvertragstheorien sind Makrotheorien,<br />
Nutzenkalkültheorien hingegen Mikrotheorien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 242 ; die Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
innerhalb dieser Theoriegruppe wird methodis<strong>ch</strong> erst dur<strong>ch</strong> die Skalierbarkeitsthese<br />
belegt 243 . Im Einzelfall können zu den neohobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertragstheorien<br />
au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> zählen, die als ihr historis<strong>ch</strong>es Vorbild ni<strong>ch</strong>t<br />
Hobbes, son<strong>der</strong>n Locke wählen.<br />
1. Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl? (J. Rawls)<br />
In <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie von Rawls lassen si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
drei vers<strong>ch</strong>iedene Elemente unters<strong>ch</strong>eiden. Das erste ist die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Begründung von Prinzipien mit Hilfe <strong>der</strong> Maximin-Regel. Das<br />
zweite ist die Bes<strong>ch</strong>reibung einer sozialvertragli<strong>ch</strong>en Ursprungssituation <strong>der</strong> Fairneß<br />
(original position). Das dritte ist die Stabilisierung des Ergebnisses mit Hilfe des Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts<br />
(reflective equilibrium). Die letzten beiden Elemente sind methodis<strong>ch</strong>,<br />
inhaltli<strong>ch</strong> und entwicklungszeitli<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Rawlss<strong>ch</strong>en Philosophie so deutli<strong>ch</strong><br />
getrennt, daß sie in dieser Untersu<strong>ch</strong>ung an späterer Stelle als zwei unters<strong>ch</strong>eidbare<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien behandelt werden, die mit '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß'<br />
und 'Politis<strong>ch</strong>er Liberalismus' tituliert werden 244 . Hier soll zunä<strong>ch</strong>st nur das erste<br />
Element interessieren, denn mit <strong>der</strong> ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en Komponente ist<br />
letztli<strong>ch</strong> die Perspektive des egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierers eingenommen, was<br />
240 J.R. Lucas, Moralists and Gamesmen (1959), S. 10: »There is no vindictiveness, only indifference.«<br />
241 Dazu unten S. 274 ff. (Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie).<br />
242 Dazu oben S. 110 (Mikro-, Meso- und Makrotheorien).<br />
243 Dazu oben S. 111 (Skalierbarkeitsthese).<br />
244 Dazu unten S. 199 ff. (kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien).<br />
180
we<strong>der</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> <strong>der</strong> utilitaristis<strong>ch</strong>en Si<strong>ch</strong>tweise entspri<strong>ch</strong>t 245 . Die Wurzeln<br />
dieser Komponente lassen si<strong>ch</strong> bis zum philosophis<strong>ch</strong>en Frühwerk von Rawls<br />
zurückverfolgen 246 . Dur<strong>ch</strong> die Benutzung des Maximin-Prinzips kombiniert Rawls in<br />
seiner Theorie Elemente rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens mit eigentli<strong>ch</strong> rationalitätsfremden,<br />
weil ni<strong>ch</strong>t vorteilsorientierten, moralis<strong>ch</strong>en Elementen. Deshalb eignet si<strong>ch</strong> die Theorie,<br />
um zu zeigen, in wel<strong>ch</strong>en Fällen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie trotz rationalistis<strong>ch</strong>er<br />
Rhetorik keine Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition ist.<br />
In <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie von Rawls war mit <strong>der</strong> Maximin-<br />
Regel an prominenter Stelle, nämli<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung über den Inhalt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
und ihr Verhältnis zueinan<strong>der</strong> 247 , ein Baustein aus <strong>der</strong> Theorie<br />
rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens enthalten 248 . Die Maximin-Regel ist eine Ents<strong>ch</strong>eidungsregel,<br />
die nur für Ents<strong>ch</strong>eidungen bei völliger Unsi<strong>ch</strong>erheit gilt, d.h. wenn Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keitsmaße<br />
überhaupt ni<strong>ch</strong>t bekannt sind 249 . Die Regel spiegelt die pessimistis<strong>ch</strong>e<br />
Grundhaltung bzw. das Verhalten eines risikos<strong>ch</strong>euen Ents<strong>ch</strong>eidungsträgers wi<strong>der</strong>,<br />
verglei<strong>ch</strong>bar etwa <strong>der</strong> Perspektive eines Versi<strong>ch</strong>erungsnehmers 250 . Gewählt wird<br />
diejenige Lösung, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> minimale (Kooperations-)Gewinnanteil, <strong>der</strong> in jedem<br />
Fall gesi<strong>ch</strong>ert bleibt, si<strong>ch</strong> auf mögli<strong>ch</strong>st hohem Niveau befindet und in diesem Sinne<br />
maximal ist 251 . Rawls definiert die Bedingungen seines Urzustands (original position)<br />
dur<strong>ch</strong> Einführung von Unkenntnis <strong>der</strong> eigenen natürli<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften und Dispositionen<br />
(veil of ignorance) bewußt so, daß die Maximin-Regel Anwendung findet<br />
252 . Aus <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Regel leitet Rawls seine beiden <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
ab – er stellt die Wahl <strong>der</strong> Prinzipien als eine rationale Ents<strong>ch</strong>eidung dar 253<br />
245 Kantis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> knüpfen ni<strong>ch</strong>t an die Konsequenzen des Handelns an, also au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an die<br />
Vorteilhaftigkeit im Handlungsergebnis, son<strong>der</strong>n sie fragen na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Handlung<br />
selbst; utilitaristis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> fragen ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> egoistis<strong>ch</strong>er, son<strong>der</strong>n allenfalls na<strong>ch</strong> kollektiver<br />
Nutzenmaximierung.<br />
246 J. Rawls, Outline of a Decision Procedure for Ethics (1951), S. 177 ff.<br />
247 Dazu unten S. 203 ff. (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
248 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 152 ff.<br />
249 Selbst dort ist sie no<strong>ch</strong> umstritten; J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 595 ff.; O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 422. Einigermaßen si<strong>ch</strong>er belegt ist sie nur für sogenannte Zweipersonen-Nullsummenspiele;<br />
vgl. J.v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games (1944).<br />
250 Dieser Verglei<strong>ch</strong> stammt von O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 422.<br />
251 Vgl. bei <strong>der</strong> Theorie Gauthiers die Aussagen zum maximin relative benefit, S. 189 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als minimax relative Konzession). Das Differenzprinzip <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spiegelt diese Regel<br />
unmittelbar wi<strong>der</strong>; J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 46, S. 302: »Social and economic inequalities<br />
are to be arranged so that they are ... to the greatest benefit of the least advantaged.« Dazu unten<br />
S. 203 (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
252 Ausdrückli<strong>ch</strong> J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 155 f.: »Now, as I have suggested, the original<br />
position has been defined so that it is a situation in whi<strong>ch</strong> the maximin rule applies. ... The<br />
parties have no basis for determining the probable nature of their society, or their place in it. ...<br />
Those deciding are mu<strong>ch</strong> more in the dark than the illustration by a numerical table suggests. It is<br />
for this reason that I have spoken of an analogy with the maximin rule.«<br />
253 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 156 f.: »The minimum assured by the two principles in<br />
lexical or<strong>der</strong> is not one that the parties wish to jeopardize for the sake of greater economic and social<br />
advantages. ... These remarks about the maximin rule are intended only to clarify the structure<br />
of the <strong>ch</strong>oice problem in the original position.«<br />
181
und identifiziert seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie sogar ausdrückli<strong>ch</strong> mit <strong>Theorien</strong> rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidens 254 .<br />
Obwohl Rawls mit <strong>der</strong> Maximin-Regel auf die Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie zurückgreift,<br />
wird seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie do<strong>ch</strong> keine Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Als sol<strong>ch</strong>e müßte sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen genau dann für ri<strong>ch</strong>tig halten, wenn diese<br />
das Ergebnis eines rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahrens sein können (D 4RC ). Do<strong>ch</strong><br />
bei aller Betonung des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens 255 handelt es si<strong>ch</strong> bei Rawls Prinzipienfindung<br />
eben ni<strong>ch</strong>t um eine rationale Wahl. Denn das in <strong>der</strong> Maximin-Regel liegende<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungselement verliert bei näherer Betra<strong>ch</strong>tung seine Radikalität als<br />
individuelle Nutzenmaximierung dadur<strong>ch</strong>, daß Rawls die Wahl bewußt in eine<br />
(hypothetis<strong>ch</strong>e und kontrafaktis<strong>ch</strong>e) Situation verlagert, in <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> gemeinsame<br />
Unkenntnis <strong>der</strong> Parteien ein Zustand von Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit bereits vorgezei<strong>ch</strong>net<br />
ist 256 . Rawls setzt, an<strong>der</strong>s als Gauthier, gerade ni<strong>ch</strong>t praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
mit rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung glei<strong>ch</strong> 257 . Seine Vernunftkonzeption ist diejenige <strong>der</strong><br />
kantis<strong>ch</strong>en Tradition, ni<strong>ch</strong>t die des Ents<strong>ch</strong>eidungsrationalismus 258 . Ganz unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Tatsa<strong>ch</strong>e, daß die Anwendbarkeit <strong>der</strong> Maximin-Regel überzeugend wi<strong>der</strong>legt<br />
259 und au<strong>ch</strong> von Rawls na<strong>ch</strong> anfängli<strong>ch</strong>en Rettungsversu<strong>ch</strong>en 260 aufgegeben<br />
254 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 3, S. 16: »[W]e have to ascertain whi<strong>ch</strong> principles it would be<br />
rational to adopt given the contractual situation. This connects the theory of justice with the theory<br />
of rational <strong>ch</strong>oice.« Zum Wi<strong>der</strong>ruf dieses 'Fehlers' siehe <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993), S. 53<br />
mit Fn. 7: »[T]his is simply incorrect. What should have been said is that the account of the parties,<br />
and of their reasoning, uses the theory of rational decision, though only in an intuitive way.«<br />
255 Vgl. etwa J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 3, S. 13: »One feature of justice as fairness is to think<br />
of the parties in the initial situation as rational and mutually disinterested. This does not mean<br />
that the parties are [only interested] in wealth, prestige, and domination. But they are conceived<br />
as not taking an interest in one another's interests.«<br />
256 Dieser Effekt des 'S<strong>ch</strong>leiers des Ni<strong>ch</strong>twissens' (veil of ignorance) ist beabsi<strong>ch</strong>tigt; J. Rawls, Theory of<br />
Justice (1971), § 3, S. 11: »Rather, the guiding idea is that the principles of justice for the basic<br />
structure of society are the object of the original agreement. They are principles that free and rational<br />
persons concerned to further their own interests would accept in an initial position of equality<br />
as defining the fundamental terms of their association.«<br />
257 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 51 f.: »They [Gauthier and others] think that if the reasonable<br />
can be <strong>der</strong>ived from the rational, that is, if some definite principles of justice can be <strong>der</strong>ived from<br />
the preferences, or decisions, or agreements of merely rational agents in suitably specified circumstances,<br />
then the reasonable is at last put on a firm basis. ... Justice as fairness rejects this idea.«<br />
258 So letztli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 53 mit Fn. 7: »This theory ... tries to give<br />
account of reasonable principles of justice. There is no thought of <strong>der</strong>iving those principles from<br />
the concept of rationality as the sole normative concept. I believe that the text of Theory as a whole<br />
supports this interpretation.« (Hervorhebung bei Rawls).<br />
259 Maßgebli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 595 ff. (595): »If you took the maximin<br />
principle seriously then you could not ever cross a street (after all, you might be hit by a car)<br />
... If anybody really acted this way he would soon end up in a mental institution...«. Grundlegende<br />
Kritik an <strong>der</strong> Anwendbarkeit <strong>der</strong> Maximin-Regel au<strong>ch</strong> bei J. Fishkin, Justice and Rationality<br />
(1975), S. 618, 627 f.; zusammenfassend P. Koller, Neue <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts (1987), S. 93<br />
ff.<br />
260 J. Rawls, Some Reasons for the Maximin Criterion (1974), S. 142: »[T]he maximin criterion is not<br />
meant to apply to small-scale situations ... Maximin is a macro not a micro principle.« Zur Wi<strong>der</strong>legung<br />
dieses Einwandes siehe J.C. Harsanyi, Maximin Principle (1975), S. 605.<br />
182
wurde 261 , ist die Rawlss<strong>ch</strong>e Vertragstheorie jedenfalls keine neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorie.<br />
2. Theorie des libertären Minimalstaats (R. Nozick)<br />
Nozick entwirft eine Sozialvertragstheorie des libertären Minimalstaats 262 , die als<br />
Theorie rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung angelegt ist 263 und wie diejenige Bu<strong>ch</strong>anans von einem<br />
Szenario maximaler Drohung ausgeht 264 . Nozick bejaht indes, in Anlehnung an<br />
Locke 265 und damit an<strong>der</strong>s als Bu<strong>ch</strong>anan, vorpolitis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te auf Leben, Gesundheit,<br />
Freiheit und Eigentum – sein Naturzustand ist unpolitis<strong>ch</strong>, aber ni<strong>ch</strong>t unmoralis<strong>ch</strong> 266 .<br />
Die soziale Anerkennung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te läßt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Nozick dur<strong>ch</strong> mehrstufige Sozialverträge<br />
im Wege eines Gedankenexperiments zeigen 267 . Die Theorie unters<strong>ch</strong>eidet<br />
zwei Begründungss<strong>ch</strong>ritte, <strong>der</strong>en erster die notwendige Entwicklung eines Staates<br />
aus dem Naturzustand und seine Legitimation als Minimalstaat darstellt. Im zweiten<br />
S<strong>ch</strong>ritt begründet Nozick, warum aus seiner Si<strong>ch</strong>t kein weitergehen<strong>der</strong> Staat als<br />
<strong>der</strong> Minimalstaat, also insbeson<strong>der</strong>e kein Staat mit redistributiven Elementen, gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
werden kann 268 .<br />
261 Der Ansatz einer rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie, dem au<strong>ch</strong> die Maximin-Ausführungen in <strong>der</strong><br />
ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie zuzure<strong>ch</strong>nen sind, wird von Rawls inzwis<strong>ch</strong>en nur no<strong>ch</strong> im Sinne eines<br />
»intiutive way« für anwendbar gehalten; J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 53 mit Fn. 7. Der<br />
Sa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> wird damit die Maximin-Regel als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterium aufgegeben.<br />
262 Vgl. R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 149: »The minimal state is the most extensive<br />
state that can be justified. Any state more extensive violates people's rights.«; S. 297: »No state<br />
more extensive than the minimal state can be justified.«; S. 333: »The framework for Utopia that<br />
we have described is equivalent to the minimal state.« J.R. Lucas, Principles of Politics (1966),<br />
S. 287 ff. hat bereits vor Nozick darauf hingewiesen, daß es vernünftige Gründe geben kann, einen<br />
Minimalstaat zu verlangen. Allerdings argumentiert er vor allem mit Totalitarismusresistenz und<br />
hält letztli<strong>ch</strong> die Gründe, die gegen einen Minimalstaat spre<strong>ch</strong>en, für gewi<strong>ch</strong>tiger (S. 292 ff.). Lucas<br />
definiert (S. 369): »A Minimum State is an unselective, coercive community with no functions,<br />
purposes, or ideals, other than the maintenance of law and or<strong>der</strong>.« (Hervorhebung bei Lucas).<br />
263 Zur Verwendung <strong>der</strong> Theorie rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung als normativer Theorie vgl. R. Nozick, Nature<br />
of Rationality (1993), S. 41: »An elaborate theory of rational decision has been developed by<br />
economists and statisticians, ... it stands as the dominant view of the conditions that a rational decision<br />
should satisfy: it is the dominant normative view.«<br />
264 Vgl. R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 12 ff. – S<strong>ch</strong>utzvereinigungen. Gerade in <strong>der</strong><br />
Verteidigung gegen latente Bedrohung besteht <strong>der</strong> Sinn von S<strong>ch</strong>utzvereinigungen.<br />
265 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 9 ff.<br />
266 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 6: »Our starting point then, though nonpolitical, is<br />
by intention far from nonmoral.«<br />
267 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 10 ff.<br />
268 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 147 ff. In <strong>der</strong> philosophis<strong>ch</strong>en Diskussion hat nur<br />
diese ursprüngli<strong>ch</strong>e, radikalliberale Konzeption Bedeutung erlangt; zu den späteren Bedenken<br />
und Relativierungen vgl. R. Nozick, The Examined Life (1989), S. 286 ff.<br />
183
a) Anerkennung persönli<strong>ch</strong>er Integrität (S<strong>ch</strong>utzvereinigungen)<br />
Der erste Begründungss<strong>ch</strong>ritt beginnt mit <strong>der</strong> Hypothese, daß Mens<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> im Naturzustand<br />
zu einfa<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aften zum S<strong>ch</strong>utz ihrer Re<strong>ch</strong>te vor Verletzungen<br />
dur<strong>ch</strong> Dritte zusammens<strong>ch</strong>ließen würden 269 . Diese S<strong>ch</strong>utzvereinigungen können nur<br />
dann einigermaßen effektiv funktionieren, wenn ihre Mitglie<strong>der</strong> auf Privatvergeltung<br />
verzi<strong>ch</strong>ten und au<strong>ch</strong> untereinan<strong>der</strong> keine Selbstjustiz üben 270 . Unter mehreren<br />
S<strong>ch</strong>utzgemeins<strong>ch</strong>aften innerhalb eines geographis<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>s wird si<strong>ch</strong> eine vorherrs<strong>ch</strong>ende<br />
S<strong>ch</strong>utzgemeins<strong>ch</strong>aft herausbilden, <strong>der</strong> zum Territorialstaat allerdings no<strong>ch</strong><br />
das territoriale Gewaltmonopol fehlt, weil die Mitglieds<strong>ch</strong>aft freiwillig bleibt und jede<br />
S<strong>ch</strong>utzleistung von Gegenleistungen des Mitglieds abhängt 271 . Gegenüber Außenseitern<br />
entwickelt si<strong>ch</strong> aber ein faktis<strong>ch</strong>es Gewaltmonopol dadur<strong>ch</strong>, daß die S<strong>ch</strong>utzvereinigung<br />
abwei<strong>ch</strong>endes Verhalten im Interesse eines umfassenden S<strong>ch</strong>utzes für<br />
ihre Mitglie<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t zulassen kann 272 . Wegen des allgemeinen Ents<strong>ch</strong>ädigungsgrundsatzes<br />
bei Re<strong>ch</strong>tsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung muß sie darum im Gegenzug den Außenseitern unabhängig<br />
von ihrer Mitglieds<strong>ch</strong>aft au<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>utz gewähren, um als Institution weiterhin<br />
moralis<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt (d.h. au<strong>ch</strong>: 'gere<strong>ch</strong>t') zu sein 273 . Damit entsteht <strong>der</strong> legitime<br />
Ultraminimalstaat 274 . Er wird zum Minimalstaat, indem aus entspre<strong>ch</strong>enden Erwägungen<br />
au<strong>ch</strong> die ni<strong>ch</strong>t Beitragsfähigen (z.B. Kleinkin<strong>der</strong>, bestimmte Behin<strong>der</strong>te,<br />
mittellose Alte) als Mitglie<strong>der</strong> aufgenommen und in den S<strong>ch</strong>utz einbezogen werden,<br />
wodur<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>zeitig eine dur<strong>ch</strong> das gemeinsame S<strong>ch</strong>utzinteresse begrenzte minimale<br />
Umverteilung stattfindet 275 .<br />
b) Anerkennung <strong>der</strong> Güterzuordnung (Anspru<strong>ch</strong>stheorie)<br />
Der zweite Begründungss<strong>ch</strong>ritt knüpft an eine historis<strong>ch</strong>e Vorstellung legitimen<br />
Erwerbs an 276 . Mit Ausnahme <strong>der</strong> erwähnten minimalen Umverteilung im Rahmen<br />
des für umfassenden Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz Notwendigen gibt es keine legitime Umverteilung<br />
von Besitz. Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> von Nozick so bezei<strong>ch</strong>neten Anspru<strong>ch</strong>stheorie (entitlement theory) ist<br />
<strong>der</strong> Besitz eines Mens<strong>ch</strong>en genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn für ihn na<strong>ch</strong> den drei Grundsät-<br />
269 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 12: »How might one deal with these troubles<br />
within a state of nature? ... Groups of individuals may form mutual-protection associations«.<br />
270 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 15: »The agency need only refuse a client C, who<br />
privately enfoces his rights against other clients, any protection against counterretaliation upon<br />
him by these other clients. ... This reduces intra-agency private enforcement of rights to minuscule<br />
levels.«<br />
271 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 22 ff.<br />
272 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 108 ff. (de facto monopoly), sowie bereits S. 101: »[A]<br />
dominant protective association ... may announce, and act on the announcement, that it will punish<br />
anyone who uses on one of its clients a procedure that it finds to be unreliable or unfair.«<br />
273 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 112: »Thus the dominant protective agency must<br />
supply the independents ... with protective services against its clients«.<br />
274 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 113: »The protective agency dominant in a territory<br />
does satisfy the two crucial necessary conditions for being a state.«<br />
275 So bereits die Ansätze zur Re<strong>ch</strong>tfertigung einer minimalen Umverteilung bei R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y,<br />
State, and Utopia (1974), S. 26 ff. (minimal vs. ultraminimal state).<br />
276 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 153 ff. (155): »The entitlement principles of justice<br />
in holdings that we have sket<strong>ch</strong>ed are historical principles of justice.«<br />
184
zen <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten Aneignung, Übertragung und Beri<strong>ch</strong>tigung ein Anspru<strong>ch</strong> besteht.<br />
Beri<strong>ch</strong>tigung in diesem Sinne erfaßt aber nur den Ausglei<strong>ch</strong> historis<strong>ch</strong>er Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten<br />
bei Aneignung und Übertragung, ni<strong>ch</strong>t aber allgemeine Umverteilung na<strong>ch</strong><br />
Ergebnisvorstellungen (end-state principles), da eine sol<strong>ch</strong>e Umverteilung Re<strong>ch</strong>te verletze,<br />
ohne selbst gere<strong>ch</strong>tfertigt zu sein. In Abgrenzung zu Rawls konkretisiert Nozick seine<br />
Theorie des Besitzes dur<strong>ch</strong> eine Argumentationskette, die beim Anspru<strong>ch</strong> aller Mens<strong>ch</strong>en<br />
auf ihre natürli<strong>ch</strong>en Gaben beginnt, dann folgert, daß si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> auf alle<br />
aus den Begabungen si<strong>ch</strong> ergebenden Ansprü<strong>ch</strong>e erstrecken muß und hierunter s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
die Aneignung und <strong>der</strong> Erwerb von Besitz fällt 277 . Demzufolge ist jegli<strong>ch</strong>er Besitz,<br />
mag er au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> so unglei<strong>ch</strong> sein und auf no<strong>ch</strong> so unglei<strong>ch</strong>en Erwerbsfähigkeiten <strong>der</strong><br />
Beteiligten beruhen, gere<strong>ch</strong>t, wenn er nur die Regeln gere<strong>ch</strong>ter Aneignung und Übertragung<br />
ni<strong>ch</strong>t verletzt.<br />
c) Moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie<br />
Eine Reihe von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, die praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit mit rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
identifizieren und insofern Kandidaten für 'Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' im Sinne <strong>der</strong> Definition D 4RC sind, fallen dadur<strong>ch</strong> auf, daß sie außer<br />
den Vorteilserwägungen au<strong>ch</strong> moralis<strong>ch</strong>e Gehalte aufweisen, weil sie ni<strong>ch</strong>t vollständig<br />
an <strong>der</strong> Perspektive des egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierers orientiert sind. Zu diesen<br />
gehört au<strong>ch</strong> die Theorie Nozicks. Denn in den Ents<strong>ch</strong>eidungserwägungen greift<br />
die Theorie unter an<strong>der</strong>em auf die Konzeption vorpositver Re<strong>ch</strong>te bei Locke zurück.<br />
Damit stellt si<strong>ch</strong> die Frage, ob die Theorie trotz dieses moralis<strong>ch</strong>en Gehalts no<strong>ch</strong> als<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von D 4RC qualifiziert werden kann.<br />
Die Antwort hängt davon ab, ob Nozick <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen genau dann für ri<strong>ch</strong>tig<br />
hält, wenn sie das Ergebnis eines rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahrens sein können,<br />
o<strong>der</strong> ob na<strong>ch</strong> seiner Theorie no<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e (moralis<strong>ch</strong>e) Kriterien eine Rolle spielen.<br />
Da Nozick si<strong>ch</strong> selbst ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> zu dieser Frage äußert, kommt es auf eine Interpretation<br />
seiner Theorie an, die bezügli<strong>ch</strong> des Verhältnisses von moralis<strong>ch</strong>en zu<br />
rationalistis<strong>ch</strong>en Elementen innerhalb des Begründungskonzeptes mehrere Deutungen<br />
zuläßt.<br />
Der moralis<strong>ch</strong>e Gehalt liegt in <strong>der</strong> Bezugnahme auf die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio und <strong>der</strong><br />
damit verbundenen Annahme vorpositiver Re<strong>ch</strong>te 278 . Die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio besagt,<br />
daß bei je<strong>der</strong> originären Aneignung no<strong>ch</strong> »genug und genauso Gutes für an<strong>der</strong>e übrig<br />
sein muß« 279 , was von Nozick als allgemeines S<strong>ch</strong>ädigungsverbot interpretiert<br />
wird 280 . Von <strong>der</strong> Pfli<strong>ch</strong>t, an<strong>der</strong>e ni<strong>ch</strong>t zu s<strong>ch</strong>ädigen, bis zu dem Re<strong>ch</strong>t an<strong>der</strong>er, ni<strong>ch</strong>t<br />
ges<strong>ch</strong>ädigt zu werden, ist es dann nur no<strong>ch</strong> ein kleiner S<strong>ch</strong>ritt, in dem Nozick si<strong>ch</strong><br />
Locke ans<strong>ch</strong>ließt, wodur<strong>ch</strong> er letztli<strong>ch</strong> zu seiner Anspru<strong>ch</strong>stheorie gelangt.<br />
Die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio wird von Nozick in zwei Auslegungsvarianten präsentiert,<br />
einer strengen und einer abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ten 281 . In <strong>der</strong> strengen Interpretation bezieht<br />
277 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 206 ff.<br />
278 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 174 ff.<br />
279 J. Locke, Two Treatises of Government (1698), II § 33: »enough, and as good left«.<br />
280 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 175.<br />
281 Nozick spri<strong>ch</strong>t von einer Interpretation als 'stringent requirement' und einer sol<strong>ch</strong>en als 'weak requirement';<br />
R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 176.<br />
185
si<strong>ch</strong> das Beeinträ<strong>ch</strong>tigungsverbot sowohl auf die gegenwärtige als au<strong>ch</strong> auf mögli<strong>ch</strong>e<br />
zukünftige Güternutzungen dur<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e. Eine Aneignung verletzt Re<strong>ch</strong>te an<strong>der</strong>er<br />
s<strong>ch</strong>on dann, wenn ni<strong>ch</strong>t eine unbegrenzte Fülle an Gütern jedem von ihnen au<strong>ch</strong> zukünftig<br />
glei<strong>ch</strong>e Aneignungsmögli<strong>ch</strong>keiten offenhält. In <strong>der</strong> abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ten Interpretation<br />
bezieht si<strong>ch</strong> das Beeinträ<strong>ch</strong>tigungsverbot dagegen nur auf die reale Güternutzung.<br />
Eine Aneignung verletzt die Re<strong>ch</strong>te an<strong>der</strong>er nur, wenn diesen dadur<strong>ch</strong> Güter,<br />
die sie bisher bereits genutzt haben, ni<strong>ch</strong>t mehr zur Verfügung stehen. Nur in<br />
dem abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ten Sinn läßt Nozick die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio gelten 282 . Sein S<strong>ch</strong>ädigungsverbot<br />
ist also nur ein Ingerenzverbot, das die Integrität <strong>der</strong> real bestehenden<br />
Güter an<strong>der</strong>er s<strong>ch</strong>ützt, ni<strong>ch</strong>t dagegen ein Verbot mittelbarer Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen<br />
dur<strong>ch</strong> die allgegenwärtige Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.<br />
In diesem abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ten Sinn kommen au<strong>ch</strong> die 'Re<strong>ch</strong>te' in Nozicks Anspru<strong>ch</strong>stheorie<br />
zur Geltung. Re<strong>ch</strong>te, die bei strenger Interpretation au<strong>ch</strong> positiv als Re<strong>ch</strong>te<br />
auf etwas bestehen könnten (z.B. eine neue, an<strong>der</strong>e Güterverteilung), sind bei Nozicks<br />
s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Interpretation des S<strong>ch</strong>ädigungsverbots ledigli<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>te gegen Eingriffe in<br />
den Bestand. Nozick überträgt also nur den Integritätss<strong>ch</strong>utz, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Integrität<br />
<strong>der</strong> Person (Leib, Leben) dur<strong>ch</strong> den Minimalstaat gesi<strong>ch</strong>ert wird, auf die Integrität<br />
von Sa<strong>ch</strong>gütern im Rahmen <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong>stheorie. Damit bleibt die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio<br />
bei Nozick bloßes Darstellungsmittel, ist aber für die Begründung funktionslos:<br />
Begründet sind Sa<strong>ch</strong>ansprü<strong>ch</strong>e nämli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on deshalb, weil die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
S<strong>ch</strong>utzgemeins<strong>ch</strong>aft die Sa<strong>ch</strong>güter einbringen, so daß diese automatis<strong>ch</strong> zur Gesamtheit<br />
<strong>der</strong> Güter gehören, <strong>der</strong>en Integrität dur<strong>ch</strong> den Minimalstaat ges<strong>ch</strong>ützt wird. Das<br />
ist eine reine Vorteilsüberlegung egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierer, bei <strong>der</strong> es für jeden<br />
einzelnen besser ist, das zu si<strong>ch</strong>ern, was er hat, als in <strong>der</strong> ständigen Unsi<strong>ch</strong>erheit einer<br />
s<strong>ch</strong>utzlosen Güterzuordnung zu leben. Der Minimalstaat ist kein Umverteilungsorganisator,<br />
<strong>der</strong> kritis<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Zuordnung fragt, son<strong>der</strong>n ein<br />
bloßer S<strong>ch</strong>utzstaat, in dem jeweils das ges<strong>ch</strong>ützt ist, was seine Mitglie<strong>der</strong> als Güterbestand<br />
eingebra<strong>ch</strong>t haben. Für die S<strong>ch</strong>utzgemeins<strong>ch</strong>aftsargumentation muß Nozick<br />
die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio und ihren moralis<strong>ch</strong>en Gehalt vorpositiver Re<strong>ch</strong>te also überhaupt<br />
ni<strong>ch</strong>t aktivieren. Es sind ni<strong>ch</strong>t die Re<strong>ch</strong>te, die den Staat gebieten, son<strong>der</strong>n die<br />
Vorteilhaftigkeit des Staates, <strong>der</strong> im Ergebnis zur Anerkennung von Re<strong>ch</strong>ten führt.<br />
Daß die sol<strong>ch</strong>ermaßen anerkannten Re<strong>ch</strong>te na<strong>ch</strong> Nozicks Auffassung s<strong>ch</strong>on als vorpositive<br />
angelegt sind, ist keine notwendige Voraussetzung für ihre rationale Begründung.<br />
Bei <strong>der</strong> Qualifizierung <strong>der</strong> Theorie Nozicks als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ist deshalb folgende Interpretation am naheliegendsten: Der Minimalstaat<br />
eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> in ihm ges<strong>ch</strong>ützten Güterzuordnung ist allein auf Vorteilserwägungen<br />
gegründet. Die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio, die Nozick zur Orientierung heranzieht,<br />
wirkt si<strong>ch</strong> in seinem Sozialvertragsmodell ni<strong>ch</strong>t als Begründungselement aus.<br />
Es handelt si<strong>ch</strong> um eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens.<br />
3. Theorie <strong>der</strong> Moral dur<strong>ch</strong> Vereinbarung (D.P. Gauthier)<br />
Gauthiers <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie geht in <strong>der</strong> Einbeziehung moralis<strong>ch</strong>er Elemente weiter<br />
als diejenige Nozicks. Sie enthält den wohl umfassendsten Entwurf einer argu-<br />
282 R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 178 ff.<br />
186
mentativen Erstreckung <strong>der</strong> (analytis<strong>ch</strong>en 283 ) Theorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens auf eine<br />
(normative) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie 284 . Ihre Grundthese<br />
lautet, daß Moralität vollständig als rationale Ents<strong>ch</strong>eidung darstellbar ist 285 .<br />
Die wi<strong>ch</strong>tigsten Instrumente <strong>der</strong> Theorie sind die 'Lockes<strong>ch</strong>e Provisio' (a) und das<br />
Konzept <strong>der</strong> 'minimax relativen Konzession' (b).<br />
a) Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt und Lockes<strong>ch</strong>e Provisio<br />
In Gauthiers Theorie gestaltet si<strong>ch</strong> gegenseitige Drohung – wie bei Lucas und Selten 286<br />
– als rein hypothetis<strong>ch</strong> und hat keinerlei Einfluß auf den Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt 287 .<br />
Diese Aussage ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> vor allem gegen Bu<strong>ch</strong>anans Theorie, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> die natürli<strong>ch</strong>e<br />
Güterverteilung ni<strong>ch</strong>t nur darin besteht, was je<strong>der</strong> ohne Einfluß <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en haben<br />
würde, son<strong>der</strong>n vielmehr korrigiert wird um dasjenige, was si<strong>ch</strong> die Parteien gegenseitig<br />
dur<strong>ch</strong> Drohung abpressen könnten: Der S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ere wird gezwungen, willentli<strong>ch</strong><br />
etwas von seinen Gütern abzugeben, nur weil er s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>er ist 288 . Demgegenüber<br />
soll <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt laut Gauthier dur<strong>ch</strong> das Bestreben <strong>der</strong> Parteien<br />
definiert sein, unabhängig voneinan<strong>der</strong> so gut wie mögli<strong>ch</strong> abzus<strong>ch</strong>neiden, ohne aber<br />
dem jeweils an<strong>der</strong>en zu drohen. Diese Position wird au<strong>ch</strong> als Si<strong>ch</strong>erheitsstufe (security<br />
level) bezei<strong>ch</strong>net 289 . Relativ zur Si<strong>ch</strong>erheitsstufe sind dann Kooperationsgewinne<br />
glei<strong>ch</strong>mäßig zwis<strong>ch</strong>en den Parteien zu verteilen. Gere<strong>ch</strong>t ist dana<strong>ch</strong> das Ergebnis, das<br />
deshalb Ausdruck einer rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung ist, weil es den relativ zu einer<br />
Grundposition <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>tkooperation (Si<strong>ch</strong>erheitsstufe) entstehenden Gewinn glei<strong>ch</strong>mäßig<br />
auf die Parteien verteilt.<br />
Gauthier entwickelt seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zu einer Sozialvertragstheorie<br />
weiter, in <strong>der</strong> die Re<strong>ch</strong>tfertigung des Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkts deutli<strong>ch</strong>er wird. Ausgangspunkt<br />
<strong>der</strong> Theorie ist die oben als Si<strong>ch</strong>erheitsstufe bezei<strong>ch</strong>nete Situation <strong>der</strong><br />
Ni<strong>ch</strong>tdrohung. Gauthier argumentiert, daß es für Beteiligte an Kooperationen und<br />
Vertragss<strong>ch</strong>lüssen nur dann rational ist, si<strong>ch</strong> an die Vereinbarungen zu halten, wenn<br />
283 <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sind zunä<strong>ch</strong>st analytis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong>, d.h. sie betreffen die logis<strong>ch</strong>e<br />
Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit von Ents<strong>ch</strong>eidungen gemessen an den Parametern, die <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
zugrundegelegt werden. Der gedankli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ritt, mit dem diese (analytis<strong>ch</strong>) als rational erkannten<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungen dann au<strong>ch</strong> (normativ) als gesollt angesehen werden, ist davon zu unters<strong>ch</strong>eiden.<br />
Dieser Unters<strong>ch</strong>ied wird indes nur selten ausdrückli<strong>ch</strong> betont. Erwähnung findet die<br />
Folge <strong>der</strong> Normativität etwa bei R. Nozick, Nature of Rationality (1993), S. 41: »[The] theory of rational<br />
decision ... stands as the dominant view of the conditions that a rational decision should satisfy:<br />
it is the dominant normative view.«<br />
284 Zur Normativität <strong>der</strong> entstehenden Theorie siehe D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 2:<br />
»We shall develop a theory of morals. Our concern is to provide a justificatory framework for moral<br />
behaviour and principles, not an explanatory framework. Thus we shall develop a normative<br />
theory.«<br />
285 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 2 ff. (4): »To <strong>ch</strong>oose rationally, one must <strong>ch</strong>oose morally.«<br />
286 Dazu oben S. 175 (Selten) sowie S. 179 (Lucas).<br />
287 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 200.<br />
288 Ausführli<strong>ch</strong> zur Kritik D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 196.<br />
289 B. Barry, Theories of Justice, S. 67 ff.<br />
187
die Ausgangsposition ni<strong>ch</strong>t erzwungen war 290 . S<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Ni<strong>ch</strong>tkooperation drückt<br />
si<strong>ch</strong>, ähnli<strong>ch</strong> wie bei Nozick, in <strong>der</strong> Lockes<strong>ch</strong>en Provisio (Lockean provisio) aus, na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> bei je<strong>der</strong> Verteilung »genug und genauso Gutes für an<strong>der</strong>e übrig sein muß« 291 .<br />
Na<strong>ch</strong> Gauthier bedeutet dies, wie<strong>der</strong>um ähnli<strong>ch</strong> wie bei Nozick, daß es verboten ist,<br />
die eigene Situation dur<strong>ch</strong> eine Interaktion zu verbessern, dur<strong>ch</strong> die si<strong>ch</strong> die Situation<br />
an<strong>der</strong>er vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tert 292 . Verbesserung und Vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terung beurteilt si<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong>,<br />
ob das Handeln conditio sine qua non des Ergebnisses ist, also na<strong>ch</strong> einer s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ten<br />
Äquivalenzformel 293 . So ist es etwa verboten, die Frü<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Arbeit eines an<strong>der</strong>en<br />
wegzunehmen, außer dieser wollte sie ohnehin ni<strong>ch</strong>t nutzen o<strong>der</strong> wird voll ents<strong>ch</strong>ädigt<br />
294 . Natürli<strong>ch</strong>e Gaben (körperli<strong>ch</strong>e und geistige Fähigkeiten) 295 sollen dadur<strong>ch</strong><br />
genauso ges<strong>ch</strong>ützt sein wie Errungens<strong>ch</strong>aften, so daß si<strong>ch</strong> die Bestimmung als<br />
Grundlage eines Systems individueller Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten (Freiheit und Eigentum)<br />
versteht 296 . Allerdings betont Gauthier, insoweit an<strong>der</strong>s als Nozick, daß diese Re<strong>ch</strong>te<br />
ni<strong>ch</strong>t das Ergebnis einer (sozialvertragli<strong>ch</strong>en) Vereinbarung sind, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
die Voraussetzung dafür, daß überhaupt rationale Vereinbarungen getroffen werden<br />
können 297 . Dur<strong>ch</strong> die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio und die in ihr vorgegebenen Re<strong>ch</strong>te soll ein<br />
mögli<strong>ch</strong>es Szenario maximaler Drohung, wie es Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan benutzen,<br />
bei Gauthier für die Bestimmung des Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkts ausges<strong>ch</strong>lossen sein. Die<br />
Lockes<strong>ch</strong>e Provisio markiert dabei ni<strong>ch</strong>t nur die minimal gefor<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>n glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
die maximal zu for<strong>der</strong>nde Freiheitsbes<strong>ch</strong>ränkung, da alle weitergehenden, auf<br />
Glei<strong>ch</strong>heit o<strong>der</strong> Kooperationspfli<strong>ch</strong>ten beda<strong>ch</strong>ten Handlungsanweisungen (insbe-<br />
290 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 192.<br />
291 Mit dem Ausdruck 'Lockean provisio' (»enough, and as good left« for others) knüpft Gauthier an<br />
Locke und an die Interpretation von Locke bei Nozick an; siehe D. Gauthier, Morals by Agreement<br />
(1986), S. 192, Fn. 1; dazu R. Nozick, Anar<strong>ch</strong>y, State, and Utopia (1974), S. 178-182; zum Ganzen bereits<br />
oben S. 84 ff. (abs<strong>ch</strong>ließendes S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> Grundpositionen und die Frage na<strong>ch</strong> einer 'lockeanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition').<br />
292 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 205.<br />
293 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 204.<br />
294 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 207, 211.<br />
295 'Basic endowments', vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 210.<br />
296 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 227: »As we have seen, interaction constrained by the<br />
provisio generates a set of rights for ea<strong>ch</strong> person, whi<strong>ch</strong> he brings to the bargaining table of society<br />
as his initial endowment.«<br />
297 Vgl. zu diesem zentralen Punkt <strong>der</strong> Theorie D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 221 ff.<br />
(222): »[T]he emergence of either co-operative or market interaction ... demands an initial definition<br />
of the actors in terms of their factor endowments, and we have identified individual rights<br />
with these endowments. Rights provide the starting point for, and not the outcome of, agreement.<br />
... We must however recognize that these rights are not inherent in human nature. In defining persons<br />
for market competition and for co-operation, they assert the moral priority of the individual<br />
to society and its institutions. ... It is only [the] prospect of mutual advantage that brings rights<br />
into play, as constraints on ea<strong>ch</strong> person's behaviour. It is that prospect whi<strong>ch</strong> enables rights to coexist<br />
with the assumption of mutual unconcern. The moral claims that ea<strong>ch</strong> of us makes on others,<br />
and that are expressed in our rights, depend, neither on our affections for ea<strong>ch</strong> other, nor on our<br />
rational or purposive capacities, as if these commanded inherent respect, but on our actual or potential<br />
partnership in activities that bring mutual benefit.«<br />
188
son<strong>der</strong>e die Umverteilung von Gütern 298 ) für eine unparteiis<strong>ch</strong>e und faire Bes<strong>ch</strong>ränkung<br />
von Interaktion unnötig und deshalb rational ni<strong>ch</strong>t begründbar seien 299 .<br />
b) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als minimax relative Konzession (D 1G )<br />
Wenn mit <strong>der</strong> Lockes<strong>ch</strong>en Provisio die Freiheit und das Eigentum als individuelle<br />
Re<strong>ch</strong>te begründet werden, so ist damit na<strong>ch</strong> Gauthier zwar eine notwendige, ni<strong>ch</strong>t<br />
aber eine hinrei<strong>ch</strong>ende Bedingung moralis<strong>ch</strong>en Verhaltens errei<strong>ch</strong>t 300 . Will man das<br />
Gemeinwesen moralis<strong>ch</strong> gestalten, so müssen alle Beteiligte in ihren kooperativen<br />
Praktiken zusätzli<strong>ch</strong> auf ein 'vollständig kooperatives' (fully co-operative) Verhalten<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt werden. Vollständig kooperativ geht es aber erst zu, wenn alle verhaltensbedingten<br />
Kosten internalisiert sind, statt als unkompensierte Kosten an<strong>der</strong>en<br />
aufgebürdet zu werden. Gauthier illustriert das am Beispiel <strong>der</strong> Abfallentsorgung,<br />
die au<strong>ch</strong> dann unmoralis<strong>ch</strong> sein könne, wenn sie Freiheit und Eigentum an<strong>der</strong>er<br />
ni<strong>ch</strong>t verletze 301 . Vollständige Kooperation ist also mehr als die Anerkennung von<br />
Freiheit und Eigentum. Sie führt ein grundlegendes Element materieller Glei<strong>ch</strong>verteilung<br />
von Lasten und Gütern ein. Na<strong>ch</strong> Gauthier folgt die rationale Notwendigkeit<br />
einer sol<strong>ch</strong>en Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung daraus, daß die vollständig kooperative Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
insgesamt vorteilhaft ist und ihre Mitglie<strong>der</strong> glei<strong>ch</strong> vernünftig sind (Bedingung<br />
glei<strong>ch</strong>er Rationalität), so daß sie glei<strong>ch</strong>ermaßen von dem Kooperationsvorteil<br />
profitieren müssen 302 . Vollständige Kooperation sei außerdem mens<strong>ch</strong>engere<strong>ch</strong>t,<br />
denn sie führe zur vollständigen Integration des Individuums in die Gesells<strong>ch</strong>aft 303 .<br />
Die dafür rational notwendige Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung identifiziert Gauthier mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
304 und mit <strong>der</strong> Moral insgesamt 305 . Will man dieses Rationalitätsgebot <strong>der</strong> Ge-<br />
298 Ausdrückli<strong>ch</strong> gegen Umverteilungselemente D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 225: »Interactions<br />
based on displaced costs would be redistributive, and redistribution cannot be part of a<br />
rational system of co-operation.«<br />
299 Vgl. dazu die Aussagen über 'free rides' und 'parasitism' bei D. Gauthier, Morals by Agreement<br />
(1986), S. 217 ff. (219).<br />
300 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 222 f.<br />
301 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 225: »Disposal of wastes ... ignoring all effects on<br />
others ... violates the requirement, fundamental to rational co-operation, of mutual benefit proportionate<br />
to contribution. If interaction is to be fully co-operative, it must proceed from an initial position<br />
in whi<strong>ch</strong> costs are internalized, and so in whi<strong>ch</strong> no person has the right to impose uncompensated<br />
costs on another.«<br />
302 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 225 ff. – die Pfli<strong>ch</strong>t zur Einlassung auf eine vollständig<br />
kooperative Gesells<strong>ch</strong>aft wird so behandelt, wie die (von Trittbrettfahrern verletzte)<br />
Pfli<strong>ch</strong>t, selbst die Regeln einzuhalten, <strong>der</strong>en Einhaltung von allen an<strong>der</strong>en erwartet wird. Außerdem<br />
ebd., S. 143: »Condition (iii) [Willingness to concede] expresses the equal rationality of the<br />
bargainers.«<br />
303 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 225.<br />
304 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 232: »Justice has been silent throught our long discussion<br />
of the internal rationality of co-operation. But as we shall now show, justice and reason coincide<br />
in a single ideal of co-operative interaction. The principle of minimax relative concession<br />
serves not only as the basis for rational agreement, but also as the ground of an impartial constraint<br />
on ea<strong>ch</strong> person's behaviour. And justice is the disposition to abide by this constraint.«<br />
189
e<strong>ch</strong>tigkeit in eine Regel kleiden, so gilt, daß je<strong>der</strong> Einzelne in seinem Handeln na<strong>ch</strong><br />
dem Erfor<strong>der</strong>nis minimax relativer Konzession (minimax relative concession) bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
ist 306 . Diese Regel bezieht si<strong>ch</strong> auf das Verhandlungsmodell, bei dem die<br />
Parteien – an<strong>der</strong>s als bei Harsanyi 307 – von jeweils einer einzigen anfängli<strong>ch</strong>en Maximalfor<strong>der</strong>ungen<br />
ausgehen und dann dur<strong>ch</strong> forts<strong>ch</strong>reitende we<strong>ch</strong>selseitige Zugeständnisse<br />
zu einem Einigungspunkt gelangen 308 . Minimax relative Konzession ist in<br />
<strong>der</strong> Welt rational mögli<strong>ch</strong>er Ents<strong>ch</strong>eidungen (outcome-space 309 ) dasjenige Zugeständnis,<br />
das beide Seiten innerhalb einer maximierten Zugeständnisbereits<strong>ch</strong>aft (willingness<br />
to concede, maximum concession) mindestens gewähren müssen (minimax 310 ), weil<br />
es angesi<strong>ch</strong>ts seines Gewi<strong>ch</strong>ts im Verhältnis zum anteiligen Kooperationsgewinn (relative<br />
magnitude of a concession 311 ) no<strong>ch</strong> von rationalen Personen erwartet werden<br />
darf 312 . Die minimax relative Konzession stellt umgekehrt glei<strong>ch</strong>zeitig einen maximin<br />
relativen Gewinn (maximin relative benefit) dar, glei<strong>ch</strong>sam als positives Gegenstück<br />
<strong>der</strong> negativ formulierten Selbstbes<strong>ch</strong>ränkung 313 . Diese – no<strong>ch</strong> am Beispiel zu<br />
erläuternde – Verteilungsregel <strong>der</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung führt zu einem spezifis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff <strong>der</strong> Theorie Gauthiers:<br />
305 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 232: »We do claim that justice, the disposition not to<br />
take advantage of one's fellows, is the virtue appropriate to co-operation, voluntarily accepted by<br />
equally rational persons. Morals arise in and from the rational agreement of equals.«<br />
306 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 223-227 (223): »[E]a<strong>ch</strong> is constrained by the requirement<br />
of minimax relative concession, within co-operative institutions and practices.«<br />
307 Zum materiellen Unters<strong>ch</strong>ied dieser Zugeständnisannäherung, die mit je einer einzigen Maximalfor<strong>der</strong>ung<br />
beginnt, von dem Modell Harsanyis, das mit einer Serie von immer neuen For<strong>der</strong>ungen<br />
und Zugeständnissen arbeitet, siehe ausführli<strong>ch</strong> D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 146<br />
ff. (149 f.).<br />
308 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 133.<br />
309 Bes<strong>ch</strong>ränkungen <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungswelt kommen beispielsweise dadur<strong>ch</strong> zustande, daß niemand<br />
rational erwarten kann, am alleinigen kooperativen Gewinn an<strong>der</strong>er teilzuhaben o<strong>der</strong> mehr zu<br />
bekommen, als insgesamt dur<strong>ch</strong> Kooperation erzielt wird; D. Gauthier, Morals by Agreement<br />
(1986), S. 133 f.<br />
310 Das Minimaxprinzip besagt minimum-maximum (minimum maximorum), d.h. Minimierung innerhalb<br />
einer Maximierung (das Kleinste unter den Großen); das Maximinprinzip besagt maximum-minimum<br />
(maximum minimorum), o<strong>der</strong>: Maximierung innerhalb einer Minimierung (das<br />
Größte unter den Kleinen). Vgl. dazu J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 154; D. Gauthier,<br />
Morals by Agreement (1986), S. 155.<br />
311 Gauthier arbeitet mit relativen Gewi<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong> Zugeständnisse, weil sie sonst inkommensurabel wären.<br />
Solange si<strong>ch</strong> das Gewi<strong>ch</strong>t eines Zugeständnisses als Verhältnis seiner absoluten Größe zur<br />
absoluten Größe des Kooperationsanteils ausdrückt, also als Wert zwis<strong>ch</strong>en 0 (kein Zugeständnis)<br />
und 1 (volles Zugeständnis: Verzi<strong>ch</strong>t auf den gesamten Kooperationsgewinn), sind die Zugeständnisse<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Personen verglei<strong>ch</strong>bar. Dazu D. Gauthier, Morals by Agreement<br />
(1986), S. 142 und insbeson<strong>der</strong>e S. 136: »Relative concession is independent of the <strong>ch</strong>oice of utility<br />
scale. Ea<strong>ch</strong> person's relative concessions are fixed no matter how we <strong>ch</strong>oose to measure his utilities.<br />
[N]o concession is always 0, ... full concession is always 1. ... Thus we have a measure of relative<br />
concession ... without introducing any interpersonal comparison of utility«.<br />
312 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 139 f.: »[T]he principle of minimax relative concession<br />
is in fact a principle of minimum equal relative concessions ... it [generally] requires the<br />
smallest equal concession, measured relatively, from the bargainers.«<br />
313 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 155.<br />
190
D 1G :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne des Prinzips minimax relativer<br />
Konzession ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen<br />
sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen Handelns, auf das<br />
si<strong>ch</strong> egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer einigen würden,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> gegenseitig die mindestens erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
relativen Zugeständnisse ma<strong>ch</strong>ten.<br />
Anhand eines von Gauthier selbst benutzten Beispiels zur Verteilung von Kooperationsgewinnen<br />
wird deutli<strong>ch</strong>, was mit dem Prinzip <strong>der</strong> minimax relativen Konzession<br />
gemeint ist 314 : A und E haben die Gelegenheit, dur<strong>ch</strong> Kooperation einen Gewinn zu<br />
realisieren, den sie ohne Zusammenarbeit in Ermangelung von Kooperationsalternativen<br />
ni<strong>ch</strong>t hätten (Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt; bei Gauthier: 'initial bargaining position').<br />
Aus <strong>der</strong> Kooperation würde die A na<strong>ch</strong> Abzug sämtli<strong>ch</strong>er Kosten des E netto $500<br />
erwirts<strong>ch</strong>aften. E würde na<strong>ch</strong> Abzug sämtli<strong>ch</strong>er Kosten <strong>der</strong> A dagegen nur $50 erhalten.<br />
Beide For<strong>der</strong>ungen zusammen ($550) sind ni<strong>ch</strong>t erfüllbar (claim point). Setzt<br />
man voraus, daß <strong>der</strong> Nutzen von A und E proportional zu den Geldbeträgen wä<strong>ch</strong>st<br />
und außerdem eine glei<strong>ch</strong>mäßige Kurve von mögli<strong>ch</strong>en optimalen Ergebnissen besteht<br />
(optimal outcomes curve), so läßt si<strong>ch</strong> zeigen, daß bei minimax relativer Konzession<br />
A und E jeweils auf knapp 30% ihrer Maximalfor<strong>der</strong>ung verzi<strong>ch</strong>ten müßten, um<br />
dann eine Gewinnteilung von $353 für A und $35 für E zu vereinbaren (outcome of<br />
bargaining; $353+$35=$388 liegt auf <strong>der</strong> optimal outcomes curve 315 ). Jedes an<strong>der</strong>e Ergebnis<br />
wäre ni<strong>ch</strong>t optimal o<strong>der</strong> würde entwe<strong>der</strong> von A o<strong>der</strong> von E eine größere als<br />
die relative Konzession verlangen.<br />
c) Moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie<br />
Die Theorie Gauthiers nimmt, ähnli<strong>ch</strong> <strong>der</strong>jenigen Nozicks, ihre Ents<strong>ch</strong>eidungserwägungen<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage vorausgesetzter Re<strong>ch</strong>te vor (Lockes<strong>ch</strong>e Provisio). Das unters<strong>ch</strong>eidet<br />
sie von 'reinen' Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien wie <strong>der</strong> Bu<strong>ch</strong>anans und führt zu<br />
<strong>der</strong> Frage, ob si<strong>ch</strong> Gauthiers Theorie trotz ihres moralis<strong>ch</strong>en Gehalts überhaupt no<strong>ch</strong><br />
als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> qualifizieren läßt.<br />
Mit <strong>der</strong> Voraussetzung <strong>der</strong> Lockes<strong>ch</strong>en Provisio, die zu einer vorpolitis<strong>ch</strong>en Ausstattung<br />
mit Re<strong>ch</strong>ten führt 316 , gerät ein moralis<strong>ch</strong>es Element in die Theorie. Dieses<br />
müßte in einer reinen Theorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens selbst wie<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> Erwägungen<br />
rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens begründet werden. Zwar stellt Gauthier heraus, es<br />
handle si<strong>ch</strong> um eine notwendige Voraussetzung für rationales Ents<strong>ch</strong>eiden – führt mithin<br />
ein transzendental-rationales Argument an 317 . Do<strong>ch</strong> ist dies zunä<strong>ch</strong>st nur eine<br />
unbelegte Gegenthese zu <strong>der</strong> ebenso plausiblen Aussage Bu<strong>ch</strong>anans, daß erst in einem<br />
re<strong>ch</strong>tsfreien hypothetis<strong>ch</strong>en Drohspiel ein natürli<strong>ch</strong>er Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand gefunden<br />
werden könne, <strong>der</strong> als Ausgangspunkt für eine rationale Bere<strong>ch</strong>nung <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Kooperationsvorteile erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> sei. Denn warum sollte ni<strong>ch</strong>t (mit Bu<strong>ch</strong>a-<br />
314 Vgl. das entspre<strong>ch</strong>ende Beispiel bei D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 137 ff.<br />
315 Dur<strong>ch</strong> eine Grafik näher erläutert bei D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 139.<br />
316 Dazu oben S. 84 ff. (abs<strong>ch</strong>ließendes S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> Grundpositionen und die Frage na<strong>ch</strong> einer 'lockeanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition').<br />
317 Vgl. unten S. 225 ff. (transzendentale Argumente).<br />
191
nan) eine Gruppe von 'Starken' ein rationales Interesse daran haben können, eine<br />
Gruppe von 'S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en' als gänzli<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tlos zu behandeln, indem sie sie als Sklaven<br />
ausbeutet? Letztli<strong>ch</strong> kommt es innerhalb <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
zur Re<strong>ch</strong>tfertigung allein darauf an, ob die Handlungsweise für die Handelnden selbst<br />
vorteilhaft ist.<br />
Gauthier versu<strong>ch</strong>t eine sol<strong>ch</strong>e Begründung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te allein aus ihrer Vorteilhaftigkeit<br />
heraus. Seine Begründungskette enthält erstens das Argument, daß Kooperation<br />
genau dann rational begründet ist, wenn sie den zu erwartenden Nutzen jedes einzelnen<br />
Kooperationsteilnehmers maximiert 318 . Sie geht zweitens davon aus, daß die<br />
Anerkennung von Re<strong>ch</strong>ten (im Sinne gegenseitiger Ansprü<strong>ch</strong>e auf Rücksi<strong>ch</strong>tnahme;<br />
constraints) ni<strong>ch</strong>t erst aus gutem Willen o<strong>der</strong> Zuneigung, son<strong>der</strong>n bereits dur<strong>ch</strong> die<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> potentielle Partners<strong>ch</strong>aft in einer Kooperation entsteht 319 . Darin<br />
liegt eine Argumentationskette: 'Wenn individuelle Nutzenmaximierung, dann Kooperation,<br />
dann Re<strong>ch</strong>te' – insgesamt also eine moralfreie Begründung von Re<strong>ch</strong>ten.<br />
Die Problematik dieser Begründung wird deutli<strong>ch</strong>, wenn man si<strong>ch</strong> den begrenzten<br />
Geltungsanspru<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>er 'Re<strong>ch</strong>te' vor Augen führt. Es handelt si<strong>ch</strong> um gegenseitige<br />
Re<strong>ch</strong>te innerhalb einer Kooperation, ni<strong>ch</strong>t um Re<strong>ch</strong>te kraft Personseins. Zwar mag es<br />
zutreffen, daß <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> aus eigenem Vorteil eine Kooperation eingeht, dabei<br />
notwendig diejenigen 'Re<strong>ch</strong>te' anerkennt, die für das Funktionieren partners<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Zusammenwirkens vorausgesetzt werden müssen. Do<strong>ch</strong> ist dur<strong>ch</strong> dieses Vorteilskalkül<br />
niemand gehin<strong>der</strong>t, an<strong>der</strong>e Mens<strong>ch</strong>en außerhalb <strong>der</strong> Kooperation zum bloßen<br />
Objekt seiner Handlungswillkür zu ma<strong>ch</strong>en und sie dadur<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tlos zu stellen.<br />
Eine sol<strong>ch</strong>e Handlungsweise kann ni<strong>ch</strong>t innerhalb <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie selbst<br />
als 'fals<strong>ch</strong>' wi<strong>der</strong>legt werden, es sei denn, man führt empiris<strong>ch</strong>e Annahmen ein (z.B.<br />
Instabilität dur<strong>ch</strong> Revolutionsneigung), die an <strong>der</strong> Vorteilhaftigkeit rütteln. Die Begründung<br />
von Re<strong>ch</strong>ten innerhalb einer Kooperation kann deshalb das allgemeine S<strong>ch</strong>ädigungsverbot,<br />
das mit <strong>der</strong> Lockes<strong>ch</strong>en Provisio postuliert wird, ni<strong>ch</strong>t vollständig leisten.<br />
Für die Theorie Gauthiers bedeutet das: Aus si<strong>ch</strong> selbst heraus kann sie einen moralis<strong>ch</strong>en<br />
Ausgangspunkt des Rationalitätskalküls ni<strong>ch</strong>t begründen 320 . Die Lockes<strong>ch</strong>e<br />
Provisio ist ein sol<strong>ch</strong>er moralis<strong>ch</strong>er Ausgangspunkt. Sie bleibt in Gauthiers Theorie<br />
ein Fremdkörper, denn die Provisio ist ni<strong>ch</strong>t selbst ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong> begründet.<br />
Gauthier wendet si<strong>ch</strong> zwar gegen die substantielle Begründung vorpositiver Re<strong>ch</strong>te<br />
bei Locke 321 , gegen substantielle Unparteili<strong>ch</strong>keitskritik im Marxismus 322 sowie gegen<br />
utilitaristis<strong>ch</strong>e Begründungen <strong>der</strong> Provisio 323 , bietet mit seiner Begründungskette<br />
318 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 224: »[C]ooperation has, as its sole and sufficient rationale,<br />
the maximization of expected utility.«<br />
319 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 222: »The moral claims ... that are expressed in our<br />
rights, depend ... on our actual or potential partnership in activities that bring mutual benefit.«<br />
320 Dem entspri<strong>ch</strong>t das Ergebnis bei H.-P. Weikard, Contractarian Approa<strong>ch</strong>es to Intergenerational Justice<br />
(1998), S. 391 – Zirkularität <strong>der</strong> Begründung bei Gauthier.<br />
321 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 222: »Locke, ... his moral theory, unlike Hobbes's, is<br />
overtly theistic.«<br />
322 D. Gauthier, Morals by Agreement (1986), S. 110 ff.<br />
323 Gegen die utilitaristis<strong>ch</strong>e Begründung von Re<strong>ch</strong>ten D. Gauthier, Morals by Agreement (1986),<br />
S. 104 ff., 221. Au<strong>ch</strong> von Vertragstheorien grenzt er si<strong>ch</strong> insoweit ab: ebd., S. 222 f.<br />
192
aber keinen Ausweg aus dem damit umrissenen ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en Dilemma.<br />
Mit dem ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>ten Begründungsmangel erfüllt Gauthiers Theorie ni<strong>ch</strong>t die<br />
Voraussetzungen, die na<strong>ch</strong> D 4RC <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
kennzei<strong>ch</strong>nen. Denn na<strong>ch</strong> diesen ist eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau dann (d.h.<br />
'dann und nur dann') ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie das Ergebnis <strong>der</strong> Prozedur des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
sein kann. In Gauthiers Theorie ist aber eine Handlungsweise ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on<br />
dadur<strong>ch</strong> rational, daß sie dem prozeduralen Kriterium <strong>der</strong> minimax relativen Konzession<br />
genügt, son<strong>der</strong>n sie muß außerdem die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio und die mit ihr<br />
verbundenen vorpositiven Re<strong>ch</strong>te eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> 'vollständigen Kooperation' (Kosteninternalisierung)<br />
an<strong>der</strong>er a<strong>ch</strong>ten. An<strong>der</strong>s als bei Nozick bleibt die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio<br />
hier also ni<strong>ch</strong>t funktionslos. Geht es darum, ob jemand die Umwelt vers<strong>ch</strong>mutzen<br />
darf, so entwickeln die Re<strong>ch</strong>te an<strong>der</strong>er – entwe<strong>der</strong> als direkte Eigentumsre<strong>ch</strong>te<br />
(Vers<strong>ch</strong>mutzung eines Grundstücks) o<strong>der</strong> über das Gebot vollständiger Kooperation<br />
(Vers<strong>ch</strong>mutzung eines öffentli<strong>ch</strong>en Gewässers) – eine Sperrwirkung innerhalb des Rationalitätskalküls<br />
<strong>der</strong> minimax relativen Konzession 324 . Im Ergebnis fehlt <strong>der</strong> Theorie<br />
Gauthiers darum das Element <strong>der</strong> vollständig rationalen Begründung, das die<br />
Qualifikation als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ausma<strong>ch</strong>t 325 . Sie ist zwar<br />
eine Theorie rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens, aber keine sol<strong>ch</strong>e, die allein mit rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
die Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beantwortet.<br />
4. Theorie des transzendentalen Taus<strong>ch</strong>es (O. Höffe)<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie Höffes folgt in ihrer Vernunftkonzeption dem Beispiel Hobbes,<br />
indem sie praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit mit <strong>der</strong> Vorteilhaftigkeit für jeden einzelnen<br />
identifiziert. Sie geht dabei den neuen Weg, das Modell des Taus<strong>ch</strong>es als Darstellungsmittel<br />
zu nutzen.<br />
a) Natürli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Im ersten Teil seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie geht Höffe <strong>der</strong> Frage na<strong>ch</strong>, was als natürli<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Bestand hat – als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die vor je<strong>der</strong> institutionalisierten Sozialordnung<br />
geda<strong>ch</strong>t werden muß, also vorpositiv 326 . Dabei bezei<strong>ch</strong>net er als primären<br />
Naturzustand die latent kriegeris<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aft, die dur<strong>ch</strong> das Zusammenleben<br />
vers<strong>ch</strong>iedener Mens<strong>ch</strong>en in einer Welt zwangsläufig entstehen müßte, also einen<br />
hobbesianis<strong>ch</strong>en Naturzustand. Der Übergang zu einem für jeden einzelnen vorteilhaften<br />
sekundären Naturzustand stellt si<strong>ch</strong> als negativer Taus<strong>ch</strong> dar. Je<strong>der</strong> verzi<strong>ch</strong>tet<br />
gegenüber allen an<strong>der</strong>en auf eine Gesamtheit von Tötungs- und Verletzungshandlungen.<br />
Resultat des Freiheitsverzi<strong>ch</strong>ts ist <strong>der</strong> Vorteil einer Integrität von Leib, Leben,<br />
Eigentum, Ehre und Religion.<br />
324 Vgl. zum Beispiel <strong>der</strong> Sperrwirkung bei Vers<strong>ch</strong>mutzung eines öffentli<strong>ch</strong>en Gewässers D. Gauthier,<br />
Morals by Agreement (1986), S. 225: »The particular interaction [dumping wastes in the river]<br />
cannot be defended by relating it to a practice that satisfies minimax relative concession.«<br />
325 Ähnli<strong>ch</strong> die Kritik bei R. Alexy, Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
(1993), S. 13 f. mit Fn. 19.<br />
326 Hierzu und zum folgenden O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 382 ff. Kritis<strong>ch</strong>e Analysen<br />
zu Höffes Theorie vor allem in den Beiträgen von M. Kettner, P. Koller u.a. in W. Kersting (Hrsg.),<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>? (1997).<br />
193
An<strong>der</strong>s als bei Hobbes, <strong>der</strong> nur Tötungsverzi<strong>ch</strong>t und Lebensre<strong>ch</strong>t in den negativen<br />
Taus<strong>ch</strong> einbezieht, ist na<strong>ch</strong> Höffe unbedingt ein Paketges<strong>ch</strong>äft notwendig, in dem diejenigen<br />
Integritäts- und Freiheitsinteressen, die natürli<strong>ch</strong>erweise allen Mens<strong>ch</strong>en gemeinsam<br />
sind, gebündelt werden 327 . Dafür sind na<strong>ch</strong> Höffe zwei Gründe auss<strong>ch</strong>laggebend.<br />
Erstens gibt es Mens<strong>ch</strong>en, die bereit sind, für Ehre o<strong>der</strong> Religion zu sterben,<br />
denen also das Leben ni<strong>ch</strong>t über alles an<strong>der</strong>e geht. Für sol<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en wäre <strong>der</strong><br />
Taus<strong>ch</strong> 'Tötungsverzi<strong>ch</strong>t gegen Lebensre<strong>ch</strong>t' für si<strong>ch</strong> allein genommen unvorteilhaft;<br />
lieber würden sie unter Todesgefahr den Angreifer töten, als si<strong>ch</strong> ihre Ehre o<strong>der</strong> Religion<br />
nehmen zu lassen. Zweitens ist die Bündelung des Taus<strong>ch</strong>pakets au<strong>ch</strong> deshalb<br />
nötig, weil sonst den Mens<strong>ch</strong>en, denen an einzelnen Re<strong>ch</strong>ten überhaupt ni<strong>ch</strong>ts liegt,<br />
die A<strong>ch</strong>tung dieses Re<strong>ch</strong>ts bei an<strong>der</strong>en ni<strong>ch</strong>t abgetaus<strong>ch</strong>t werden könnte (Asymmetrie<br />
von Opfer und Täter). Der Agnostiker kann auf seine Religionsfreiheit verzi<strong>ch</strong>ten.<br />
Warum sollte er dann die Religionsfreiheit an<strong>der</strong>er a<strong>ch</strong>ten? Ein Paketges<strong>ch</strong>äft<br />
wird er dagegen beson<strong>der</strong>s bereitwillig eingehen, weil es ihn wegen seines Desinteresses<br />
an <strong>der</strong> Religion ni<strong>ch</strong>t viel kostet, die Religion an<strong>der</strong>er zu respektieren, während<br />
die übrigen Güter (Ehre, Eigentum, Leib und Leben) ihm gerade deshalb beson<strong>der</strong>s<br />
wi<strong>ch</strong>tig sein müssen, weil sie na<strong>ch</strong> seinen Wertvorstellungen das einzige sind, das<br />
zählt. Höffe bezei<strong>ch</strong>net diese zusätzli<strong>ch</strong>e individuelle Vorteilhaftigkeit, die dur<strong>ch</strong><br />
Wertungsunters<strong>ch</strong>iede entsteht, als Ringtaus<strong>ch</strong> 328 .<br />
Gegenüber Kin<strong>der</strong>n und Alten, <strong>der</strong>en Handlung für an<strong>der</strong>e keine Bedrohung<br />
darstellt und <strong>der</strong>en Gewaltverzi<strong>ch</strong>t im Taus<strong>ch</strong> darum eigentli<strong>ch</strong> wertlos ist, führt<br />
Höffe das Argument eines asyn<strong>ch</strong>ronen Taus<strong>ch</strong>es ein 329 . Erwa<strong>ch</strong>sene verzi<strong>ch</strong>ten auf<br />
Gewalt gegen Kin<strong>der</strong>, damit sie au<strong>ch</strong> im Alter <strong>der</strong>en Respekt ihrer Integrität und<br />
Freiheit genießen.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Vorteilhaftigkeit für jeden einzelnen wird <strong>der</strong> Freiheitsverzi<strong>ch</strong>t zu einem<br />
zwangsfreien Zwang; er ist ein Klugheitsgebot. Dadur<strong>ch</strong>, daß mit dem Freiheitsverzi<strong>ch</strong>t<br />
eine Leistung erbra<strong>ch</strong>t wird, erstarkt die bloße Vorteilhaftigkeit zu einem Anspru<strong>ch</strong><br />
auf Gegenleistung. Es gibt keine Handlungsalternativen mehr; <strong>der</strong> Freiheitsverzi<strong>ch</strong>t<br />
gilt als absolutes Klugheitsgebot. Der Anspru<strong>ch</strong>, also die Befugnis, den Freiheits-<br />
und Integritätsbestand au<strong>ch</strong> einzufor<strong>der</strong>n, bedeutet, daß die natürli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> Form vorpositiver Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te auftritt. Mit dem Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t<br />
verbunden ist ein moralis<strong>ch</strong>es Selbstverteidigungsre<strong>ch</strong>t, das jedem Mens<strong>ch</strong>en<br />
kraft seines Mens<strong>ch</strong>seins zukommt. Je<strong>der</strong> darf si<strong>ch</strong> gegen das Töten, Beleidigen o<strong>der</strong><br />
Bestehlen an<strong>der</strong>er verteidigen (Zwangsbefugnis). An<strong>der</strong>s als die spontane Selbstregulierung<br />
des primären Naturzustandes bildet <strong>der</strong> so umrissene sekundäre Naturzustand<br />
eine vorpolitis<strong>ch</strong>e und vorinstitutionelle natürli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsgemeins<strong>ch</strong>aft.<br />
327 Vgl. die überras<strong>ch</strong>ende Abgrenzung des Interessenbündels bei O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1987), S. 394: »These von natürli<strong>ch</strong>en, allen Mens<strong>ch</strong>en gemeinsamen Interessen«. Hier liegt ein<br />
gewisser Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> zu <strong>der</strong> Aussage auf S. 389, daß einige Mens<strong>ch</strong>en an Religion überhaupt<br />
kein Interesse haben.<br />
328 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 382 ff.; zur Struktur des Ringtaus<strong>ch</strong>es als do ut des ut det<br />
siehe P.W. Heermann, Ringtaus<strong>ch</strong>, Taus<strong>ch</strong>ringe und multilaterales Bartering (1999), S. 183 f.<br />
329 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 393 spri<strong>ch</strong>t von einem 'dia<strong>ch</strong>ronen Freiheitstaus<strong>ch</strong>'.<br />
Die hier bevorzugte Entgegensetzung von syn<strong>ch</strong>ron mit asyn<strong>ch</strong>ron ist demgegenüber ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tiger,<br />
son<strong>der</strong>n übli<strong>ch</strong>er.<br />
194
) Institutionalisierte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Im zweiten Teil seiner Theorie verteidigt Höffe die Institutionalisierung in einer<br />
staatsförmigen Re<strong>ch</strong>tsgemeins<strong>ch</strong>aft gegen die These eines Restanar<strong>ch</strong>ismus 330 . Er<br />
führt drei Gründe an, aus denen si<strong>ch</strong> die in <strong>der</strong> natürli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsgemeins<strong>ch</strong>aft begründeten<br />
Vorteile ni<strong>ch</strong>t in individueller Verantwortung realisieren lassen. Erstens<br />
entstehen Interpretationskonflikte bei <strong>der</strong> Konkretisierung <strong>der</strong> Freiheitsansprü<strong>ch</strong>e. Innerhalb<br />
dieser Konflikte ist je<strong>der</strong> ein Betroffener und keiner ein s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin unparteiis<strong>ch</strong>er<br />
Dritter. Zweitens entsteht ein Anerkennungsdilemma, weil für Trittbrettfahrer<br />
<strong>der</strong> eigene Re<strong>ch</strong>tsungehorsam vorteilhafter ist als <strong>der</strong> Gehorsam, solange eine genügende<br />
Zahl an<strong>der</strong>er si<strong>ch</strong> an die Regeln halten 331 . Drittens gibt es ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdilemma<br />
zwis<strong>ch</strong>en Generationen; au<strong>ch</strong> hier fährt am besten, wer si<strong>ch</strong> dem asyn<strong>ch</strong>ronen<br />
Generationentaus<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>äft entzieht. Die Interpretations- und Dur<strong>ch</strong>setzungskonflikte<br />
können erst in einer Gemeinsamkeit überwunden werden, in <strong>der</strong> ein unparteiis<strong>ch</strong>er<br />
Dritter institutionalisiert wird. Dieser Dritte muß öffentli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsma<strong>ch</strong>t im<br />
Sinne eines Gewaltmonopols etablieren, ein Zwangssystem, in dem die individuellen<br />
Zwangsbefugnisse weitestgehend aufgehen. Dur<strong>ch</strong> die Institutionalisierung wird<br />
die 'Genossens<strong>ch</strong>aft' zu einem 'Verband' – es entsteht ein Staat im unte<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinne<br />
332 . So wandelt si<strong>ch</strong> das Diktum Kants bei Höffe: »Den Staat brau<strong>ch</strong>t selbst ein Volk<br />
von Teufeln – wenn sie nur Verstand haben, das heißt ihrem Vorteil folgen.« 333<br />
c) Subsidiäre Legitimität des Staates<br />
Eine positive Re<strong>ch</strong>ts- und Staatsordnung ist na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Theorie Höffes nur subsidiär legitim<br />
334 . Sie ist notwendig, um Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te zu gewährleisten, aber sie kann diese<br />
ni<strong>ch</strong>t gewähren, son<strong>der</strong>n steht gänzli<strong>ch</strong> im Dienste <strong>der</strong> bereits vorpositiv begründeten<br />
Re<strong>ch</strong>te. Glei<strong>ch</strong>zeitig birgt sie die Gefahr des Ma<strong>ch</strong>tmißbrau<strong>ch</strong>s, <strong>der</strong> mit Strategien politis<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> begegnet werden muß, soll ni<strong>ch</strong>t das Leitziel des Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes<br />
verfehlt werden. Die Demokratie als Staatsform garantiert allein no<strong>ch</strong><br />
keinen ausrei<strong>ch</strong>enden S<strong>ch</strong>utz. Positivierungsstrategien müssen zur konkreten Anerkennung<br />
von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten als Grundre<strong>ch</strong>ten führen und eine wirksam kontrollierte<br />
Gewaltenbindung konstituieren – etwa dur<strong>ch</strong> Gewaltenteilung und Verfassungsgeri<strong>ch</strong>tsbarkeit.<br />
Die Positivierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> vollendet si<strong>ch</strong> dabei ni<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on im Minimalstaat, son<strong>der</strong>n erst in <strong>der</strong>jenigen Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit, die Voraussetzung<br />
für die Wahrnehmung demokratis<strong>ch</strong>er Mitwirkungsre<strong>ch</strong>te ist 335 . Der zu in-<br />
330 Dazu und zum folgenden O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 407 ff.<br />
331 Vgl. unten S. 333 ff. (Trittbrettfahrerproblem).<br />
332 Die Abgrenzung vom völker- und verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Staatsbegriff ist wi<strong>ch</strong>tig. Vgl. dazu<br />
O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 432: »Die institutionalisierte öffentli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsma<strong>ch</strong>t,<br />
die für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unentbehrli<strong>ch</strong> ist, brau<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t die Züge des mo<strong>der</strong>nen Staates anzunehmen:<br />
etwa die Territorialherrs<strong>ch</strong>aft und die Zentralisierung sowie Bürokratisierung <strong>der</strong><br />
Staatsgewalten.«<br />
333 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 433.<br />
334 Dazu und zum folgenden O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 433 ff.<br />
335 Neben dieser demokratiefunktionale Legitimation spri<strong>ch</strong>t Höffe au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine re<strong>ch</strong>tsstaatsfunktionale<br />
und institutionstheoretis<strong>ch</strong>e an; siehe dazu O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987),<br />
S. 471 f.<br />
195
stitutionalisierende Verband muß deshalb ein demokratis<strong>ch</strong>er und sozialer Verfassungsstaat<br />
sein. Jenseits dieser Positivierung will Höffe als weitere notwendige Bedingungen<br />
gere<strong>ch</strong>ter Staatli<strong>ch</strong>keit Beurteilungsstrategien ansehen. Die Positivierung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als unabges<strong>ch</strong>lossener Prozeß erfor<strong>der</strong>t prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
in Geri<strong>ch</strong>tsverfahren, sittli<strong>ch</strong>-politis<strong>ch</strong>en Diskursen und wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er<br />
Politikberatung.<br />
d) Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t aus Eigennutz<br />
Höffes <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie versu<strong>ch</strong>t eine transzendentale 336 Re<strong>ch</strong>tfertigung kategoris<strong>ch</strong>er<br />
Re<strong>ch</strong>tsprinzipien aus Interessen: Leben, Gesundheit, Eigentum, Ehre und Religion<br />
könnten ohne we<strong>ch</strong>selseitige Anerkennung ni<strong>ch</strong>t als realisierbar geda<strong>ch</strong>t werden;<br />
s<strong>ch</strong>on <strong>der</strong> bloße Fortbestand von Mens<strong>ch</strong>en setzt also notwendig einen negativen<br />
Taus<strong>ch</strong> voraus. Bei den Grundfreiheiten »geht es definitionsgemäß um die Bedingungen<br />
<strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keit je<strong>der</strong> Handlungsfreiheit« 337 . Darin liegt eine erfahrungsfreie,<br />
ni<strong>ch</strong>t relativierbare und zeitenthobene Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, ihres<br />
»Anspru<strong>ch</strong>s auf Weltgeltung« 338 , und <strong>der</strong> darauf gestützten Legitimation des staatli<strong>ch</strong><br />
monopolisierten Re<strong>ch</strong>tszwangs, in diesem Sinne eine Letztbegründung, die treffend<br />
als »Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsfundamentalismus« bezei<strong>ch</strong>net worden ist 339 .<br />
Höffe will zeigen, daß vorpositive Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Brille des transzendentalen<br />
Taus<strong>ch</strong>es allein als Gebote <strong>der</strong> Klugheit darstellen lassen, ohne daß eine<br />
darüber hinausgehende Moralität vorausgesetzt werden müßte 340 . Die Zugehörigkeit<br />
zur hobbesianis<strong>ch</strong>en Tradition individueller Nutzenmaximierung zeigt si<strong>ch</strong> vor<br />
allem im dezidiert ni<strong>ch</strong>t-utilitaristis<strong>ch</strong>en Programm: Ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> 'kollektive' Vorteil<br />
zählt in <strong>der</strong> Nutzenkalkulation; ni<strong>ch</strong>t das größte Glück <strong>der</strong> größten Zahl ist Legitimationsgrund.<br />
Vielmehr geht es um den 'distributiven' Vorteil; es soll je<strong>der</strong> einzelne die<br />
Vorteilhaftigkeit sozialer Ordnung genießen können. Höffes Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit orientiert<br />
si<strong>ch</strong> damit am Kriterium <strong>der</strong> Pareto-Optimalität 341 . Das utilitaristis<strong>ch</strong>e Kalkül,<br />
bei dem im Interesse eines größeren Gesamtnutzens <strong>der</strong> Einzelne Einbußen erleiden<br />
kann, akzeptiert Höffe s<strong>ch</strong>on im begriffli<strong>ch</strong>en Ansatz ni<strong>ch</strong>t als legitim und gere<strong>ch</strong>t.<br />
Allein diejenige Sozialordnung gilt als gere<strong>ch</strong>t, die si<strong>ch</strong> für jedes ihrer Mitglie<strong>der</strong> als Ergebnis<br />
einer rationalen Ents<strong>ch</strong>eidung (transzendentaler Taus<strong>ch</strong>) darstellen läßt. Damit erfüllt Höffes<br />
Theorie die Voraussetzungen, die na<strong>ch</strong> D 4RC <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien des rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidens kennzei<strong>ch</strong>nen.<br />
336 Vgl. unten S. 225 ff. (transzendentale Argumente).<br />
337 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 415.<br />
338 M. Kettner, Otfried Höffes transzendental-kontraktualistis<strong>ch</strong>e Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(1997), S. 248.<br />
339 H. Brunkhorst, Die Kontingenz des Staates (1997), S. 225 f.<br />
340 So ausdrückli<strong>ch</strong> O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 402.<br />
341 W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation (1997), S. 30, 38, 55. Dazu oben S. 167 ff. (Charakteristika <strong>der</strong><br />
hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition; Pareto-Optimalität) sowie unten S. 273 (zwei Bedingungen rationaler<br />
Verhandlung).<br />
196
V. Ergebnisse<br />
Mit Ausnahme <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> Nozicks und Höffes, die si<strong>ch</strong> nur mit <strong>der</strong> sozialvertragli<strong>ch</strong>en<br />
Konstruktion bes<strong>ch</strong>äftigen, enthalten alle dargestellen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition ein Nutzenkalkül. Die Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den <strong>Theorien</strong>,<br />
die für die Kritik an <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition wi<strong>ch</strong>tig werden 342 , können<br />
im Ergebnis dur<strong>ch</strong> ein Beispiel zur Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit zusammengefaßt werden:<br />
Zwei Unternehmen A und B wollen Öl för<strong>der</strong>n, können dieses Ziel aber nur gemeinsam<br />
errei<strong>ch</strong>en. Sie überlegen, wel<strong>ch</strong>e Verteilung des Ertrags gere<strong>ch</strong>t wäre,<br />
wenn beide glei<strong>ch</strong> viel in die Kooperation investieren. A hat eine gesunde Bilanz<br />
und große Marktma<strong>ch</strong>t, B dagegen ist in einer Finanzkrise und hat eine s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e<br />
Marktposition.<br />
Na<strong>ch</strong> Nash und Harsanyi kommt es darauf an, daß dem Unternehmen B dur<strong>ch</strong><br />
seine Finanzkrise s<strong>ch</strong>on an einem kleinen Gewinn sehr viel gelegen ist; es könnte beispielsweise<br />
bei einem 25%-igen För<strong>der</strong>anteil bereits einen überproportionalen Nutzenfaktor<br />
von 0,5 haben. Die bei diesem Anteil auf A entfallenden 75% des Ertrags<br />
entspre<strong>ch</strong>en bei diesem Unternehmen einem proportional wa<strong>ch</strong>senden Nutzenfaktor<br />
von 0,75. Angenommen, das Produkt <strong>der</strong> Nutzenfaktoren bildet ein Maximum genau<br />
bei dieser Gewinnteilung von 25% zu 75% zugunsten des A, so ist diese Unglei<strong>ch</strong>verteilung<br />
gere<strong>ch</strong>t, denn in ihr drückt si<strong>ch</strong> die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Verhandlungsma<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Parteien aus.<br />
Na<strong>ch</strong> Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan ist zwar glei<strong>ch</strong> zu verteilen, aber unter Berücksi<strong>ch</strong>tigung<br />
des gegenseitigen Drohpotentials. Das marktmä<strong>ch</strong>tige Unternehmen A<br />
könnte versu<strong>ch</strong>en, B dur<strong>ch</strong> Drohung mit einem Preiskampf zur Kooperation zu<br />
zwingen. Es würde dur<strong>ch</strong> die Gegenwehr des s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Unternehmens B zwar<br />
selbst S<strong>ch</strong>aden nehmen, aber sehr viel weniger als dieses. Angenommen, <strong>der</strong> potentielle<br />
Preiskampfs<strong>ch</strong>aden des Unternehmens B beträgt Nutzenwert 343 -3, <strong>der</strong> des Unternehmens<br />
A nur -1 und <strong>der</strong> positive Nutzenwert aus 100% <strong>der</strong> Gesamtför<strong>der</strong>ung<br />
+4. Dann müßte A 75% bekommen, um relativ zur Drohposition den glei<strong>ch</strong>en Vorteil<br />
aus <strong>der</strong> Kooperation zu erlangen wie B (A: -1 bis +3 = 4; B: -3 bis +1 = 4). Die Unglei<strong>ch</strong>verteilung<br />
ist wie<strong>der</strong>um gere<strong>ch</strong>t, allerdings diesmal wegen <strong>der</strong> Berücksi<strong>ch</strong>tigung<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Drohpotentiale.<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> bleibt die Lösung von Lucas und Gauthier. Hier ist <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt<br />
dur<strong>ch</strong> desinteressiertes eigennütziges Verhalten definiert. We<strong>der</strong> Unternehmen<br />
A no<strong>ch</strong> Unternehmen B könnte allein Öl för<strong>der</strong>n. Sie haben also beide<br />
den glei<strong>ch</strong>en Nullnutzen im Falle s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ter Ni<strong>ch</strong>tkooperation. Entspre<strong>ch</strong>end müssen<br />
sie den Ertrag zu je 50% teilen, um ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis zu erzielen. Diese Lösung<br />
s<strong>ch</strong>ließt sowohl unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Verhandlungsma<strong>ch</strong>t als au<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>es<br />
Drohpotential als für eine rationale Begründung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteils<br />
irrelevant aus.<br />
342 Dazu unten S. 270 ff. (Kritik spieltheoretis<strong>ch</strong>er Grundlegung).<br />
343 Die hier verwendeten Nutzeneinheiten unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> von Nutzenfaktoren vor allem dadur<strong>ch</strong>,<br />
daß sie ni<strong>ch</strong>t multipliziert werden müssen und folgli<strong>ch</strong> beliebige Werte au<strong>ch</strong> außerhalb des präferierten<br />
Faktorberei<strong>ch</strong>s 0 bis 1 annehmen können. Allein ents<strong>ch</strong>eidend ist das Verhältnis <strong>der</strong> Nutzeneinheiten<br />
zueinan<strong>der</strong>.<br />
197
Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
sind explizit – o<strong>der</strong> bei älteren Sozialvertragstheorien implizit – <strong>Theorien</strong> des rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidens (rational <strong>ch</strong>oice theories, decision theories). Als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien<br />
beurteilen sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsweise allein mit individueller<br />
Nutzenmaximierung. Trotz des gemeinsamen methodis<strong>ch</strong>en Ausgangspunktes begründen<br />
diese <strong>Theorien</strong> sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Ergebnisse als gere<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>t,<br />
je na<strong>ch</strong>dem, wel<strong>ch</strong>es Nutzenkalkül bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung zugrundegelegt wird.<br />
D. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition (Universalität)<br />
I. Charakteristika (T K D 1K D 4K )<br />
Den <strong>Theorien</strong> mit kantis<strong>ch</strong>er Grundposition ist eigentümli<strong>ch</strong>, daß sie, glei<strong>ch</strong> den<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Tradition, Handlungen ungea<strong>ch</strong>tet <strong>der</strong> (axiologis<strong>ch</strong>en)<br />
Werthaftigkeit <strong>der</strong> sozialen Ordnung, die si<strong>ch</strong> aus ihnen ergibt, für si<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet als<br />
(deontologis<strong>ch</strong>) ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong> beurteilen. Im Gegensatz zur hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsweise ist aber ni<strong>ch</strong>t die individuelle Nutzenmaximierung<br />
das Ri<strong>ch</strong>tigkeitskriterium. Der kantis<strong>ch</strong>en Grundposition ist vielmehr<br />
das Prinzip <strong>der</strong> Universalität eigentümli<strong>ch</strong>, verstanden als Geltung für alle 344 .<br />
Die Idee <strong>der</strong> Universalisierbarkeit wird dabei sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> gedeutet. Auf die<br />
wi<strong>ch</strong>tigsten Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en Sozialvertrags-, Beoba<strong>ch</strong>ter- und Diskurstheorien<br />
wird no<strong>ch</strong> einzugehen sein. Für Kant selbst ist die enge Verbindung <strong>der</strong> Universalität<br />
mit dem Begriff <strong>der</strong> Autonomie kennzei<strong>ch</strong>nend 345 . Die Autonomie ist dabei einerseits<br />
eine private, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> individuell eine Konzeption des Ri<strong>ch</strong>tigen und Gere<strong>ch</strong>ten<br />
wählt und realisiert. Sie ist an<strong>der</strong>erseits eine öffentli<strong>ch</strong>e, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> mit<br />
an<strong>der</strong>en eine politis<strong>ch</strong>e Konzeption des Ri<strong>ch</strong>tigen und Gere<strong>ch</strong>ten wählt und realisiert<br />
346 .<br />
Im Gegensatz zum Eigennutz-Axiom <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition läßt<br />
si<strong>ch</strong> das Universalitäts-Axiom <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition in folgendem Theorem<br />
ausdrücken:<br />
T K :<br />
Die Handlung X einer Person P ist genau dann ri<strong>ch</strong>tig,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> für alle als ri<strong>ch</strong>tig erweist.<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff, <strong>der</strong> mit T K bes<strong>ch</strong>rieben ist, knüpft an die Anerkennung dur<strong>ch</strong><br />
alle an. Damit ist eine neue Grundkonstante angespro<strong>ch</strong>en, die in allen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong><br />
kantis<strong>ch</strong>en Grundposition auftritt: die <strong>der</strong> Unparteili<strong>ch</strong>keit (impartiality). Die Unparteili<strong>ch</strong>keit<br />
eines Ergebnisses verbürgt entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Konsens (Sozialvertrags-, Dis-<br />
344 Vgl. den kategoris<strong>ch</strong>en Imperativ bei I. Kant, KpV (1788), A 54: »Handle so, daß die Maxime deines<br />
Willens je<strong>der</strong>zeit zuglei<strong>ch</strong> als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«<br />
345 Vgl. I. Kant, KpV (1788), A 58: »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gesetze und <strong>der</strong> ihnen gemäßen Pfli<strong>ch</strong>ten; alle Heteronomie <strong>der</strong> Willkür gründet dagegen<br />
ni<strong>ch</strong>t allein gar keine Verbindli<strong>ch</strong>keit, son<strong>der</strong>n ist vielmehr dem Prinzip <strong>der</strong>selben und <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit<br />
des Willens entgegen.«<br />
346 Zur öffentli<strong>ch</strong>en Autonomie siehe R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 127.<br />
198
kurstheorien) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> überindividuelle moralis<strong>ch</strong>e Standpunkt (Beoba<strong>ch</strong>tertheorie).<br />
Mit <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinition in D 1 läßt si<strong>ch</strong> T K zu folgendem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition verbinden:<br />
D 1K :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> mit kantis<strong>ch</strong>er<br />
Grundposition ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen<br />
sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen Handelns, auf<br />
das si<strong>ch</strong> alle in einer Situation <strong>der</strong> Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit<br />
einigen (würden).<br />
Der <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition setzt also bereits Freiheit<br />
und Glei<strong>ch</strong>heit voraus. Erst dur<strong>ch</strong> sie kann Unparteili<strong>ch</strong>keit errei<strong>ch</strong>t werden.<br />
Glei<strong>ch</strong>zeitig verkörpern Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit den kantis<strong>ch</strong>en Autonomiebegriff.<br />
Denn ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> externe Zwänge (Neigungen, Interessen, Fremdbestimmung), son<strong>der</strong>n<br />
als Selbstgesetzgeber müssen die Mens<strong>ch</strong>en ihr S<strong>ch</strong>icksal bestimmen, um autonom<br />
und damit moralis<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tig zu handeln. Dieser Zusammenhang läßt si<strong>ch</strong> (verkürzt)<br />
in einen Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie gießen, wie er <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition eigen ist:<br />
D 4K :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
sind sol<strong>ch</strong>e, na<strong>ch</strong> denen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau<br />
dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis einer autonomiewahrenden<br />
Prozedur P sein kann.<br />
II.<br />
Sozialvertragstheorien<br />
Na<strong>ch</strong> den Sozialvertragstheorien <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition ist eine gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Verteilung von Gütern und Lasten genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn sie Ausdruck einer<br />
Vereinbarung aller Betroffenen in einer geda<strong>ch</strong>ten Ausgangsposition <strong>der</strong> Freiheit<br />
und Glei<strong>ch</strong>heit sein könnte (hypothetis<strong>ch</strong>er Sozialvertrag). Wie diese Ausgangsposition<br />
bes<strong>ch</strong>affen ist und wel<strong>ch</strong>e Überlegungen zum hypothetis<strong>ch</strong>en Abs<strong>ch</strong>luß des Sozialvertrags<br />
führen würden, ist im einzelnen umstritten.<br />
1. Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß (J. Rawls 1971)<br />
Unter den neueren <strong>Theorien</strong> ist vor allem diejenige von Rawls für die Renaissance<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskussion paradigmatis<strong>ch</strong>. Die 'Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' findet<br />
si<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie so häufig und ausführli<strong>ch</strong> behandelt, daß die Darstellung<br />
hier auf Kerngehalte und einige Verweise bes<strong>ch</strong>ränkt bleiben kann. Zu unters<strong>ch</strong>eiden<br />
vom neueren Werk ist dabei die ältere Theorie, die Rawls seit 1958 347 vorangetrieben<br />
und im Jahre 1971 mit seinem Hauptwerk 'A Theory of Justice' zu einem<br />
vorläufigen Referenzpunkt entwickelt hat 348 . Die Fortentwicklungen <strong>der</strong> Theorie<br />
347 J. Rawls, Justice as Fairness (1958), S. 653 ff.<br />
348 J. Rawls, Theory of Justice (1971).<br />
199
fanden ihre Konsolidierung 1993 in dem Werk 'Political Liberalism' 349 , das im wesentli<strong>ch</strong>en<br />
eine Reihe von weiterführenden Aufsätzen zusammenstellt 350 .<br />
Sowohl die neue methodis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>werpunktsetzung als au<strong>ch</strong> die eher zögerli<strong>ch</strong>e<br />
Rezeption unters<strong>ch</strong>eiden das neuere Werk deutli<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie<br />
351 . Die ältere Theorie von 1971 gilt in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie na<strong>ch</strong> wie vor als<br />
die Referenz. Man sollte sie von <strong>der</strong> neueren Theorie und ihrer Konsolidierung im<br />
Jahr 1993 getrennt beurteilen 352 . Unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> sind zunä<strong>ch</strong>st die Mittel, die zur Begründung<br />
herangezogen werden. In <strong>der</strong> älteren Theorie steht no<strong>ch</strong> die Gestaltung<br />
einer fairen Ursprungssituation (original position) dur<strong>ch</strong> einen S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens<br />
(veil of ignorance) im Vor<strong>der</strong>grund, während an<strong>der</strong>e Elemente (consi<strong>der</strong>ed moral<br />
judgments, reflective equilibrium, overlapping consensus) nur als zusätzli<strong>ch</strong>e Überlegungen<br />
erwähnt werden. Demgegenüber zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> die neue Theorie gerade dadur<strong>ch</strong><br />
aus, daß sie die realpolitis<strong>ch</strong>e Überzeugungskraft von Rawls Konzeption <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> betont (political conception, overlapping consensus, public reason,<br />
freestanding view) 353 . Es ist deshalb sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>t, die einzelnen Begründungselemente<br />
jeweils demjenigen Teil des Rawlss<strong>ch</strong>en Werks zuzuordnen, dessen Intention sie am<br />
ehesten entspre<strong>ch</strong>en.<br />
a) Der faire Urzustand (original position)<br />
In <strong>der</strong> älteren Theorie nennt Rawls '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß' (justice as fairness) diejenige<br />
politis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die si<strong>ch</strong> maßgebli<strong>ch</strong> damit begründen<br />
läßt, daß Mens<strong>ch</strong>en ihr in einer ursprüngli<strong>ch</strong>en Situation <strong>der</strong> Fairneß zustimmen<br />
würden 354 . Er gestaltet die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie als eine Übereinkunft über die für<br />
alle ri<strong>ch</strong>tigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien, also als kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorie 355 .<br />
349 J. Rawls, Political Liberalism (1993); dort vor allem die konsolidierenden Ausführungen zu den älteren<br />
Publikationen auf S. xiii ff. und 3 ff.<br />
350 Eine Sammlung mit nahezu demselben Inhalt wurde bereits ein Jahr zuvor in deuts<strong>ch</strong>er Übersetzung<br />
von Hins<strong>ch</strong> herausgegeben: J. Rawls, Die Idee des politis<strong>ch</strong>en Liberalismus (1992). Wegen<br />
<strong>der</strong> systematis<strong>ch</strong> neuen Glie<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> geringfügigen inhaltli<strong>ch</strong>en Überarbeitung und <strong>der</strong> neu<br />
ergänzten Bestandteile bietet die englis<strong>ch</strong>e Ausgabe indes den präziseren Überblick über die<br />
s<strong>ch</strong>rittweisen Verän<strong>der</strong>ungen; vgl. die glei<strong>ch</strong>e Eins<strong>ch</strong>ätzung bei P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als<br />
Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995), S. 151.<br />
351 Zum grundlegenden methodis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tungswe<strong>ch</strong>sel vgl. J. Rawls, Political Liberalism (1993),<br />
S. xvii: »The ambiguity of Theory is now removed and justice as fairness is presented from the outset<br />
as a political conception of justice (I:2). Surprisingly, this <strong>ch</strong>ange in turn forces many other<br />
<strong>ch</strong>anges and calls for a family of idas not needed before.« (Hervorhebung bei Rawls).<br />
352 Für eine Unters<strong>ch</strong>eidung von alter und neuer Theorie au<strong>ch</strong> B. Barry, Justice as Impartiality (1995),<br />
S. 7; O. Höffe, Ragione puubblica o ragione politica? A proposito di Rawls II (1995), S. 43 ff.:<br />
»Rawls I« und »Rawls II«; P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie <strong>der</strong> amerikani<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
(1995), S. 151 ff.; deutli<strong>ch</strong> C.F. Rosenkrantz, Der neue Rawls (1996), S. 191: »radikale Abkehr ... und<br />
... außerdem ein Fehler«.<br />
353 Zum Ri<strong>ch</strong>tungswe<strong>ch</strong>sel vor allem J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. xvii.<br />
354 Vgl. J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 3, S. 12: »'justice as fairness' ... conveys the idea that the<br />
principles of justice are agreed to in an initial situation that is fair«.<br />
355 Rawls selbst läßt diesen Begriff für seine Theorie allerdings neuerdings ni<strong>ch</strong>t mehr gelten;<br />
J. Rawls, Political Liberalism, S. 23: »Justice as fairness recasts the doctrine of the social contract«.<br />
Er grenzt si<strong>ch</strong> damit von Sozialvertragstheorien in einem engeren, hobbesianis<strong>ch</strong>en Sinne ab,<br />
200
Die Übereinkunft ist als ein mehrstufiger Einigungsprozeß konzipiert 356 , auf dessen<br />
erster Stufe oberste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze gewählt werden 357 . Der wie bei allen<br />
Sozialvertragstheorien hypothetis<strong>ch</strong>e und ni<strong>ch</strong>t-historis<strong>ch</strong>e Ausgangszustand 358 , <strong>der</strong><br />
sonst übli<strong>ch</strong>erweise 'Naturzustand' heißt, wird bei Rawls in deutli<strong>ch</strong>er Abgrenzung<br />
zu historis<strong>ch</strong>en Vorbil<strong>der</strong>n als 'Urzustand' benannt (original position) 359 . Bei diesem<br />
wird ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Natur des Mens<strong>ch</strong>en und <strong>der</strong> Welt gefors<strong>ch</strong>t, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Urzustand<br />
soll so bes<strong>ch</strong>affen sein, daß eine faire Vereinbarung daraus resultieren muß 360 .<br />
Ganz im Sinne <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition soll dafür Unparteili<strong>ch</strong>keit erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong><br />
sein. Um die Unvoreingenommenheit <strong>der</strong> hypothetis<strong>ch</strong> Beteiligten – <strong>der</strong> 'Parteien'<br />
(parties) – zu garantieren, nimmt Rawls ihnen dur<strong>ch</strong> einen 'S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens'<br />
(veil of ignorance) die Kenntnis ihrer eigenen natürli<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften und Dispositionen<br />
sowie ihrer Stellung in <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft 361 .<br />
Auf dieser Grundlage konkretisiert Rawls sein Modell einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition 362 . Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze<br />
seiner Theorie sind genau deshalb ri<strong>ch</strong>tig, weil sie das Ergebnis einer autonomiewahrenden<br />
Prozedur sind. Denn die Parteien des Urzustandes wählen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
in einer geda<strong>ch</strong>ten Situation, in <strong>der</strong> sie unparteiis<strong>ch</strong>, frei und glei<strong>ch</strong><br />
sind. Zwar kennen sie die Bedeutung bestimmter gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Grundgüter<br />
(primary social goods: politis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te und Freiheiten, Lebens<strong>ch</strong>ancen, Einkommen,<br />
Vermögen und Selbsta<strong>ch</strong>tung 363 ), wissen um die Lebensbedingungen mo<strong>der</strong>ater<br />
nämli<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>en, die Verhandlungsma<strong>ch</strong>t, Drohung, Gewalt, Zwang, Täus<strong>ch</strong>ung o<strong>der</strong> Betrug im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Ausgangspostition des Vertragss<strong>ch</strong>lusses zulassen. Siehe im einzelnen ebd., S. 23.<br />
Vgl. im Gegensatz dazu die ursprüngli<strong>ch</strong>e Stellungnahme: J. Rawls, Theory of Justice (1971), Preface,<br />
S. viii: »What I have attempted to do is to generalize and carry to a higher or<strong>der</strong> of abstraction<br />
the traditional theory of the social contract as represented by Locke, Rousseau, and Kant.«<br />
356 Zur 'four-stage sequence' siehe J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff.; nur die erste Stufe<br />
wird von Rawls ausführli<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong> behandelt, die an<strong>der</strong>en finden si<strong>ch</strong> nur angedeutet.<br />
357 Zu den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien J. Rawls, Theory of Justice (1971), §§ 10 ff., S. 54 ff.<br />
358 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 24: »[I]t is clear that the original position is to be seen as a<br />
device of representation and hence any agreement rea<strong>ch</strong>ed by the parties must be regarded as<br />
both hypothetical and nonhistorical.«<br />
359 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 4, S. 18; §§ 20 ff., S. 118 ff.; <strong>der</strong>s., Political Liberlism (1993), S. 23:<br />
»Here we face a difficulty for any political conception of justice that uses the idea of contract,<br />
whether social or otherwise. The difficulty is this: we must find some point of view ... The original<br />
position ... is this point of view.« Außerdem: ebd., S. 26: »The original position serves as a mediating<br />
idea by whi<strong>ch</strong> all our consi<strong>der</strong>ed convictions, whatever their level of generality ... can be<br />
brought to bear on one another.«<br />
360 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 3, S. 12; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993), S. 22 f.<br />
361 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 136 ff.; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993), S. 23: »[T]he veil<br />
of ignorance ... must eliminate the bargaining advantages that inevitably arise within the background<br />
institutions of any society from cumulative social, historical, and natural tendencies. These<br />
contingent advantages and accidental influences from the past should not affect an agreement<br />
on the principles that are to regulate the institutions of the basic structure itself from the present<br />
into the future.« Außerdem: ebd., S. 27: »We can, as it were, enter this position at any time simply<br />
by reasoning for principles of justice in accordance with the enumerated restrictions on information.«<br />
362 Dazu oben S. 199 (D 4K ).<br />
363 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 15, S. 90 ff.<br />
201
Knappheit (circumstances of justice 364 ) und um mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e wie gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Grunddaten (Psy<strong>ch</strong>ologie, Politik, Ökonomie 365 ), können Optimierungsstrategien zu<br />
ihrer Erlangung verfolgen 366 und verfügen über einen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn 367 sowie die<br />
Fähigkeit, eine individuelle Konzeption des guten Lebens zu entwerfen (conception of<br />
the good 368 ). Personen im Urzustand sind aber deshalb unparteiis<strong>ch</strong>, frei und glei<strong>ch</strong>,<br />
weil ihnen dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens ihre eigenen Fähigkeiten und Neigungen<br />
verborgen bleiben. Sie kennen we<strong>der</strong> ihren Platz in <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft, ihre<br />
Klasse o<strong>der</strong> ihren sozialen Status, no<strong>ch</strong> ihre persönli<strong>ch</strong>en Fähigkeiten (Talente, Intelligenz),<br />
Lebensziele o<strong>der</strong> Charaktereigens<strong>ch</strong>aften, ja ni<strong>ch</strong>t einmal die Generation, in<br />
die sie hineingeboren werden 369 . Die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften, von denen sie<br />
Kenntnis haben, also <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn, die Vernunftbegabung und die Fähigkeit,<br />
eine Konzeption des Guten zu entwerfen, sind allesamt sol<strong>ch</strong>e, die bei den Parteien<br />
im nötigen Umfang glei<strong>ch</strong>ermaßen vorhanden sind 370 . Sie können also nur eine<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung treffen, die frei von persönli<strong>ch</strong>en Neigungen und in diesem Sinne 'autonom'<br />
ist. Autonom im Sinne des freien Willens bei Kant sind die Parteien im Urzustand<br />
au<strong>ch</strong> deshalb, weil Rawls sie als gegenseitig desinteressiert konzipiert, so daß<br />
niemand aus bloßem Neid o<strong>der</strong> bloßer Mißgunst eine Regelung ablehnt die Unglei<strong>ch</strong>heiten<br />
ermögli<strong>ch</strong>t und damit unter Umständen eine Besserstellung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
371 . So bleibt den Parteien ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es übrig, als die mögli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf <strong>der</strong> Grundlage allgemeiner Überlegungen (general consi<strong>der</strong>ations)<br />
zu würdigen 372 . Die geda<strong>ch</strong>ten Parteien im Urzustand sind dur<strong>ch</strong> den<br />
S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens alle <strong>der</strong>art glei<strong>ch</strong> definiert, daß ein interesseorientiertes<br />
'Verhandeln' (bargaining) wie bei einem realen Vertragss<strong>ch</strong>luß o<strong>der</strong> bei hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Sozialvertragstheorien überhaupt ni<strong>ch</strong>t mehr mögli<strong>ch</strong> ist 373 .<br />
364 Insoweit stützt si<strong>ch</strong> Rawls vollständig auf Hume; siehe J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 22,<br />
S. 126 ff. Dazu oben S. 79 (Umstände <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
365 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 137.<br />
366 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 25, S. 142 ff.<br />
367 J. Ralws, Political Liberalism (1993), S. 19: »A sense of justice is the capacity to un<strong>der</strong>stand, to apply,<br />
and to act from the public conception of justice whi<strong>ch</strong> <strong>ch</strong>aracterizes the fair terms of social<br />
cooperation.«<br />
368 J. Ralws, Political Liberalism (1993), S. 19 f.: »[P]ersons also have at any given time a determinate<br />
conception of the good that they try to a<strong>ch</strong>ieve. Su<strong>ch</strong> a conception must not be un<strong>der</strong>stood narrowly<br />
but rather as including a conception of what is valuable in human life [... including] a view<br />
of our relation to the world – religious, philosophical, and moral – by reference to whi<strong>ch</strong> the value<br />
and significance of our ends and atta<strong>ch</strong>ments are un<strong>der</strong>stood.«<br />
369 Mit dieser Aufzählung J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 137.<br />
370 Vgl. J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 19: »The basic idea is that in virtue of their two moral<br />
powers (a capacity for a sense of justice and for a conception of the good) and the powers of reason<br />
(of judgment, thought, and inference connected with these powers), persons are free. Their<br />
having these powers to the requisite minimum degree to be fully cooperating members of society<br />
makes persons equal.«<br />
371 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 143 f.<br />
372 So ausdrückli<strong>ch</strong> J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 136 f.<br />
373 Vgl. J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 139: »[S]ince the differences among the parties are<br />
unknown to them, and everyone is equally rational and similarly situated, ea<strong>ch</strong> is convinced by<br />
the same arguments. ... Thus there follows the very important consequence that the parties have<br />
no basis for bargaining in the usual sense.«<br />
202
) Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (N 1 N 2 )<br />
Auf <strong>der</strong> Basis des so definierten Urzustandes nimmt Rawls die Wahl zweier Grundsätze<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> an, die er zunä<strong>ch</strong>st in einer vorläufigen und dann in <strong>der</strong> folgenden<br />
endgültigen Fassung formuliert 374 :<br />
N 1 :<br />
N 2 :<br />
Jede Person hat das glei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t auf das umfangrei<strong>ch</strong>ste<br />
Gesamtsystem glei<strong>ch</strong>er Grundfreiheiten, das mit einem<br />
entspre<strong>ch</strong>enden Freiheitssystem für alle vereinbar<br />
ist.<br />
Soziale und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>heiten müssen so<br />
bes<strong>ch</strong>affen sein, daß sie sowohl<br />
(a) den am wenigsten Begünstigten zum größten Vorteil<br />
gerei<strong>ch</strong>en, vereinbar mit dem gere<strong>ch</strong>ten Spargrundsatz,<br />
als au<strong>ch</strong><br />
(b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen<br />
unter den Bedingungen fairer Chancenglei<strong>ch</strong>heit offenstehen.<br />
Zwis<strong>ch</strong>en den Grundsätzen besteht eine Vorrangregel (lexical or<strong>der</strong>), die eine Unglei<strong>ch</strong>heit<br />
im Sinne des zweiten Grundsatzes erst zuläßt, wenn Glei<strong>ch</strong>heit im Sinne<br />
des ersten Grundsatzes hergestellt ist 375 . Die Überlegungen, die na<strong>ch</strong> Rawls notwendig<br />
zur Wahl dieser Prinzipien führen, orientieren si<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> bereits erwähnten Maximin-Regel<br />
376 . Der Urzustand ist absi<strong>ch</strong>tsvoll so gestaltet, daß den Parteien dur<strong>ch</strong><br />
den S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens alle wi<strong>ch</strong>tigen Informationen über ihre Eigens<strong>ch</strong>aften,<br />
Fähigkeiten und Güter in <strong>der</strong> realen Welt entzogen sind. Sie befinden si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong><br />
in einer Situation weitgehen<strong>der</strong> Unsi<strong>ch</strong>erheit, in <strong>der</strong> sie mit einer existentiell wi<strong>ch</strong>tigen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung über die Rahmenbedingungen ihres Lebens konfrontiert werden.<br />
Das sind die Bedingungen, unter denen na<strong>ch</strong> Rawls eine risikos<strong>ch</strong>eue Wahl na<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
Maximin-Regel als ri<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungsstrategie ers<strong>ch</strong>einen soll. Bestimmte<br />
Grundfreiheiten (N 1 ) sollen den Parteien dabei so wi<strong>ch</strong>tig sein, daß sie sie au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
für einen größeren Güterbestand opfern würden 377 . Im übrigen wären die Parteien –<br />
laut Rawls – nur dann bereit, Unglei<strong>ch</strong>heiten in Kauf zu nehmen, wenn sie selbst im<br />
ungünstigsten Fall davon profitieren. Dies drückt das sogenannte Differenzprinzip<br />
374 Zur vorläufigen Fassung J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 11, S. 60; endgültige Fassung ebd.,<br />
§ 46, S. 302. Die hier vorgenommene Übersetzung ist strikt am Wortlaut des englis<strong>ch</strong>en Originals<br />
orientiert und deshalb ni<strong>ch</strong>t identis<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong> – zwar von Rawls autorisierten aber teilweise lei<strong>ch</strong>t<br />
vom Original abwei<strong>ch</strong>enden – deuts<strong>ch</strong>en Ausgabe: J. Rawls, Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1979), § 46,<br />
S. 336.<br />
375 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 8, S. 42 ff.; § 47, S. 302 f.; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993), S. 6:<br />
»The two principles together, with the first given priority over the second, regulate the basic institutions«.<br />
376 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 150 ff. Dazu oben S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl).<br />
377 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 26, S. 156.<br />
203
(N 2a ) aus 378 , das dadur<strong>ch</strong> zum umstrittensten Element <strong>der</strong> Theorie wurde.<br />
c) Das Vierstufenmodell<br />
Aus <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist es von beson<strong>der</strong>em Interesse, daß Rawls<br />
in <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze nur eine von mehreren Stufen <strong>der</strong> Konkretisierung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> sozialen Ordnung sieht 379 . Rawls arbeitet mit einem<br />
vierstufigen Modell. Auf <strong>der</strong> ersten Stufe stecken die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze<br />
den Rahmen für alle na<strong>ch</strong>folgenden Stufen ab. Auf <strong>der</strong> zweiten Stufe wählen die<br />
Parteien eine gere<strong>ch</strong>te Verfassung. Dazu wird <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens teilweise<br />
gelüftet, so daß ihnen zusätzli<strong>ch</strong>e Kenntnisse über allgemeine Eigens<strong>ch</strong>aften <strong>der</strong><br />
Gesells<strong>ch</strong>aft und ihrer Ressourcen eröffnet sind. Auf <strong>der</strong> dritten Stufe erarbeiten die<br />
Beteiligten im Rahmen <strong>der</strong> Verfassungsvorgaben und bei weiterer Enthüllung ihres<br />
zunä<strong>ch</strong>st vers<strong>ch</strong>leierten Wissens die Gesetze, die für sie gere<strong>ch</strong>t sind. Die vierte Stufe<br />
s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> betrifft die Re<strong>ch</strong>tsanwendung im Einzelfall, also die gere<strong>ch</strong>te staatli<strong>ch</strong>e<br />
Administration und Adjudikation. Zwis<strong>ch</strong>en den Einzelstufen besteht na<strong>ch</strong> Rawls eine<br />
We<strong>ch</strong>selwirkung, die es etwa erlaubt, bereits bei <strong>der</strong> Verfassunggebung auf gesetzgeberis<strong>ch</strong>e<br />
Bedürfnisse Rücksi<strong>ch</strong>t zu nehmen.<br />
d) Die Funktion prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Rawls nutzt reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Grundlage seiner Theorie 380 . Die 'faire<br />
Prozedur', die hier zur Anwendung kommt, ist die sozialvertragli<strong>ch</strong>e Überlegung<br />
hinter dem S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens: Was immer die Parteien wählen ist qua definitionem<br />
gere<strong>ch</strong>t. Rawls bezei<strong>ch</strong>net die reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> au<strong>ch</strong> als das<br />
Konzept, das <strong>der</strong> Güterverteilung im zweiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip zugrunde<br />
liegt 381 . Statt auf relative Positionen von Individuen und ihre Beteiligung bei <strong>der</strong> Güterverteilung<br />
einzugehen, nimmt das zweite <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip einen prozeduralen<br />
Standpunkt ein. Der Status eines Individuums muß ni<strong>ch</strong>t für si<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet<br />
(substantiell) als gere<strong>ch</strong>t begründet werden 382 . Solange die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze<br />
bea<strong>ch</strong>tet werden, ist jedes dadur<strong>ch</strong> bewirkte Ergebnis (prozedural) gere<strong>ch</strong>t.<br />
Neben reiner Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit nutzt Rawls au<strong>ch</strong> quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in seinem Vierstufenmodell 383 . Die aufeinan<strong>der</strong>folgenden Stufen <strong>der</strong> Ver-<br />
378 In <strong>der</strong> Neuformulierung <strong>der</strong> Theorie hat Rawls unter an<strong>der</strong>em au<strong>ch</strong> die Rangfolge <strong>der</strong> Prinzipien<br />
geän<strong>der</strong>t, so daß das Differenzprinzip zu N 2b ' wird; siehe S. 209 (neue <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien).<br />
379 Zur 'four-stage sequence' siehe J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff.; zustimmend P. Koller,<br />
Mo<strong>der</strong>ne Vertragstheorie und Grundgesetz (1996), S. 380 ff. (382).<br />
380 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 24, S. 136: »The idea of the original position is to set up a fair<br />
procedure so that any principles agreed to will be just. The aim is to use the notion of pure procedural<br />
justice as a basis of theory.«<br />
381 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 14, S. 84 f.<br />
382 Die Formulierung bei Rawls ('in itself just') ma<strong>ch</strong>t den Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en prozedural definierter<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und material determinierter Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit deutli<strong>ch</strong>. Siehe J. Rawls, Theory<br />
of Justice (1971), § 14, S. 87 f.<br />
383 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff. (201).<br />
204
fassunggebung, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung sind – an<strong>der</strong>s als die erste<br />
Stufe – inhaltli<strong>ch</strong> ausfüllungsbedürftig; nur die obersten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
werden in Rawls Theorie mit Bestimmtheit gewählt, im übrigen ist die Auswahl einer<br />
Verfassung, die Verabs<strong>ch</strong>iedung von Gesetzen und ihre Anwendung ungewiß. Mit<br />
dieser Indeterminanz <strong>der</strong> Stufen geht eine Indeterminanz <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> einher 384 .<br />
Der Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Indeterminanz bietet Raum für quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>:<br />
Verfassung, Gesetze und Gesetzesanwendung sind gere<strong>ch</strong>t, solange sie den<br />
dur<strong>ch</strong> die vorausliegende Stufe abgesteckten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen einhalten 385 .<br />
e) Ergebnisse<br />
Zusammenfassend kann Rawls 'Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' als eine Sozialvertragstheorie<br />
gekennzei<strong>ch</strong>net werden, die bei sehr genauer Bes<strong>ch</strong>reibung <strong>der</strong> Grundposition<br />
unter Anwendung ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>er und intuitiver Überlegungen zu<br />
abstrakten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätzen führt, die ans<strong>ch</strong>ließend in einem weiterhin am<br />
Sozialvertrag orientierten Konkretisierungsverfahren zu einer gere<strong>ch</strong>ten Sozialordnung<br />
ausgebaut werden. Im Spektrum <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien ist dieser Ansatz<br />
wegen des Differenzprinzips als wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> sozialliberal zu kennzei<strong>ch</strong>nen.<br />
2. Theorie des politis<strong>ch</strong>en Liberalismus (J. Rawls 1993)<br />
Mit <strong>der</strong> neueren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie knüpft Rawls an die Ergebnisse seiner älteren<br />
Theorie an, die ihn im Spektrum <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophien zu einer egalitären Variante<br />
des Liberalismus geführt hatten 386 . Er widmet si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t mehr den Feinheiten<br />
<strong>der</strong> Wahl von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien im Urzustand, son<strong>der</strong>n greift das Element<br />
des übergreifenden Konsenses (overlapping consensus) auf, das in <strong>der</strong> älteren<br />
Theorie ein S<strong>ch</strong>attendasein geführt hatte, um es nun zu einem S<strong>ch</strong>lüsselelement <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung auszubauen. Letztli<strong>ch</strong> geht es ihm darum, die politis<strong>ch</strong>e<br />
Mögli<strong>ch</strong>keit und die Sinnhaftigkeit des egalitären Liberalismus zu zeigen, wie er ihn<br />
mit '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß' skizziert hatte 387 . An die Stelle des primär normativen<br />
Anspru<strong>ch</strong>s, gestützt dur<strong>ch</strong> das Gedankenexperiment des Urzustands (original position)<br />
und <strong>der</strong> Wissensvers<strong>ch</strong>leierung (veil of ignorance), tritt die re<strong>ch</strong>tfertigende Bes<strong>ch</strong>reibung<br />
dessen, was in einer pluralistis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft stabilitätsbildend sein<br />
kann 388 .<br />
384 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 201: »[I]t is not always clear whi<strong>ch</strong> of several constitutions,<br />
or economic and social arrangements, would be <strong>ch</strong>osen. But when this is so, justice is to that<br />
extent likewise indeterminate.«<br />
385 Dazu oben S. 128 ff. (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
386 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 6 f.: »[T]here are many variant liberalisms ... the two principles<br />
express an egalitarian form of liberalism ... I presuppose throughout these lectures the same<br />
egalitarian conception of justice as before«.<br />
387 Dazu das Kapitel 'How is Political Liberalism Possible?' in J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 134<br />
ff.<br />
388 So au<strong>ch</strong> P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1992), S. 151.<br />
205
a) Die Bausteine <strong>der</strong> Theorie<br />
Der Politis<strong>ch</strong>e Liberalismus ist na<strong>ch</strong> Rawls ein Modell dafür, wie eine Gesells<strong>ch</strong>aft ein<br />
faires und stabiles System <strong>der</strong> Kooperation zwis<strong>ch</strong>en freien und glei<strong>ch</strong>en Bürgern<br />
sein kann, obwohl diese Bürger über die sinnvollen, umfassenden Doktrinen (reasonable<br />
comprehensive doctrines), die sie jeweils unterstützen, zutiefst uneinig sind 389 und<br />
immer sein werden 390 . Drei Bedingungen sollen dafür genügen. Erstens muß eine<br />
politis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die Grundstruktur (basic structure) <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
regeln 391 – d.h. <strong>der</strong>en wi<strong>ch</strong>tigsten politis<strong>ch</strong>en, sozialen und ökonomis<strong>ch</strong>en<br />
Institutionen sowie das Zusammenspiel dieser Institutionen in einem einheitli<strong>ch</strong>en<br />
System sozialer Kooperation von einer Generation zur nä<strong>ch</strong>sten 392 . Zweitens muß<br />
diese politis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dem übergreifenden Konsens (overlapping<br />
consensus) entspre<strong>ch</strong>en 393 , <strong>der</strong> als S<strong>ch</strong>nittmenge aus allen sinnvollen, umfassenden<br />
Doktrinen gebildet wird 394 . Drittens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> muß die öffentli<strong>ch</strong>e Diskussion<br />
(public discussion) na<strong>ch</strong> den Regeln einer politis<strong>ch</strong>en Konzeption <strong>der</strong> Gere<strong>ch</strong>tig-<br />
389 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 43 f.: »I recall the combined question that political liberalism<br />
addrsses and say: three conditions seem to be sufficient for society to be a fair and stable system<br />
of cooperation between free and equal citizens who are deeply divided by the reasonable comprehensive<br />
doctrines they affirm.« Zu den 'combined questions' siehe S. 3 f.: »what is the most<br />
appropriate conception of justice for specifying the fair terms of social cooperation between citizens<br />
regarded as free and equal, and as fully cooperating members of society over a complete life,<br />
from one generation to the next? ... what are the grounds of toleration so un<strong>der</strong>stood and given<br />
the fact of reasonable pluralism as the inevitable outcome of free institutions?«<br />
390 J. Rawls, Overlapping Consensus, S. 136: »[W]e also view the diversity of reasonable religious,<br />
philosophical, and moral doctrines found in democratic societies as a permanent feature of their<br />
public culture.«; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993), S. 3: »[T]he fact of reasonable pluralism as the<br />
inevitable outcome of free institutions«.<br />
391 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 44: »First, the basic structure of society is regulated by a political<br />
conception of justice«.<br />
392 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 11 f.: »By basic structure I mean a society's main political,<br />
social, and economic institutions, and how they fit together into one unified system of social cooperation<br />
from one generation to the next. ... I assume that the basic structure is that of a closed society:<br />
that is, we are to regard it as self-contained and as having no relations with other societies.«<br />
Dieses Element <strong>der</strong> basic structure ist ni<strong>ch</strong>t neu; vgl. J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 1, S. 4 f.<br />
(well-or<strong>der</strong>ed society); § 2, S. 7: »For us the primary subject of justice is the basic structure of society,<br />
or more exactly, the way in whi<strong>ch</strong> the major social institutions distribute fundamental rights and<br />
duties and determine the division of advantages from social cooperation.«<br />
393 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 44: »[S]econd, this political conception is the focus of an<br />
overlapping consensus of reasonable comprehensive doctrines«. – Rawls frühere Grundidee einer<br />
wohlgeordneten Gesells<strong>ch</strong>aft geht in <strong>der</strong> Idee des übergreifenden Konsenses auf: vgl. J. Rawls, Political<br />
Liberalism (1993), S. 35-40.<br />
394 Eine umfassende Doktrin kann religiös, philosophis<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong> sein. Vgl. J. Rawls, Political<br />
Liberalism (1993), S. 14, 136. Au<strong>ch</strong> dieses Element des overlapping consensus ist ni<strong>ch</strong>t neu; vgl.<br />
J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 59, S. 387 f.: »There can, in fact, be consi<strong>der</strong>able differences in<br />
citizens' conceptions of justice provided that these conceptions lead to similar political judgments.<br />
And this is possible, since different premises can yield the same conclusion. In this case there<br />
exists what we may refer to as overlapping rather than strict consensus.« Es gewinnt aber jetzt eine<br />
inhaltli<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e und methodis<strong>ch</strong> zentrale Bedeutung; J. Rawls, Political Liberalism (1993),<br />
S. xvii mit Fn. 5.<br />
206
keit geführt werden, soweit die Diskussion konstitutionelle Kernpunkte und Fragen<br />
grundlegen<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> betrifft 395 .<br />
Jede politis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die geeignet sein soll, alle drei Bedingungen<br />
des politis<strong>ch</strong>en Liberalismus zu erfüllen, muß na<strong>ch</strong> Rawls drei <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>e<br />
Eigens<strong>ch</strong>aften aufweisen 396 . Erstens ist sie eine moralis<strong>ch</strong>e Konzeption (moral<br />
conception) für die Grundstruktur einer Gesells<strong>ch</strong>aft, d.h. eine sol<strong>ch</strong>e, die die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
von politis<strong>ch</strong>en, sozialen und ökonomis<strong>ch</strong>en Institutionen zum Gegenstand<br />
hat 397 . Zweitens ist sie eine freistehende Konzeption (freestanding view), d.h. sie ist unabhängig<br />
von umfassenden Doktrinen (z.B. Religionen, Weltans<strong>ch</strong>auungen, Lebenspläne)<br />
398 und in ihrem Anwendungsberei<strong>ch</strong> auf die Grundstruktur (basic structure)<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt 399 . Drittens s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> werden ihre Inhalte in den Ausdrucksformen <strong>der</strong><br />
Hintergrundkultur (public political culture) einer demokratis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft bes<strong>ch</strong>rieben<br />
400 .<br />
b) Die S<strong>ch</strong>lüsselstellung des übergreifenden Konsenses<br />
In <strong>der</strong> Vielzahl neuer und alter Theoriebausteine nimmt <strong>der</strong> übergreifende Konsens<br />
(overlapping consensus), verbunden mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> freistehenden Konzeption (freestanding<br />
view), eine methodis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>lüsselstellung ein, die si<strong>ch</strong> wie eine kopernikani-<br />
395 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 44: »[T]hird, public discussion, when constitutional essentials<br />
and questions of basic justice are at stake, is conducted in terms of the political conception of<br />
justice.«<br />
396 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 11: »[A] political conception of justice has three <strong>ch</strong>aracteristic<br />
features, ea<strong>ch</strong> of whi<strong>ch</strong> is exemplified by justice as fairness«.<br />
397 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 11: »The first concerns the subject of a political conception.<br />
While su<strong>ch</strong> a conception is, of course, a moral conception, it is a moral conception worked out for<br />
a specific kind of subject, namely, for political, social, and economic institutions.«<br />
398 Vgl. die Definition <strong>der</strong> umfassenden Doktrin bei J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 13: »A moral<br />
conception ... is comprehensive when it includes conceptions of what is of value in human life,<br />
and ideals of personal <strong>ch</strong>aracter, as well as ideals of friendship and of familial and associational<br />
relationships, and mu<strong>ch</strong> else that is to inform our conduct, and in the limit to our life as a whole.<br />
... a conception is partly comprehensive when it comprises a number of, but by no means all, nonpolitical<br />
values and virtues«.<br />
399 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 10: »Political liberalism, then, aims for a political conception<br />
of justice as a freestanding view. It offers no specific metaphysical or epistemological doctrine<br />
beyond what is implied by the political conception itself. As an account of political values, a freestanding<br />
political conception does not deny there being other values that apply, say, to the personal,<br />
the familial, and the associational; nor does it say that political values are separate from, or<br />
discontinuous with, other values.«; S. 13: »the distinction between a political conception of justice<br />
and other moral conceptions is a matter of scope: that is, the range of subjects to whi<strong>ch</strong> a conception<br />
applies ... [it] is general if it applies to a wide range of subjects ... It is comprehensive when it<br />
includes conceptions of what is of value in human life ... [it] is fully comprehensive if it covers all<br />
recognized values and virtues within one rather precisely articulated system«. Vgl. au<strong>ch</strong> S. 30:<br />
»Citizens usually have both political and nonpolitical aims and commitments.« Zum Metaphysikbegriff<br />
siehe oben S. 42, Fn. 84.<br />
400 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 13 f.: »The third feature of a political conception of justice is<br />
that its content is expressed in terms of certain fundamental ideas seen as implicit in the public<br />
political culture of a democratic society. ... what we may call the 'background culture' of civil society.«<br />
207
s<strong>ch</strong>e Wende in Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie auswirkt und dadur<strong>ch</strong> zum eigentli<strong>ch</strong>en<br />
Charakteristikum <strong>der</strong> neueren Theorie wird. Um das zu zeigen, sei zunä<strong>ch</strong>st hervorgehoben,<br />
inwiefern die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie unbefriedigend<br />
war, um dann darzustellen, wel<strong>ch</strong>e Antwort <strong>der</strong> übergreifende Konsens<br />
in <strong>der</strong> neuen Theorie auf dieses Begründungsdefizit gibt.<br />
Inwieweit war die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie unbefriedigend?<br />
Die Begründung stützte si<strong>ch</strong> im Kern auf die oben ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>te Herleitung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätzen aus einem als 'fair' konzipierten Urzustand. Die<br />
Wahl <strong>der</strong> Grundsätze beruhte dabei nur formal auf ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Überlegungen in Anwendung <strong>der</strong> Maximin-Regel; inhaltli<strong>ch</strong> hing alles davon ab, wie<br />
<strong>der</strong> Urzustand definiert wurde 401 . Methodis<strong>ch</strong> ist daran unbefriedigend, daß letztli<strong>ch</strong><br />
genau das als Ergebnis herauskommt, was dur<strong>ch</strong> die Konstruktion eines S<strong>ch</strong>leiers<br />
des Ni<strong>ch</strong>twissens zuvor angelegt wurde. Deshalb hat Rawls s<strong>ch</strong>on in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en<br />
Theorie zusätzli<strong>ch</strong> eine intuitive Plausibilisierung <strong>der</strong> Bedingungen des<br />
Urzustandes im Rahmes des Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts (reflective equilibrium) eingeführt,<br />
die das theoretis<strong>ch</strong>e Ergebnis absi<strong>ch</strong>ern sollte 402 . Dana<strong>ch</strong> sind die Bedingungen<br />
zu modifizieren, falls sie zu Ergebnissen führen würden, die mit den aus<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>em <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn entspringenden wohlüberlegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen<br />
(consi<strong>der</strong>ed moral judgments) ni<strong>ch</strong>t mehr im Einklang stehen. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
sind dana<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr nur deshalb ri<strong>ch</strong>tig, weil sie in einem fairen<br />
Urzustand gewählt würden, son<strong>der</strong>n sie sind au<strong>ch</strong> deshalb ri<strong>ch</strong>tig, weil sie mit den<br />
reflektierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen übereinstimmen. Methodis<strong>ch</strong> unbefriedigend<br />
ist dabei, daß für die eigentli<strong>ch</strong>e Begründungleistung auf Überzeugungen verwiesen<br />
wird, die außerhalb <strong>der</strong> Theorie liegen. Inhaltli<strong>ch</strong> unbefriedigend ist, daß die<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen je na<strong>ch</strong> sozialer Gruppe so fundamental unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
ausfallen können, daß ein für alle begründbares Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t unerrei<strong>ch</strong>bar<br />
ers<strong>ch</strong>eint. Au<strong>ch</strong> mit den Ausführungen zur politis<strong>ch</strong>en Stabilität seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption<br />
konnte Rawls diese Argumentationslücke ni<strong>ch</strong>t ausfüllen,<br />
weil Stabilitätsgesi<strong>ch</strong>tspunkte allein na<strong>ch</strong> seiner eigenen Auffassung ni<strong>ch</strong>ts zur Begründung<br />
beitragen 403 .<br />
Wel<strong>ch</strong>e Antwort gibt nun <strong>der</strong> übergreifende Konsens auf dieses Begründungsdefizit?<br />
Zunä<strong>ch</strong>st wird von Rawls zugestanden, daß die konfligierenden umfassenden<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen (comprehensive doctrines) au<strong>ch</strong> in Zukunft immer unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
bleiben werden. Als Konsequenz bes<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> die neue Theorie mit einer<br />
Rolle als freistehende Konzeption <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (freestanding<br />
401 Dazu oben S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl).<br />
402 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 9, S. 48 ff. (49 f.): »[J]ustice as fairness can be un<strong>der</strong>stood as<br />
saying that the two principles ... give a better mat<strong>ch</strong> with our consi<strong>der</strong>ed judgments on reflection<br />
than these recognized alternatives [of utility and perfection]«; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993),<br />
S. 8: »We collect su<strong>ch</strong> settled convictions as the belief in religious toleration and the rejection of<br />
slavery ... These convictions are provisional fixed points that it seems any reasonable conception<br />
must account for. ... We express this by saying that a political conception of justice, to be acceptable,<br />
must accord with our consi<strong>der</strong>ed convictions, at all levels of generality, on due reflection, or<br />
in what I have called elsewhere 'reflective equilibrium'.«<br />
403 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 69, S. 455: »To be sure, the criterion of stability is not decisive.«<br />
208
view), die für unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e umfassende Wertvorstellungen offen sein soll 404 . Diese<br />
Aufgabe einer Selbstbes<strong>ch</strong>eidung sei dann erfüllt, wenn die freistehende Konzeption<br />
zum Gegenstand eines übergreifenden Konsenses (overlapping consensus) wird 405 .<br />
Dadur<strong>ch</strong> also, daß die Ergebnisse <strong>der</strong> Theorie nur no<strong>ch</strong> einen kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner enthalten, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>ster religiöser, philosophis<strong>ch</strong>er<br />
und moralis<strong>ch</strong>er Ans<strong>ch</strong>auungen unterstützt werden kann, sollen die Mängel <strong>der</strong> älteren<br />
Theorie überwunden werden. Während früher <strong>der</strong> Einwand bere<strong>ch</strong>tigt war,<br />
daß nur diejenigen, die ohnehin egalitär-liberalen Moralvorstellungen anhingen,<br />
au<strong>ch</strong> eine Bestätigung in den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien finden konnten (reflective equilibrium),<br />
gilt na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> neuen Theorie, daß sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Moraltraditionen jeweils<br />
aus ihrer Perspektive den politis<strong>ch</strong>en Minimalkonsens <strong>der</strong> Rawlss<strong>ch</strong>en Theorie<br />
mitzutragen vermögen. Die ursprüngli<strong>ch</strong> nordamerikanis<strong>ch</strong> geprägte Theorie gibt<br />
si<strong>ch</strong> multikulturell.<br />
c) Die neuen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien (N 1 ' N 2 ')<br />
Seit <strong>der</strong> Publikation <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie im Jahr 1971 hat Rawls ni<strong>ch</strong>t nur den<br />
S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung na<strong>ch</strong>haltig vers<strong>ch</strong>oben, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> das greifbare<br />
Ergebnis seiner Theorie, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze, mehrfa<strong>ch</strong> verän<strong>der</strong>t. Beginnend<br />
mit den Tanner-Lectures im Jahre 1981 wurden die Teilgrundsätze des zweiten<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzips in ihrer Reihenfolge vertaus<strong>ch</strong>t, so daß das umstrittene Differenzprinzip<br />
ganz an den S<strong>ch</strong>luß rückt, was vor allem unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt des<br />
'Vorrangs <strong>der</strong> Grundfreiheiten' bedeutsam ist 406 . In <strong>der</strong> konsolidierten Fassung betont<br />
Rawls seit 1993, daß es au<strong>ch</strong> bei den Grundfreiheiten des ersten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsatzes<br />
ni<strong>ch</strong>t nur auf die formale Glei<strong>ch</strong>heit, son<strong>der</strong>n auf einen 'fairen Wert' im<br />
Sinne eines substantiellen Mindestgehalts ankommt 407 . Auffällig ist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, daß<br />
im ersten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsatz ni<strong>ch</strong>t länger von dem 'umfangrei<strong>ch</strong>sten', son<strong>der</strong>n<br />
nunmehr von einem 'vollständig angemessenen' System von Freiheiten die Rede<br />
ist 408 . Die vollständige Neuformulierung lautet in wörtli<strong>ch</strong>er Übersetzung 409 :<br />
404 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 10 f.: »Political liberalism, then, aims for a political conception<br />
of justice as a freestanding view. It offers no specific metaphysical or epistemological doctrine<br />
beyond what is implied by the political conception itself.«<br />
405 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 133-172, 10: »Thus, political liberalism looks for a political<br />
conception of justice that we hope can gain the support of an overlapping consensus of reasonable<br />
religious, philosophical, and moral doctrines in a society regulated by it.« Zustimmend N. Jansen,<br />
Validity of Public Morality (1998), S. 5 ff.; <strong>der</strong>s., Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 33 f., 267 ff.<br />
406 J. Rawls, Vorrang <strong>der</strong> Grundfreiheiten (1982), S. 160; dazu ausführli<strong>ch</strong> R. Alexy, John Rawls' Theorie<br />
<strong>der</strong> Grundfreiheiten (1997), S. 272 ff.<br />
407 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 6; ausführli<strong>ch</strong>er <strong>der</strong>s., Vorrang <strong>der</strong> Grundfreiheiten (1982),<br />
S. 161 ff., 207 ff.<br />
408 Zu <strong>der</strong> mit dieser Umstellung und ihrer Illustration verbundenen Zuwendung zu einem spezifis<strong>ch</strong><br />
amerikanis<strong>ch</strong>en Verständnis von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten siehe P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie<br />
<strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995), S. 155.<br />
409 Vgl. das Original bei J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 5 f.: »a. Ea<strong>ch</strong> person has an equal claim<br />
to a fully adequate s<strong>ch</strong>eme of equal basic rights and liberties, whi<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eme is compatible with the<br />
same s<strong>ch</strong>eme for all; and in this s<strong>ch</strong>eme the equal political liberties, and only those liberties, are to<br />
be guaranteed their fair value. | b. Social and economic inequalities are to satisfy two conditions:<br />
209
N 1 ':<br />
N 2 ':<br />
Jede Person hat einen glei<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> auf ein vollständig<br />
angemessenes System glei<strong>ch</strong>er Grundre<strong>ch</strong>te und<br />
Freiheiten, das mit dem glei<strong>ch</strong>en System für alle verträgli<strong>ch</strong><br />
ist; und in diesem System muß den glei<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en<br />
Freiheiten, und nur diesen Freiheiten, ihr fairer<br />
Wert garantiert werden.<br />
Soziale und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>heiten müssen zwei<br />
Bedingungen erfüllen:<br />
(a) erstens müssen sie mit Positionen und Ämtern verbunden<br />
sein, die unter den Bedingungen fairer Chancenglei<strong>ch</strong>heit<br />
allen offen stehen;<br />
(b) und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten<br />
Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft zum größten Vorteil<br />
gerei<strong>ch</strong>en.<br />
Zwis<strong>ch</strong>en den Grundsätzen besteht na<strong>ch</strong> wie vor eine Vorrangregel (lexical or<strong>der</strong>), die<br />
eine 'soziale und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>heit' im Sinne von N 2 ' erst zuläßt, wenn<br />
Grundfreiheiten im Sinne von N 1 ' allen garantiert sind 410 . Als weitere materielle Ergänzung<br />
ist das erste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip nunmehr so zu verstehen, als ginge ihm<br />
ein übergeordnetes Prinzip sozialer Mindeststandards voraus. Na<strong>ch</strong> diesem Kriterium<br />
des Existenzminimums müssen die Grundbedürfnisse <strong>der</strong> Bürger jedenfalls insoweit<br />
befriedigt sein, als dies notwendige Voraussetzung dafür ist, daß sie ihre<br />
Re<strong>ch</strong>te und Freiheiten verstehen und fru<strong>ch</strong>tbar ausüben können 411 .<br />
d) Ergebnisse<br />
Im 'politis<strong>ch</strong>en Liberalismus' hat Rawls einen methodis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tungswe<strong>ch</strong>sel bei<br />
<strong>der</strong> Begründung seines na<strong>ch</strong> wie vor egalitären Liberalismus vorgenommen. An die<br />
Stelle des deduktiven kantis<strong>ch</strong>en Vertragsmodells tritt die Überzeugungskraft einer<br />
auf universellen Konsens gebauten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption. Die zunehmende Differenzierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien ers<strong>ch</strong>wert dabei die Überprüfung ihrer Begründung.<br />
first, they are to be atta<strong>ch</strong>ed to positions and offices open to all un<strong>der</strong> conditions of fair equality of<br />
opportunity; and second, they are to be to the greatest benefit of the least advantaged members of<br />
society.«<br />
410 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 6.<br />
411 J. Rawls, Political Liberalism (1993), S. 7: »[I]mportant aspects of the principles are left out in the<br />
brief statement as given. In particular, the first principle covering the equal basic rights and liberties<br />
may easily be preceded by a lexically prior principle requiring that citizens' basic needs be<br />
met, at least insofar as their being met is necessary for citizens to un<strong>der</strong>stand and to be able fuitfully<br />
to exercise those rights and liberties.«<br />
210
3. Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unabweisbarkeit (T.M. Scanlon)<br />
a) Das Scanlon-Kriterium (T S )<br />
Einen an<strong>der</strong>en Ansatz des kantis<strong>ch</strong>en Kontraktualismus vertritt Scanlon. Im Gegensatz<br />
zum Rawlss<strong>ch</strong>en Urzustand geht er von wohlinformierten Personen in einer Situation<br />
glei<strong>ch</strong>er Ma<strong>ch</strong>t, garantiert dur<strong>ch</strong> ein Vetore<strong>ch</strong>t, aus. Ihr geda<strong>ch</strong>ter Sozialvertrag<br />
bezieht si<strong>ch</strong> auf diejenigen Vereinbarungen, die si<strong>ch</strong> vernünftigerweise ni<strong>ch</strong>t zurückweisen<br />
lassen. Scanlon formuliert hierfür ein allgemeines Theorem über die<br />
Fals<strong>ch</strong>heit sozialbezogenen Handelns (Ungere<strong>ch</strong>tigkeit). Im Umkehrs<strong>ch</strong>luß läßt si<strong>ch</strong><br />
daraus ableiten, wann sozialbezogenes Handeln ri<strong>ch</strong>tig ist (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Das<br />
Theorem lautet in wörtli<strong>ch</strong>er Übersetzung 412 :<br />
T S :<br />
Eine Handlung ist fals<strong>ch</strong>, wenn ihre Ausführung unter<br />
den Umständen von jedem Regelsystem zur Verhaltensregelung<br />
verboten würde, das niemand vernünftigerweise<br />
als Grundlage einer informierten, unerzwungenen,<br />
allgemeinen Vereinbarung zurückweisen könnte.<br />
b) Die Voraussetzung <strong>der</strong> Unerzwungenheit<br />
Scanlon sieht den hypothetis<strong>ch</strong>en Vertrag (die 'allgemeine Vereinbarung') als 'unerzwungen'<br />
(unforced) an. Das entspri<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> kontraktualistis<strong>ch</strong>en Vorstellung, daß nur<br />
eine freiwillige Ents<strong>ch</strong>eidung binden kann 413 . Es s<strong>ch</strong>ließt jedenfalls aus, einen Teilnehmer<br />
zur Zustimmung zu zwingen. Do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Scanlon verbirgt si<strong>ch</strong> in dem Kriterium<br />
<strong>der</strong> Unerzwungenheit no<strong>ch</strong> mehr. Es soll außerdem auss<strong>ch</strong>ließen, daß si<strong>ch</strong> jemand<br />
in einer s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>eren Verhandlungsposition (weak bargaining position) befindet,<br />
weil dann an<strong>der</strong>e auf besseren Vertragsbedingungen bestehen könnten 414 . Das Scanlon-Kriterium<br />
enthält damit, ohne daß dies aus seiner Formulierung sofort deutli<strong>ch</strong><br />
würde, bereits das Element substantieller Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Beteiligten als Voraussetzung.<br />
Man kann sagen, daß insoweit eine Annäherung an Rawls Modell eines egalitär<br />
definierten Urzustandes besteht.<br />
III. Beoba<strong>ch</strong>ter- und an<strong>der</strong>e Standpunkttheorien<br />
Das Darstellungsmittel des Beoba<strong>ch</strong>ters präsentiert eine als Person geda<strong>ch</strong>te Beurteilungseinheit<br />
in <strong>der</strong> Außenperspektive 415 . Die Unparteili<strong>ch</strong>keit, die für <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong><br />
412 Im englis<strong>ch</strong>en Original bei T.M. Scanlon, Contractualism and Utilitarianism (1982), S. 110 lautet<br />
das Theorem: »An act is wrong if its performance un<strong>der</strong> the circumstances would be disallowed<br />
by any system of rules for the regulation of behaviour whi<strong>ch</strong> no one could reasonably reject as a<br />
basis for informed, unforced general agreement.«<br />
413 Vgl. oben S. 98 (Rationalitätskonzept des Vertrags).<br />
414 T.M. Scanlon, Contractualism and Utilitarianism (1982), S. 111.<br />
415 Beispielsweise K. Baier, Standpunkt <strong>der</strong> Moral (1958), S. 191: »Regeln ... sind dem Vorteil von je<strong>der</strong>mann<br />
ohne Unters<strong>ch</strong>ied dienli<strong>ch</strong> ... , wenn wir diese Regeln vom Standpunkt <strong>der</strong> Moral aus<br />
betra<strong>ch</strong>ten, d.h. vom Standpunkt eines unabhängigen, vorurteilslosen, unparteili<strong>ch</strong>en, objektiven,<br />
211
kantis<strong>ch</strong>en Grundposition kennzei<strong>ch</strong>nend ist, wird dabei dur<strong>ch</strong> die Distanzierung<br />
von den Interessen <strong>der</strong> eigenen Person errei<strong>ch</strong>t. Der Beoba<strong>ch</strong>ter sieht ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
o<strong>der</strong> in erster Linie si<strong>ch</strong> allein, son<strong>der</strong>n glei<strong>ch</strong>zeitig immer alle an<strong>der</strong>en.<br />
Er kann darum idealerweise nur sol<strong>ch</strong>e Urteile abgeben, die für alle ri<strong>ch</strong>tig sind. Das<br />
Darstellungsmittel des Beoba<strong>ch</strong>ters ist klassis<strong>ch</strong> für <strong>Theorien</strong> des Utilitarismus, kann<br />
aber au<strong>ch</strong> für <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition fru<strong>ch</strong>tbar gema<strong>ch</strong>t werden.<br />
Als typis<strong>ch</strong>es Beispiel einer sol<strong>ch</strong>en Theorie kann die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie Nagels<br />
herangezogen werden 416 .<br />
Im übrigen gibt es eine Reihe von Standpunkttheorien, die im Gegensatz zu Konsenstheorien<br />
monologis<strong>ch</strong> arbeiten, also we<strong>der</strong> den Sozialvertrag, no<strong>ch</strong> den Diskurs<br />
als Darstellungsmittel nutzen 417 . An<strong>der</strong>erseits kennen diese <strong>Theorien</strong> aber au<strong>ch</strong> keine<br />
Beoba<strong>ch</strong>terperspektive. Sie sind reine Moraltheorien im engeren Sinne und verzi<strong>ch</strong>ten<br />
ganz auf ein klassis<strong>ch</strong>es Darstellungsmittel, son<strong>der</strong>n fragen direkt na<strong>ch</strong><br />
Gründen für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns. Denno<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>en sie den Beoba<strong>ch</strong>tertheorien,<br />
weil sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>süberlegungen monologis<strong>ch</strong> anstellen, statt dialogis<strong>ch</strong><br />
auf Konsens zu setzen. Ein neuerer Ansatz ist insoweit von Barry bes<strong>ch</strong>ritten worden<br />
418 .<br />
1. Theorie des unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters (T. Nagel)<br />
a) Der interne und <strong>der</strong> externe Standpunkt<br />
Nagel knüpft seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie insgesamt an die Frage, wie die Perspektive<br />
einer einzelnen Person in <strong>der</strong> realen Welt mit einer objektiven Betra<strong>ch</strong>tung <strong>der</strong>selben<br />
Welt in Einklang zu bringen ist 419 . Damit sind zwei Standpunkte angespro<strong>ch</strong>en, die<br />
ein Individuum einnehmen kann: <strong>der</strong> subjektive, interne, parteiis<strong>ch</strong>e und <strong>der</strong> objektive,<br />
externe, unparteiis<strong>ch</strong>e 420 . Der externe Standpunkt begründet notwendig einen<br />
hypothetis<strong>ch</strong>en Zustand <strong>der</strong> Unvoreingenommenheit und Unparteili<strong>ch</strong>keit des Beoba<strong>ch</strong>ters<br />
421 . Diese objektivierende Perspektive spielt bei <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung von<br />
Handlungsweisen, also für Fragen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, laut Nagel eine wi<strong>ch</strong>tileidens<strong>ch</strong>aftslosen,<br />
neutralen Beoba<strong>ch</strong>ters. Wenn wir von einem sol<strong>ch</strong>en Standpunkt gewissermaßen<br />
mit Gottes Augen beoba<strong>ch</strong>ten, dann können wir sehen, 'Du sollst ni<strong>ch</strong>t töten' hält.« Ähnli<strong>ch</strong><br />
T. Nagel, View From Nowhere (1986), S. 185 ff. Zu klassis<strong>ch</strong>en Vorbil<strong>der</strong>n (etwa Hume; dazu oben<br />
S. 100, Fn. 280) vgl. K.G. Ballestrem, Methodologis<strong>ch</strong>e Probleme in Rawls' Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1977), S. 120.<br />
416 Dies zeigt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on im Titel des Werks: 'The View From Nowhere'.<br />
417 Etwa das fiktive Gedankenspiel bei E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 29 f.<br />
418 B. Barry, Justice as Impartiality (1995). Dazu unten S. 215 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit).<br />
419 T. Nagel, View From Nowhere (1986), S. 3: »This book is about a single problem: how to combine<br />
the perspective of a particular person inside the world with an objective view of that same world,<br />
the person and his viewpoint included.« Diese Konzeption hat Nagel in 'Equality and Impartiality'<br />
(1991) konkretisiert.<br />
420 T. Nagel, View From Nowhere (1986), S. 3; zur Glei<strong>ch</strong>setzung des 'objektiven' mit dem 'externen'<br />
Standpunkt vgl. ebd., S. 110. Au<strong>ch</strong> Hume berücksi<strong>ch</strong>tigte beide Standpunkte; dazu oben S. 101,<br />
Fn. 285.<br />
421 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 10 ff. Vgl. oben S. 100 (Beoba<strong>ch</strong>ter).<br />
212
ge, wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t die alleinige Rolle 422 . Das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Element liegt<br />
in <strong>der</strong> geda<strong>ch</strong>ten Überpersönli<strong>ch</strong>keit, die sogar das Ideal <strong>der</strong> Allwissenheit eins<strong>ch</strong>ließen<br />
kann 423 und jedenfalls die Befangenheit des Einzelnen in seiner neigungs- und<br />
interessengebundenen Identität dur<strong>ch</strong> ein Element <strong>der</strong> Universalisierung des Standpunkts<br />
erweitert. Der Handelnde ist, ganz im Sinne Kants, ni<strong>ch</strong>t länger seiner neigungsbefangenen<br />
Willkür ausgeliefert, son<strong>der</strong>n findet in <strong>der</strong> objektivierten Selbstgesetzgebung<br />
einen freien Willen und damit Autonomie 424 .<br />
b) Das Nagel-Kriterium (T N )<br />
Statt unmittelbar auf Kants Konzept des freien Willens und <strong>der</strong> privaten Autonomie<br />
zurückzugreifen 425 , vertritt Nagel die These, daß si<strong>ch</strong> die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns als<br />
ein angemessener Ausglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en dem parteiis<strong>ch</strong>en und dem unparteiis<strong>ch</strong>en<br />
Standpunkt darstellen läßt 426 . Grundsätze, die glei<strong>ch</strong>zeitig beiden Standpunkten<br />
vollständig gere<strong>ch</strong>t werden, gibt es na<strong>ch</strong> Nagel ni<strong>ch</strong>t 427 . Au<strong>ch</strong> könne <strong>der</strong> parteiis<strong>ch</strong>e<br />
Standpunkt des Individuums nie ganz zugunsten eines unparteiis<strong>ch</strong>en Standpunktes<br />
aufgegeben werden, weil er bestimmte bere<strong>ch</strong>tigte Ansprü<strong>ch</strong>e des Einzelnen stelle<br />
(z.B. den Anspru<strong>ch</strong> auf Überleben und auf familiäre und gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Solidarität<br />
428 ). Mit dieser vermittelnden Position zwis<strong>ch</strong>en den Standpunkten grenzt Nagel<br />
si<strong>ch</strong> einerseits vom Konsequentialismus ab, <strong>der</strong> auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> agenten-neutrale<br />
Gründe anerkennt (aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition) 429 , und an<strong>der</strong>erseits von 'reinen individualistis<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tstheorien', die auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf den Ausglei<strong>ch</strong> kollidieren<strong>der</strong><br />
Einzelinteressen und damit auf agenten-relative Gründe abstellen (hobbesianis<strong>ch</strong>e<br />
Grundposition) 430 . Das Ri<strong>ch</strong>tigkeitskriterium läßt si<strong>ch</strong> in folgendem Theorem<br />
ausdrücken 431 :<br />
422 Zur Kombination des persönli<strong>ch</strong>en und des überpersönli<strong>ch</strong>en (Beoba<strong>ch</strong>ter-)Standpunkts siehe vor<br />
allem T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 10 ff.<br />
423 Beispielsweise K. Baier, Standpunkt <strong>der</strong> Moral (1958), S. 191: »Standpunkt eines ... Beoba<strong>ch</strong>ters ...<br />
gewissermaßen mit Gottes Augen«. Illustrativ aus <strong>der</strong> Literatur insoweit F. Dürrenmatt, Monstervortrag<br />
über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1969), S. 12 ff.<br />
424 Vgl. I. Kant, KpV (1788), A 58 zu Autonomie des Willens und Heteronomie <strong>der</strong> Willkür.<br />
425 Zu den S<strong>ch</strong>wierigkeiten ausführli<strong>ch</strong> T. Nagel, View from Nowhere (1986), S. 110 ff.<br />
426 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 40: »The conception of morality whi<strong>ch</strong> I would defend<br />
includes general principles for both agent-neutral and agent-relative reasons, and for the<br />
proper relation between them.«<br />
427 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 49.<br />
428 Vgl. zu den Beispielen T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 11, 14; zur Unaufgebbarkeit<br />
des parteiis<strong>ch</strong>en Standpunkts ebd., S. 15, 40.<br />
429 Zum Begriff des Konsequentialismus (consequentialism) siehe oben S. 152 (Charakteristika <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition). Agenten-neutrale Gründe sind diejenigen, die ni<strong>ch</strong>t aus Si<strong>ch</strong>t eines<br />
bestimmten Handelnden, son<strong>der</strong>n aus Si<strong>ch</strong>t eines unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters zählen.<br />
430 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 49.<br />
431 Das Kriterium ist in wörtli<strong>ch</strong>er Übersetzung Nagels Definition eines gere<strong>ch</strong>ten Systems entnommen;<br />
T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 38: »A legitimate system is one whi<strong>ch</strong> reconciles<br />
the two universal principles of impartiality and reasonable partiality so that no one can object that<br />
his interests are not being accorded sufficient weight or that the demands made on him are excessive.«<br />
213
T N :<br />
Eine Handlung ist ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie die beiden universellen<br />
Prinzipien <strong>der</strong> Unparteili<strong>ch</strong>keit und <strong>der</strong> vernünftigen<br />
Parteili<strong>ch</strong>keit so zum Ausglei<strong>ch</strong> bringt, daß niemand<br />
einwenden kann, seine Interessen seien ni<strong>ch</strong>t mit hinrei<strong>ch</strong>endem<br />
Gewi<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt o<strong>der</strong> es würden übermäßige<br />
Opfer von ihm verlangt.<br />
Na<strong>ch</strong> Nagel liegt in dieser Abwägung <strong>der</strong> als Prinzipien formulierten Standpunkte<br />
eine praktikable Kombination (livable combination), die si<strong>ch</strong> zudem als eine Form kantis<strong>ch</strong>er<br />
Universalität verstehen lasse 432 .<br />
c) Zur 'vernünftigen' Parteili<strong>ch</strong>keit<br />
Die Konkretisierung von T N ges<strong>ch</strong>ieht vor allem dadur<strong>ch</strong>, daß die 'vernünftige' Parteili<strong>ch</strong>keit<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt wird. Na<strong>ch</strong> Nagel kann si<strong>ch</strong> niemand auf seine größere Verhandlungsma<strong>ch</strong>t<br />
(bargaining power) berufen, weil dieser ni<strong>ch</strong>t selbst moralis<strong>ch</strong>es Gewi<strong>ch</strong>t<br />
zukomme, son<strong>der</strong>n sie allenfalls im Rahmen eines an<strong>der</strong>weitig gere<strong>ch</strong>tfertigten<br />
Systems (z.B. einer Marktordnung) eine Rolle spielen könne 433 . Au<strong>ch</strong> auf die eigenen<br />
Talente und Fähigkeiten soll man si<strong>ch</strong> vom Standpunkt <strong>der</strong> 'vernünftigen' Parteili<strong>ch</strong>keit<br />
aus ni<strong>ch</strong>t berufen dürfen, weil diese ni<strong>ch</strong>t selbst verdient seien 434 . Im Ergebnis<br />
vertritt Nagel deshalb eine politis<strong>ch</strong>e Philosophie, die in ihrer Egalität <strong>der</strong>jenigen von<br />
Rawls ähnelt, viellei<strong>ch</strong>t sogar no<strong>ch</strong> über diese hinausgeht 435 . Seine Interpretation <strong>der</strong><br />
'vernünftigen' Parteili<strong>ch</strong>keit for<strong>der</strong>t weitgehenden Verzi<strong>ch</strong>t vom Individuum und<br />
bildet eine radikale Stärkung des Standpunktes eines externen Beoba<strong>ch</strong>ters 436 . Letztli<strong>ch</strong><br />
läuft Nagels Ausglei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Standpunkte auf eine massive Umverteilung hinaus,<br />
wo immer eine soziale Unglei<strong>ch</strong>heit ni<strong>ch</strong>t auf individuelles Vers<strong>ch</strong>ulden <strong>der</strong> Bena<strong>ch</strong>teiligten<br />
zurückzuführen ist 437 .<br />
432 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 15, 40.<br />
433 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 39.<br />
434 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 121.<br />
435 So au<strong>ch</strong> Nagel selbst; T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 121: »I share Rawls's egalitarian<br />
sentiments, and might even defend something more egalitarian than priority to the worse off, given<br />
the factor of social causation.«; S. 3: »My belief is not just that all social and political arrangements<br />
so far devised are unsatisfactory. ... We do not yet possess an acceptable political ideal, for<br />
reasons whi<strong>ch</strong> belong to moral and political philosophy.«<br />
436 Vgl. T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 16: »What the impersonal standpoint generates<br />
... is a massive impartial addition to ea<strong>ch</strong> individual's values without any indication of how this is<br />
to be combined with the personal values that were already there.«<br />
437 So s<strong>ch</strong>on T. Nagel, Was bedeutet das alles? (1987), S. 72: »I<strong>ch</strong> für meinen Teil glaube, daß ... es mit<br />
Si<strong>ch</strong>erheit ungere<strong>ch</strong>t ist, wenn ein sozioökonomis<strong>ch</strong>es System zur Folge hat, daß einige Mens<strong>ch</strong>en<br />
unter bedeutenden materiellen und sozialen Na<strong>ch</strong>teilen leiden, an wel<strong>ch</strong>en sie keine S<strong>ch</strong>uld haben,<br />
wenn si<strong>ch</strong> dies dur<strong>ch</strong> ein System redistributiver Besteuerung und sozialer Hilfsmaßnahmen<br />
verhin<strong>der</strong>n ließe.«<br />
214
2. Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit (B. Barry)<br />
a) Die Unparteili<strong>ch</strong>keit zweiter Ordnung<br />
Barry nennt seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie die »Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit«<br />
438 . Die Theorie su<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Prinzipien und Regeln, die als Grundlage für eine<br />
freie Einigung zwis<strong>ch</strong>en sol<strong>ch</strong>en Personen dienen können, die eine Einigung unter<br />
vernünftigen Bedingungen wollen (Unparteili<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> zweiten Ordnung) 439 . Sie ist<br />
trotz ihrer Bezugnahme auf eine 'Einigung' keine Sozialvertragstheorie, da sie auf<br />
das Darstellungsmittel des Vertrags verzi<strong>ch</strong>tet. Die Theorie grenzt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von Beoba<strong>ch</strong>tertheorien<br />
wie <strong>der</strong>jenigen Nagels ab, denn ihre Unparteili<strong>ch</strong>keit ist ni<strong>ch</strong>t diejenige<br />
eines unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters 440 . Die gemeinte Unparteili<strong>ch</strong>keit ist ferner<br />
ni<strong>ch</strong>t die universelle Unparteili<strong>ch</strong>keit 'erster Ordnung', die Barry in simplizistis<strong>ch</strong>en<br />
Versionen des Utilitarismus und Kantianismus verortet 441 . Unparteili<strong>ch</strong>keit 'zweiter<br />
Ordnung' will vielmehr Prinzipien und Regeln bestimmen, die als Metakriterien für<br />
die Vermittlung zwis<strong>ch</strong>en konfligierenden Konzeptionen des Guten taugen. Eine<br />
Unparteili<strong>ch</strong>keit erster Ordnung, verstanden als umfassen<strong>der</strong> Altruismus, könnte<br />
das ni<strong>ch</strong>t leisten, da sol<strong>ch</strong>er Altruismus mindestens so viele konfligierende Standpunkte<br />
erzeugt, wie es Konzeptionen des Guten gibt 442 .<br />
b) Die Notwendigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln<br />
Zunä<strong>ch</strong>st stellt Barry fest, daß jede Gesells<strong>ch</strong>aft, selbst wenn sie je eine einheitli<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption des Guten befürwortet (etwa diejenige des Utilitarismus o<strong>der</strong> des Thomismus),<br />
immer no<strong>ch</strong> bestimmte Regeln benötige: Verfassungsregeln, die Quelle und<br />
Anwendungsberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Autorität definieren, Regeln des Gesetzesre<strong>ch</strong>ts<br />
und Regeln außerhalb des positiven Re<strong>ch</strong>ts, die bestimmte Verhaltensweisen als<br />
fals<strong>ch</strong> kennzei<strong>ch</strong>nen 443 . Sol<strong>ch</strong>e Regeln, die jede Gesells<strong>ch</strong>aft benötigt, um Konflikte<br />
zu vermeiden, nennt er '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln' (rules of justice). An<strong>der</strong>s als bei <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition will Barry die Regeln indes dur<strong>ch</strong> eine freistehende<br />
Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ausfüllen, also eine sol<strong>ch</strong>e, die ni<strong>ch</strong>t von einer übereinstimmenden<br />
Konzeption des Guten getragen wird, son<strong>der</strong>n ein an<strong>der</strong>es Motiv für<br />
ihre Befolgung aktiviert. Dieses Motiv sieht Barry in <strong>der</strong> unparteiis<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
zwis<strong>ch</strong>en konfligierenden Ansprü<strong>ch</strong>en, die si<strong>ch</strong> aus den unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Interessen,<br />
Perspektiven und Konzeptionen des Guten ergeben. Auf eine sol<strong>ch</strong>e Unparteili<strong>ch</strong>keit<br />
<strong>der</strong> zweiten Ordnung sollen si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Anhänger wi<strong>der</strong>streiten<strong>der</strong><br />
Konzeptionen des Guten einigen können.<br />
438 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 11, 52 ff. (72 ff.).<br />
439 So ausdrückli<strong>ch</strong> B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 11.<br />
440 Vgl. B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 255: »I denied that justice as impartiality is a 'view<br />
from nowhere'«.<br />
441 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 12, 217 ff., 234 ff.<br />
442 Barry beruft si<strong>ch</strong> insoweit auf eine Einsi<strong>ch</strong>t, die bereits Nagel formuliert hat; B. Barry, Justice as<br />
Impartiality (1995), S. 28.<br />
443 Hierzu und zum folgenden B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 73 ff. (75).<br />
215
c) Zur Anwendbarkeit des Scanlon-Kriteriums (T S )<br />
Um die gemeinte Unparteili<strong>ch</strong>keit inhaltli<strong>ch</strong> zu konkretisieren, greift Barry auf das<br />
Kriterium von Scanlon in T S zurück. Bestimmte Grundfreiheiten, etwa die in Rawls<br />
erstem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip N 1 (z.B. Meinungsäußerungsfreiheit, Religionsfreiheit),<br />
ließen si<strong>ch</strong> damit als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln <strong>der</strong> Unparteili<strong>ch</strong>keit begründen 444 . Denn<br />
eine auf eine Mehrheitsreligion bes<strong>ch</strong>ränkte Freiheit könne ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lüssig als Grundlage<br />
für eine allgemeine Einigung angeboten werden, da au<strong>ch</strong> für die ausges<strong>ch</strong>lossene<br />
Min<strong>der</strong>heit die Religionsfreiheit so wi<strong>ch</strong>tig sei, daß sie eine Auss<strong>ch</strong>lußregelung<br />
vernünftigerweise zurückweisen müßte. Allgemein muß eine Sa<strong>ch</strong>frage, die wi<strong>ch</strong>tig<br />
für jeden ist, so dur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln bestimmt sein, daß je<strong>der</strong> ihr zustimmen<br />
könnte. Neben <strong>der</strong> religiösen sei deshalb beispielsweise au<strong>ch</strong> die sexuelle Toleranz<br />
als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregel geboten; Gesetze, die konsensualen homosexuellen Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsverkehr<br />
verbieten, sind dana<strong>ch</strong> ungere<strong>ch</strong>t. Die '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit'<br />
appelliert an die inhärente Fairneß sol<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln, ni<strong>ch</strong>t an die<br />
mögli<strong>ch</strong>erweise dur<strong>ch</strong> sie för<strong>der</strong>baren Konzeptionen des Guten 445 . Na<strong>ch</strong> Barry gibt<br />
es keine Konzeption des Guten, die mit hinrei<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Gewißheit begründen könnte,<br />
warum ihre Glaubenssätze au<strong>ch</strong> für diejenigen verbindli<strong>ch</strong> sein sollen, die sie ablehnen<br />
446 .<br />
d) <strong>Prozedurale</strong> und substantielle Verfassungsregeln<br />
Zu den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln, die in eine Verfassung aufzunehmen sind, zählt Barry<br />
neben den s<strong>ch</strong>on genannten Freiheiten <strong>der</strong> Religion und des konsensuellen Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsverkehrs<br />
au<strong>ch</strong> die persönli<strong>ch</strong>e Freiheit, das Gebot des fairen Verfahrens, das<br />
Verbot <strong>der</strong> Folter, Grundregeln des politis<strong>ch</strong>en Systems zur Si<strong>ch</strong>erung gegen Mißbrau<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> die Regierung o<strong>der</strong> Parlamentsmehrheiten, die Meinungsäußerungsfreiheit<br />
und die Freiheit zur politis<strong>ch</strong>en Organisation 447 . Do<strong>ch</strong> führt das Kriterium in<br />
T S ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall zu Freiheitsre<strong>ch</strong>ten. Au<strong>ch</strong> bestimmte Freiheitsbes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
müßten als S<strong>ch</strong>utzansprü<strong>ch</strong>e aufgenommen und als Verbotstatbestand in den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigt werden, etwa <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>utz gegen Räuberbanden, Kindesmißhandlung,<br />
Witwenverbrennung und Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsverstümmelung 448 .<br />
Ni<strong>ch</strong>t alle dieser <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln sollen si<strong>ch</strong> als prozedurale Garantien formulieren<br />
lassen 449 . Man<strong>ch</strong>mal sei es notwendig, ein bestimmtes Ergebnis verfassungskräftig<br />
festzus<strong>ch</strong>reiben, weil prozedurale Regeln keinen hinrei<strong>ch</strong>enden S<strong>ch</strong>utz<br />
444 Hierzu und zum folgenden B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 70, 82 ff.<br />
445 Bestimmte (intolerante) Konzeptionen des Guten werden selten dur<strong>ch</strong> diese Art <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln<br />
geför<strong>der</strong>t werden, finden si<strong>ch</strong> also häufiger dur<strong>ch</strong> Barrys <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
als an<strong>der</strong>e (tolerantere) Konzeptionen. Das ist na<strong>ch</strong> Barry dur<strong>ch</strong>aus gewollt; B. Barry, Justice<br />
as Impartiality (1995), S. 77; sowie S. 114: »We often find an elaborate rationalization of the<br />
indefensible. Slavery, for example, ... Since justice as impartiality requires the parties not to have<br />
false beliefs, it is hardly surprising that there should be people to whom it is not accessible, given<br />
their esxisting beliefs.«<br />
446 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 169.<br />
447 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 85.<br />
448 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 90 f.<br />
449 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 93.<br />
216
gewähren könnten. Wenn beispielsweise eine Gesells<strong>ch</strong>aft so deutli<strong>ch</strong> entlang ethnis<strong>ch</strong>er<br />
Linien gespalten sei, daß keine prozeduralen Mitbestimmungsre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />
(z.B. Zigeuner o<strong>der</strong> Slumbewohner) einen si<strong>ch</strong>eren S<strong>ch</strong>utz gegen die zur Diskriminierung<br />
ents<strong>ch</strong>lossene Mehrheit bieten, dann müssten substantielle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln<br />
in <strong>der</strong> Verfassung diesen S<strong>ch</strong>utz erzwingen 450 . In <strong>der</strong> Regel hingegen seien<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sregeln gefor<strong>der</strong>t 451 , insbeson<strong>der</strong>e diejenigen, die eine öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Diskussion <strong>der</strong> Regierungsents<strong>ch</strong>eidungen si<strong>ch</strong>erstellen 452 , etwa dur<strong>ch</strong> Meinungsäußerungs-<br />
und Informationsfreiheit, aber au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> strikte Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
<strong>der</strong> privaten Parteienfinanzierung 453 .<br />
Zusammenfassend kann man Barrys neuere Theorie als eine Begründung verfassungskräftiger<br />
Mens<strong>ch</strong>en- und Demokratiere<strong>ch</strong>te verstehen, die vollständig auf dem<br />
Scanlon-Kriterium T S aufbaut.<br />
IV. Diskurstheorien<br />
1. Charakteristika<br />
Na<strong>ch</strong> den <strong>Theorien</strong> des rationalen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses ist die Antwort auf eine<br />
praktis<strong>ch</strong>e Frage genau dann ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur,<br />
<strong>der</strong> des rationalen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses, sein kann 454 . In bezug auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
sind Diskurstheorien dadur<strong>ch</strong> prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien im<br />
Sinne von D 4 . Diskurstheorien bringen in Diskursregeln die Ideen <strong>der</strong> Universalität<br />
und Autonomie zum Ausdruck und stellen die Diskurstheorie dadur<strong>ch</strong> in die kantis<strong>ch</strong>e<br />
Tradition. Autonomie liegt darin, daß die Diskursteilnehmer als freie und glei<strong>ch</strong>e<br />
Individuen angesehen werden. Universalität ist glei<strong>ch</strong> in mehrfa<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t<br />
enthalten. Sie kommt zum Ausdruck in <strong>der</strong> persönli<strong>ch</strong>en Teilnahmefreiheit (universelle<br />
Teilnahme) und dadur<strong>ch</strong>, daß eine Begründung von <strong>der</strong> Zustimmung aller abhängt<br />
(universelle Zustimmung).<br />
Diskurstheorien treten als prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit in<br />
vers<strong>ch</strong>iedenen Spielarten auf, die vor allem auf Habermas, Apel sowie, beson<strong>der</strong>s im<br />
Berei<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>er Argumentation, auf Alexy und Günther zurückgehen. Unters<strong>ch</strong>iede<br />
zwis<strong>ch</strong>en den einzelnen diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Entwürfen zeigen si<strong>ch</strong> in zahlrei<strong>ch</strong>en<br />
Details 455 . Bei allen Unters<strong>ch</strong>ieden im einzelnen gibt es aber einige Theorie-<br />
450 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 100 f.<br />
451 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 109 f.: »Generalizing the point, we may say that, where<br />
substantive justice falls short, the sear<strong>ch</strong> for agreement has to be pushed up to the procedural level.<br />
... [N]obody could reasonably object to this proposition: that, in cases where justice is not determinative,<br />
the constitutional rules, plus the relevant educational institutions, the organization of<br />
the mass media of communication, and so on, should provide for the decision to be made in conditions<br />
that instantiate the circumstances of impartiality.«<br />
452 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 103.<br />
453 B. Barry, Justice as Impartiality (1995), S. 108.<br />
454 Vgl. R. Alexy, Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 30.<br />
455 Dazu etwa T. Baus<strong>ch</strong>, Unglei<strong>ch</strong>heit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 155 ff. – Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> universal- o<strong>der</strong> formalpragmatis<strong>ch</strong>en Begründung bei Habermas einerseits und <strong>der</strong> transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung bei Apel an<strong>der</strong>erseits; ähnli<strong>ch</strong> H. Gronke, Apel versus Habermas<br />
217
elemente, die si<strong>ch</strong> in je<strong>der</strong> Diskurstheorie in ähnli<strong>ch</strong>er Form aufzeigen lassen und die<br />
selbst von Gegnern des diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Ansatzes ni<strong>ch</strong>t bestritten werden – etwa<br />
die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en idealen und realen Diskursen und die Bezugnahme<br />
auf Diskursregeln 456 . Im Interesse einer übers<strong>ch</strong>aubar kurzen Darstellung soll darum<br />
zunä<strong>ch</strong>st von den Unters<strong>ch</strong>ieden im Detail abgesehen werden, um allgemeine<br />
Grundlagen <strong>der</strong> Diskurstheorien zu bes<strong>ch</strong>reiben. Dabei wird auf die Diskursregeln<br />
zurückgegriffen, die Alexy formuliert hat 457 .<br />
a) Die Diskursarten<br />
aa) Die Definitionen des Diskurses (D Di D Dr )<br />
Der inflationäre Gebrau<strong>ch</strong>, den das Wort 'Diskurs' in <strong>der</strong> Umgangsspra<strong>ch</strong>e und man<strong>ch</strong>er<br />
Fa<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>e in jüngerer Zeit erfährt, ma<strong>ch</strong>t zunä<strong>ch</strong>st eine Klarstellung nötig:<br />
Diskurs im Sinne <strong>der</strong> Diskurstheorie ist ni<strong>ch</strong>t jede Unterhaltung o<strong>der</strong> jedes Zwiegesprä<strong>ch</strong>.<br />
Wer si<strong>ch</strong> mit einem Verkäufer über den Preis unterhält, führt ni<strong>ch</strong>t etwa einen<br />
'wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Diskurs', son<strong>der</strong>n eine Verhandlung; wer gemeinsam mit an<strong>der</strong>en<br />
zu Gott betet, befindet si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in einem 'religiösen Diskurs', son<strong>der</strong>n bemüht<br />
si<strong>ch</strong> um ein Zwiegesprä<strong>ch</strong> (Dialog); und wer an einer bewaffneten Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
teilnimmt, ist ni<strong>ch</strong>t in einem 'militäris<strong>ch</strong>en Diskurs', son<strong>der</strong>n im Krieg. Eine<br />
Diskussion, verstanden als themenorientierte Unterhaltung, verliert den Charakter<br />
eines Diskurses spätestens dann, wenn die Diskussionsteilnehmer ihre Standpunkte<br />
mit Gewalt o<strong>der</strong> Drohung untermauern 458 . Diskurs im Sinne <strong>der</strong> Diskurstheorie ist<br />
nur ein bestimmtes Ideal <strong>der</strong> Verständigung (idealer Diskurs) und die na<strong>ch</strong> den Umständen<br />
angemessene Annäherung an dieses Ideal (realer Diskurs).<br />
Diskurstheorien sind Argumentationstheorien und dadur<strong>ch</strong> von Verhandlungsund<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien abzugrenzen. Für den Diskurs ist es deshalb <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>,<br />
daß die Teilnehmer um das beste Argument ringen (Verständigungsorientierung,<br />
arguing), ni<strong>ch</strong>t um den besten Weg zur Dur<strong>ch</strong>setzung <strong>der</strong> je eigenen Interessen<br />
(Erfolgsorientierung, bargaining) 459 . Es gibt theoretis<strong>ch</strong>e Diskurse über empiris<strong>ch</strong>e<br />
Wahrheit und praktis<strong>ch</strong>e Diskurse über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns. Hier geht<br />
es allein um <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskurse, also um eine beson<strong>der</strong>e Gruppe unter den praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskursen. Innerhalb <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Diskurse ist, wie überhaupt immer bei<br />
(1993), S. 273 ff.; P. Gril, Alexys Version einer transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
im Unters<strong>ch</strong>ied zu Habermas (1997), S. 206 ff.; <strong>der</strong>s., Mögli<strong>ch</strong>keit praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis<br />
(1998), S. 130 f.; R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 161 ff. – Abgrenzung<br />
von <strong>der</strong> Habermass<strong>ch</strong>en Theorie.<br />
456 Vgl. etwa A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 17: »Chancenglei<strong>ch</strong>heit<br />
für alle Diskursteilnehmer, Redefreiheit, keine Privilegierung, Wahrhaftigkeit, Freiheit von<br />
Zwang. In <strong>der</strong> Tat dürften hierin die wesentli<strong>ch</strong>en formalen Bedingungen eines rationalen Diskurses<br />
liegen.«<br />
457 Dazu R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 234 ff.<br />
458 W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Das Begründungsprogramm Diskursethik (1990), S. 16: »Die Voraussetzung <strong>der</strong><br />
Diskurse ist, an<strong>der</strong>s als beim Überlebenskampf, die Anerkennung des an<strong>der</strong>en; zumindest also<br />
seines Lebensre<strong>ch</strong>ts, und die Bereits<strong>ch</strong>aft, Dissens gewaltfrei zu klären.«<br />
459 Dazu unten S. 232 (<strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>er Gegensatz von Argumentation und Verhandlung).<br />
218
Diskursen, zwis<strong>ch</strong>en idealen und realen zu unters<strong>ch</strong>eiden. Der Unters<strong>ch</strong>ied läßt si<strong>ch</strong><br />
in den folgenden Definitionen ausdrücken:<br />
D Di :<br />
D Dr :<br />
Ein idealer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs ist ein Diskurs, bei dem<br />
»unter den Bedingungen unbegrenzter Zeit, unbegrenzter<br />
Teilnehmers<strong>ch</strong>aft und vollkommener Zwanglosigkeit<br />
im Wege <strong>der</strong> Herstellung vollkommener spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>begriffli<strong>ch</strong>er<br />
Klarheit, vollkommener empiris<strong>ch</strong>er Informiertheit,<br />
vollkommener Fähigkeit und Bereits<strong>ch</strong>aft zum<br />
Rollentaus<strong>ch</strong> und vollkommener Vorurteilsfreiheit die<br />
Antwort auf eine praktis<strong>ch</strong>e Frage gesu<strong>ch</strong>t wird.« 460<br />
Ein realer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs ist ein Diskurs, bei dem<br />
unter Bedingungen, die so weit, wie es na<strong>ch</strong> den Umständen<br />
angemessen ist, denen des idealen Diskurses<br />
angenähert sind, mindestens aber den Verzi<strong>ch</strong>t aller Beteiligten<br />
auf die absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ausübung von Zwang<br />
dur<strong>ch</strong> Gewalt und Drohung beinhalten, die Antwort auf<br />
eine praktis<strong>ch</strong>e Frage gesu<strong>ch</strong>t wird.<br />
bb) Der innere Diskurs<br />
In D Di sind die idealen Rahmenbedingungen einer Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> den besten Gründen,<br />
die Diskursregeln 461 , vollständig verwirkli<strong>ch</strong>t 462 . Der ideale Diskurs ist dadur<strong>ch</strong><br />
zwangsläufig ein reines Gedankenexperiment, das in <strong>der</strong> Realität s<strong>ch</strong>on wegen <strong>der</strong><br />
zeitli<strong>ch</strong>en Unbegrenztheit ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>führbar ist. Selbst <strong>der</strong> innere Diskurs, wie er<br />
(monologis<strong>ch</strong>) im Kopf einer Person real geführt wird, kann das Ideal nur annäherungsweise<br />
verwirkli<strong>ch</strong>en 463 . Die Vorgehensweise entpri<strong>ch</strong>t in etwa <strong>der</strong>jenigen eines<br />
unparteiis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ters, <strong>der</strong> versu<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>einan<strong>der</strong> in die Lage aller Beteiligten<br />
zu versetzen und für jede <strong>der</strong> Perspektiven Argumente zu finden 464 . Ein sol<strong>ch</strong>er innerer<br />
Diskurs des Ri<strong>ch</strong>ters ist mit erhebli<strong>ch</strong>en Unsi<strong>ch</strong>erheiten befra<strong>ch</strong>tet, gerade<br />
wenn es um die Antizipierung <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>streitenden Argumente idealer Diskursteilnehmer<br />
geht. Es liegt darum nahe, die von <strong>der</strong> geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidung Betroffe-<br />
460 R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 113; <strong>der</strong>s., Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1991), S. 412; ähli<strong>ch</strong> <strong>der</strong>s., Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems (1991), S. 35.<br />
461 Dazu unten S. 222 ff. (Diskursregeln).<br />
462 Zum folgenden siehe R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 109 ff., 114 ff.<br />
463 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 224 mit Fn. 11: »Innere Diskurse<br />
sind Überlegungen einer Person, in denen die mögli<strong>ch</strong>en Gegenargumente geda<strong>ch</strong>ter Opponenten<br />
erwogen werden.« Der (reale) innere Diskurs ist vom (virtuellen) hypothetis<strong>ch</strong>en Diskurs zu<br />
unters<strong>ch</strong>eiden. Vgl. zu letzterem unten S. 312 ff. (unmittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
als 'diskursiv notwendig').<br />
464 Zu weitgehend U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses (1996), S. 417 f., <strong>der</strong><br />
den 'forensis<strong>ch</strong>en Disput', so wie er heute geführt wird, insgesamt als monologis<strong>ch</strong> ansehen will<br />
und die Prozeßparteien auf die Rolle von Informationsquellen reduziert, »s<strong>ch</strong>limmstenfalls die<br />
von Störfaktoren, die das Ziel <strong>der</strong> Erarbeitung <strong>der</strong> 'ri<strong>ch</strong>tigen' Ents<strong>ch</strong>eidung gefährden.«<br />
219
nen ihre Argumente in einem realen Diskurs selbst vortragen zu lassen, etwa dur<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>riftsätzli<strong>ch</strong>e Stellungnahmen o<strong>der</strong> in einer mündli<strong>ch</strong>en Verhandlung. Ob es si<strong>ch</strong><br />
dann beim Geri<strong>ch</strong>tsverfahren no<strong>ch</strong> um einen Diskurs handelt (Son<strong>der</strong>fallthese), o<strong>der</strong><br />
ob die Erfolgsorientierung des Parteihandelns und die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Rahmenbedingungen<br />
für zulässige Argumentation ni<strong>ch</strong>t bereits so viele diskursfremde Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
einführen, daß <strong>der</strong> Diskursberei<strong>ch</strong> verlassen ist, soll hier zunä<strong>ch</strong>st dahingestellt<br />
bleiben 465 . Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> weiten Definition in D Dr liegt jedenfalls dann ein realer<br />
praktis<strong>ch</strong>er Diskurs vor, wenn si<strong>ch</strong> die Argumentation 'so weit, wie es na<strong>ch</strong> den Umständen<br />
angemessen ist,' an den idealen Diskurs anlehnt und jedenfalls Gewalt und<br />
Drohung auss<strong>ch</strong>ließt.<br />
cc) Der handlungsentlastete Diskurs<br />
Eine Situation, die unstreitig einen realen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs darstellt – gewissermaßen<br />
<strong>der</strong> Prototyp des realen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses – ist die Diskussion unter<br />
Freunden über eine Frage <strong>der</strong> Moral, <strong>der</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidung we<strong>der</strong> zeitli<strong>ch</strong> drängt no<strong>ch</strong><br />
pragmatis<strong>ch</strong> für die Beteiligten wi<strong>ch</strong>tig ist 466 . Eine sol<strong>ch</strong>e Diskussionssituation ist<br />
gemeint, wenn im folgenden ohne nähere Bestimmung von realen Diskursen die Rede<br />
ist. Man kann bei diesem Prototyp des realen Diskurses au<strong>ch</strong> von einem handlungsentlasteten<br />
Diskurs spre<strong>ch</strong>en.<br />
dd) Der reale Diskurs als diskursive Kontrolle<br />
Die ideale Voraussetzung, die bei realen Diskursen niemals vollständig verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
werden kann, ist die Unendli<strong>ch</strong>keit des Diskurses ('unter den Bedingungen unbegrenzter<br />
Zeit') 467 . Im idealen Diskurs argumentieren die Teilnehmenden selbst dann<br />
weiter, wenn sie bereits einen Konsens erzielt haben, denn es ist nie ausges<strong>ch</strong>lossen,<br />
daß neue Argumente entdeckt werden, die den Konsens zusätzli<strong>ch</strong> stützen o<strong>der</strong> ihn<br />
beseitigen. Will man diese Unendli<strong>ch</strong>keit so weit wie mögli<strong>ch</strong> real verwirkli<strong>ch</strong>en, so<br />
muß man sie als eine potentielle Unendli<strong>ch</strong>keit des Diskurses verstehen. Es muß je<strong>der</strong>zeit<br />
mögli<strong>ch</strong> sein, daß die Teilnehmer, die zunä<strong>ch</strong>st den Diskurs mit einem Konsens<br />
beenden, ihn beim Auffinden neuer Argumente wie<strong>der</strong> aufnehmen. Potentielle<br />
Unendli<strong>ch</strong>keit bedeutet also beim realen Diskurs, daß die Ents<strong>ch</strong>eidung je<strong>der</strong>zeit diskursiv<br />
kontrolliert bleibt. Bei einem so weit wie mögli<strong>ch</strong> idealisierten Diskurs ist ein<br />
Konsens darum nie endgültig o<strong>der</strong> definitiv.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Diskurse sind indes nur selten mögli<strong>ch</strong>. Meist wird es darum gehen, innerhalb<br />
angemessener Zeit eine Ents<strong>ch</strong>eidung zu errei<strong>ch</strong>en, die entwe<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> Ab-<br />
465 Zur Son<strong>der</strong>fallthese, d.h. zu <strong>der</strong> These, daß juristis<strong>ch</strong>e Diskurse ein Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurses sind, ausführli<strong>ch</strong> R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991),<br />
S. 426 ff. m.w.N.; dazu unten S. 255 (Begründung von Re<strong>ch</strong>tsnormen).<br />
466 Die Diskussion unter Freunden ist ein besseres Beispiel als die Diskussion unter 'Fa<strong>ch</strong>leuten', also<br />
insbeson<strong>der</strong>e unter Moralphilosophen, weil letztere unter Umständen ein fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Interesse am<br />
Ausgang haben, es für sie also pragmatis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig sein könnte, ob sie si<strong>ch</strong> persönli<strong>ch</strong> mit ihrer<br />
Ansi<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>setzen können. Vgl. aber K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t<br />
und Politik (1992), S. 45, <strong>der</strong> als Beispiel den Fa<strong>ch</strong>kongreß unter Philosophen vors<strong>ch</strong>lägt.<br />
467 J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 148 f.<br />
220
stimmung o<strong>der</strong> als autoritative Ents<strong>ch</strong>eidung ergeht, o<strong>der</strong> in einem Konsens besteht,<br />
<strong>der</strong> für die Zukunft Bindungswirkung entfaltet, ni<strong>ch</strong>t je<strong>der</strong>zeit revisibel ist und deshalb<br />
nur no<strong>ch</strong> als bedingt diskursiv kontrolliert angesehen werden kann. Sieht man<br />
etwa das Verfahren <strong>der</strong> parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebung als Diskurs 468 und entsteht<br />
in diesem Verfahren (ausnahmsweise) ein Konsens, <strong>der</strong> zur einstimmigen Verabs<strong>ch</strong>iedung<br />
eines Gesetzes führt, dann bleibt dieses Gesetz zwar diskursiv kontrolliert,<br />
weil eine Meinungsän<strong>der</strong>ung unter den Parlamentsmitglie<strong>der</strong>n gesetzli<strong>ch</strong>e Korrekturen<br />
bewirken könnte, do<strong>ch</strong> ist die diskursive Kontrolle 'bedingt' in dem Sinne,<br />
daß ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on die Meinungsän<strong>der</strong>ung einer einzigen Person den realen Diskurs<br />
wie<strong>der</strong> aufleben läßt. Die Bindungswirkung einer Ents<strong>ch</strong>eidung gehört – wie au<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong>en an<strong>der</strong>e Charakteristika (Zeitlimit, Mehrheitsprinzip o<strong>der</strong> autoritative Setzung)<br />
– zu den ni<strong>ch</strong>t-idealen Elementen, die typis<strong>ch</strong>erweise mit realen Diskursen verbunden<br />
sind.<br />
ee) Der ideale Diskurs als regulative Idee (T Dr )<br />
Mit <strong>der</strong> Bedeutung des Konsenses für reale Diskurse ist eine Frage verbunden, die<br />
bereits in idealen Diskursen angelegt ist: die Frage <strong>der</strong> Konvergenz 469 . Es ist nämli<strong>ch</strong><br />
mögli<strong>ch</strong>, daß ein Konsens selbst unter idealen Diskursbedingungen in bestimmten<br />
praktis<strong>ch</strong>en Fragen nie eintritt. Zumindest läßt si<strong>ch</strong> die Konsensfähigkeit für Fragen<br />
des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns ni<strong>ch</strong>t beweisen. Es gibt keinen Konvergenzbeweis dahingehend,<br />
daß si<strong>ch</strong> die vers<strong>ch</strong>iedenen Standpunkte <strong>der</strong> Diskursteilnehmer im Laufe des<br />
unendli<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>ten Diskurses einan<strong>der</strong> annähern, bis sie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in einen Konsens<br />
münden. Wenn also selbst <strong>der</strong> ideale Diskurs mögli<strong>ch</strong>erweise ergebnislos, jedenfalls<br />
nie definitiv und außerdem nur näherungsweise dur<strong>ch</strong>führbar ist, worin besteht<br />
dann sein Wert? Er besteht in <strong>der</strong> Leitbildfunktion für den realen Diskurs: Im<br />
realen Diskurs gelten die Diskursregeln als regulative Idee. Je mehr si<strong>ch</strong> die Bedingungen<br />
des realen Diskurses den Bedingungen eines idealen Diskurses annähern,<br />
desto besser begründet ist die Ents<strong>ch</strong>eidung, die in einem sol<strong>ch</strong>en Diskurs getroffen<br />
wird.<br />
Verbindet man D Dr mit diesen Überlegungen zur regulativen Idee, dann gilt ein<br />
Satz, auf den im letzten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung mehrfa<strong>ch</strong> zurückgegriffen wird<br />
und <strong>der</strong> bereits hier formuliert werden kann:<br />
T Dr :<br />
Die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln<br />
eines realen Diskurses müssen so weit, wie na<strong>ch</strong> den<br />
Umständen angemessen, <strong>der</strong> regulativen Idee eines Diskurses<br />
unter idealen Bedingungen angegli<strong>ch</strong>en werden.<br />
468 Dazu unten S. 345 (parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung als realer Diskurs).<br />
469 Sie ist Anknüpfungspunkt für die Kritik, die Kaufmann aus Si<strong>ch</strong>t seiner 'Konvergenztheorie <strong>der</strong><br />
Wahrheit' anführt; vgl. A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986),<br />
S. 440 ff.<br />
221
ff)<br />
Ein Anwendungsdiskurs? (K. Günther)<br />
Günther hat die These aufgestellt, daß zwar »die Anwendung von Normen auf Situationen<br />
als Diskurs mögli<strong>ch</strong> ist«, es si<strong>ch</strong> dabei aber um spezielle 'Anwendungsdiskurse'<br />
handelt, die von allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskursen, insbeson<strong>der</strong>e den Begründungsdiskursen<br />
zur Normbegründung, zu unters<strong>ch</strong>eiden sein sollen 470 . Den Einzelheiten<br />
dieser These kann hier ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>gegangen werden. Do<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint die Trennung<br />
von Anwendungs- und Begründungsdiskursen wenig plausibel, wenn man das<br />
erwähnte 'Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung' berücksi<strong>ch</strong>tigt, na<strong>ch</strong> dem jede reale<br />
Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> Verfahren davon abhängig ist, daß die Verfahren<br />
selbst als gere<strong>ch</strong>t begründet sind 471 . Soll also dur<strong>ch</strong> eine Normanwendung <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
erzeugt werden, dann ist das Verfahren <strong>der</strong> Normanwendung letztli<strong>ch</strong><br />
auf eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung angewiesen. Entspre<strong>ch</strong>end hat Esser für die<br />
Re<strong>ch</strong>tsanwendung festgestellt, daß sie ni<strong>ch</strong>t bei einer re<strong>ch</strong>tsinternen Konsistenzprüfung<br />
stehen bleiben könne, son<strong>der</strong>n si<strong>ch</strong> auf eine re<strong>ch</strong>tsexterne Kohärenzprüfung erstrecken<br />
müsse, wenn überhaupt eine Ri<strong>ch</strong>tigkeitskontrolle stattfinden soll 472 . Sie<br />
bleibt damit immer auf eine Begründung angewiesen. Dur<strong>ch</strong> dieses Angewiesensein<br />
auf Begründung erweisen si<strong>ch</strong> Anwendungsdiskurse ni<strong>ch</strong>t als eine von Begründungsdiskursen<br />
zu trennende Diskursform 473 .<br />
b) Die Diskursregeln<br />
Eine Diskurstheorie muß als Argumentationstheorie Regeln dafür formulieren, wann<br />
ein Argument im Diskurs gültig sein soll – die Diskursregeln. Diskursregeln definieren<br />
die Rahmenbedingungen eines idealen Diskurses, <strong>der</strong> glei<strong>ch</strong>zeitig die regulative<br />
Idee aller realen Diskurse ist. Die Diskursregeln sind an an<strong>der</strong>er Stelle bereits ausführli<strong>ch</strong><br />
formuliert, klassifiziert und begründet worden 474 . Hier soll es nur darum<br />
470 K. Günther, Sinn für Angemessenheit (1988), S. 25 ff., 50, 65 ff.; zustimmend J. Habermas,<br />
Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 138 ff.<br />
471 Dazu oben S. 133 f. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien).<br />
472 Vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (1970), S. 139 ff. – Notwendigkeit einer Ri<strong>ch</strong>tigkeitskontrolle<br />
au<strong>ch</strong> jenseits einer internen Re<strong>ch</strong>tfertigung. Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> übereinstimmen R. Alexy,<br />
Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 433: »In dem mit geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidungen<br />
erhobenen Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit sind beide Aspekte [Ri<strong>ch</strong>tigkeit im Rahmen <strong>der</strong> geltenden<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung sowie Vernünftigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Re<strong>ch</strong>ts selbst] enthalten. Eine geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung, die ein unvernünftiges o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>tes Gesetz korrekt anwendet, erfüllt<br />
deshalb den mit ihr erhobenen Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t in je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t.«<br />
473 R. Alexy, Normbegründung und Normanwendung (1993), S. 52 ff.<br />
474 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 233 ff.; zustimmend W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer,<br />
Das Begründungsprogramm Diskursethik (1990), S. 24 f. Vgl. außerdem R. Alexy, Diskurstheorie<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 130. Zu den vier universalen Geltungsansprü<strong>ch</strong>en (Sinnanspru<strong>ch</strong>,<br />
Wahrheitsanspru<strong>ch</strong>, Wahrhaftigkeitsanspru<strong>ch</strong>, Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>) bei Habermas und Apel, die<br />
<strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> weitgehend ähnli<strong>ch</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen an den idealen Diskurs ausdrücken, sowie<br />
den Gewißheitsansprü<strong>ch</strong>en (Wissen um die Bedeutung eines Behauptens, Bestreitens, Fragens;<br />
Bewußtsein des Wahrheitsanspru<strong>ch</strong>s) siehe K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen<br />
Rationalität (1996), S. 22 f., 24 m.w.N. Zum Regelkatalog Alexys sind bisher, soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>,<br />
keine konkreten Alternativen formuliert worden, obwohl diese Regeln selbst teils Kritik erfahren<br />
haben, etwa bei E. Hilgendorf, Argumentation in <strong>der</strong> Jurisprudenz (1991), S. 186 ff., 203 ff.<br />
222
gehen, sie s<strong>ch</strong>lagwortartig und na<strong>ch</strong> ihren Regelungsgehalten gruppiert zusammenzufassen,<br />
um das Spektrum <strong>der</strong> Diskursanfor<strong>der</strong>ungen deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en.<br />
aa) Regeln <strong>der</strong> Konsistenz und Kohärenz<br />
Zunä<strong>ch</strong>st definieren die Diskursregeln allgemeine Anfor<strong>der</strong>ungen, wie sie au<strong>ch</strong> für<br />
ni<strong>ch</strong>tdiskursive <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft gelten. Zu diesen allgemeinen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen an <strong>Theorien</strong> gehört <strong>der</strong>en Konsistenz, verstanden als innere Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit<br />
475 , und Kohärenz, verstanden als äußere Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit im Sinne<br />
einer Vereinbarkeit mit empiris<strong>ch</strong>en Tatsa<strong>ch</strong>en und an<strong>der</strong>en diskursexternen<br />
Rahmenbedingungen (z.B. Spra<strong>ch</strong>konventionen) 476 .<br />
Zu den Diskursregeln <strong>der</strong> Konsistenz gehört, daß kein Spre<strong>ch</strong>er si<strong>ch</strong> selbst wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en<br />
darf (Individualkonsistenz). Vers<strong>ch</strong>iedene Spre<strong>ch</strong>er dürfen den glei<strong>ch</strong>en<br />
Ausdruck ni<strong>ch</strong>t mit vers<strong>ch</strong>iedenen Bedeutungen benutzen (Terminologiekonsistenz).<br />
Je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er darf nur das behaupten, was er selbst meint (Ernsthaftigkeit, 'Persönli<strong>ch</strong>keitskonsistenz').<br />
Je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er muß seine objekt- und subjektbezogenen Behauptungen<br />
au<strong>ch</strong> für alle an<strong>der</strong>en Objekte und Subjekte aufre<strong>ch</strong>terhalten, die in je<strong>der</strong><br />
relevanten Hinsi<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> sind (Vollständigkeit, 'Standpunktkonsistenz').<br />
Zu den Diskursregeln <strong>der</strong> Kohärenz gehört, daß je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er das Gebot spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-begriffli<strong>ch</strong>er<br />
Klarheit bea<strong>ch</strong>ten muß (Terminologiekohärenz). Je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er<br />
darf nur das behaupten, was mit empiris<strong>ch</strong>en Tatsa<strong>ch</strong>en vereinbar ist (Wahrheitsgebot,<br />
'Umweltkohärenz'). Je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er darf nur for<strong>der</strong>n, was innerhalb gegebener<br />
Grenzen <strong>der</strong> Realisierbarkeit mögli<strong>ch</strong> ist (Realisierbarkeitsgebot, 'Mögli<strong>ch</strong>keitskohärenz').<br />
Je<strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er darf nur sol<strong>ch</strong>e Behauptungen erheben, <strong>der</strong>en Konsequenzen<br />
er akzeptiert (Folgenberücksi<strong>ch</strong>tigungsgebot, 'Standpunktkohärenz').<br />
Die Regeln, die hier s<strong>ch</strong>lagwortartig als Standpunktkonsistenz und Standpunktkohärenz<br />
bezei<strong>ch</strong>net sind, können (genau wie die folgenden Glei<strong>ch</strong>heitsregeln) dur<strong>ch</strong><br />
ein Rollentaus<strong>ch</strong>prinzip verdeutli<strong>ch</strong>t werden: Je<strong>der</strong> muß bereit sein, die Rolle jedes<br />
an<strong>der</strong>en Diskursteilnehmers zu übernehmen 477 .<br />
475 Vgl. R. Alexy, Juristis<strong>ch</strong>e Begründung, System und Kohärenz (1989), S. 96: »Eine Theorie ist konsistent,<br />
wenn sie keinen logis<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> aufweist.« Ebenso D. Bu<strong>ch</strong>wald, Der Begriff <strong>der</strong> rationalen<br />
juristis<strong>ch</strong>en Begründung (1990), S. 151.<br />
476 Zu diesem Außenbezug <strong>der</strong> (graduellen, optimierungsbedürftigen) Kohärenz im Gegensatz zum<br />
Innenbezug <strong>der</strong> (logis<strong>ch</strong>-absoluten) Konsistenz vgl. R. Alexy, Juristis<strong>ch</strong>e Begründung, System und<br />
Kohärenz (1989), S. 97: »Je besser die Begründungsstruktur einer Klasse von Aussagen ist, desto<br />
kohärenter ist diese Klasse von Aussagen.«; sowie ebd., S. 102: »Je mehr we<strong>ch</strong>selseitige empiris<strong>ch</strong>e<br />
Begründungen ein System enthält, desto kohärenter ist es.« Die Einbettung juristis<strong>ch</strong>er Begründung<br />
in ein mögli<strong>ch</strong>st kohärentes System ist eine elementare For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie<br />
au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft insgesamt: ebd., S. 106 f. Zur Kohärenz gehört außerdem, daß die<br />
Folgen des in <strong>der</strong> Theorie gere<strong>ch</strong>tfertigten Handelns berücksi<strong>ch</strong>tigt werden; vgl. R. Alexy, Diskurstheorie<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 130 sowie D. Bu<strong>ch</strong>wald, Der Begriff <strong>der</strong> rationalen juristis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung (1990), S. 151 f., 253 ff.<br />
477 Vgl. R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 113; dazu oben S. 218 (D Di ). Ähnli<strong>ch</strong> bereits<br />
<strong>der</strong>s., Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 251: »(5.1.1) Je<strong>der</strong> muß die Konsequenzen<br />
<strong>der</strong> in einer von ihm behaupteten normativen Aussage vorausgesetzten Regel für die Befriedigung<br />
<strong>der</strong> Interessen einer jeden einzelnen Person au<strong>ch</strong> für den hypothetis<strong>ch</strong>en Fall akzeptieren<br />
223
) Regeln <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit und Freiheit<br />
Neben diesen Diskursregeln, die allgemeine Gebote <strong>der</strong> Vernunft implementieren,<br />
gelten an<strong>der</strong>e spezifis<strong>ch</strong> für eine diskursive Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft. Hierzu<br />
gehören zunä<strong>ch</strong>st Regeln über die glei<strong>ch</strong>en Diskursfreiheiten und die Informiertheit:<br />
Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> spre<strong>ch</strong>en kann, darf an Diskursen teilnehmen (Teilnahmefreiheit). Je<strong>der</strong><br />
darf jede Behauptung in den Diskurs einführen (Thematisierungsfreiheit). Je<strong>der</strong> darf<br />
jede Behauptung problematisieren (Kritisierungsfreiheit). Je<strong>der</strong> darf si<strong>ch</strong> über alle<br />
verfügbaren empiris<strong>ch</strong>en Daten unterri<strong>ch</strong>ten (Informationsfreiheit). Niemand darf<br />
dur<strong>ch</strong> innerhalb o<strong>der</strong> außerhalb des Diskurses herrs<strong>ch</strong>enden Zwang daran gehin<strong>der</strong>t<br />
werden, seine Diskursfreiheiten wahrzunehmen (Zwangsfreiheit, insbeson<strong>der</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit).<br />
Die Zwangsfreiheit des Diskurses ist das wohl anspru<strong>ch</strong>svollste ideale Element,<br />
weil es in realen Diskursen nie vollständig verwirkli<strong>ch</strong>t werden kann 478 . Zur<br />
Zwangsfreiheit gehört nämli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Freiheit von Ents<strong>ch</strong>eidungszwang. Eine sol<strong>ch</strong>e<br />
Freiheit läßt si<strong>ch</strong> aber nur herstellen, wenn <strong>der</strong> Diskurs potentiell unendli<strong>ch</strong> fortzusetzen<br />
ist. Bei realen Ents<strong>ch</strong>eidungen über Fragen des Handelns gibt es dagegen<br />
den Zwang, irgendwann zu einem Ergebnis zu gelangen (z.B.: Budget verabs<strong>ch</strong>ieden,<br />
Korn säen). An<strong>der</strong>nfalls würde das Ni<strong>ch</strong>thandeln selbst ganz unabhängig vom<br />
Diskurs ein Ergebnis faktis<strong>ch</strong> setzen (z.B.: budgetlose Regierung, ertragloser Acker).<br />
Au<strong>ch</strong> die Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit ist real kaum vollständig zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Zwar kann<br />
und muß Gewalt und Drohung im Diskurs verboten werden; ein Arbeitgeber kann<br />
also in einem Diskurs ni<strong>ch</strong>t mit Kündigung drohen. Do<strong>ch</strong> lassen si<strong>ch</strong> Ma<strong>ch</strong>tunters<strong>ch</strong>iede<br />
in <strong>der</strong> Realität nie ganz ausblenden, leben sie do<strong>ch</strong> in typisiertem Rollenverhalten<br />
(arm/rei<strong>ch</strong>, Frau/Mann) fort.<br />
cc) Regeln <strong>der</strong> Argumentationslast<br />
Die Argumentation kann, wenn sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses verbürgen soll,<br />
ni<strong>ch</strong>t vollständig in das Belieben <strong>der</strong> Beteiligten gestellt bleiben. Neben den Regeln<br />
über glei<strong>ch</strong>e Diskursfreiheiten muß im Diskurs au<strong>ch</strong> geregelt sein, wer wann ein Argument<br />
anzuführen hat. Zu den Regeln über Argumentationslasten gehört die, daß<br />
je<strong>der</strong> seine Behauptungen auf Verlangen begründen muß, es sei denn, eine Begründungsverweigerung<br />
ist ausnahmsweise gere<strong>ch</strong>tfertigt (Begründungslast). Je<strong>der</strong> muß<br />
auf Verlangen begründen, warum er objekt- und subjektbezogenen Behauptungen<br />
für bestimmte an<strong>der</strong>e Objekte und Subjekte ni<strong>ch</strong>t aufre<strong>ch</strong>terhält (Differenzierungslast).<br />
Wer ein Argument angeführt hat, ist nur bei einem Gegenargument zu weiteren<br />
Argumenten verpfli<strong>ch</strong>tet (Entgegnungslast). Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> eine Äußerung ma<strong>ch</strong>t,<br />
die ni<strong>ch</strong>t auf den bisherigen Gegenstand und die bisherigen Argumente des Diskurses<br />
bezogen ist, muß auf Verlangen begründen, weshalb er diese Äußerung ma<strong>ch</strong>t<br />
(Thematisierungslast).<br />
können, daß er si<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Situation dieser Person befindet.« Ebenso R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1991), S. 116.<br />
478 Ausdrückli<strong>ch</strong> K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 45:<br />
»Genau besehen, kann ni<strong>ch</strong>t einmal ein realer philosophis<strong>ch</strong>er Diskurs völlig herrs<strong>ch</strong>aftsfrei abgewickelt<br />
werden, sofern er als realer Diskurs ja au<strong>ch</strong> niemals völlig handlungs- und zeitentlastet<br />
abgewickelt werden kann.«<br />
224
c) Die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
Die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln erfolgt in den einzelnen Diskurstheorien unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
479 . In allen <strong>Theorien</strong>, seien sie universal- o<strong>der</strong> transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>,<br />
wird dabei na<strong>ch</strong> den notwendigen Voraussetzungen von Kommunikation gefors<strong>ch</strong>t<br />
(Präsuppositionsanalyse). Das kann mit <strong>der</strong> Argumentform des transzendentalen<br />
Arguments beispielhaft gezeigt werden. Ein gemeinsames Element <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong><br />
liegt sodann in dem Hinweis auf den je<strong>der</strong> Argumentation immanenten Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
sowie dessen Unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>keit zur Vermeidung eines performativen<br />
Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>es. Damit läßt si<strong>ch</strong> ein gemeinsamer Begründungskern <strong>der</strong> Diskurstheorien<br />
skizzieren 480 .<br />
aa) Das transzendentale Argument<br />
Als 'transzendental' bezei<strong>ch</strong>net Kant die Bedingungen <strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keit 481 . Von einem<br />
transzendentalen Argument spri<strong>ch</strong>t man demgemäß bei je<strong>der</strong> Analyse notwendiger<br />
Voraussetzungen (Präsuppositionsanalyse). Dabei wird zunä<strong>ch</strong>st ein Ausgangspunkt<br />
in irgendeiner Hinsi<strong>ch</strong>t als notwendig behauptet o<strong>der</strong> erkannt (praemissa maior).<br />
Diese Notwendigkeit muß sodann auf weiteren Voraussetzungen beruhen, die selbst<br />
notwendig für ihren Bestand sind (praemissa minor). Daraus folgt, daß die Voraussetzungen<br />
in <strong>der</strong>selben Hinsi<strong>ch</strong>t als notwendig angesehen werden müssen, wie <strong>der</strong><br />
Ausgangspunkt (conclusio). Wird beispielsweise <strong>der</strong> Stoffwe<strong>ch</strong>sel (Ausgangspunkt)<br />
als notwendig für das Weiterleben (relevante Hinsi<strong>ch</strong>t) eines Lebewesens erkannt<br />
(praemissa maior) und weiter gezeigt, daß die Nahrungsaufnahme notwendige Voraussetzung<br />
für einen kontinuierli<strong>ch</strong>en Stoffwe<strong>ch</strong>sel ist (praemissa minor), so folgt<br />
daraus, daß die Nahrungsaufnahme in <strong>der</strong>selben Hinsi<strong>ch</strong>t, also bezügli<strong>ch</strong> des Weiterlebens,<br />
für ein Lebewesen notwendig ist (conclusio).<br />
Wie wird nun diese Argumentform des tranzendentalen Arguments für die Diskurstheorie<br />
konkretisiert? Regelmäßig werden Spra<strong>ch</strong>philosophie und Linguistik<br />
aktiviert, um die Notwendigkeit bestimmter Kommunikationseigens<strong>ch</strong>aften aufzuzeigen<br />
482 . Dabei ist es angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Vielfalt unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Spre<strong>ch</strong>akte (Verspre-<br />
479 Dazu unten S. 233 ff. (einzelne Diskurstheorien).<br />
480 Die folgende Darstellung <strong>der</strong> transzendentalen Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln folgt im wesentli<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> Vorgehensweise bei R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 135 ff., soweit<br />
diese Begründungselemente illustriert, die au<strong>ch</strong> mit den Aussagen an<strong>der</strong>er Diskurstheorien<br />
vereinbar sind.<br />
481 Vgl. I. Kant, KrV (1787), B 25 f.: »I<strong>ch</strong> nenne alle Erkenntnis transzendental, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so wohl<br />
mit Gegenständen, son<strong>der</strong>n mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori<br />
mögli<strong>ch</strong> sein soll, überhaupt bes<strong>ch</strong>äftigt. Ein System sol<strong>ch</strong>er Begriffe würde Transzendental-<br />
Philosophie heißen.« (Hervorhebungen bei Kant); <strong>der</strong>s., KrV (1781), B80/A56: »transzendental (d.i.<br />
die Mögli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Erkenntnis o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong>selben a priori)«.<br />
482 Die wohl wi<strong>ch</strong>tigste Grundlage bildet insoweit die Theorie des illokutionären Aktes von Austin.<br />
Austin unters<strong>ch</strong>eidet den Akt <strong>der</strong> Äußerung selbst (lokutionärer Akt) von dem Akt, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />
Äußerung vorgenommen wird (illokutionärer Akt) und demjenigen, <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> Äußerung<br />
ergibt (perlokutionärer Akt); J.L. Austin, Zur Theorie <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>akte (1962), S. 110 ff. (a<strong>ch</strong>te Vorlesung);<br />
vgl. dazu J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 30 – illocutionary force indicators; D. Van<strong>der</strong>veken,<br />
Les actes de discours (1988), S. 107 ff. – La forme logique des actes illocutoires. Die folgende Präsuppositionsanalyse<br />
des Spre<strong>ch</strong>aktes <strong>der</strong> Behauptung ist eine Analyse des illokutionären Aktes, also<br />
225
<strong>ch</strong>en, Fragen, Emotionsäußerungen, Stellungnahmen, Absi<strong>ch</strong>tserklärungen, Befehle,<br />
Begründungen, Behauptungen u.v.m. 483 ) wenig aussi<strong>ch</strong>tsrei<strong>ch</strong>, gemeinsame Elemente<br />
je<strong>der</strong> Kommunikation als notwendig darzulegen; allenfalls über abstrakte Strukturelemente<br />
von Spre<strong>ch</strong>akten ließen si<strong>ch</strong> Aussagen treffen 484 . Für den Zweck <strong>der</strong> Begründung<br />
von Diskursregeln genügt es, wenn für einzelne Spre<strong>ch</strong>akte notwendige<br />
Voraussetzungen herausgearbeitet werden, um dann zu zeigen, daß diese Spre<strong>ch</strong>akte<br />
selbst in irgendeiner Hinsi<strong>ch</strong>t notwendig sind. Der Spre<strong>ch</strong>akt, für den das am aussi<strong>ch</strong>tsrei<strong>ch</strong>sten<br />
ist, ist <strong>der</strong>jenige des Behauptens in einem starken, d.h. voraussetzungsvollen<br />
Sinn. Behaupten in einem starken Sinne ist mehr als eine bloße Stellungnahme.<br />
Wer etwas behauptet, erhebt damit glei<strong>ch</strong>zeitig – zumindest implizit –<br />
einen Anspru<strong>ch</strong> auf Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit 485 . Täte er es ni<strong>ch</strong>t, würde <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er<br />
si<strong>ch</strong> mit dem Vollzug des Spre<strong>ch</strong>aktes in Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> zu dessen Inhalt setzen<br />
(performativer Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>), würde also als Behaupten<strong>der</strong> für etwas auftreten, das er<br />
für fals<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> für unbegründet hält 486 .<br />
Wenn jemand einen Anspru<strong>ch</strong> auf Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit erhebt, so behauptet<br />
er glei<strong>ch</strong>zeitig, daß dieser Anspru<strong>ch</strong> einlösbar ist. Ansprü<strong>ch</strong>e auf Wahrheit o<strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit werden dur<strong>ch</strong> Begründungen eingelöst. Man kann folgli<strong>ch</strong> sagen: »Der<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>igkeit impliziert einen Anspru<strong>ch</strong> auf Begründbarkeit.«<br />
487 Der Spre<strong>ch</strong>er verpfli<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> implizit, auf Verlangen Gründe für seine Be<strong>der</strong><br />
Frage, was damit gesagt ist, wenn jemand etwas behauptet. Zur Unters<strong>ch</strong>eidung dessen, was<br />
gesagt ist, von dem, was damit gesagt wird vgl. E. v. Savigny, Analytis<strong>ch</strong>e Philosophie (1970), S. 90;<br />
<strong>der</strong>s., J.L. Austins Theorie <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>akte (1972), S. 8; E. Braun, Paradigmenwe<strong>ch</strong>sel in <strong>der</strong> Spra<strong>ch</strong>philosophie<br />
(1996), S. 41.<br />
483 J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 22 ff. (23).<br />
484 Immerhin hat J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 54 ff. (64 f.) zur Struktur illokutionärer Spre<strong>ch</strong>akte<br />
die These aufgestellt, daß mit <strong>der</strong> Vornahme jedes illokutionären Aktes glei<strong>ch</strong>zeitig impliziert<br />
wird, die 'vorbereitenden Bedingungen' (preparationary conditions) dieses Aktes bestünden – bei<br />
einer 'Behauptung' etwa die Bedingung, daß <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er je<strong>der</strong>zeit eine Begründung na<strong>ch</strong>tragen<br />
kann, bei einem 'Verspre<strong>ch</strong>en', daß <strong>der</strong> Verspre<strong>ch</strong>ensempfänger ein Interesse am Verspro<strong>ch</strong>enen<br />
hat; bei einer 'Danksagung', daß das Empfangene dem Spre<strong>ch</strong>er gefallen hat u.s.w.<br />
485 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 135; vgl. dazu die These von den preparationary<br />
conditions bei J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 64 f.; im Ergebnis ebenso W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer,<br />
Das Begründungsprogramm Diskursethik (1990), . 17. Von diesem starken Begriff des Behauptens<br />
kann ein s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>erer Begriff im Sinne bloßer Emotionsäußerungen, Stellungnahmen o<strong>der</strong><br />
unpersönli<strong>ch</strong>er Äußerungen unters<strong>ch</strong>ieden werden, <strong>der</strong> keinerlei Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbehauptung eins<strong>ch</strong>ließt.<br />
Wer angesi<strong>ch</strong>ts eines Sonnenuntergangs spontan 's<strong>ch</strong>ön' sagt, ist unter Umständen we<strong>der</strong><br />
gewillt no<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Lage, dafür Gründe anzuführen. Er hat glei<strong>ch</strong>wohl – in einem s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en<br />
Sinne – eine Behauptung aufgestellt: 'Dieser Sonnenuntergang ist s<strong>ch</strong>ön!' Sol<strong>ch</strong>es s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Behaupten<br />
soll hier weiter ni<strong>ch</strong>t interessieren. Für das hier dargelegte Argument genügt es, daß es<br />
überhaupt eine Klasse von Spre<strong>ch</strong>akten gibt, die im starken Sinne ein Behaupten darstellt.<br />
486 Vgl. dazu K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 22: »Unter<br />
letzterem [dem transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en Selbstwi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>] verstehe i<strong>ch</strong> einen performativen Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong><br />
zwis<strong>ch</strong>en dem Inhalt einer Proposition und dem selbstbezügli<strong>ch</strong>en – impliziten o<strong>der</strong> performativ<br />
expliziten – intentionalen Inhalt des Aktes des Vorbringens <strong>der</strong> Proposition im Rahmen eines<br />
argumentativen Diskurses.« (Hervorhebungen bei Apel). Zu vers<strong>ch</strong>iedenen Verwendungsweisen<br />
des Begriffes 'performativer Selbstwi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>' vgl. M. Kettner, Ansatz zu einer Taxonomie performativer<br />
Selbstwi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>e (1993), S. 187 ff.<br />
487 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 136.<br />
226
hauptung na<strong>ch</strong>zuliefern 488 . Das s<strong>ch</strong>ließt ni<strong>ch</strong>t aus, daß im Einzelfall – etwa aus Zeitnot<br />
– eine ausführli<strong>ch</strong>e Begründung unmögli<strong>ch</strong> ist. Anspru<strong>ch</strong> auf Begründbarkeit<br />
bedeutet au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, daß immer dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagende Gründe für das Behauptete vorhanden<br />
sein müssen. Aber jedenfalls ist jedes Behaupten im starken Sinne, also ein<br />
sol<strong>ch</strong>es, das Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit impliziert, glei<strong>ch</strong>zeitig eine konkludente Bereiterklärung,<br />
unter normalen Umständen überhaupt Gründe für das Behauptete zu<br />
geben (Prima-facie-Pfli<strong>ch</strong>t zur Begründung 489 ). Häufig wird das Behaupten im starken<br />
Sinn zusammen mit <strong>der</strong> Begründung, dur<strong>ch</strong> die <strong>der</strong> implizite Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
eingelöst wird, zum Begriff des Argumentierens zusammengefaßt. Jede Diskurstheorie<br />
ist in diesem Sinne glei<strong>ch</strong>zeitig Argumentationstheorie.<br />
bb) Die Begründungspfli<strong>ch</strong>t<br />
Nun ist es ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong>gültig, wie si<strong>ch</strong> Spre<strong>ch</strong>er und Behauptungsempfänger gegenübertreten.<br />
Denn wenn <strong>der</strong> Behauptungsempfänger seinen Anspru<strong>ch</strong> auf Begründung<br />
einfor<strong>der</strong>t, indem er auf das Behaupten die Frage 'Warum?' stellt, dann kann<br />
ein Spre<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t mit je<strong>der</strong> beliebigen Antwort seiner implizit übernommenen Begründungspfli<strong>ch</strong>t<br />
genügen. Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit lassen si<strong>ch</strong> nur darlegen,<br />
wenn gute Gründe angeführt werden 490 . Au<strong>ch</strong> das unters<strong>ch</strong>eidet ein Behaupten im<br />
starken Sinn von an<strong>der</strong>en (s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>eren) Begriffen des Behauptens 491 .<br />
Was aber sind gute Gründe? Es müssen na<strong>ch</strong> dem Gang <strong>der</strong> hier verfolgten Argumentation<br />
sol<strong>ch</strong>e sein, die eine Wahrheits- o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgewähr bieten. Denn<br />
sonst könnte <strong>der</strong> mit einem starken Behaupten implizierte Anspru<strong>ch</strong> auf Wahrheit<br />
o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t eingelöst werden. Sowohl die Wahrheit, also <strong>der</strong> Inbegriff des<br />
gelungenen Beweises einer dem Beweis zugängli<strong>ch</strong>en Tatsa<strong>ch</strong>e, als au<strong>ch</strong> die Ri<strong>ch</strong>tig-<br />
488 Vgl. J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969), S. 65: »To put it generally, in the performance of any illocutionary<br />
act, the speaker implies that the preparatory conditions of the act are satisfied. Thus, for example,<br />
when I make a statement I imply that I can back it up«.<br />
489 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 137.<br />
490 Ausführli<strong>ch</strong> zu Diskurs und guten Gründen R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1991), S. 399 ff.<br />
491 Ni<strong>ch</strong>t jedes Behaupten mit impliziter Begründungsbereits<strong>ch</strong>aft stellt au<strong>ch</strong> beson<strong>der</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an die Begründung. Es können Begriffe eines s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>eren Behauptens gebildet werden, bei<br />
denen <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er zwar einerseits impliziert, daß er irgendwel<strong>ch</strong>e Gründe für seine Äußerung anzuführen<br />
gewillt ist, er aber an<strong>der</strong>erseits ni<strong>ch</strong>t die Verpfli<strong>ch</strong>tung übernimmt, daß diese Gründe<br />
bestimmten Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Wahrheits- o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgung genügen. Die zwei wi<strong>ch</strong>tigsten<br />
Fallkonstellationen <strong>der</strong>art s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Behauptens mit unqualifizierter Begründung sind diejenige,<br />
bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er zwar gewillt, aber na<strong>ch</strong> eigener Si<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t fähig ist, gute Gründe zu<br />
präsentieren, und diejenige, bei <strong>der</strong> er na<strong>ch</strong> eigener Si<strong>ch</strong>t zwar fähig, aber ni<strong>ch</strong>t gewillt ist, gute<br />
Gründe zu präsentieren. So beispielsweise in folgendem Dialog: 'Der Fis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>meckt wun<strong>der</strong>voll!<br />
– Warum? – Er s<strong>ch</strong>meckt einfa<strong>ch</strong> gut.' Hier ist <strong>der</strong> Feins<strong>ch</strong>mecker dur<strong>ch</strong>aus bereit, einen guten<br />
Grund zu nennen, weiß aber, daß er wegen <strong>der</strong> Vers<strong>ch</strong>iedenheit <strong>der</strong> Ges<strong>ch</strong>mäcker einen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t erheben kann: er ist ni<strong>ch</strong>t fähig, gute Gründe zu nennen. Umgekehrt in folgendem<br />
Dialog: 'Es ist besser für Sie, wenn Sie dieser Anordnung Folge leisten! – Warum? – Weil<br />
i<strong>ch</strong> Sie sonst entlasse.' Hier mag <strong>der</strong> Arbeitgeber dur<strong>ch</strong>aus gute Gründe für seine Anordnung haben,<br />
vermeidet aber mit <strong>der</strong> Drohung, si<strong>ch</strong> auf eine Diskussion einzulassen: er ist ni<strong>ch</strong>t gewillt gute<br />
Gründe zu nennen. Die im Zusammenhang mit sol<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Behauptungen implizierten<br />
Begründungen umfassen ni<strong>ch</strong>t notwendig gute Gründe.<br />
227
keit, verstanden als Inbegriff des gelungenen Begründens einer ni<strong>ch</strong>t dem Beweis<br />
zugängli<strong>ch</strong>en Aussage, beanspru<strong>ch</strong>en kategoris<strong>ch</strong>e Geltung. Sie beziehen si<strong>ch</strong> auf Eigens<strong>ch</strong>aften,<br />
die unabhängig von Zeit und Raum den als wahr o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig erkannten<br />
Gegenständen zukommen müssen. Eine beweisbare Tatsa<strong>ch</strong>e ist nur wahr, wenn sie<br />
immer und überall wahr ist; eine ni<strong>ch</strong>t beweisbare Aussage ist nur ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie<br />
immer und überall ri<strong>ch</strong>tig ist 492 .<br />
Der kategoris<strong>ch</strong>e Geltungsanspru<strong>ch</strong> von Wahrheit und Ri<strong>ch</strong>tigkeit führt zu<br />
s<strong>ch</strong>wer erfüllbaren Anfor<strong>der</strong>ungen an gute Gründe. Sol<strong>ch</strong>e Gründe dürfen ni<strong>ch</strong>t von<br />
dem Kreis <strong>der</strong> Spre<strong>ch</strong>er abhängen, in dem sie geäußert werden. Sie müssen Gründe<br />
für alle und jeden sein, unabhängig von unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Kenntnissen und Fähigkeiten<br />
<strong>der</strong> einzelnen Spre<strong>ch</strong>er. Ein Grund ist also ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on dadur<strong>ch</strong> ein guter<br />
Grund, daß er gerade ausrei<strong>ch</strong>t, den einzelnen Behauptungsempfänger zu überzeugen.<br />
Er wird au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> gut, daß er si<strong>ch</strong> eine Zwangssituation zunutze<br />
ma<strong>ch</strong>t, um als ausrei<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Grund akzeptiert zu werden. Und er kann kein guter<br />
Grund sein, wenn er bei Anwesenheit und glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigter Gesprä<strong>ch</strong>steilnahme<br />
von kritis<strong>ch</strong>en Behauptungsempfängern als ni<strong>ch</strong>t überzeugend entlarvt würde. Denn<br />
in allen diesen Fällen fehlt es an <strong>der</strong> zeitli<strong>ch</strong>en und räumli<strong>ch</strong>en Unbedingtheit <strong>der</strong><br />
Geltung. Der Behauptungsempfänger kann klüger werden, die Situation kann ihre<br />
Zwanghaftigkeit verlieren o<strong>der</strong> die abwesenden o<strong>der</strong> zunä<strong>ch</strong>st ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten<br />
Kritiker können ers<strong>ch</strong>einen und eine glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigte Teilnahme dur<strong>ch</strong>setzen<br />
und s<strong>ch</strong>on än<strong>der</strong>t si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Überzeugungserfolg eines Grundes, wenn es ni<strong>ch</strong>t von<br />
Anfang an ein guter Grund ist. Die so skizzierten Anfor<strong>der</strong>ungen an gute Gründe<br />
lassen si<strong>ch</strong> wie folgt zusammenfassen: Gute Gründe verlangen erstens die Zwanglosigkeit<br />
<strong>der</strong> Argumentation. Sie verlangen zweitens, daß je<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Argumentation<br />
teilnehmen kann, ohne daß die Gründe ihre Überzeugungskraft verlieren. Sie verlangen<br />
drittens, daß eine Teilnahme an <strong>der</strong> Argumentation glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigt erfolgt.<br />
cc) Der Einwand <strong>der</strong> Zirkularität<br />
An dieser Stelle wird einigermaßen offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, daß die Anfor<strong>der</strong>ungen, die in <strong>der</strong><br />
Argumentation einen guten Grund identifizieren, si<strong>ch</strong> mit denjenigen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
decken, die oben bereits in etwas gründli<strong>ch</strong>erer Differenzierung als Diskursregeln<br />
eingeführt wurden 493 . Deshalb setzt si<strong>ch</strong> dieser Gedankens<strong>ch</strong>ritt dem Verda<strong>ch</strong>t <strong>der</strong><br />
Zirkularität aus. Wird mit den Diskursregeln gewissermaßen das Kanin<strong>ch</strong>en aus<br />
dem Hut gezaubert, das in <strong>der</strong> Ums<strong>ch</strong>reibung eines guten Grundes vorher hineingesteckt<br />
wurde?<br />
Der Einwand <strong>der</strong> Zirkularität läßt si<strong>ch</strong> auf vers<strong>ch</strong>iedene Weise wi<strong>der</strong>legen, am<br />
einfa<strong>ch</strong>sten aber mit dem Argument, daß Zwanglosigkeit, Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und<br />
Universalität <strong>der</strong> Teilnahme keine beliebig austaus<strong>ch</strong>baren Kriterien sind, um einen<br />
Grund als 'guten' zu identifizieren. Den Ansatzpunkt des (ni<strong>ch</strong>t normativen, son<strong>der</strong>n<br />
analytis<strong>ch</strong>en) Arguments bietet das Begründungsziel, das mit dem guten Grund<br />
errei<strong>ch</strong>t werden soll: die Darlegung von Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Deren katego-<br />
492 Die kategoris<strong>ch</strong>e Geltung s<strong>ch</strong>ließt ni<strong>ch</strong>t aus, daß Erkenntnisse revisibel sind, es also eine (ni<strong>ch</strong>tabsolute)<br />
Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit relativ zum jeweiligen Erkenntnisstand geben kann; zum relativen<br />
Begriff <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit ausführli<strong>ch</strong>er unten S. 291 ff. (Kritik am Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>).<br />
228
is<strong>ch</strong>e Geltung verlangt zeitli<strong>ch</strong>-räumli<strong>ch</strong>e Unabhängigkeit. Warum soll, um mit<br />
dem ersten Kriterium zu beginnen, ausgere<strong>ch</strong>net Zwanglosigkeit ein Garant für zeitli<strong>ch</strong>-räumli<strong>ch</strong>e<br />
Unabhängkeit sein? Es könnte ja au<strong>ch</strong> die Zwanghaftigkeit den guten<br />
Grund identifizieren. Gute Gründe wären dann diejenigen, die <strong>der</strong> jeweils Stärkere<br />
in Ausnutzung seiner Ma<strong>ch</strong>tstellung dur<strong>ch</strong>zusetzen weiß. Das Problem eines sol<strong>ch</strong>en<br />
Kriteriums liegt in seiner Unbestimmtheit. Ma<strong>ch</strong>t – also die Fähigkeit, Zwang<br />
auszuüben, und dadur<strong>ch</strong> die eigene Position au<strong>ch</strong> gegen Wi<strong>der</strong>stand dur<strong>ch</strong>zusetzen<br />
494 – unterliegt zeitli<strong>ch</strong>-räumli<strong>ch</strong>em Wandel. Der Zwang kann also mal dem einen,<br />
mal dem an<strong>der</strong>en Grund zur Seite stehen. Zwanghaftigkeit ist folgli<strong>ch</strong> undefiniert.<br />
Demgegenüber ist <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Zwanglosigkeit stets definiert. Zwanglosigkeit<br />
unterliegt keinem räumli<strong>ch</strong>-zeitli<strong>ch</strong>en Wandel. Will man räumli<strong>ch</strong>-zeitli<strong>ch</strong>e<br />
Unabhängigkeit si<strong>ch</strong>ern, wie dies für Wahrheit und Ri<strong>ch</strong>tigkeit erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist, so<br />
kann darum nur auf die Zwanglosigkeit abgestellt werden. Entspre<strong>ch</strong>end lassen si<strong>ch</strong><br />
die an<strong>der</strong>en Kriterien begründen. Eine personell bes<strong>ch</strong>ränkte Teilnahme ist stets unbestimmt,<br />
denn sie könnte mal den einen, mal den an<strong>der</strong>en Personenkreis berücksi<strong>ch</strong>tigen;<br />
nur eine universelle Teilnahme, also eine Teilnahme aller, ist stets definiert.<br />
Eine Teilnahme mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ten ist stets unbestimmt, denn es könnte<br />
mal die eine, mal die an<strong>der</strong>e Gruppe von Personen Son<strong>der</strong>re<strong>ch</strong>te erhalten; nur die<br />
glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigte Teilnahme ist stets definiert. Bereits mit diesem Argument kann<br />
begründet werden, warum ausgere<strong>ch</strong>net Zwanglosigkeit, Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und<br />
Universalität <strong>der</strong> Teilnahme die Kriterien sein müssen, die in einer Argumentation<br />
die guten Gründe identifizieren.<br />
dd) Die Letztbegründung als Variante<br />
Im Rahmen des transzendentalen Arguments ist damit bisher nur die zweite Prämisse<br />
(praemissa minor) dargelegt: Wenn jemand etwas behauptet im Sinne eines starken<br />
Begriffs des Behauptens, so übernimmt er damit notwendig glei<strong>ch</strong>zeitig die Primafacie-Pfli<strong>ch</strong>t,<br />
das Behauptete auf Verlangen in einer Art und Weise zu begründen, die<br />
dur<strong>ch</strong> Zwanglosigkeit, Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und Universalität <strong>der</strong> Teilnahme gekennzei<strong>ch</strong>net<br />
ist – er argumentiert. Wie aber ist die erste Prämisse des transzendentalen<br />
Arguments (praemissa maior) zu begründen, die besagt, daß Mens<strong>ch</strong>en notwendig<br />
etwas behaupten im Sinne eines starken Begriffs des Behauptens. Mit an<strong>der</strong>en Worten:<br />
Warum soll es überhaupt notwendig sein, daß Mens<strong>ch</strong>en argumentieren?<br />
Die Frage hat in den vers<strong>ch</strong>iedenen Diskurstheorien unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Antworten<br />
gefunden 495 . Je na<strong>ch</strong>dem, ob von einer unbedingten und nur von einer bedingten<br />
Notwendigkeit dieser Prämisse im mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Leben ausgegangen wird, enthält<br />
das transzendentale Argument einen Letztbegründungsanspru<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> verzi<strong>ch</strong>tet auf<br />
diesen. Die Letztbegründung ist folgli<strong>ch</strong> nur eine von mehreren Varianten des transzendentalen<br />
Arguments in Diskurstheorien.<br />
493 Dazu unten S. 222 ff. (Diskursregeln).<br />
494 Vgl. die Ma<strong>ch</strong>tdefinition bei M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 28: »Ma<strong>ch</strong>t bedeutet<br />
jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen au<strong>ch</strong> gegen Wi<strong>der</strong>streben<br />
dur<strong>ch</strong>zusetzen, glei<strong>ch</strong>viel worauf diese Chance beruht.« (Hervorhebung bei Weber).<br />
495 Dazu unten S. 233 ff. (einzelne Diskurstheorien).<br />
229
ee)<br />
Ergebnisse<br />
An dieser Stelle läßt si<strong>ch</strong> das transzendentale Argument zusammenfassen: Es ist<br />
(bedingt o<strong>der</strong> unbedingt) für alle Mens<strong>ch</strong>en notwendig, daß sie gelegentli<strong>ch</strong> etwas<br />
behaupten im Sinne eines starken Begriffs des Behauptens (praemissa maior). Wer etwas<br />
in diesem Sinne behauptet, erhebt damit einen Anspru<strong>ch</strong> auf Wahrheit o<strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit und erklärt, diesen einlösen zu können. Die Einlösung muß notwendigerweise<br />
dur<strong>ch</strong> eine Argumentation erfolgen, die dur<strong>ch</strong> Zwanglosigkeit,<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und Universalität <strong>der</strong> Teilnahme geprägt ist, also dur<strong>ch</strong> einen<br />
Diskurs unter Einhaltung <strong>der</strong> Diskursregeln (praemissa minor). Folgli<strong>ch</strong> gilt (conclusio):<br />
Je<strong>der</strong> muß bereit sein, die Diskursregeln zur Verbürgung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit in <strong>der</strong><br />
Argumentation zu akzeptieren.<br />
d) Der Konsens und das Diskursprinzip (T Ko D)<br />
Mit <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln ist we<strong>der</strong> gesagt, daß Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit<br />
allgemein im Handeln akzeptiert werden müßten, no<strong>ch</strong>, daß jedes Handeln notwendig<br />
einer Ri<strong>ch</strong>tigkeitskontrolle dur<strong>ch</strong> Diskurse unterliegt. Die Diskursregeln allein<br />
sagen no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts darüber aus, wie <strong>der</strong> Diskurs zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
genutzt werden kann. Dazu sind weitere Überlegungen zu Konsens und Normbegründung<br />
erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>.<br />
Als allgemeine Regel, wann eine Behauptung als diskursiv begründet angesehen<br />
werden kann, läßt si<strong>ch</strong> vorläufig ein Theorem über den Konsens formulieren:<br />
T Ko :<br />
Im Diskurs begründet ist eine Behauptung genau dann,<br />
wenn sie von allen Diskursteilnehmern als ri<strong>ch</strong>tig beurteilt<br />
wird (Konsens).<br />
Bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Brau<strong>ch</strong>barkeit eines sol<strong>ch</strong>en Theorems müssen von vornherein einige<br />
Vorbehalte berücksi<strong>ch</strong>tigt werden. Es ist nämli<strong>ch</strong> gerade fragli<strong>ch</strong>, wann – wenn<br />
überhaupt – <strong>der</strong> Diskurs mit dem Konsens ein Ergebnis errei<strong>ch</strong>en kann. Diese Frage<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Beendigung des Diskurses entzieht si<strong>ch</strong>, wie bereits erwähnt 496 , einer allgemeinen<br />
Beantwortbarkeit. Das gilt ni<strong>ch</strong>t nur für reale Diskurse, die zwangsläufig<br />
enden, ohne daß in ihnen bis zum Zeitablauf ein Konsens gesi<strong>ch</strong>ert wäre. Es gilt<br />
au<strong>ch</strong> für ideale Diskurse, die nie enden, bei denen die Mögli<strong>ch</strong>keit eines Konsenses<br />
aber ni<strong>ch</strong>t beweisbar ist. Es kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob und<br />
gegebenfalls wann in einem Diskurs ein Konsens <strong>der</strong> Beteiligten über den Gegenstand<br />
errei<strong>ch</strong>bar ist. S<strong>ch</strong>wieriger no<strong>ch</strong>: Ein sol<strong>ch</strong>er Konsens könnte, würde er errei<strong>ch</strong>t,<br />
nie als endgültig angesehen werden, denn au<strong>ch</strong> die je<strong>der</strong>zeitige erneute Infragestellung<br />
muß als eine Konsequenz <strong>der</strong> Zwangsfreiheit angesehen werden. Diese<br />
Vorbehalte müssen hier zunä<strong>ch</strong>st zurückgestellt werden, weil die einzelnen Diskurstheorien<br />
jeweils eigenständige Lösungswege verfolgen 497 .<br />
496 Vgl. oben S. 220 (diskursive Kontrolle und potentielle Unendli<strong>ch</strong>keit des Diskurses).<br />
497 Dazu unten S. 291 ff. (Kritik am Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> in Diskurstheorien).<br />
230
Eine gemeinsame Behauptung <strong>der</strong> Diskurstheorien liegt darin, daß ein notwendiger<br />
Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> universellen Zustimmung unter idealisierten<br />
Bedingungen <strong>der</strong> Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit und <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit von Geltungsansprü<strong>ch</strong>en<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Philosophie, also von Handlungsnormen, besteht. Dieser notwendige<br />
Zusammenhang kann in einem Theorem ausgedrückt werden, das gemeinhin<br />
'Diskursprinzip' genannt wird und in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Formulierung je<strong>der</strong><br />
Spielart <strong>der</strong> Diskurstheorie zugrundeliegt. Es sei hier in <strong>der</strong> Formulierung von Alexy<br />
wie<strong>der</strong>gegeben:<br />
D: »Ri<strong>ch</strong>tig und damit gültig sind genau die Normen, die in<br />
einem idealen Diskurs von jedem als ri<strong>ch</strong>tig beurteilt<br />
werden würden.« 498<br />
Wie anspru<strong>ch</strong>svoll dieses Diskursprinzip ist, zeigt si<strong>ch</strong> vor allem an einem Element<br />
<strong>der</strong> Diskursregeln: an <strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit des Diskurses. Denn Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit<br />
in Verbindung mit dem Diskursprinzip führt dazu, daß bei jedem Ergebnis, das<br />
auf <strong>der</strong> Ausübung von Zwang innerhalb o<strong>der</strong> außerhalb des Diskurses beruht, die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t begründet werden kann. Es gibt na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> diskurstheoretis<strong>ch</strong>em Verständnis<br />
keine anerkennungswürdige Begründung außer <strong>der</strong>jenigen, die in einem<br />
herrs<strong>ch</strong>aftsfreien Diskurs bestehen könnte. Das ist um so erstaunli<strong>ch</strong>er, als Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit<br />
im Sinne <strong>der</strong> Diskurstheorie in <strong>der</strong> Realität nirgends vorzufinden ist.<br />
Kommunikation ist regelmäßig von sozialen Unters<strong>ch</strong>ieden beeinflußt, die Kommunikationsteilnehmer<br />
sind unentrinnbar in ihren jeweiligen Rollen befangen, sie finden<br />
si<strong>ch</strong> in Situationen <strong>der</strong> Verhandlung (bargaining), ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Verständigung (arguing),<br />
werden an freier und glei<strong>ch</strong>er Teilhabe teils aus Absi<strong>ch</strong>t, teils aus faktis<strong>ch</strong>er Unglei<strong>ch</strong>heit<br />
gehin<strong>der</strong>t. Selbst wenn es einmal das Ziel aller sein sollte, die herrs<strong>ch</strong>aftsfreie<br />
Teilhabe zu si<strong>ch</strong>ern, so bleiben zumindest äußere Sa<strong>ch</strong>zwänge: es besteht Ents<strong>ch</strong>eidungs-<br />
o<strong>der</strong> Handlungsdruck, jedenfalls aber ni<strong>ch</strong>t die Mögli<strong>ch</strong>keit, einen gefundenen<br />
Konsens, sofern er eintritt, je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> in Frage zu stellen. Denn sol<strong>ch</strong>e<br />
Bindungslosigkeit würde die reale Verwertbarkeit von Diskursergebnissen<br />
grundlegend in Frage stellen. Es kann sie darum nur in akademis<strong>ch</strong>en Ausnahmesitutationen<br />
eines Diskurses als Selbstzweck geben. Angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> geradezu 'diskursfeindli<strong>ch</strong>en'<br />
Rahmenbedingungen <strong>der</strong> sozialen Realität ist ein bloßer Hinweis darauf, daß<br />
die Bedeutung des Diskurses als Mittel <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsfindung si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong><br />
faktis<strong>ch</strong>en Teilnahme <strong>der</strong> Individuen s<strong>ch</strong>ließen ließe, ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>end 499 . Es bedarf<br />
einer grundlegen<strong>der</strong>en Begründung dafür, daß <strong>der</strong> Diskurs – und nur <strong>der</strong> Diskurs –<br />
das geeignete Mittel zur Begründung von Handlungsnormen als ri<strong>ch</strong>tig und damit<br />
gültig ist.<br />
498 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 131. Fast inhaltsglei<strong>ch</strong> die Formulierung<br />
bei J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 138: »Gültig sind genau die Handlungsnormen,<br />
denen alle mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können.«<br />
Ähnli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Das Begründungsprogramm Diskursethik (1990), S. 25: »Gere<strong>ch</strong>t<br />
ist das, was in einem freien und glei<strong>ch</strong>en Diskurs aller mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen akzeptiert<br />
werden konnte.« Dem entspri<strong>ch</strong>t die Auffassung Perelmans, daß <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> ein universales<br />
Autitorium überzeugen will, nur sol<strong>ch</strong>e Normen vors<strong>ch</strong>lagen darf, die je<strong>der</strong>mann akzeptieren<br />
kann; C. Perelman, Fünf Vorlesungen über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1965), S. 153.<br />
499 So aber C.S. Nino, The Ethics of Human Rights (1991), S. 112 ff.<br />
231
e) Die Argumentation als Gegensatz zur Verhandlung (arguing vs. bargaining)<br />
Ein beson<strong>der</strong>es Charakteristikum <strong>der</strong> Diskurstheorien ist ihre gemeinsame Frontenstellung<br />
gegenüber <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens. Als einzige Gemeinsamkeit<br />
weisen die beiden Theoriegruppen ihre Zugehörigkeit zu den prozeduralen <strong>Theorien</strong><br />
auf 500 . Abgesehen davon unters<strong>ch</strong>eiden sie si<strong>ch</strong> in fast je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t. Am wi<strong>ch</strong>tigsten<br />
sind die Di<strong>ch</strong>otomien <strong>der</strong> Erfolgs- versus Verständigungsorientierung und des<br />
strategis<strong>ch</strong>en versus ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Handelns.<br />
Die Grundhaltung <strong>der</strong> Aktoren in praktis<strong>ch</strong>en Diskursen ist ni<strong>ch</strong>t erfolgsorientiert,<br />
sie ist verständigungsorientiert 501 . Während das Instrument <strong>der</strong> Verhandlung<br />
bloß die gemeinsame Willensbildung, also eine tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Opportunitätsents<strong>ch</strong>eidung,<br />
erstrebt, ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> die Argumentation auf gemeinsame Urteilsbildung, also eine<br />
praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeitsents<strong>ch</strong>eidung 502 . Entspre<strong>ch</strong>end erfolgt die dur<strong>ch</strong> Kooperation<br />
ausgelöste gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Integration intentional (als Audruck einer gemeinsamen<br />
Absi<strong>ch</strong>t) und ni<strong>ch</strong>t bloß objektiv (als bloßer Nebeneffekt <strong>der</strong> Einigung) wie bei rationalem,<br />
interessenoptimierendem Ents<strong>ch</strong>eidungsverhalten und – beson<strong>der</strong>s deutli<strong>ch</strong> –<br />
bei allen Marktme<strong>ch</strong>anismen 503 . Der grundlegende Unters<strong>ch</strong>ied besteht zwis<strong>ch</strong>en<br />
dem Argumentieren (arguing) einerseits und dem Verhandeln (bargaining) an<strong>der</strong>erseits<br />
504 . Das diskursfremde Zwangselement wird bei <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
darin unmittelbar deutli<strong>ch</strong>, daß sie eine stärkere Verhandlungsma<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ein<br />
größeres Drohpotential in die Ents<strong>ch</strong>eidung einbeziehen. Selbst <strong>der</strong> von Lucas und<br />
Gauthier gewählte Ausgangspunkt einer s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ten Ni<strong>ch</strong>tkooperation ohne Drohung<br />
enthält diskursantagonistis<strong>ch</strong>e Elemente. Au<strong>ch</strong> diese Theorie geht von einem erfolgsorientierten,<br />
weil interessengeleiteten und nutzenmaximierenden Handeln <strong>der</strong><br />
Beteiligten als Teilnehmer einer Verhandlung (individual rational bargainers) statt als<br />
Teilnehmer eines Diskurses aus 505 .<br />
Diskurstheorien gehen außerdem von einem ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Handeln <strong>der</strong> Beteiligten<br />
aus. 'Strategis<strong>ch</strong>' ist ein Handeln, mit dem ein Handeln<strong>der</strong> (teleologis<strong>ch</strong>) ein<br />
Ziel verfolgt und dabei die Ents<strong>ch</strong>eidungen mindestens eines weiteren zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
Handelnden in sein Erfolgskalkül einbezieht 506 . <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
entwickeln für das strategis<strong>ch</strong>e Handeln (pragmatis<strong>ch</strong>e) Zweck-Mittel- o<strong>der</strong> Präferenz-Mögli<strong>ch</strong>keits-Modelle<br />
praktis<strong>ch</strong>er Rationalität 507 . Das kommunikative Handeln<br />
in Diskursen ist demgegenüber ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>, weil es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t am Erfolg des<br />
500 Dazu oben S. 132 ff. (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
501 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 44. Der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Erfolgs- und Verständigungsorientierung<br />
zeigt si<strong>ch</strong> bis hin zur diskursiven Interpretation gesetzgeberis<strong>ch</strong>en Selbstverständnisses.<br />
Vgl. dazu J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 50.<br />
502 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 407.<br />
503 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 58 f. mit Hinweis auf Adam Smiths Konzept <strong>der</strong> 'unsi<strong>ch</strong>tbaren<br />
Hand'. Treffend darum <strong>der</strong> Titel des von L. Kern/H.-P. Müller herausgegebenen Werkes<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Diskurs o<strong>der</strong> Markt?'.<br />
504 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 205.<br />
505 D. Gauthier, Bargaining and Justice (1985), S. 206.<br />
506 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (1981), S. 127.<br />
507 J.C. Harsanyi, Advances in Un<strong>der</strong>standing Rational Behavior, S. 90 ff. – 'means-ends concept of rational<br />
behavior' bzw. 'preferences-opportunities model'.<br />
232
Handelnden, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns orientiert 508 . Strategis<strong>ch</strong>es<br />
versus ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>es Handeln bildet damit ein signifikantes Kriterium zur Abgrenzung<br />
zwis<strong>ch</strong>en realen Diskursen und realen Situationen rationaler Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
509 . Die Bes<strong>ch</strong>reibung <strong>der</strong> handlungsleitenden Motive beteiligter Aktoren trägt<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig zur Abgrenzung zwis<strong>ch</strong>en den <strong>Theorien</strong> bei. Dies hat Auswirkungen auf<br />
die Skalierbarkeitsthese 510 : S<strong>ch</strong>on wegen <strong>der</strong> grundlegend unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Aussage<br />
darüber, wel<strong>ch</strong>e Art realen o<strong>der</strong> hypothetis<strong>ch</strong>en Verhaltens praktis<strong>ch</strong>e Vernunft<br />
konstituiert, können <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens ni<strong>ch</strong>t mit Diskurstheorien in<br />
ein Entspre<strong>ch</strong>ungsverhältnis gebra<strong>ch</strong>t werden. Ihre unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Konzeptionen<br />
praktis<strong>ch</strong>er Vernunft s<strong>ch</strong>ließen si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig aus; sie sind über das Spektrum<br />
<strong>der</strong> Anwendungsberei<strong>ch</strong>e von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen hinweg inkompatibel.<br />
f) Ergebnisse<br />
Die Diskurstheorien enthalten eine prozedurale Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />
und gehören damit zu den prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Sie unters<strong>ch</strong>eiden<br />
zwis<strong>ch</strong>en idealen und realen Diskursen. Ideal ist nur ein Diskurs, in dem<br />
alle Diskursregeln eingehalten werden, was real allenfalls näherungsweise zu verwirkli<strong>ch</strong>en<br />
ist. Die Diskursregeln lassen si<strong>ch</strong> in einer Präsuppositionsanalyse <strong>der</strong><br />
Kommunikation begründen, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Form des tranzendentalen Arguments.<br />
Normen, also au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen, sind na<strong>ch</strong> diskurstheoretis<strong>ch</strong>em<br />
Verständnis begründet, wenn in einem idealen Diskurs ein Konsens über sie hergestellt<br />
werden könnte (Konsenstheorie). Die auf gemeinsame Urteilsbildung und<br />
Konsens abstellende 'Argumentation' im Diskurs unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> deshalb grundlegend<br />
von <strong>der</strong> auf gemeinsame Willensbildung zielenden 'Verhandlung'; kommunikatives<br />
Handeln ist ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>.<br />
2. Theorie <strong>der</strong> Transzendentalpragmatik (K.-O. Apel)<br />
a) Die transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e Letztbegründung<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Diskursethik, <strong>der</strong> in T D seinen Ausdruck findet, wird<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> begründet. Apel wählt eine an Kant angelehnte transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e<br />
Begründung. Diese hat bei ihm glei<strong>ch</strong>zeitig den Status einer Letztbegründung<br />
511 . Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Natur des Mens<strong>ch</strong>en müsse eine Argumentationsverweigerung in<br />
Selbstzerstörung o<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>izophrenie münden 512 .<br />
508 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 38, 44.<br />
509 Dazu unten S. 347 ff. (Diskursivität <strong>der</strong> Politik).<br />
510 Dazu oben S. 111 (Skalierbarkeitsthese).<br />
511 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 222: »In einer mo<strong>der</strong>nen Transzendentalphilosophie<br />
geht es m.E. primär um die Reflexion auf den Sinn ... des Argumentierens überhaupt.<br />
Dies allerdings ist für den, <strong>der</strong> argumentiert ... offenbar das Letzte, Ni<strong>ch</strong>thintergehbare.«<br />
(Hervorhebung bei Apel). Bestätigung des Letztbegründungsanspru<strong>ch</strong>s etwa bei K.-O. Apel, Postkantis<strong>ch</strong>er<br />
Standpunkt <strong>der</strong> Moralität (1986), S. 223.<br />
512 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 414 mit Fn. 87 – die Mögli<strong>ch</strong>keit des<br />
Selbstverständnisses und <strong>der</strong> Selbstidentifikation gehe in einem Maße verloren, das den Tatbe-<br />
233
Die transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e Begründung besteht darin zu zeigen, daß die<br />
Diskursregeln zu den notwendigen Voraussetzungen je<strong>der</strong> Kommunikation gehören.<br />
Transzendental ist ein sol<strong>ch</strong>es Argument, weil es na<strong>ch</strong> den Bedingungen <strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
fragt (Präsuppositionsanalyse 513 ). In spra<strong>ch</strong>pragmatis<strong>ch</strong>er Fassung formuliert<br />
Apel: »Wer argumentiert, <strong>der</strong> anerkennt implizit alle mögli<strong>ch</strong>en Ansprü<strong>ch</strong>e aller<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft, die dur<strong>ch</strong> vernünftige Argumente gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
werden können ... und er verpfli<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> zuglei<strong>ch</strong>, alle eigenen Ansprü<strong>ch</strong>e<br />
an an<strong>der</strong>e dur<strong>ch</strong> Argumente zu re<strong>ch</strong>tfertigen.« 514 Diese 'Grundnorm' soll unabhängig<br />
davon gelten, ob die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft sie im<br />
Einzelfall faktis<strong>ch</strong> anerkennen 515 . Es gilt ein Apriori sowohl <strong>der</strong> realen wie <strong>der</strong> idealen<br />
Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft 516 , wobei die ideale Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
zum regulativen Prinzip je<strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong>-normativen Begründung von Werturteilen<br />
gerät 517 . Die Anerkennung <strong>der</strong> Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft, die dur<strong>ch</strong> die<br />
Diskursregeln konkretisiert wird, ist dana<strong>ch</strong> eine notwendige Voraussetzung dafür,<br />
überhaupt zu argumentieren. Wer also argumentiert, dabei aber die Gültigkeit <strong>der</strong><br />
Diskursregeln bestreitet, begeht einen performativen Selbstwi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>: Sein Handeln<br />
ist mit dem dur<strong>ch</strong> das Handeln implizit Gesagten logis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vereinbar 518 . Die Diskursregeln<br />
werden dadur<strong>ch</strong> zu denjenigen in Freiheit anerkannten formal-prozeduralen<br />
Normen, wel<strong>ch</strong>e in <strong>der</strong> Ethik implizit enthalten sind (Normen erster Stufe); sie<br />
sind von den dur<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>e Diskurse erst no<strong>ch</strong> zu begründenden materialen (situationsbezogenen)<br />
Normen zu unters<strong>ch</strong>eiden (Normen zweiter Stufe) 519 .<br />
stand (klinis<strong>ch</strong>-empiris<strong>ch</strong> belegbarer) Psy<strong>ch</strong>opathologie erfülle. Aussagen über die psy<strong>ch</strong>opathologis<strong>ch</strong>en<br />
Folgen einer Argumentationsverweigerung bilden allerdings selbst wie<strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>e<br />
Annahmen, die bestritten werden können, also keine Letztbegründung stützen; G. Patzig, 'Principium<br />
diiudicationis' und 'Principium executionis' (1986), S. 213.<br />
513 Dazu oben S. 225 (transzendentales Argument).<br />
514 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 424 f.<br />
515 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 426.<br />
516 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 429: »Wer nämli<strong>ch</strong> argumentiert, <strong>der</strong><br />
setzt immer s<strong>ch</strong>on zwei Dinge glei<strong>ch</strong>zeitig voraus: Erstens eine reale Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft,<br />
<strong>der</strong>en Mitglied er selbst dur<strong>ch</strong> einen Sozialisationsprozeß geworden ist, und zweitens eine ideale<br />
Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft, die prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Argumente adäquat<br />
zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen.«<br />
517 K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Bd. 2 (1973), S. 434.<br />
518 Vgl. K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 54. Inhaltsglei<strong>ch</strong><br />
die Definition bei K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität<br />
(1996), S. 22: »Unter letzterem [transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en Selbstwi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>] verstehe i<strong>ch</strong> einen<br />
performativen Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en dem Inhalt einer Proposition und dem selbstbezügli<strong>ch</strong>en – impliziten<br />
o<strong>der</strong> performativ expliziten – intentionalen Inhalt des Aktes des Vorbringens <strong>der</strong> Proposition<br />
im Rahmen eines argumentativen Diskurses.« (Hervorhebungen bei Apel).<br />
519 Zu dieser Zweistufigkeit <strong>der</strong> Diskursethik, bei <strong>der</strong> zwis<strong>ch</strong>en formal-prozeduraler Letztbegründung<br />
und konsensual-kommunikativer Begründung <strong>der</strong> inhaltli<strong>ch</strong>en Normen unters<strong>ch</strong>ieden wird:<br />
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), S. 120; <strong>der</strong>s., Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von<br />
Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 55.<br />
234
) Das Handlungsprinzip (U h )<br />
In 'Teil A' 520 <strong>der</strong> Begründung seiner Diskurstheorie formuliert Apel in Anknüpfung<br />
an das von Habermas rein formal bestimmte Universalisierungsprinzip 521 eine dem<br />
kategoris<strong>ch</strong>en Imperativ von Kant ähnli<strong>ch</strong>e Handlungsmaxime:<br />
U h :<br />
»Handle nur na<strong>ch</strong> einer Maxime, von <strong>der</strong> du, aufgrund<br />
realer Verständigung mit den Betroffenen bzw. ihren<br />
Anwälten o<strong>der</strong> – ersatzweise – aufgrund eines entspre<strong>ch</strong>enden<br />
Gedankenexperiments, unterstellen kannst, daß<br />
die Folgen und Nebenwirkungen, die si<strong>ch</strong> aus ihrer allgemeinen<br />
Befolgung für die Befriedigung <strong>der</strong> Interessen<br />
jedes einzelnen Betroffenen voraussi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ergeben, in<br />
einem realen Diskurs von allen Betroffenen zwanglos<br />
akzeptiert werden können.« 522<br />
Dieses Universalisierungsprinzip kann gemäß Apel dur<strong>ch</strong> reflexiven Rückgang auf<br />
das, was im ernsthaften Argumentieren notwendigerweise anerkannt wird (Präsuppositionsanalyse),<br />
gewonnen werden 523 . Als allgemeines Handlungsprinzip enthält<br />
U h glei<strong>ch</strong>zeitig ein Theorem über die praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit und damit ein Kriterium<br />
für die Gültigkeit von Handlungsnormen: Eine Norm ist genau dann gültig, wenn<br />
ihre Wirkungen von allen Betroffenen in einem Diskurs zwanglos akzeptiert werden<br />
könnten 524 . Obwohl Apel von einem 'realen Diskurs' spri<strong>ch</strong>t, ist dem Inhalt na<strong>ch</strong> ein<br />
Diskurs unter idealen Bedingungen gemeint 525 . Dies zeigt si<strong>ch</strong> sowohl in <strong>der</strong> Gestaltung<br />
als hypothetis<strong>ch</strong>er Diskurs ('Gedankenexperiment', 'wenn er ... geführt werden<br />
könnte') als au<strong>ch</strong> im tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> nie vollständig realisierbaren Element <strong>der</strong> Zwanglosigkeit.<br />
In späteren Formulierungen hat Apel dem gemeinten Diskurs zudem die reale<br />
Verständigung mit den Betroffenen gegenübergestellt 526 und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> einer Vereinfa<strong>ch</strong>ung<br />
zugestimmt:<br />
520 Vgl. zur Einteilung K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992),<br />
S. 60 f.: »Teil A behandelt die Begründung des idealen prozeduralen Prinzips <strong>der</strong> Lösung aller<br />
moralis<strong>ch</strong>-normativen Probleme im Sinne <strong>der</strong> diskursiven (d.h. rein argumentativen und ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en,<br />
son<strong>der</strong>n gewaltfreien) Konsensbildung.« (Hervorhebung bei Apel).<br />
521 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 239 (universalpragmatis<strong>ch</strong>e Begründung).<br />
522 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), S. 123.<br />
523 K.-O. Apel, Postkantis<strong>ch</strong>er Standpunkt <strong>der</strong> Moralität (1986), S. 247 f.<br />
524 Vgl. K.-O. Apel, Postkantis<strong>ch</strong>er Standpunkt <strong>der</strong> Moralität (1986), S. 238. Diese Gültigkeitsregel ist<br />
na<strong>ch</strong> Apel au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die kulturabhängigen, kontextgebundenen Normen <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong><br />
aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition, also insbeson<strong>der</strong>e des Kommunitarismus, hintergehbar (vgl. ebd.,<br />
S. 238, 251 ff.), no<strong>ch</strong> könne sie dur<strong>ch</strong> strategis<strong>ch</strong>es Handeln im Sinne <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
vollständig ausgefüllt werden (vgl. ebd., S. 248).<br />
525 Ebenso T. Baus<strong>ch</strong>, Unglei<strong>ch</strong>heit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 152.<br />
526 K.-O. Apel, Postkantis<strong>ch</strong>er Standpunkt <strong>der</strong> Moralität (1986), S. 231.<br />
235
U h ':<br />
»Handle (stets) so, als ob du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
wärest!« 527<br />
c) Das Ergänzungsprinzip (E)<br />
In 'Teil B' <strong>der</strong> Begründung seiner Diskurstheorie rekurriert Apel auf ein Ergänzungsprinzip,<br />
das die Brücke von einer kantis<strong>ch</strong>en Prinzipienethik, die im Webers<strong>ch</strong>en Sinne<br />
reine (folgenneutrale) Gesinnungsethik sei 528 , hin zu einer (folgensensiblen) Verantwortungsethik<br />
bilden soll 529 . Bei diesem Begründungsteil geht es um die Bewältigung<br />
des Problems, daß »die ideale Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft, auf die das<br />
Universalisierungsprinzip <strong>der</strong> Diskursethik kontrafaktis<strong>ch</strong> bezogen ist, in <strong>der</strong> Wirkli<strong>ch</strong>keit<br />
immer no<strong>ch</strong> erst zu realisieren ist.« 530 Insoweit spri<strong>ch</strong>t Apel von einer prinzipiellen<br />
Differenz (D) zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Interaktion in handlungsentlasteten<br />
Diskursen, also sol<strong>ch</strong>en, die weitgehend frei von Zwängen sind 531 , und den lebensweltli<strong>ch</strong>en<br />
Interessenkonflikten 532 . Apel führt als Beispiel die internationale Politik<br />
an, in <strong>der</strong> na<strong>ch</strong> wie vor ein re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Sanktionssystem zur Konfliktbeilegung fehlt:<br />
Würde man hier, etwa in Abrüstungsverhandlungen, das S<strong>ch</strong>icksal <strong>der</strong> Welt einem<br />
'moralis<strong>ch</strong>en Politiker' im Sinne Kants anvertrauen, so käme das <strong>der</strong> Selbstaufgabe im<br />
Namen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> glei<strong>ch</strong> (fiat justitia, pereat mundus) 533 . Eine bloße Prinzipien-<br />
Moralität ist den Betroffenen im wirkli<strong>ch</strong>en Leben deshalb we<strong>der</strong> zumutbar, no<strong>ch</strong><br />
würde sie genügen, um <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Verantwortung gere<strong>ch</strong>t zu werden 534 . Vielmehr<br />
muß ein Ergänzungsprinzip die Verantwortungsethik dadur<strong>ch</strong> formulieren,<br />
daß es die (wenn au<strong>ch</strong> niemals vollständige, so do<strong>ch</strong> progressive) Realisierung <strong>der</strong><br />
(kommunikativen) Rahmen-Bedingungen eines glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten und glei<strong>ch</strong>verantwortli<strong>ch</strong>en<br />
Miteinan<strong>der</strong>s för<strong>der</strong>t 535 .<br />
E: »Erstens muß es in allem Tun und Lassen darum gehen,<br />
das Überleben <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gattung als <strong>der</strong> realen<br />
Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong>erzustellen, zweitens<br />
darum, in <strong>der</strong> realen die ideale Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Das erste Ziel ist die<br />
527 Die Formulierung stammt ursprüngli<strong>ch</strong> von Annemarie Pieper und wurde von Apel übernommen;<br />
K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 36.<br />
528 Dieser These Apels von <strong>der</strong> Folgenneutralität <strong>der</strong> Gesinnungsethik wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en allerdings Webers<br />
Ausführungen zur Gesinnung als unter Umständen re<strong>ch</strong>tsnormativ Gebotenem; M. Weber,<br />
Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 191.<br />
529 K.-O. Apel, Postkantis<strong>ch</strong>er Standpunkt <strong>der</strong> Moralität (1986), S. 246 ff.; <strong>der</strong>s., Diskurs und Verantwortung<br />
(1988), S. 270 ff.; <strong>der</strong>s., Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992),<br />
S. 34 f.<br />
530 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 36 f.<br />
531 Dazu oben S. 220 (handlungsentlastete Diskurse).<br />
532 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), S. 144.<br />
533 K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 40.<br />
534 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), S. 144; <strong>der</strong>s., Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen<br />
Rationalität (1996), S. 40.<br />
535 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 37.<br />
236
notwendige Bedingung des zweiten Ziels; und das zweite<br />
Ziel gibt dem ersten seinen Sinn, – den Sinn, <strong>der</strong> mit<br />
jedem Argument s<strong>ch</strong>on antizipiert ist.« 536<br />
Das Konsenspostulat des idealen Universalisierungsprinzips U h wird dadur<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
außer Kraft gesetzt, son<strong>der</strong>n ergänzt 537 . Die Diskursethik kann ohne diese Ergänzung<br />
ni<strong>ch</strong>t die Funktion einer politis<strong>ch</strong>en Verantwortungsethik übernehmen 538 .<br />
Letztli<strong>ch</strong> bleibt aber das Universalisierungsprinzip U h bei Apel glei<strong>ch</strong> zweifa<strong>ch</strong> regierend:<br />
Erstens soll über die Zulässigkeit (eines begrenzten Gebrau<strong>ch</strong>s) von strategis<strong>ch</strong>er<br />
Rationalität selbst wie<strong>der</strong> ein Konsens <strong>der</strong> Betroffenen hergestellt werden können.<br />
Und zweitens müsse das langfristige Ziel immer die Annäherung <strong>der</strong> realen<br />
Bedingungen an die regulative Idee <strong>der</strong> idealen Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft bleiben,<br />
so wie die weltbürgerli<strong>ch</strong>e Ordnung in Kants Abhandlung 'Zum ewigen Frieden'<br />
immer no<strong>ch</strong> eine regulative Idee <strong>der</strong> internationalen Politik sei 539 .<br />
Was kann Apel mit dem Ergänzungsprinzip E zeigen? Er erklärt einen Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>,<br />
<strong>der</strong> s<strong>ch</strong>einbar zwis<strong>ch</strong>en dem Universalitätsprinzip U h und den Vorstellungen<br />
über ri<strong>ch</strong>tiges Handeln im Gemeinwesen besteht: Während in <strong>der</strong> idealen Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
eine ergebnisoffene Diskussion gefor<strong>der</strong>t wird, in <strong>der</strong> die Beteiligten<br />
die Argumente aller an<strong>der</strong>en ernst nehmen, ist das reale politis<strong>ch</strong>e Leben<br />
vom strategis<strong>ch</strong>en Kampf um die Verwirkli<strong>ch</strong>ung einer bestimmten (individuellen<br />
o<strong>der</strong> kollektiven) Konzeption des Guten gekennzei<strong>ch</strong>net 540 . Selbst wenn diese strategis<strong>ch</strong>e<br />
Kommunikation ganz offen ges<strong>ch</strong>ieht, etwa bei politis<strong>ch</strong>en Verhandlungen,<br />
än<strong>der</strong>t das ni<strong>ch</strong>ts daran, daß <strong>der</strong> Grund <strong>der</strong> Einigung in opportunistis<strong>ch</strong>en Interessen<br />
statt in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung von Geltungsansprü<strong>ch</strong>en liegt 541 . Das Ergänzungsprinzip<br />
E zeigt, warum es denno<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> aus Si<strong>ch</strong>t des (verantwortungsethis<strong>ch</strong> interpretierten)<br />
Universalitätsprinzips U h ri<strong>ch</strong>tig sein kann, strategis<strong>ch</strong> die eigenen politis<strong>ch</strong>en<br />
Ziele zu verfolgen. Apel weist diese Einsi<strong>ch</strong>t neuerdings einem 'Teil B 2' seines Begründungsprogramms<br />
zu; dabei gehe es um »die moralis<strong>ch</strong>e (spezifis<strong>ch</strong> verantwortungsethis<strong>ch</strong>e)<br />
Vermittlung von Moralität im engeren Sinn (im Sinne von Teil A) mit<br />
strategis<strong>ch</strong>em Handeln im weitesten Sinne dessen, was wir verantwortli<strong>ch</strong>e Politik<br />
nennen können.« 542 Ganz entspre<strong>ch</strong>end läßt si<strong>ch</strong> dies für das strategis<strong>ch</strong>e Handeln in<br />
<strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft zeigen 543 .<br />
536 Die Formulierung dieses Doppelprinzips stammt aus K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie,<br />
Bd. 2 (1973), S. 431. Apel nennt sie dort »zwei grundlegende regulative Prinzipien für die langfristige<br />
moralis<strong>ch</strong>e Handlungsstrategie jedes Mens<strong>ch</strong>en« (Hervorhebungen bei Apel). Zum Status dieses<br />
Doppelprinzips als eines Ergänzungsprinzips (E) <strong>der</strong> Verantwortungsethik siehe <strong>der</strong>s., Diskurs<br />
und Verantwortung (1988), S. 144 ff.<br />
537 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 60; <strong>der</strong>s., Die Vernunftfunktion<br />
<strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 25: Die Rationalität mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Kommunikation läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf strategis<strong>ch</strong>e Rationalität reduzieren.<br />
538 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 56.<br />
539 K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 40 f.<br />
540 Dazu unten S. 348 (strategis<strong>ch</strong>er Charakter <strong>der</strong> Politik).<br />
541 K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 31.<br />
542 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 61.<br />
543 Vgl. K.-O. Apel, Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität (1996), S. 31, 40 f.<br />
237
d) Die Legitimation <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Zwangsbefugnisse<br />
In jüngerer Zeit hat Apel seine Theorie <strong>der</strong> Verantwortungsethik weiter verfeinert.<br />
Ein 'Teil B 1 ' <strong>der</strong> Begründung seiner Diskurstheorie »behandelt die moralis<strong>ch</strong>e Begründung<br />
(bzw. Legitimation) <strong>der</strong> Zwangsbefugnisse des Re<strong>ch</strong>tsstaats und insofern<br />
<strong>der</strong> au<strong>ch</strong> auf Zwang beruhenden Geltung re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Normen.« 544 Das Re<strong>ch</strong>t verortet<br />
Apel dabei »zwis<strong>ch</strong>en Moral und Politik« 545 . Für die Begründung von Re<strong>ch</strong>tsnormen<br />
stellt si<strong>ch</strong> die Frage, ob man die Zwangsordnung <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong> monopolisierten Gewalt<br />
dur<strong>ch</strong> ein Handlungsprinzip U h begründen kann, obwohl dieses selbst gerade die<br />
Zwanglosigkeit in einem hers<strong>ch</strong>aftsfreien Diskurs for<strong>der</strong>e 546 . Wie bereits beim Ergänzungsprinzip<br />
E sagt Apel au<strong>ch</strong> hier, daß <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en realen Bedingungen<br />
und idealer Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft es moralis<strong>ch</strong> gebieten könne, »Strategiekonterstrategien<br />
bzw. Anti-Gewalt-Gewaltausübung zu praktizieren« 547 . Eigentli<strong>ch</strong><br />
verpfli<strong>ch</strong>tet das Universalisierungsprinzip U h zwar alle Diskursteilnehmer zu einer<br />
strategiefreien Konsensbildung, also insbeson<strong>der</strong>e einer sol<strong>ch</strong>en, die herrs<strong>ch</strong>aftsfrei<br />
ohne Ausnutzung realer Ma<strong>ch</strong>tvorteile dur<strong>ch</strong> Gewaltanwendung o<strong>der</strong> Drohung erfolgt.<br />
Wenn aber die realen Bedingungen von den idealen Bedingungen eines Diskurses<br />
no<strong>ch</strong> so weit entfernt sind, daß eine Strategie- und Gewaltfreiheit ni<strong>ch</strong>t zumutbar<br />
und ni<strong>ch</strong>t verantwortbar ers<strong>ch</strong>eint, dann und solange dürfen (ausnahmsweise)<br />
Zwangsmittel eingesetzt werden, um die diskursverzerrende Gewalt zurückzudrängen.<br />
Es ist deshalb na<strong>ch</strong> Apel nur s<strong>ch</strong>einbar paradox, wenn die Diskursethik für<br />
die Begründung des Zwangs in <strong>der</strong> Geltung re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Normen herangezogen wird,<br />
denn es gehe ledigli<strong>ch</strong> um »Konsensbildung mit strategiekonterstrategis<strong>ch</strong>em<br />
Zwang«: Das Gewaltmonopol eines Re<strong>ch</strong>tsstaates ermögli<strong>ch</strong>e erst, daß die einzelnen<br />
Bürger es si<strong>ch</strong> weitgehend ohne Risiko leisten können, moralis<strong>ch</strong> zu handeln 548 .<br />
3. Theorie <strong>der</strong> diskursiven Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts (J. Habermas)<br />
Die Diskurstheorien von Habermas und Apel sind zeitli<strong>ch</strong> und inhaltli<strong>ch</strong> weitgehend<br />
parallel entwickelt worden. Habermas hat seine Diskursethik indes universal- statt<br />
transzendentalpragmatis<strong>ch</strong> begründet. Außerdem entwickelte er sie zu einer diskurstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung eines Systems <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te weiter 549 und erläutert mit<br />
ihr ein prozedurales Paradigma im Re<strong>ch</strong>t 550 . Eine Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts aus diskurstheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t bedeutet die Anwendung prozeduraler Rationalität bei <strong>der</strong><br />
544 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 61.<br />
545 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 37.<br />
546 Zur Frage ausführli<strong>ch</strong> K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992),<br />
S. 40 ff.<br />
547 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 57. (Hervorhebungen<br />
bei Apel).<br />
548 K.-O. Apel, Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik (1992), S. 57 f.<br />
549 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 151 ff.<br />
550 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 468 ff., 493 ff., 516 ff.; dazu unten S. 245 ff. (prozedurales<br />
Re<strong>ch</strong>tsparadigma).<br />
238
Begründung sozialer Ordnung und ist damit – obwohl von Habermas selbst ni<strong>ch</strong>t<br />
ausdrückli<strong>ch</strong> so bezei<strong>ch</strong>net – eine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 551 .<br />
a) Die universalpragmatis<strong>ch</strong>e Begründung (U)<br />
Habermas formulierte das Universalisierungsprinzip U, das zu einer Vorlage für das<br />
Prinzip U h bei Apel wurde:<br />
U: »Jede gültige Norm muß <strong>der</strong> Bedingung genügen, daß<br />
die Folgen und Nebenwirkungen, die si<strong>ch</strong> aus ihrer allgemeinen<br />
Befolgung für die Befriedigung <strong>der</strong> Interessen<br />
jedes einzelnen voraussi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ergeben, von allen Betroffenen<br />
zwanglos akzeptiert werden können.« 552<br />
In <strong>der</strong> Begründung von U lehnt Habermas die transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e Letztbegründung<br />
von Apel ab: Eine Letztbegründung sei we<strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> nötig 553 . Bei<br />
seiner universal- bzw. formalpragmatis<strong>ch</strong> genannten Begründung geht es ihm allein<br />
um die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Alternativlosigkeit <strong>der</strong> die Argumentationspraxis begründenden<br />
Regeln 554 . Habermas rekonstruiert universale Spre<strong>ch</strong>aktvoraussetzungen als Grundbedingungen<br />
praktis<strong>ch</strong>er Diskurse. Trotz des Verzi<strong>ch</strong>ts auf Letztbegründung bleibt<br />
die Begründung 'universell' in dem Sinne, daß die in U ausgedrückte Normbegründungsregel<br />
unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist: Wer überhaupt über ri<strong>ch</strong>tiges Handeln argumentieren<br />
will, <strong>der</strong> muß si<strong>ch</strong> auf die anspru<strong>ch</strong>svollen Voraussetzungen des praktis<strong>ch</strong>en Diskurses<br />
einlassen; eine Alternative gibt es ni<strong>ch</strong>t 555 . Die Begründung gilt daher – vorbehaltli<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> grundlegenden Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Lebensform (und Spra<strong>ch</strong>konvention<br />
556 ) – für alle spra<strong>ch</strong>- und handlungsfähigen Subjekte, d.h. die Mens<strong>ch</strong>en,<br />
so wie wir sie gegenwärtig kennen.<br />
b) Das Paradoxon <strong>der</strong> Legitimation dur<strong>ch</strong> Legalität (D H )<br />
Die Übertragung von Ergebnissen <strong>der</strong> Diskursethik auf das Re<strong>ch</strong>t stößt laut Habermas<br />
auf das zentrale Problem, daß das Re<strong>ch</strong>t für politis<strong>ch</strong>e Direktion instrumentalisiert<br />
551 Zur Definition oben S. 132 (D 4 ). Weitere Indikatoren für den Charakter des Werks als prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie sind <strong>der</strong> Umstand, daß Habermas das erste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip aus Rawls<br />
Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> heranzieht, um die Idee <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit zu demonstrieren; J. Habermas,<br />
Faktizität und Geltung (1992), S. 110. Er stellt ausdrückli<strong>ch</strong> die Beziehung zwis<strong>ch</strong>en diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
rekonstruiertem Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> her: »Diese Rekonstruktion zeigt jedo<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>,<br />
daß das Re<strong>ch</strong>t nur solange legitimierende Kraft behält, wie es als eine Ressource von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
fungieren kann.« – ebd., S. 180.<br />
552 J. Habermas, Über Moralität und Sittli<strong>ch</strong>keit (1984), S. 219; ebenso bereits <strong>der</strong>s., Moralbewußtsein<br />
und kommunikatives Handeln (1983), S. 103.<br />
553 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 185 ff. (195).<br />
554 So s<strong>ch</strong>on J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 105.<br />
555 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 194.<br />
556 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 74 – Lebensform und Spra<strong>ch</strong>spiel.<br />
239
ist, diese Politik si<strong>ch</strong> aber gerade an Interessendur<strong>ch</strong>setzung statt an moralis<strong>ch</strong>er<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit orientiert und so dem Medium 'Re<strong>ch</strong>t' die Legitimation entzieht 557 . Legitimation<br />
dur<strong>ch</strong> Legalität sei ein Paradoxon, das ni<strong>ch</strong>t gelöst werden könne, außer<br />
wenn bestimmte Re<strong>ch</strong>te, d.h. sol<strong>ch</strong>e, die die politis<strong>ch</strong>e Autonomie <strong>der</strong> Bürger s<strong>ch</strong>ützen,<br />
als (prozedurale) Generatoren von Legitimation angesehen würden 558 . Um das<br />
Paradoxon zu überwinden, überträgt Habermas sein Diskursprinzip auf die Form des<br />
Re<strong>ch</strong>ts. Er will dur<strong>ch</strong> ein Zusammenwirken von Diskursprinzip und Re<strong>ch</strong>tsform das<br />
Prinzip <strong>der</strong> Demokratie begründen 559 , das selbst wie<strong>der</strong>um re<strong>ch</strong>tserzeugend wirkt –<br />
ein zirkulärer Prozess für die Begründung von Re<strong>ch</strong>t 560 o<strong>der</strong>, in Habermas Worten: ein<br />
»selbstbezügli<strong>ch</strong>er Akt <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Institutionalisierung staatsbürgerli<strong>ch</strong>er Autonomie«<br />
561 . Das Diskursprinzip formuliert Habermas deshalb offen für re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e wie<br />
moralis<strong>ch</strong>e Gültigkeit von Normen:<br />
D H :<br />
»Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle<br />
mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen<br />
Diskursen zustimmen könnten.« 562<br />
557 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 528: »Als zentrales Problem gilt jene Instrumentalisierung<br />
des Re<strong>ch</strong>ts für Zwecke <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Steuerung, die die Struktur des Re<strong>ch</strong>tsmediums<br />
überfor<strong>der</strong>t und die Bindung <strong>der</strong> Politik an die Verwirkli<strong>ch</strong>ung unverfügbarer Re<strong>ch</strong>te auflöst.«<br />
558 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 110 f. Habermas verbindet dies mit <strong>der</strong> Idee des<br />
Selbstregierens, wenn je<strong>der</strong> Adressat des Re<strong>ch</strong>ts glei<strong>ch</strong>zeitig au<strong>ch</strong> Autor des Re<strong>ch</strong>ts sein kann;<br />
ebd., S. 153.<br />
559 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 154.<br />
560 'Zirkulär' ist hier ni<strong>ch</strong>t im Sinne eines logis<strong>ch</strong>en Zirkels, also einer petitio prinzipii, son<strong>der</strong>n im Sinne<br />
eines hermeneutis<strong>ch</strong>en Zirkels gemeint. Es bewegt si<strong>ch</strong> in ihm ni<strong>ch</strong>t beliebige Erkenntnis im<br />
Kreis, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Zirkel drückt eine existentiale Vorstruktur des Daseins aus; vgl. M. Heidegger,<br />
Sein und Zeit (1927), S. 152: »Strukturen des Daseins, die mit dem In-<strong>der</strong>-Welt-sein glei<strong>ch</strong> ursprüngli<strong>ch</strong><br />
sind: das Mitsein und das Mitdasein« (Hervorhebungen bei Heidegger). So erklärt si<strong>ch</strong>,<br />
daß Habermas von einer 'glei<strong>ch</strong>ursprüngli<strong>ch</strong>en' Begründung des Re<strong>ch</strong>ts und <strong>der</strong> Methode seiner<br />
Erzeugung spre<strong>ch</strong>en kann, ohne eine petitio prinzipii zu konstruieren. Vgl. J. Habermas, Faktizität<br />
und Geltung (1992), S. 154 f.: »Die logis<strong>ch</strong>e Genese dieser Re<strong>ch</strong>te bildet einen Kreisprozeß, in dem<br />
si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Kode des Re<strong>ch</strong>ts und <strong>der</strong> Me<strong>ch</strong>anismus für die Erzeugung des Re<strong>ch</strong>ts, also das Demokratieprinzip,<br />
glei<strong>ch</strong>ursprüngli<strong>ch</strong> konstituieren.« Indem er si<strong>ch</strong> auf die Vorstruktur des Verstehens<br />
bei Heidegger bezieht, rekonstruiert Habermas mit seinem 'Kreisprozeß' ledigli<strong>ch</strong> einen Son<strong>der</strong>fall<br />
des hermeneutis<strong>ch</strong>en Zirkels, freili<strong>ch</strong> ohne si<strong>ch</strong> insoweit auf die maßgebli<strong>ch</strong>en Passagen bei Gadamer<br />
zu berufen, die Heideggers Ansatz erst methodis<strong>ch</strong> fru<strong>ch</strong>tbar gema<strong>ch</strong>t haben; vgl. dazu<br />
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), S. 250 ff. – ausdrückli<strong>ch</strong>e Bezugnahme auf Heidegger,<br />
insbeson<strong>der</strong>e S. 277: »Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt ni<strong>ch</strong>t ein 'methodis<strong>ch</strong>er'<br />
Zirkel, son<strong>der</strong>n bes<strong>ch</strong>reibt ein ontologis<strong>ch</strong>es Strukturmoment des Verstehens.« Zu grundlegenden<br />
Unters<strong>ch</strong>ieden zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Epistemologie Habermas' und <strong>der</strong>jenigen Gadamers vgl. die Auseinan<strong>der</strong>setzung:<br />
H.-G. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik (1967), S. 68 ff. (Aneignung<br />
von Traditionen); J. Habermas, Der Universalitätsanspru<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Hermeneutik (1970), S. 133<br />
ff. (Grenze hermeneutis<strong>ch</strong>en Verstehens); <strong>der</strong>s., Zu Gadamers 'Wahrheit und Methode' (1971),<br />
S. 47 ff. (gegen Rehabilitation von Tradition und Vorurteil); H.-G. Gadamer, Replik (1971), S. 287 ff.<br />
(kritis<strong>ch</strong>e Reflexion dur<strong>ch</strong> philosophis<strong>ch</strong>e Hermeneutik).<br />
561 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 166.<br />
562 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 138. Gegenüber <strong>der</strong> früheren Formulierungen von<br />
D H , etwa in J. Habermas, Über Moralität und Sittli<strong>ch</strong>keit (1984), S. 219 (»Jede gültige Norm müßte<br />
die Zustimmung aller Betroffenen, wenn diese nur an einem praktis<strong>ch</strong>en Diskurs teilnehmen<br />
240
c) Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in Re<strong>ch</strong>tsform<br />
Gesu<strong>ch</strong>t ist na<strong>ch</strong> einem System <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te, das die Gültigkeitsregel von D H erfüllen<br />
kann. Ein sol<strong>ch</strong>es System muß na<strong>ch</strong> Habermas »genau die Grundre<strong>ch</strong>te enthalten, die<br />
si<strong>ch</strong> Bürger gegenseitig einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln<br />
des positiven Re<strong>ch</strong>ts legitim regeln wollen.« 563 Die Anwendung von D H auf das<br />
Medium 'Re<strong>ch</strong>t' führt laut Habermas zu drei Gruppen von Grundre<strong>ch</strong>ten zwis<strong>ch</strong>en<br />
Personen (größtes System glei<strong>ch</strong>er Freiheiten, freiwillige Assoziation als Mitglie<strong>der</strong>,<br />
individueller Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz), findet eine vierte Grundre<strong>ch</strong>tsgruppe in <strong>der</strong> Notwendigkeit,<br />
daß (autonome) Personen au<strong>ch</strong> als Autoren ihrer Re<strong>ch</strong>tsetzung agieren, und leitet<br />
fünftens materielle Grundbedarfssi<strong>ch</strong>erungen aus den ersten vier Gruppen ab<br />
(minimale soziale, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e und ökologis<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>erung <strong>der</strong> Lebensbedingungen) 564 .<br />
Die (re<strong>ch</strong>tsförmigen) Grundre<strong>ch</strong>te, die laut Habermas gefor<strong>der</strong>t sind, weisen eine<br />
kaum übersehbare Inhaltsähnli<strong>ch</strong>keit zu den (ni<strong>ch</strong>tre<strong>ch</strong>tsförmigen) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
bei Rawls auf 565 . Sie sind <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in Re<strong>ch</strong>tsform 566 . Gefor<strong>der</strong>t<br />
sind im einzelnen:<br />
»(1) Grundre<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong> autonomen Ausgestaltung<br />
des Re<strong>ch</strong>ts auf das größtmögli<strong>ch</strong>e Maß glei<strong>ch</strong>er<br />
subjektiver Handlungsfreiheiten ergeben. ...<br />
(2) Grundre<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong> autonomen Ausgestaltung<br />
des Status eines Mitgliedes in einer freiwilligen<br />
Assoziation von Re<strong>ch</strong>tsgenossen ergeben;<br />
(3) Grundre<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> unmittelbar aus <strong>der</strong> Einklagbarkeit<br />
von Re<strong>ch</strong>ten und <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong> autonomen Ausgestaltung<br />
des individuellen Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes ergeben. ...<br />
(4) Grundre<strong>ch</strong>te auf die <strong>ch</strong>ancenglei<strong>ch</strong>e Teilnahme an Prozessen<br />
<strong>der</strong> Meinungs- und Willensbildung, worin Bürger<br />
ihre politis<strong>ch</strong>e Autonomie ausüben und wodur<strong>ch</strong> sie<br />
legitimes Re<strong>ch</strong>t setzen. ...<br />
würden, finden können.«) ist die neue Definition dur<strong>ch</strong> den Begriff <strong>der</strong> Handlungsnorm geprägt.<br />
Handlungsnormen sind bei Habermas alle generalisierten 'Verhaltenserwartungen', glei<strong>ch</strong> ob sie<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>-normative o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>-normative 'Gültigkeit' beanspru<strong>ch</strong>en; J. Habermas, Faktizität<br />
und Geltung (1992), S. 138. Vgl. dagegen oben S. 71 (Begriff <strong>der</strong> Norm).<br />
563 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 151.<br />
564 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155 ff.<br />
565 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 160: die Kategorien von Re<strong>ch</strong>ten seien »ungesättigte<br />
Platzhalter für die Spezifizierung einzelner Grundre<strong>ch</strong>te, also eher Re<strong>ch</strong>tsprinzipien, an denen<br />
si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Verfassungsgesetzgeber orientiert.«<br />
566 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155: »Mit dem Begriff <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsform, die die<br />
sozialen Verhaltenserwartungen in <strong>der</strong> angegebenen Weise stabilisiert, und dem Diskursprinzip,<br />
in dessen Li<strong>ch</strong>t die Legitimität von Handlungsnormen überhaupt geprüft werden kann, verfügen<br />
wir über die Mittel, die ausrei<strong>ch</strong>en, um jene Kategorien von Re<strong>ch</strong>ten in abstracto einzuführen, die<br />
den Re<strong>ch</strong>tskode selber hervorbringen«.<br />
241
(5) Grundre<strong>ch</strong>te auf die Gewährung von Lebensbedingungen,<br />
die in dem Maße sozial, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> und ökologis<strong>ch</strong><br />
gesi<strong>ch</strong>ert sind, wie dies für eine <strong>ch</strong>ancenglei<strong>ch</strong>e Nutzung<br />
<strong>der</strong> (1) bis (4) genannten bürgerli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te unter gegebenen<br />
Verhältnissen jeweils notwendig ist.« 567<br />
Der prozedurale Charaker wird dadur<strong>ch</strong> offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, daß nur das Diskursprinzip,<br />
aber keine vorpositiven (natürli<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en) Re<strong>ch</strong>te die Generierung neuen<br />
Re<strong>ch</strong>ts begrenzen 568 . Einfa<strong>ch</strong>er formuliert: Legitimes Re<strong>ch</strong>t benötigt ni<strong>ch</strong>ts außer<br />
<strong>der</strong> Mobilisierung <strong>der</strong> kommunikativen Kräfte <strong>der</strong> Staatsbürger 569 .<br />
d) Die deliberative Politik<br />
Habermas s<strong>ch</strong>lägt in seiner Theorie die Brücke vom Re<strong>ch</strong>t zur Politik. Das Re<strong>ch</strong>t als<br />
soziale Teilordnung 570 soll im Sinne des Diskursprinzips D H an <strong>der</strong> prozeduralen Rationalität<br />
<strong>der</strong> Diskursethik teilhaben. Die Bürde <strong>der</strong> Legitimation des Re<strong>ch</strong>ts wird<br />
dabei na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption von Habermas allein dur<strong>ch</strong><br />
die demokratis<strong>ch</strong>e Genese des Re<strong>ch</strong>ts getragen 571 . Denn angesi<strong>ch</strong>ts wi<strong>der</strong>streiten<strong>der</strong><br />
Konzeptionen des Guten werden materiale Maßstäbe kontingent 572 , so daß nur no<strong>ch</strong><br />
demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren als Generatoren legitimen Re<strong>ch</strong>ts verbleiben 573 . Um die<br />
Legitimation zu qualifizieren, führt Habermas das Konzept <strong>der</strong> 'deliberativen Politik'<br />
als 'Verfahrensbegriff <strong>der</strong> Demokratie' ein 574 .<br />
Ausgangspunkt <strong>der</strong> 'deliberativen Politik' ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> 'deliberativen Demokratie'<br />
von Cohen, <strong>der</strong> als ents<strong>ch</strong>eidendes Kriterium für das demokratis<strong>ch</strong>e Ideal<br />
for<strong>der</strong>t, daß si<strong>ch</strong> die Bedingungen <strong>der</strong> sozialen Ordnung na<strong>ch</strong> einer vernünftigen öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Argumentation unter glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten Bürgern ri<strong>ch</strong>ten 575 , womit er über<br />
567 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155 ff. (Hervorhebungen bei Habermas).<br />
568 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 161 f.<br />
569 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 182.<br />
570 Habermas unters<strong>ch</strong>eidet drei soziale Ordnungen: die Lebenswelt, naturwü<strong>ch</strong>sige Institutionen und<br />
das Re<strong>ch</strong>t. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 23.<br />
571 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 516 f.: »Mit dem Wa<strong>ch</strong>stum und dem qualitativen<br />
Wandel <strong>der</strong> Staatsaufgaben verän<strong>der</strong>t si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Legitimationsbedarf; je mehr das Re<strong>ch</strong>t als<br />
Mittel politis<strong>ch</strong>er Steuerung und sozialer Gestaltung in Anspru<strong>ch</strong> genommen wird, um so größer<br />
ist die Bürde <strong>der</strong> Legitimation, die die demokratis<strong>ch</strong>e Genese des Re<strong>ch</strong>ts tragen muß.« (Hervorhebung<br />
bei Habermas.)<br />
572 Z.B. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 518; W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des<br />
Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 23. Zum Metaphysikbegriff siehe oben S. 42, Fn. 84.<br />
573 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 527: »Die Diskurstheorie des Re<strong>ch</strong>ts begreift einerseits<br />
den demokratis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsstaat als die über legitimes Re<strong>ch</strong>t laufende (und insofern private<br />
Autonomie gewährleistende) Institutionalisierung von Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen<br />
für eine diskursive Meinungs- und Willensbildung, die wie<strong>der</strong>um (die Ausübung<br />
politis<strong>ch</strong>er Autonomie und) legitime Re<strong>ch</strong>tsetzung ermögli<strong>ch</strong>t.«<br />
574 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349 ff. (349).<br />
575 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 21: »The notion of a deliberative democracy<br />
is rooted in the intuitive ideal of a democratic association in whi<strong>ch</strong> the justification of the<br />
terms and conditions of association proceeds through public argument and reasoning among<br />
equal citizens.« Die Vernünftigkeit <strong>der</strong> Deliberation ist hier im Sinne <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten Begründet-<br />
242
ältere Begriffsbestimmungen <strong>der</strong> 'deliberative democracy' hinausführt 576 . Die Bürger<br />
müssen si<strong>ch</strong> einig darüber sein, daß ihre Institutionen in legitimer Weise die Rahmenbedingungen<br />
für eine freie Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in öffentli<strong>ch</strong>er Argumentation<br />
etablieren 577 . Damit verlagert si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Legitimationsgrund <strong>der</strong> Demokratie weg von<br />
eher formalen Kriterien (Mehrheitsprinzip, Volkssouveränität, Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätze)<br />
hin zu inhaltli<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen an die öffentli<strong>ch</strong>e Argumentation. Daß ein<br />
Gesetz o<strong>der</strong> ein Kandidat die Mehrheit <strong>der</strong> Stimmen auf si<strong>ch</strong> vereinigt, ist ledigli<strong>ch</strong><br />
ein Indiz für eine vorausgegangene freie Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in öffentli<strong>ch</strong>er Argumentation,<br />
die den eigentli<strong>ch</strong>en Legitimationsgrund <strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>- o<strong>der</strong> Personalents<strong>ch</strong>eidung<br />
bildet 578 . Legitimationsbegründend ist ni<strong>ch</strong>t die Form <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
o<strong>der</strong> das Verfahren <strong>der</strong> Mehrheitsbildung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Umstand, daß sie in ihrem<br />
Inhalt diskursiv kontrolliert ist und – soweit den Umständen na<strong>ch</strong> angemessen 579 – in<br />
Zukunft bleibt (periodis<strong>ch</strong>e Neuwahl, Gesetzesän<strong>der</strong>ung) 580 .<br />
Laut Habermas fehlen dem Bild <strong>der</strong> deliberativen Demokratie bei Cohen »Aussagen<br />
zum Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en den ents<strong>ch</strong>eidungsorientierten Beratungen, die dur<strong>ch</strong><br />
demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren reguliert sind, und den informellen Meinungsbildungsprozessen<br />
in <strong>der</strong> Öffentli<strong>ch</strong>keit.« 581 Die Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in <strong>der</strong> Demokratie verlaufe<br />
ni<strong>ch</strong>t selbstgenügsam in den Bahnen einer dur<strong>ch</strong> Verfahren geregelten Beratung<br />
und Bes<strong>ch</strong>lußfassung, son<strong>der</strong>n zehre von <strong>der</strong> verfahrensexternen, informellen<br />
heit gemeint; ebd., S. 22: »Deliberation is reasoned in that the parties to it are required to state their<br />
reasons for advancing proposals, supporting them or criticizing them.« (Hervorhebung bei Cohen).<br />
Ähnli<strong>ch</strong> J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 35 ff. unter Bezugnahme auf Habermas<br />
(S. 36).<br />
576 Ein älteres Verständnis meint mit 'deliberative democracy' bloß beratende Politik, insbeson<strong>der</strong>e<br />
jede repräsentativ-parlamentaris<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung; J.-F. Lyotard, Der Wi<strong>der</strong>streit (1983),<br />
S. 245; C. Sunstein, Interest Groups in American Public Law (1985), S. 45 f. (46): »Above all, their<br />
[the legislator's] task was deliberative.« Die An<strong>der</strong>sartigkeit dieses alten Verständnisses wird<br />
deutli<strong>ch</strong>, wenn man dessen Begriffsbildung zurückverfolgt: Sunstein (S. 45, Fn. 72) beruft si<strong>ch</strong> bei<br />
'deliberative democracy' auf J.M. Bessette, The Majority Principle in Republican Government<br />
(1980); Bessette (S. 112 ff.) meint aber nur eine Deliberation in Repräsentativorganen, während er<br />
direktdemokratis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung als »greatest threat« für eine gemeinwohlorientierte<br />
Politik ansieht. Sowohl Sunstein als au<strong>ch</strong> Bessette beziehen si<strong>ch</strong> insoweit auf die Fe<strong>der</strong>alist Papers,<br />
in denen die gebotene Deliberation ebenfalls mit gemeinwohlorientierter Repräsentation als Gegenbegriff<br />
zu partikularen Gruppeninteressen identifiziert wird; vgl. insbeson<strong>der</strong>e J. Madison, Fe<strong>der</strong>alist<br />
No. 10 (1787), S. 57 ff. Die neuerdings von Cohen und Habermas gemeinte öffentli<strong>ch</strong>e Argumentation<br />
außerhalb von Parlamenten geht darüber hinaus.<br />
577 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 21: »Citizens in su<strong>ch</strong> an or<strong>der</strong> share a<br />
commitment to the resolution of problems of collective <strong>ch</strong>oice through public reasoning and regard<br />
their basic institutions as legitimate as far as they establish the framework for free public deliberation.«<br />
578 Vgl. J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 23: »Even un<strong>der</strong> ideal conditions<br />
there is no promise that consensual reasons will be forthcoming. If they are not, then deliberation<br />
concludes with voting, subject to some form of majority rule. The fact that it may so conclude<br />
does not, however, eliminate the distinction between deliberative forms of collective <strong>ch</strong>oice and<br />
form that aggregate by non-deliberative preferences.« (ohne die Fn. 16 bei Cohen).<br />
579 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
580 Vgl. G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren in <strong>der</strong> Demokratie<br />
(1997), S. 67 m.w.N. – die Mehrheitsents<strong>ch</strong>eidung beziehe ihre legitimierende Kraft daraus, daß<br />
sie am Ende eines Diskussionprozesses stehe.<br />
581 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 372 f. (ohne die Hervorhebung bei Habermas).<br />
243
Meinungsbildung 582 . Das Re<strong>ch</strong>t als ein Mittel zur Reduktion unvermeidli<strong>ch</strong>er gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er<br />
Komplexität sei zur Legitimation auf die re<strong>ch</strong>tsexterne Kommunikation<br />
in <strong>der</strong> Politik angewiesen, die als eine 'komplexitätserhaltende Gegensteuerung' funktioniere<br />
583 . Deshalb erweitert Habermas die deliberative Demokratie zur deliberativen<br />
Politik, die er mit den Begriffen <strong>der</strong> 'politis<strong>ch</strong>en Öffentli<strong>ch</strong>keit' und <strong>der</strong> 'Zivilgesells<strong>ch</strong>aft'<br />
erläutert.<br />
Als politis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit bezei<strong>ch</strong>net Habermas das Kommunikationsnetzwerk,<br />
das Meinungen (Inhalte und Stellungnahmen) dur<strong>ch</strong> Filterung und Synthetisierung<br />
zu themenspezifis<strong>ch</strong> gebündelten öffentli<strong>ch</strong>en Meinungen verdi<strong>ch</strong>tet 584 . Diese Öffentli<strong>ch</strong>keit<br />
ist spezialisiert, etwa in populärwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e, literaris<strong>ch</strong>e, kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e,<br />
künstleris<strong>ch</strong>e, feministis<strong>ch</strong>e, ökologis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit; und sie ist organisatoris<strong>ch</strong><br />
differenziert, etwa als episodis<strong>ch</strong>e (Kneipen-, Straßen-) o<strong>der</strong> als veranstaltete (Theater-,<br />
Rockkonzert-, Parteitversammlungs-, Kir<strong>ch</strong>entags-) Öffentli<strong>ch</strong>keit 585 . Die Zivilgesells<strong>ch</strong>aft<br />
ist demgegenüber die Gesamtheit <strong>der</strong> Vereinigungen, Organisationen und<br />
Bewegungen, die Probleme aus privaten Lebensberei<strong>ch</strong>en aufgreifen und verstärkt<br />
an die politis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit weiterleiten 586 , beispielsweise soziale Bewegungen,<br />
Bürgerinitiativen, politis<strong>ch</strong>e Vereinigungen o<strong>der</strong> Berufsverbände 587 . Teile <strong>der</strong> Zivilgesells<strong>ch</strong>aft<br />
sind im allgemeinen zu s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>, um selbst Ents<strong>ch</strong>eidungsprozesse umzusteuern,<br />
sie können aber unter bestimmten Umständen über die öffentli<strong>ch</strong>e Meinung<br />
auf Ents<strong>ch</strong>eidungsträger des Re<strong>ch</strong>tsstaats (Parlamente, Geri<strong>ch</strong>te, Behörden)<br />
Einfluß gewinnen 588 . Der Motor dieser Einflußnahme liegt in den Massenmedien, die<br />
regelmäßig eine Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en Akteuren in <strong>der</strong> Arena und Zus<strong>ch</strong>auern<br />
im Publikum einführen.<br />
Die Wirkungszusammenhänge zwis<strong>ch</strong>en Zivilgesells<strong>ch</strong>aft, politis<strong>ch</strong>er Öffentli<strong>ch</strong>keit<br />
und Massenmedien können auf vers<strong>ch</strong>iedene Weise für die Legitimation von<br />
Re<strong>ch</strong>t angeführt werden. Habermas wendet si<strong>ch</strong> gegen <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens,<br />
die (als Pluralismus- und Elitentheorien) die kluge Personenwahl innerhalb <strong>der</strong><br />
Zivilgesells<strong>ch</strong>aft o<strong>der</strong> (als social <strong>ch</strong>oice o<strong>der</strong> public <strong>ch</strong>oice <strong>Theorien</strong>) die kluge Sa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidung<br />
innerhalb <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Öffentli<strong>ch</strong>keit in den Vor<strong>der</strong>grund stellen 589 .<br />
Vielmehr sei »ein Perspektivenwe<strong>ch</strong>sel von <strong>der</strong> Theorie rationaler Wahl zur Diskurstheorie«<br />
geboten, na<strong>ch</strong> dem ni<strong>ch</strong>t länger das Handeln einzelner Aktoren, son<strong>der</strong>n<br />
»das diskursive Niveau beoba<strong>ch</strong>tbarer politis<strong>ch</strong>er Kommunikation ein Maßstab für<br />
die Wirksamkeit einer ... prozeduralisierten Vernunft ist.« 590 Je höher also das diskursive<br />
Niveau, desto höher ist die legitimierende Kraft innerhalb <strong>der</strong> deliberativen Politik.<br />
Für Massenmedien als <strong>der</strong> 'vierten Gewalt' folgt daraus das Gebot einer normati-<br />
582 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 374. Ähnli<strong>ch</strong> G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren in <strong>der</strong> Demokratie (1997), 68 ff. (84) – Notwendigkeit eines öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses zur Legitimierung politis<strong>ch</strong>er Ents<strong>ch</strong>eidungen.<br />
583 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 397.<br />
584 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 436.<br />
585 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 452.<br />
586 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 443.<br />
587 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 451.<br />
588 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 451.<br />
589 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 401 ff.<br />
590 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 414 f.<br />
244
ven Einhegung mittels Berufskodex, Standesethik und nötigenfalls Medienre<strong>ch</strong>t, so<br />
daß die Medien an die regulative Idee gebunden werden, als 'Mandatar eines aufgeklärten<br />
Publikums' die öffentli<strong>ch</strong>en Meinungen einer verstärkten Kritik und einem<br />
Legitimationszwang auszusetzen 591 . Indikator für eine funktionierende deliberative<br />
Politik und damit ein hohes 'diskursives Niveau' ist es, wenn Themen ni<strong>ch</strong>t von zentralen<br />
Informationsproduzenten ausgehen, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Peripherie <strong>der</strong> Zivilgesells<strong>ch</strong>aft<br />
aufgegriffen, in die politis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit transportiert und erst dann<br />
dur<strong>ch</strong> die Massenmedien verstärkt werden 592 . Nur solange die Ressourcen <strong>der</strong> Lebenswelt<br />
für spontane öffentli<strong>ch</strong>e Kommunikation ausrei<strong>ch</strong>en, um eine ungezwungene<br />
Artikulation gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Interessen trotz Administrations- und Medienma<strong>ch</strong>t<br />
zu gewährleisten, kann laut Habermas legitimes Re<strong>ch</strong>t entstehen und bestehen<br />
593 . Die Kommunikationsvoraussetzungen müssen demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren ergänzen;<br />
erst dann gilt <strong>der</strong> programmatis<strong>ch</strong>e Satz: »Die Diskurstheorie erklärt die Legitimität<br />
des Re<strong>ch</strong>ts mit Hilfe von – ihrerseits re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> institutionalisierten – Verfahren<br />
und Kommunikationsvoraussetzungen, wel<strong>ch</strong>e die Vermutung begründen, daß<br />
die Prozesse <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsetzung und <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung zu rationalen Ergebnissen<br />
führen.« 594<br />
e) Das prozedurale Re<strong>ch</strong>tsparadigma<br />
Als letzte Auswirkung einer diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts betont<br />
Habermas das prozedurale Re<strong>ch</strong>tsparadigma 595 . Es sei das gebotene Mittel, um die<br />
Verfahrensbedingungen des demokratis<strong>ch</strong>en Prozesses zu s<strong>ch</strong>ützen 596 . Darüberhinaus<br />
resultiere dieses Paradigma in prozeduralen Definitionen re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Instrumente,<br />
z.B. 'Souveränität' 597 o<strong>der</strong> 'Verfassung' 598 . Im Rahmen <strong>der</strong> soziologis<strong>ch</strong>en Theorie<br />
<strong>der</strong> Paradigmenwe<strong>ch</strong>sel – d.h. einer Folge von Ereignissen, die zu grundlegenden Än<strong>der</strong>ungen<br />
wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Kenntnis führt (wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Revolution) – bezei<strong>ch</strong>net<br />
<strong>der</strong> Begriff des Paradigmas den Rahmen (framework) zur Bes<strong>ch</strong>reibung und<br />
Analyse von Weltsi<strong>ch</strong>ten sowie die Auswirkung dieses Rahmens auf die Konzeptualisierung<br />
und Informationsverarbeitung dur<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en 599 . Ein Re<strong>ch</strong>tsparadigma<br />
kennzei<strong>ch</strong>net dementspre<strong>ch</strong>end den Blickwinkel unter dem wir die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ord-<br />
591 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 455 ff. (455, 457).<br />
592 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 459 f.<br />
593 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 466.<br />
594 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 499.<br />
595 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 468 ff.; glei<strong>ch</strong>falls von einem neuen 'prozeduralen<br />
Re<strong>ch</strong>tsparadigma' spri<strong>ch</strong>t J. Lenoble, Droit et communication (1994), S. 7 ff., 20 ff. Aus <strong>der</strong> (ansonsten<br />
eher zurückhaltenden) Rezeption zur These eines neuen prozeduralen Re<strong>ch</strong>tsparadigmas<br />
vgl. K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen und intersubjektive<br />
Rationalität (1996), S. 385 ff.<br />
596 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 529 f.<br />
597 Souveränität eines Volkes in diskursiver Perspektive bedeutet, daß Ma<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> kommunikativen<br />
Kraft <strong>der</strong> Bürger entspringt. Siehe J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 209, 532 ff.; <strong>der</strong>s.,<br />
Volkssouveränität als Verfahren (1989), S. 626.<br />
598 Eine Gesells<strong>ch</strong>aft ist verfassungsmäßig, wenn sie si<strong>ch</strong> selbst mit si<strong>ch</strong> selbst in angemessenen Formen<br />
und prozedural geleiteten Prozessen <strong>der</strong> Assimilation, des Wi<strong>der</strong>standes und <strong>der</strong> Selbstkorrektur<br />
konfrontiert. Siehe J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 536.<br />
599 T.S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (1970), S. 111 ff.<br />
245
nungen betra<strong>ch</strong>ten, also unsere re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Weltsi<strong>ch</strong>t unter Eins<strong>ch</strong>luß von Vorverständnis<br />
und intuitivem Hintergrundwissen 600 . Habermas identifiziert zeitli<strong>ch</strong> gestaffelt<br />
zunä<strong>ch</strong>st ein liberales Re<strong>ch</strong>tsparadigma, das die klassis<strong>ch</strong>en Gesetzbü<strong>ch</strong>ern<br />
des Privatre<strong>ch</strong>ts beherrs<strong>ch</strong>t habe, dann ein sozialstaatli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>tsparadigma, das<br />
dur<strong>ch</strong> Materialisierung des Re<strong>ch</strong>ts dem Problem des Marktversagens im reinen Liberalismus<br />
Re<strong>ch</strong>nung tragen wollte, und neuerdings ein prozeduralistis<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>tsparadigma,<br />
das auf die ni<strong>ch</strong>t-intendierten, privatautonomiebes<strong>ch</strong>ränkenden Folgen <strong>der</strong><br />
sozialstaatli<strong>ch</strong>en Verre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>ung eine Antwort finden soll 601 . An<strong>der</strong>s als beim liberal-<br />
und sozialstaatli<strong>ch</strong>en Paradigma, die entwe<strong>der</strong> formales o<strong>der</strong> materiales Re<strong>ch</strong>t<br />
favorisiert haben, soll das prozedurale Paradigma ni<strong>ch</strong>t eine bestimmte Re<strong>ch</strong>tsform<br />
(etwa das prozedurale o<strong>der</strong> das 'reflexive' Re<strong>ch</strong>t 602 ) bevorzugen, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
unabhängig von <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsform private und öffentli<strong>ch</strong>e Autonomie dur<strong>ch</strong> einen auf<br />
Dauer angelegten verfassunggebenden Prozeß si<strong>ch</strong>ern 603 . Die Grundre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> privaten<br />
Autonomie (vereinfa<strong>ch</strong>t: Freiheit, Glei<strong>ch</strong>heit, Eigentum) und <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Autonomie<br />
(vereinfa<strong>ch</strong>t: Aktivbürgers<strong>ch</strong>aft, Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te) entstehen und<br />
bestehen na<strong>ch</strong> dem prozeduralen Re<strong>ch</strong>tsparadigma erst dur<strong>ch</strong> einen fortwährenden<br />
Prozeß <strong>der</strong> staatsbürgerli<strong>ch</strong>en Aktivität 604 . Legitime Re<strong>ch</strong>tssetzung beruht auf <strong>der</strong><br />
Einri<strong>ch</strong>tung von Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen (z.B. Wahlen, Abstimmungen,<br />
Medien, Ma<strong>ch</strong>tbegrenzungen, Äußerungsmögli<strong>ch</strong>keiten) für eine diskursive<br />
Meinungs- und Willensbildung 605 . Die deliberative Politik dur<strong>ch</strong> Zivilgesells<strong>ch</strong>aft<br />
und politis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit bildet den materiellen Gehalt dieses prozeduralen<br />
Re<strong>ch</strong>tsparadigmas 606 . Re<strong>ch</strong>t ist also ni<strong>ch</strong>t mehr primär Freiheitsgarant (liberales<br />
Paradigma) o<strong>der</strong> Instrument <strong>der</strong> materiellen Glei<strong>ch</strong>stellung (sozialstaatli<strong>ch</strong>es Paradigma),<br />
son<strong>der</strong>n in erster Linie Garant für die Bedingungen, unter denen ein spontane<br />
öffentli<strong>ch</strong>e Kommunikation bestehen und die Re<strong>ch</strong>tsordnung fortwährend legitimieren<br />
kann.<br />
f) Ergebnisse<br />
Habermas Katalog <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bietet gegenüber Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
wenig Neues. Gerade deshalb kommt dem Gedanken <strong>der</strong> deliberativen<br />
600 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 468 ff.<br />
601 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 469 ff. (493): »das prozeduralistis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsparadigma,<br />
das aus <strong>der</strong> Sackgasse des Sozialstaatsmodells herausführen soll«. Zur Begründung des<br />
Paradigmenwe<strong>ch</strong>sels ebd., S. 504 f.: »Das sozialstaatli<strong>ch</strong>e Paradigma des Re<strong>ch</strong>ts orientiert si<strong>ch</strong><br />
auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> am Problem <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten Verteilung <strong>der</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> produzierten Lebens<strong>ch</strong>ancen.<br />
Indem es <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf distributive <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> reduziert, verfehlt es den freiheitsverbürgenden<br />
Sinn legitimer Re<strong>ch</strong>te ... Der komplementäre Fehler des liberalen Re<strong>ch</strong>tsparadigmas<br />
liegt darin, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf eine glei<strong>ch</strong>e Distribution von Re<strong>ch</strong>ten zu reduzieren, d.h. Re<strong>ch</strong>te<br />
auf Güter zu assimilieren, die man aufteilen und besitzen kann.« (Hervorhebung bei Habermas).<br />
602 Zu ersterem als Alternative zu formalem und materialem Re<strong>ch</strong>t J. Habermas, Faktizität und Geltung<br />
(1992), S. 528; zu letzterem: ebd., S. 494 m.w.N.<br />
603 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 494.<br />
604 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 515.<br />
605 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 527. Als Beispiel nennt Habermas, ebd., S. 533<br />
die Versu<strong>ch</strong>e zu einer stärkeren Konstitutionalisierung <strong>der</strong> Medienma<strong>ch</strong>t.<br />
606 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 536.<br />
246
Politik eine zentrale Bedeutung in Habermas prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zu.<br />
Hier wird aufgezeigt, wie Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln außerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Verfahren die Legitimationskraft <strong>der</strong> innerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Verfahren stützen<br />
o<strong>der</strong> sogar erst begründen können.<br />
4. Theorie des analytis<strong>ch</strong>en Liberalismus (R. Alexy)<br />
Die auffälligste Beson<strong>der</strong>heit von Alexys Diskurstheorie zeigt si<strong>ch</strong> dort, wo sie im<br />
Rahmen eines Gesamtprojekts des 'analytis<strong>ch</strong>en Liberalismus' 607 zu einer Theorie des<br />
Re<strong>ch</strong>ts und damit zu einer Basistheorie <strong>der</strong> auf Diskussion angelegten Institutionen<br />
des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates ausgebaut wird 608 . Als Begründungslehre<br />
für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit von Re<strong>ch</strong>t und Staat ist sie <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 609 . In Alexys Modell<br />
ist juristis<strong>ch</strong>e Argumentation eine beson<strong>der</strong>e Form des allgemeinen rationalen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurses (Son<strong>der</strong>fallthese 610 ). Systematis<strong>ch</strong> vor diesen Überlegungen<br />
zur allgemeinen Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts steht indes die Begründung <strong>der</strong>jenigen<br />
obersten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen, die re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> positiviert als Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (Glei<strong>ch</strong>heit,<br />
Freiheit) und Demokratieprinzip staatli<strong>ch</strong> in Geltung gesetzt werden müssen (bd).<br />
Im Zusammenhang damit hat Alexy die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln um neue<br />
Argumente erweitert (a).<br />
a) Die Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
Die bereits skizzierte Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln mit Hilfe eines transzendentalen<br />
Arguments 611 wird bei Alexy dur<strong>ch</strong> zwei weitere Teile zu einer Trias erweitert –<br />
dur<strong>ch</strong> »ein auf individuelle Nutzenmaximierung abstellendes Argument« sowie »eine<br />
empiris<strong>ch</strong>e Prämisse über die Ausstattung von Mens<strong>ch</strong>en mit einem Interesse an<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit« 612 (bb). Das transzendentale Argument zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> zudem bei Alexy<br />
607 So die selbstgewählte Bezei<strong>ch</strong>nung bei R. Alexy, Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995), S. 10.<br />
608 Zur Diskurstheorie als Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates R. Alexy, Theorie <strong>der</strong><br />
juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 417: »Der praktis<strong>ch</strong>e Wert <strong>der</strong> Diskurstheorie zeigt si<strong>ch</strong> in<br />
vollem Umfang erst, wenn sie zu einer Basistheorie <strong>der</strong> auf Diskussion angelegten Institutionen<br />
des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates gema<strong>ch</strong>t wird, also im Rahmen einer Theorie des Staates<br />
und des Re<strong>ch</strong>ts.« Außerdem <strong>der</strong>s., Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 164; <strong>der</strong>s., Grundgesetz<br />
und Diskurstheorie (1996), S. 343 ff. Zustimmend P. Ts<strong>ch</strong>annen, Stimmre<strong>ch</strong>t und politis<strong>ch</strong>e<br />
Verständigung (1995), S. 388, 391 ff.<br />
609 Vor allem die jüngeren Begründungen zur diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Notwendigkeit von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten<br />
und Demokratie; R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 127 ff.; <strong>der</strong>s., Discourse<br />
Theory and Human Rights (1996), S. 209 ff. Zum hier gemeinten Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
vgl. oben S. 76 (D 2 ) sowie die kurze aber treffende Charakterisierung von Barry, na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>Theorien</strong> darüber sind, wel<strong>ch</strong>e sozialen Arrangements verteidigt werden<br />
können; B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 3.<br />
610 Dazu unten S. 255 ff. (Begründung von Re<strong>ch</strong>tsnormen). Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en<br />
Argumentation (1978), S. 261 ff.; <strong>der</strong>s., Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 426 ff.<br />
611 Dazu oben S. 225 (transzendentales Argument).<br />
612 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 133 ff. (133).<br />
247
dur<strong>ch</strong> eine Beson<strong>der</strong>heit aus; es wird »radikal abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t«, indem es auf die Teilnahme<br />
»an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en« 613 bes<strong>ch</strong>ränkt wird (aa).<br />
aa) Teilnahme an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en (T L )<br />
Das transzendentale Argument besagt nur, daß jede Person, die einen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
einlösen will, dazu die Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln anerkennen muß – sie<br />
muß argumentieren. Das transzendentale Argument selbst kann hingegen keine Interessen<br />
o<strong>der</strong> Motivationen erzeugen, aus denen heraus Mens<strong>ch</strong>en überhaupt beginnen,<br />
si<strong>ch</strong> auf Argumentation einzulassen 614 . Zur Ausfüllung <strong>der</strong> praemissa maior des<br />
transzendentalen Arguments 615 führt Alexy die empiris<strong>ch</strong>e Prämisse ein, daß Mens<strong>ch</strong>en<br />
in aller Regel argumentieren, weil es ihrer allgemeinsten Lebensform entspri<strong>ch</strong>t<br />
616 :<br />
T L :<br />
»Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung [im<br />
starken Sinne] aufstellt und keine Begründung [unter<br />
Anerkennung von Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung, Zwanglosigkeit<br />
und Universalität] gibt, nimmt ni<strong>ch</strong>t an <strong>der</strong> allgemeinsten<br />
Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en teil.«<br />
Dur<strong>ch</strong> die nur bedingte Notwendigkeit dieser Prämisse wird auf die Letztbegründung<br />
verzi<strong>ch</strong>tet und das transzendentale Argument »radikal abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t« 617 . Die Prämisse<br />
lautet ni<strong>ch</strong>t: 'Je<strong>der</strong> wird notwendig etwas behaupten im Sinne eines starken<br />
Begriffs des Behauptens', son<strong>der</strong>n sie lautet 'Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform<br />
des Mens<strong>ch</strong>en teilnimmt, wird notwendig etwas behaupten im Sinne eines starken Begriffs<br />
des Behauptens'. Damit ist gesagt, daß abgesehen von exotis<strong>ch</strong>en Personen, die<br />
si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> allgemeinsten mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Lebensform wirksam entziehen (<strong>der</strong> Eremit in<br />
<strong>der</strong> Einsamkeit einer Wüste, <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>ige auf einer Insel, <strong>der</strong> Tyrann ohne Angehörige<br />
und Freunde), je<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Lebensform (und damit Spra<strong>ch</strong>konvention<br />
618 ) teilnimmt, die in dem Sinne 'allgemein' genannt werden kann, daß jedenfalls<br />
in <strong>der</strong> Beziehung zu einzelnen Mitmens<strong>ch</strong>en das eigene Handeln dur<strong>ch</strong> Argumentation<br />
begründet wird. Ein absolutistis<strong>ch</strong>er Herrs<strong>ch</strong>er mag sein Handeln ganz überwiegend<br />
dur<strong>ch</strong> Befehl und Gehorsam gestalten, ohne si<strong>ch</strong> dafür je zu re<strong>ch</strong>tfertigen; aber<br />
wenn er nur gegenüber einem einzigen Mitmens<strong>ch</strong>en, etwa einem Familienangehörigen<br />
o<strong>der</strong> Freund, das eigene Handeln dur<strong>ch</strong> Argumentation re<strong>ch</strong>tfertigt,<br />
nimmt er s<strong>ch</strong>on an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en teil. Mit an<strong>der</strong>en<br />
613 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 139.<br />
614 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 142.<br />
615 Dazu oben S. 225 (transzendentales Argument).<br />
616 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 139. Zum Begriff <strong>der</strong> 'Lebensform' bei<br />
Wittgenstein vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 74: »die den einzelnen<br />
Spra<strong>ch</strong>spielen zugrunde liegende, dur<strong>ch</strong> bestimmte Grundüberzeugungen und Regeln geprägte<br />
gemeinsame Lebenspraxis.« Wi<strong>ch</strong>tige Konsequenz: ein rationaler Diskurs ist nur innerhalb <strong>der</strong><br />
dur<strong>ch</strong> eine bestimmte Lebensform gesetzten Grenzen mögli<strong>ch</strong>; A. Aarnio/R. Alexy/A. Peczenik,<br />
Grundlagen <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1983), S. 81.<br />
617 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 139.<br />
618 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 74 – Lebensform und Spra<strong>ch</strong>spiel.<br />
248
Worten: Wer ni<strong>ch</strong>t als 'einsamer Wolf' lebt, wird irgendeiner nahestehenden Person<br />
gegenüber irgendwann einmal irgendein eigenes Handeln re<strong>ch</strong>tfertigen. Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
aber ist Ausdruck dafür, daß implizit die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns behauptet<br />
wird, und zwar im Sinne eines starken Begriffs des Behauptens, <strong>der</strong> dann in diesen Situationen<br />
unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> zur Argumentation und damit zur Anerkennung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
führt.<br />
bb) Nutzenmaximierung und Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
Mit <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Prämisse sind <strong>der</strong> Anerkennungsgeltung <strong>der</strong> Diskursregeln aber<br />
no<strong>ch</strong> enge Grenzen gesetzt. Erstens vermag sie für die wenigen Mens<strong>ch</strong>en, die si<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> völlige Isolation o<strong>der</strong> ungewöhnli<strong>ch</strong>e mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Distanz <strong>der</strong> allgemeinsten<br />
Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en eben ni<strong>ch</strong>t einfügen, keine Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln zu<br />
begründen. Einem Tyrannen, <strong>der</strong> ungehemmt dur<strong>ch</strong> Freunde o<strong>der</strong> Familie sein Leben<br />
allein als Ausdruck ni<strong>ch</strong>t begründungsbedürftiger Ma<strong>ch</strong>tausübung versteht, ist<br />
mit <strong>der</strong> bisherigen Begründung ni<strong>ch</strong>ts entgegenzuhalten. Nur wer in wenigstens einer<br />
Hinsi<strong>ch</strong>t das eigene Handeln gegenüber an<strong>der</strong>en für begründungsbedürftig hält,<br />
setzt si<strong>ch</strong> damit notwendig den normativen Ansprü<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Diskurstheorie aus: Er<br />
kann die akzeptierte Begründungsbedürftigkeit nur einlösen, wenn er au<strong>ch</strong> die Diskursregeln<br />
anerkennt. Zweitens gilt die viel gewi<strong>ch</strong>tigere Eins<strong>ch</strong>ränkung, daß Mens<strong>ch</strong>en<br />
ni<strong>ch</strong>t verpfli<strong>ch</strong>tet sind, in jedem Interessenkonflikt die Diskursregeln anzuerkennen.<br />
Denn daraus, daß jemand die grundsätzli<strong>ch</strong>e Fähigkeit und au<strong>ch</strong> eine tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e,<br />
wenn au<strong>ch</strong> viellei<strong>ch</strong>t nur rudimentäre praktis<strong>ch</strong>e Erfahrung damit hat, den Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
seiner Behauptungen dur<strong>ch</strong> Argumentation zu stützen, folgt no<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t, daß er von dieser Fähigkeit in jedem Fall Gebrau<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en muß 619 . Man kann<br />
sehr wohl, ohne si<strong>ch</strong> selbst zu wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en, das eigene Handeln gegenüber Freunden<br />
und Familie argumentativ begründen, gegenüber Dritten aber allein auf Interesse<br />
und Ma<strong>ch</strong>t setzen, statt die Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu su<strong>ch</strong>en. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Wer im<br />
Familienkreis moralis<strong>ch</strong> handelt, kann dur<strong>ch</strong>aus in jedem an<strong>der</strong>en Zusammenhang<br />
auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> pragmatis<strong>ch</strong> handeln. Die bloße Mögli<strong>ch</strong>keit moralis<strong>ch</strong>en Handelns<br />
trägt no<strong>ch</strong> keine Notwendigkeit in si<strong>ch</strong>.<br />
Alexy führt darum ergänzend an, daß alle Mens<strong>ch</strong>en, selbst Tyrannen, Diktatoren<br />
und Despoten, ein objektives Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit haben, weil ihnen <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
nützt: Eine allein auf Gewalt gegründete Ordnung ist instabil, riskant<br />
und teuer, so daß es si<strong>ch</strong> in jedem Fall lohnt, für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Ordnung Gründe<br />
anzuführen, selbst wenn dies nur die vorges<strong>ch</strong>obenen Gründe einer Terrorpropaganda<br />
sein sollten 620 . Auf die Motive des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>s komme es dabei<br />
619 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 141. Das übersieht P. Gril, Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis (1998), S. 140 ff., bei seinem originellen Versu<strong>ch</strong>, die Argumentation Alexys<br />
dadur<strong>ch</strong> ad absurdum zu führen, daß er ni<strong>ch</strong>t-verständigungsorientierte Spre<strong>ch</strong>akte (Manipulation,<br />
Täus<strong>ch</strong>ung und Lügen) in <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en betont. Alexys Begründungsmodell<br />
leugnet sol<strong>ch</strong>e Formen <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t-verständigungsorientierten Kommunikation keinesfalls.<br />
Der ents<strong>ch</strong>eidende Unters<strong>ch</strong>ied besteht jedo<strong>ch</strong> darin, daß sie von den Kommunikationsteilnehmern<br />
selbst ni<strong>ch</strong>t als Begründungsakte angesehen werden.<br />
620 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 142 f.<br />
249
ni<strong>ch</strong>t an, son<strong>der</strong>n nur auf <strong>der</strong>en objektive Geltendma<strong>ch</strong>ung, weil eine sol<strong>ch</strong>e für die<br />
objektive institutionelle Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln genüge 621 .<br />
cc) Ergebnisse (T R )<br />
Die transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>e Begründung Alexys betont den Umstand, daß Mens<strong>ch</strong>en<br />
in aller Regel die Diskursregeln faktis<strong>ch</strong> anerkennen. Die Begründung besagt<br />
indes ni<strong>ch</strong>t, daß alles Handeln (subjektiv) mit Ri<strong>ch</strong>tigkeitsansprü<strong>ch</strong>en verbunden wäre<br />
o<strong>der</strong> (objektiv) <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung dur<strong>ch</strong> gute Gründe bedürfte. Sie besagt nur (aber<br />
au<strong>ch</strong> immerhin), daß wenn jemand dur<strong>ch</strong> sein kommunikatives Handeln, insbeson<strong>der</strong>e<br />
dur<strong>ch</strong> einen Spre<strong>ch</strong>akt des Behauptens im starken Sinne, einen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
erhebt, er diesen nur dadur<strong>ch</strong> einlösen kann, daß er ihn einer Bewährung im<br />
Diskurs aussetzt (»faktis<strong>ch</strong> begrenzte Geltung« 622 ). Ergänzt man diesen Gedanken<br />
um die Überlegungen, daß die Diskurstheorie eine Vernunftkonzeption des kantis<strong>ch</strong>en<br />
Universalismus verfolgt 623 und in einem Diskurs alle Arten von Gründen angeführt<br />
werden können 624 , so kann folgendes Theorem <strong>der</strong> Diskurstheorie als Theorie<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit formuliert werden:<br />
T R :<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeit – verstanden als universelle Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
für alle unter Eins<strong>ch</strong>luß sämtli<strong>ch</strong>er pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en<br />
und moralis<strong>ch</strong>en Gründe – kann man si<strong>ch</strong> nur in<br />
Diskursen vergewissern.<br />
Auf eine Kurzformel gebra<strong>ch</strong>t, die im folgenden für T R stehen soll:<br />
T R' :<br />
Man kann si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewissern.<br />
b) Die Begründung <strong>der</strong> Freiheit<br />
aa) Das Autonomieprinzip (A)<br />
Von <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln als Garanten <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit hin zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
sind weitere gedankli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ritte nötig. Zunä<strong>ch</strong>st stellt si<strong>ch</strong> die<br />
Frage, ob aus den Diskursregeln Freiheitsre<strong>ch</strong>te abgeleitet werden können. Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
skizzierten Begründung Alexys sind die Diskursregeln und damit au<strong>ch</strong> die Freiheit<br />
aller Diskursbeteiligten subjektiv (motivational) anerkannt bei Personen, denen gegenüber<br />
Handeln tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> diskursiv gere<strong>ch</strong>tfertigt wird (z.B. Familienangehörige,<br />
621 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 143.<br />
622 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 142.<br />
623 Dazu oben S. 198 (T K ).<br />
624 Vgl. dazu R. Alexy, Jürgen Habermas' Theorie des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 173: Im allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurs werden »moralis<strong>ch</strong>e, ethis<strong>ch</strong>e und pragmatis<strong>ch</strong>e Fragen und Gründe<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden«.<br />
250
Freunde). Die Anerkennung gilt außerdem zumindest objektiv (institutionell) für alle<br />
Regierenden, weil diese s<strong>ch</strong>on aus Gründen <strong>der</strong> Klugheit die Ri<strong>ch</strong>tigkeit ihrer Herrs<strong>ch</strong>aft<br />
behaupten müssen und das (praktis<strong>ch</strong> ausnahmslos) au<strong>ch</strong> tun. Wo immer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
erörtert werden, also die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit sozial- und<br />
glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen Handelns zum Thema gema<strong>ch</strong>t wird, besteht zumindest diese<br />
objektive Anerkennung. Also gilt allgemein: Im Diskurs über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die<br />
Freiheit anerkannt.<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te verlangen aber mehr als die Freiheit im Diskurs. Sie sollen au<strong>ch</strong><br />
Freiheit im Handeln si<strong>ch</strong>ern. Für die Begründung knüpft Alexy an ein Autonomieprinzip<br />
an, das von Nino als 'Grundnorm des moralis<strong>ch</strong>en Diskurses' (basic norm of<br />
moral discourse) formuliert wurde. Bei Nino lautet dieses Theorem 625 :<br />
A: »Es ist wüns<strong>ch</strong>enswert, daß Mens<strong>ch</strong>en ihr Verhalten nur<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> freien Annahme von Prinzipien ri<strong>ch</strong>ten, die sie,<br />
na<strong>ch</strong> genügen<strong>der</strong> Reflexion und Beratung, als gültig beurteilen.«<br />
Dieses Autonomieprinzip A ähnelt dem Diskursprinzip D 626 , do<strong>ch</strong> kann es ni<strong>ch</strong>t als<br />
direkte Folgerung aus den Diskursregeln angesehen werden, weil es zusätzli<strong>ch</strong> gebietet,<br />
die Freiheit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ni<strong>ch</strong>t nur im Diskurs, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> im Handeln zu akzeptieren.<br />
Das ist ni<strong>ch</strong>t zwingend. Es ist vorstellbar, daß jemand seinen Mitmens<strong>ch</strong>en<br />
in einem Diskurs über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit sozialer Ordnung unter Anerkennung<br />
ihrer Freiheit gegenübertritt, sie dann aber na<strong>ch</strong> Beendigung des Diskurses unter<br />
Mißa<strong>ch</strong>tung ihrer Freiheit <strong>der</strong> eigenen Ma<strong>ch</strong>t unterwirft. Ein sol<strong>ch</strong>er Zwiespalt ist<br />
keinesfalls ungewöhnli<strong>ch</strong>. Man kann von <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit einer Handlungsnorm<br />
überzeugt und denno<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t bereit sein, sie selbst (immer) zu befolgen. Zwis<strong>ch</strong>en<br />
praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis und praktis<strong>ch</strong>er Verbindli<strong>ch</strong>keit besteht eine Differenz. Es ist<br />
geradezu typis<strong>ch</strong> für soziale Ordnungen, daß si<strong>ch</strong> die einzelnen Beteiligten ni<strong>ch</strong>t ohne<br />
Zwang an die eigentli<strong>ch</strong> von ihnen bejahten Normen halten. Trittbrettfahrer 627<br />
und alle an<strong>der</strong>en, die ganz im Sinne Ma<strong>ch</strong>iavellis<strong>ch</strong>er Klugheit 628 die Zustimmung<br />
zu Sozialregeln nur heu<strong>ch</strong>eln, aber glei<strong>ch</strong>zeitig unsozial handeln, müssen dur<strong>ch</strong><br />
Zwang gebunden werden – in <strong>der</strong> hier interessierenden Form also dur<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Zwang und dessen effektive Dur<strong>ch</strong>setzung 629 .<br />
Wie also läßt si<strong>ch</strong> das Autonomieprinzip A und das in ihm enthaltene Freiheitsre<strong>ch</strong>t<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründen? Alexy unters<strong>ch</strong>eidet zwei Typen <strong>der</strong> diskurstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen: die mittelbare und die unmit-<br />
625 C.S. Nino, The Ethics of Human Rights (1991), S. 138: »The basic norm of moral discourse, the minimum<br />
tacit agreement to whi<strong>ch</strong> we subscribe when we participate sincerely in it, is this: 'It is desirable<br />
that people determine their behaviour only by the free adoption of principles that, after<br />
sufficient reflection and deliberation, they judge valid.'«<br />
626 Dazu oben S. 230 (Konsens und Diskursprinzip).<br />
627 Dazu unten S. 333 ff. (Trittbrettfahrerproblem).<br />
628 Vgl. N. Ma<strong>ch</strong>iavelli, Der Fürst (1532), S. 72 f.: »Ein Herrs<strong>ch</strong>er brau<strong>ch</strong>t also alle die vorgenannten<br />
guten Eigens<strong>ch</strong>aften ni<strong>ch</strong>t in Wirkli<strong>ch</strong>keit zu besitzen; do<strong>ch</strong> muß er si<strong>ch</strong> den Ans<strong>ch</strong>ein geben, als<br />
ob er sie besäße.«<br />
629 Daneben gibt es Formen ni<strong>ch</strong>tre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en sozialen Zwanges, die hier ni<strong>ch</strong>t weiter verfolgt werden<br />
können. Vgl. unten S. 333 ff. (Institutionalisierung und Trittbrettfahrerproblem).<br />
251
telbare 630 . Um eine mittelbare diskurstheoretis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung handelt<br />
es si<strong>ch</strong>, wenn die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln formuliert werden,<br />
unter denen die praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Norm in einem tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> stattfindenden<br />
Verfahren begründet werden kann – also in einem realen Diskurs im Sinne<br />
von D Dr<br />
631. Eine unmittelbare diskurstheoretis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung besteht<br />
hingegen dann, wenn <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen »unabhängig von <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Dur<strong>ch</strong>führung einzelner Diskurse allein aufgrund <strong>der</strong> Diskurstheorie gelten.« 632<br />
Will man <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unmittelbar begründen, muß man folgli<strong>ch</strong> von <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Dur<strong>ch</strong>führung einzelner Diskurse abstrahieren. Für diese unmittelbare<br />
Begründung gibt es wie<strong>der</strong>um zwei Mögli<strong>ch</strong>keiten. Erstens kann man mit einer<br />
transzendentalen Argumentation zeigen, daß es bestimmte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
gibt, <strong>der</strong>en Geltung eine notwendige Voraussetzung des Diskurses ist. Zweitens kann<br />
man auf einen hypothetis<strong>ch</strong>en Konsens abstellen, den reale Personen unter idealen<br />
Bedingungen errei<strong>ch</strong>en würden, und damit zeigen, daß bestimmte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
eine notwendige Folge des Diskurses sind 633 . Den ersten Weg bes<strong>ch</strong>reitet<br />
Alexy für die Begründung von Freiheit und Demokratie (Autonomieargument, Demokratieargument),<br />
den zweiten für die Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit (Konsensargument).<br />
bb) Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit <strong>der</strong> Autonomie<br />
Für die Frage, warum die Anerkennung von Freiheit au<strong>ch</strong> im Handeln verbindli<strong>ch</strong><br />
sein soll, können na<strong>ch</strong> Alexy zwei Formen <strong>der</strong> Verbindli<strong>ch</strong>keit unters<strong>ch</strong>ieden werden:<br />
die subjektive und die objektive. Subjektiv verbindli<strong>ch</strong> ist eine im Diskurs begründete<br />
Handlungsnorm, wenn <strong>der</strong> Einzelne tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> bereit ist, si<strong>ch</strong> freiwillig an sie zu<br />
halten. Die Aussi<strong>ch</strong>t, sol<strong>ch</strong>e Verbindli<strong>ch</strong>keit bei allen Mens<strong>ch</strong>en zu errei<strong>ch</strong>en, ist gering.<br />
Objektiv verbindli<strong>ch</strong> ist eine Handlungsnorm, wenn es für jeden irgendwel<strong>ch</strong>e<br />
Gründe gibt, si<strong>ch</strong> entwe<strong>der</strong> äußerli<strong>ch</strong> an sie zu halten (Befolgung) o<strong>der</strong> wenigstens<br />
so zu tun, als täte man dies (Heu<strong>ch</strong>eln).<br />
Dreh- und Angelpunkt für Alexys Autonomieargument ist die Überlegung, wel<strong>ch</strong>e<br />
Situation einträte, wenn die Anerkennung von Autonomie nur im Diskurs, ni<strong>ch</strong>t<br />
aber im Handeln verbindli<strong>ch</strong> wäre. Was passiert, wenn na<strong>ch</strong> Abs<strong>ch</strong>luß des Diskurses<br />
die Freiheit <strong>der</strong> Mitmens<strong>ch</strong>en im Berei<strong>ch</strong> des Handelns ni<strong>ch</strong>t anerkannt wird?<br />
Das ist beispielsweise <strong>der</strong> Fall, wenn jemand zunä<strong>ch</strong>st in einem realen Diskurs argumentiert,<br />
dann aber ohne Rücksi<strong>ch</strong>t auf einen mögli<strong>ch</strong>en Konsens den eigenen<br />
Willen mit Zwang dur<strong>ch</strong>setzt. Der vorausgegangene Diskurs wird, so Alexys Begründung,<br />
dur<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>es Verhalten vollständig entwertet 634 . Denn wenn Familien-<br />
630 Vgl. hierzu und zum folgenden R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146 ff., wo<br />
statt allgemein auf <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen bereits speziell auf die (als Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te) re<strong>ch</strong>tsförmigen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen abgestellt wird. Zustimmend zur Unters<strong>ch</strong>eidung dieser Begründungsformen<br />
H. Koriath, Diskurs und Strafre<strong>ch</strong>t (1999), S. 188, 199.<br />
631 Dazu oben S. 218 (D Dr ).<br />
632 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146.<br />
633 R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 113 ff.<br />
634 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152: »[Es] sinkt das Interesse [<strong>der</strong>] Diskurspartner<br />
am Diskurs ... auf Null o<strong>der</strong> fast auf Null.«<br />
252
angehörige o<strong>der</strong> Freunde wissen, daß es auf das Ergebnis eines Diskurses unter keinem<br />
Gesi<strong>ch</strong>tspunkt ankommt, weil eine Verbindli<strong>ch</strong>keit für das na<strong>ch</strong>folgende Handeln<br />
ni<strong>ch</strong>t besteht, werden sie ni<strong>ch</strong>t wie<strong>der</strong>holt bereit sein, an sol<strong>ch</strong>en Diskursen<br />
freiwillig teilzunehmen. Auf die Dauer kann also nur <strong>der</strong>jenige Diskurse führen, <strong>der</strong><br />
eine von zwei Voraussetzungen erfüllt: Entwe<strong>der</strong> muß er tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> bereit sein, das<br />
eigene Handeln na<strong>ch</strong> den Ergebnissen des Diskurses auszuri<strong>ch</strong>ten, in diesem Sinne<br />
also ernsthaft am Diskurs teilnehmen 635 ('genuine Diskursteilnahme' 636 ). O<strong>der</strong> er muß<br />
diese Bereits<strong>ch</strong>aft wenigstens erfolgrei<strong>ch</strong> vortäus<strong>ch</strong>en (geheu<strong>ch</strong>elte genuine Diskursteilnahme<br />
637 ). Damit ist na<strong>ch</strong> Alexy zumindest eine objektive Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
verbunden; wer an Diskursen teilnimmt setzt das Autonomieprinzip notwendig voraus.<br />
cc) Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit konkreter Freiheitsre<strong>ch</strong>te (R F )<br />
In Alexys Begründung folgt aus dem Autonomieprinzip zusammen mit <strong>der</strong> Notwendigkeit,<br />
die soziale Ordnung dur<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>t zu regeln, ein allgemeines Re<strong>ch</strong>t auf Autonomie,<br />
das das allgemeinste Mens<strong>ch</strong>en- und Grundre<strong>ch</strong>t darstellt und au<strong>ch</strong> als 'allgemeines<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>t' bezei<strong>ch</strong>net werden kann:<br />
R F :<br />
»Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t, frei zu beurteilen, was geboten und<br />
was gut ist, und entspre<strong>ch</strong>end zu handeln.« 638<br />
Dabei ist bereits aus dem Inhalt des Re<strong>ch</strong>ts deutli<strong>ch</strong>, daß seine Geltung keine absolute,<br />
regelhafte sein kann, son<strong>der</strong>n daß das Re<strong>ch</strong>t im Konflikt <strong>der</strong> Autonomieansprü<strong>ch</strong>e<br />
vers<strong>ch</strong>iedener Mens<strong>ch</strong>en und mit kollektiven Gütern (Naturs<strong>ch</strong>utz) Geltung als ein<br />
Prinzip hat, also so weit wie mögli<strong>ch</strong> realisiert werden muß (Optimierungsgebot 639 ).<br />
Trotz dieser immanenten Bes<strong>ch</strong>ränkung läßt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Alexy die in dieser Weise als<br />
umfassend verstandene Autonomie weiter ausdifferenzieren zu einem »Katalog<br />
konkreter o<strong>der</strong> spezieller Grund- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te« 640 . Dies soll dur<strong>ch</strong> zwei<br />
Operationen ges<strong>ch</strong>ehen. Erstens könne R F auf alle Re<strong>ch</strong>te ausgedehnt werden, die<br />
si<strong>ch</strong> als Spezialfall des allgemeinen Freiheitsre<strong>ch</strong>ts darstellen. Und zweitens seien<br />
au<strong>ch</strong> diejenigen Re<strong>ch</strong>te gewährleistet, <strong>der</strong>en Geltung eine notwendige Voraussetzung<br />
für die Realisierung von R F bilde. Dur<strong>ch</strong> beide Operationen zusammen ergebe<br />
si<strong>ch</strong> ein Katalog von Re<strong>ch</strong>ten, die den öffentli<strong>ch</strong>en Autonomiegebrau<strong>ch</strong> (z.B. Meinungs-,<br />
Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit, Wahlre<strong>ch</strong>t) ebenso enthalten wie die<br />
635 Zum Kriterium <strong>der</strong> ernsthaften Teilnahme R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, S. 149.<br />
636 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 151.<br />
637 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152: »Wer dur<strong>ch</strong> einen Diskurs Legitimation<br />
erzielen will, muß in diesem Diskurs wenigstens so tun, als ober <strong>der</strong> die Autonomie seiner<br />
Diskurspartner akzeptiert. Er muß ... eine genuine Diskursteilnahme wenigstens heu<strong>ch</strong>eln.«<br />
638 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, S. 153. Die Glei<strong>ch</strong>heitskomponente wird na<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
oben ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>ten Begründung bei Alexy dur<strong>ch</strong> das Konsensargument vervollständigt; vgl. ebd.,<br />
S. 155 ff.<br />
639 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 71 ff. Dazu oben S. 36, Fn. 49 (Prinzipien).<br />
640 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 154.<br />
253
private Autonomie (z.B. Vertragsfreiheit) und alle Re<strong>ch</strong>te, die zur Verwirkli<strong>ch</strong>ung<br />
von Freiheit notwendig sind (z.B. subjektive Re<strong>ch</strong>te auf S<strong>ch</strong>utz dur<strong>ch</strong> den Staat, soziale<br />
Grundre<strong>ch</strong>te, Re<strong>ch</strong>t auf ein Existenzminimum) 641 .<br />
c) Die Begründung <strong>der</strong> Demokratie<br />
Ähnli<strong>ch</strong> wie beim Autonomieargument stellt Alexy au<strong>ch</strong> beim Demokratieargument<br />
darauf ab, daß es notwendig ist, für die Anerkennung <strong>der</strong> Freiheit im Diskurs au<strong>ch</strong><br />
eine (Kommunikations- und Mitbestimmungs-)Freiheit im Handeln anzuerkennen.<br />
Das Diskursprinzip lasse si<strong>ch</strong> (annäherungsweise) nur dadur<strong>ch</strong> realisieren, daß demokratis<strong>ch</strong>e<br />
Prozeduren <strong>der</strong> Meinungs- und Willensbildung re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> institutionalisiert<br />
werden 642 . Es gelte <strong>der</strong> Satz: »Wer an Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Legitimität interessiert ist,<br />
muß au<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Demokratie interessiert sein« 643 . Die Idee des Diskurses könne nur<br />
in einem demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat realisiert werden, so daß die Diskurstheorie<br />
si<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>zeitig als 'Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates' erweise<br />
644 .<br />
d) Die Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit<br />
Für die Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit wählt Alexy den zweiten Weg <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Begründung, zeigt also, daß die Anerkennung von Glei<strong>ch</strong>heit<br />
im Handeln eine notwendige Folge des Diskurses ist. Bei diesem Begründungsweg<br />
muß man auf einen hypothetis<strong>ch</strong>en Konsens abstellen, den reale Personen unter<br />
idealen Bedingungen errei<strong>ch</strong>en würden (Konsensargument). In vielen Fällen sind<br />
Aussagen über einen sol<strong>ch</strong>en Konsens ni<strong>ch</strong>ts als Spekulation. Do<strong>ch</strong> in einigen elementaren<br />
Fällen läßt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Alexy mit hinrei<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>erheit unabhängig von<br />
<strong>der</strong> realen Dur<strong>ch</strong>führung einzelner Diskurse sagen, was diskursiv notwendige o<strong>der</strong><br />
unmögli<strong>ch</strong>e Ergebnisse sind 645 . Die Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te soll einer dieser<br />
elementaren Fälle sein. Denn jedenfalls in einem idealen Diskurs könne es keine<br />
Gründe geben, aus denen eine unglei<strong>ch</strong>e Verteilung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te zu re<strong>ch</strong>tfertigen<br />
wäre. Denn <strong>der</strong> ideale Diskurs ist als Inbegriff von Klarheit, Informiertheit und<br />
Unparteili<strong>ch</strong>keit gestaltet, so daß etwa eine rassistis<strong>ch</strong>e Argumentation für die Unglei<strong>ch</strong>heit<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te bereits an den elementaren Anfor<strong>der</strong>ungen empiris<strong>ch</strong>er<br />
Wahrheit und begriffli<strong>ch</strong>er Klarheit s<strong>ch</strong>eitert o<strong>der</strong>, bei religiösen o<strong>der</strong> sonst metaphysis<strong>ch</strong>en<br />
Behauptungen, jedenfalls an <strong>der</strong> fehlenden Überprüfbarkeit 646 . Um<br />
au<strong>ch</strong> eine elitäre Argumentation für die Unglei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te auszus<strong>ch</strong>ließen,<br />
führt Alexy unter an<strong>der</strong>em die empiris<strong>ch</strong>e Prämisse an, daß die Diskursteilnehmer<br />
als reale Personen eine historis<strong>ch</strong>e Kenntnis von <strong>der</strong> Gefahr des Ma<strong>ch</strong>tmißbrau<strong>ch</strong>s<br />
haben. Dadur<strong>ch</strong> lasse si<strong>ch</strong> mit hinrei<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>erheit sagen, daß sie,<br />
641 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 154 f.<br />
642 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 163.<br />
643 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 163.<br />
644 Dazu oben S. 247, Fn. 608.<br />
645 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 157.<br />
646 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 158 f.<br />
254
um ni<strong>ch</strong>t zu Opfern zu werden, auf die Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te in keinem Fall verzi<strong>ch</strong>ten<br />
würden 647 .<br />
e) Die Begründung von Re<strong>ch</strong>tsnormen (S)<br />
Die Theorie Alexys unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> von den übrigen Diskurstheorien vor allem dadur<strong>ch</strong>,<br />
daß sie eine enge Verbindung zwis<strong>ch</strong>en Diskurs und Re<strong>ch</strong>t begründet, die<br />
si<strong>ch</strong> im Theorem <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese zuspitzt:<br />
S: »Der juristis<strong>ch</strong>e Diskurs ist ein Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurses.« 648<br />
Damit ist die weitgehende Aussage verbunden, daß es in allen Arten juristis<strong>ch</strong>er<br />
Diskussion – sei sie wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> (theoretis<strong>ch</strong>, dogmatis<strong>ch</strong>), ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>, legislativ<br />
o<strong>der</strong> administrativ – »notwendig ist, die juristis<strong>ch</strong>e Rationalität diskurstheoretis<strong>ch</strong> zu<br />
deuten.« 649 Konkretisiert zur 'Integrationsthese' besagt S, daß »die Verwendung<br />
spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>er Argumente auf allen Stufen mit <strong>der</strong> allgemeiner praktis<strong>ch</strong>er<br />
Argumente zu verbinden ist.« 650 Dieser Teil <strong>der</strong> Theorie Alexys stellt si<strong>ch</strong> gegen die<br />
Auffassung, daß es einen beson<strong>der</strong>en Anwendungsdiskurs für Re<strong>ch</strong>tsnormen gibt,<br />
<strong>der</strong> vom Begründungsdiskurs losgelöst ist 651 . Mit dem allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurs haben juristis<strong>ch</strong>e Diskurse das Streben na<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
gemeinsam. Sie unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> von allgemeinen Diskursen vor allem deshalb,<br />
weil juristis<strong>ch</strong>e Argumentation immer an das geltende Re<strong>ch</strong>t gebunden bleibt 652 .<br />
Aus dieser Bindung resultieren unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> intensive Argumentationsbes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
je na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Art des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses: Ein Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aftler<br />
ist in einem re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>en (und erst re<strong>ch</strong>t in einem re<strong>ch</strong>tstheoretis<strong>ch</strong>en)<br />
Diskurs freier als <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>ter, <strong>der</strong> in aller Regel dur<strong>ch</strong> die Verfassung explizit an das<br />
positive Re<strong>ch</strong>t gebunden ist, institutionell seine Funktion wahren muß und zu<br />
alledem einem engen Korsett prozessualer Vors<strong>ch</strong>riften unterworfen ist, die<br />
insbeson<strong>der</strong>e eine Ents<strong>ch</strong>eidung in angemessener Zeit und mit vertretbarem<br />
Aufwand von ihm for<strong>der</strong>n. Die Re<strong>ch</strong>tsbindung führt außerdem zu einem<br />
beson<strong>der</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses: Ein Ergebnis ist ri<strong>ch</strong>tig »im<br />
Rahmen <strong>der</strong> geltenden Re<strong>ch</strong>tsordnung« 653 . Damit ist <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff<br />
aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>öpft, denn wenn eine geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidung ein ungere<strong>ch</strong>tes<br />
Gesetz korrekt anwendet, dann leidet sie na<strong>ch</strong> Alexy do<strong>ch</strong> an einem Fehler. Der<br />
Spielraum im juristis<strong>ch</strong>en Diskurs mag zwar ni<strong>ch</strong>t genügen, um <strong>der</strong> Anwendung des<br />
ungere<strong>ch</strong>ten Gesetzes auszuwei<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> es überlebt <strong>der</strong> Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en<br />
diskursiver Rationalität und Re<strong>ch</strong>t: »Die diskursive Rationalität kann zwar ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
647 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 160.<br />
648 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 32, 38, 261 ff. (32).<br />
649 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 426 ff. (428).<br />
650 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 32, 38, 261 ff. (38).<br />
651 Dazu oben S. 222 (Anwendungsdiskurs).<br />
652 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 262.<br />
653 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 432 f.<br />
255
den Inhalt <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung bestimmen, sie bildet aber den Grund für ihre<br />
Fehlerhaftigkeit und den Maßstab für ihre Kritik.« 654<br />
Trotz <strong>der</strong> gewollten (weil komplexitätsreduzierenden) Bes<strong>ch</strong>ränkungen des juristis<strong>ch</strong>en<br />
gegenüber dem allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs eröffnet die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Deutung juristis<strong>ch</strong>er Rationalität neue Mögli<strong>ch</strong>keiten, implizite <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalte<br />
im Re<strong>ch</strong>t aufzudecken. Wie bei <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, so geht es au<strong>ch</strong> im<br />
Re<strong>ch</strong>t um die Begründung von Normen – genauer: um die Re<strong>ch</strong>tfertigung normativer<br />
Aussagen in Form juristis<strong>ch</strong>er Urteile 655 . Alexy unters<strong>ch</strong>eidet zwis<strong>ch</strong>en interner<br />
und externer Re<strong>ch</strong>tfertigung. In <strong>der</strong> (analytis<strong>ch</strong>en) internen Re<strong>ch</strong>tfertigung geht es<br />
um die innere Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong>sfreiheit des Urteils. Hier gilt unter an<strong>der</strong>em das Universalisierbarkeitsprinzip<br />
im Sinne <strong>der</strong> Perelmanns<strong>ch</strong>en Bestimmung <strong>der</strong> formalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
das for<strong>der</strong>t: »gere<strong>ch</strong>t sein heißt eine Regel zu bea<strong>ch</strong>ten, wel<strong>ch</strong>e die Verpfli<strong>ch</strong>tung<br />
formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu<br />
behandeln.« 656 In <strong>der</strong> (empiris<strong>ch</strong>en und normativen) externen Re<strong>ch</strong>tfertigung werden<br />
die Prämissen des Urteils untersu<strong>ch</strong>t. Hierbei sind Regeln <strong>der</strong> Auslegung und Sätze<br />
<strong>der</strong> Dogmatik wegen ihrer 'Entlastungsfunktion' 657 unentbehrli<strong>ch</strong>: »Sie erhöhen ...<br />
das Maß <strong>der</strong> Wirksamkeit des Universalisierbarkeitsprinzips und dienen insofern<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.« 658<br />
f) Ergebnisse<br />
Konsequenz <strong>der</strong> unmittelbaren diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Begründung Alexys ist die diskursiv<br />
notwendige Geltung von Freiheit, Glei<strong>ch</strong>heit und Demokratie: Diese Gebote<br />
gelten als allgemeine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen so wie die ihnen zugrunde liegenden<br />
Diskursregeln zeitli<strong>ch</strong> und räumli<strong>ch</strong> universell, also in je<strong>der</strong> Epo<strong>ch</strong>e und in je<strong>der</strong> sozialen<br />
Ordnung, in China genauso wie in Amerika, in islamis<strong>ch</strong>en Staaten genau wie<br />
in religiös neutralen 659 . Da au<strong>ch</strong> die Transformation <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen in positives<br />
Re<strong>ch</strong>t geboten ist 660 , könnte eine Re<strong>ch</strong>tsordnung, die ni<strong>ch</strong>t Freiheit, Glei<strong>ch</strong>heit<br />
und Demokratie dur<strong>ch</strong> die Institutionalisierung eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />
si<strong>ch</strong>ert, konsequenterweise ni<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein.<br />
654 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 433.<br />
655 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 273.<br />
656 C. Perelman, Eine Studie über die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1945), S. 58. Zum Zusammenhang mit <strong>der</strong> internen<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 274, 279 mit Fn. 40,<br />
sowie S. 283: »Die Angabe universeller Regeln s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> erlei<strong>ch</strong>tert die Konsistenz des Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
und trägt damit zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit bei.«<br />
657 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 329.<br />
658 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 332.<br />
659 A.A. z.B. S.P. Sinha, Non-Universality of Law (1995), S. 193 ff. (China), 200 ff. (Indien), 205 ff.<br />
(Afrika).<br />
660 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 144 ff., wo dies für die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
begründet ist.<br />
256
5. Theorie des neutralen Dialogs (B. Ackerman)<br />
a) Die Gesprä<strong>ch</strong>sbes<strong>ch</strong>ränkungen im neutralen Dialog<br />
Die Theorie Ackermans ist weitgehend unabhängig von den deuts<strong>ch</strong>en Diskurstheorien<br />
entstanden 661 . Ackerman bezei<strong>ch</strong>net sein Verständigungsideal dur<strong>ch</strong>weg als<br />
'neutralen Dialog' und nur ausnahmsweise au<strong>ch</strong> als 'neutralen Diskurs' 662 . Jedenfalls<br />
handelt es si<strong>ch</strong> um eine Argumentationstheorie 663 , die dur<strong>ch</strong> das erklärte Ziel <strong>der</strong> Begründung<br />
legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft zu einer Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> wird.<br />
Ackerman formuliert drei Prinzipien <strong>der</strong> Legitimität von Herrs<strong>ch</strong>aft (principles of legitimacy),<br />
die in wörtli<strong>ch</strong>er Übersetzung lauten:<br />
(1) »Rationalität: Wann immer irgend jemand die Legitimität<br />
<strong>der</strong> Ma<strong>ch</strong>t eines an<strong>der</strong>en in Frage stellt, darf <strong>der</strong> Inhaber<br />
<strong>der</strong> Ma<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Unterdrückung des Fragestellers<br />
antworten, son<strong>der</strong>n dadur<strong>ch</strong>, daß er Gründe angibt, die<br />
erklären, warum er einen stärkeren Anspru<strong>ch</strong> auf die<br />
Ressource hat als <strong>der</strong> Fragesteller.« 664<br />
(2) »Konsistenz. Der Grund, den ein Inhaber von Ma<strong>ch</strong>t bei<br />
einer Gelegenheit vorbringt, darf ni<strong>ch</strong>t inkonsistent sein<br />
mit denjenigen Gründen, die er zur Begründung seiner<br />
übrigen Ma<strong>ch</strong>tansprü<strong>ch</strong>e geltend ma<strong>ch</strong>t.« 665<br />
(3) »Neutralität. Kein Grund ist ein guter Grund, wenn er<br />
erfor<strong>der</strong>t, daß <strong>der</strong> Inhaber von Ma<strong>ch</strong>t geltend ma<strong>ch</strong>t:<br />
(a) daß seine Konzeption des Guten besser ist als diejenige,<br />
die von irgendeinem seiner Mitbürger geltend gema<strong>ch</strong>t<br />
wird o<strong>der</strong><br />
661 Vgl. allein B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 10 mit Fn. 7, wo Ackerman auf<br />
die »ermutigende Betonung <strong>der</strong> Legitimation dur<strong>ch</strong> Konversation« (conversational legitimation) bei<br />
Habermas verweist, den er im übrigen aber inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt.<br />
662 Zu dem 'Dialog' insbeson<strong>der</strong>e B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 349 ff.; 'Diskurs'<br />
etwa auf S. 14: »Neutral discourse ... substantive discourse ...«. Ackerman verwendet an sol<strong>ch</strong>en<br />
Stellen den Diskursbegriff in einem unte<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinn.<br />
663 Vgl. zur deutli<strong>ch</strong>en Abgrenzung von Utilitarismus und Sozialvertragstheorien B. Ackerman, Social<br />
Justice in the Liberal State (1980), S. 313 ff., 327 ff. Ackermans Konzept einer Neutralität könnte allenfalls<br />
no<strong>ch</strong> als Beoba<strong>ch</strong>tertheorie klassifiziert werden, dafür fehlt es aber an <strong>der</strong> typis<strong>ch</strong>en monologis<strong>ch</strong>en<br />
Komponente; ebd., S. 355 ff. ('Beyond Monologue'). Als 'Dialogtheorie' bildet <strong>der</strong><br />
Ansatz folgli<strong>ch</strong> eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Argumentationstheorie.<br />
664 B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 4: »Rationality: Whenever anybody questions<br />
the legitimacy of another's power, the power hol<strong>der</strong> must respond not by suppressing the<br />
questioner but by giving a reson that explains why he is more entitled to the resource than the<br />
questioner is.« (Hervorhebung bei Ackerman).<br />
665 B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 7: »Consistency. The reason advanced by a<br />
power wiel<strong>der</strong> on one occasion must not be inconsistent with the reasons he advances to justify<br />
his other claims to power.« (Hervorhebung bei Ackerman).<br />
257
(b) daß, unabhängig von seiner Konzeption des Guten,<br />
er selbst intrinsis<strong>ch</strong> überlegen gegenüber einem o<strong>der</strong><br />
mehreren seiner Mitbürger ist.« 666<br />
Ackerman bezei<strong>ch</strong>net die Funktion dieser Prinzipien in seiner Argumentationstheorie<br />
als diejenige <strong>der</strong> Gesprä<strong>ch</strong>sbes<strong>ch</strong>ränkung (conversational constraints). Das s<strong>ch</strong>eint im<br />
Gegensatz zur Diskurstheorie zu stehen, <strong>der</strong>en Verständigungsideal ja gerade keine<br />
Gesprä<strong>ch</strong>sbes<strong>ch</strong>ränkungen kennt 667 . Do<strong>ch</strong> stellen si<strong>ch</strong> die Prinzipien bei genauerer<br />
Betra<strong>ch</strong>tung ni<strong>ch</strong>t als Inhaltsbes<strong>ch</strong>ränkung des Diskurses, son<strong>der</strong>n ledigli<strong>ch</strong> als dessen<br />
Verfahrensregeln dar – sie sind 'neutrale Bes<strong>ch</strong>ränkungen' 668 . Wie die Diskursregeln<br />
gebieten sie Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit, Konsistenz, Argumentationslastregeln 669<br />
und diejenigen Regeln, die dur<strong>ch</strong> ein Rollentaus<strong>ch</strong>prinzip 670 gesi<strong>ch</strong>ert werden können.<br />
Die Theorie Ackermans ist damit eine Diskurstheorie.<br />
Analog zum Diskursprinzip D 671 formuliert Ackerman, daß genau diejenige Herrs<strong>ch</strong>aft<br />
legitim ist, die den »Test des neutralen Dialogs« besteht 672 . Diese Begründung<br />
sieht er nur für einen politis<strong>ch</strong>en Liberalismus als erfüllt an, in dem Bedingungen einer<br />
'undominierten Glei<strong>ch</strong>heit' (undominated equality) bestehen 673 , dur<strong>ch</strong> die Mens<strong>ch</strong>en<br />
frei und Ma<strong>ch</strong>tstrukturen gere<strong>ch</strong>t werden 674 .<br />
b) Die Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie<br />
Am Beispiel <strong>der</strong> U.S.-Verfassung entwickelt Ackerman in seinem neueren Werk die<br />
Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie als eines Anwendungsfalls <strong>der</strong> 'guten Konversation'<br />
675 . Dabei wendet er si<strong>ch</strong> einerseits gegen amerikanis<strong>ch</strong>e Vertreter einer 'monistis<strong>ch</strong>en'<br />
Demokratie, die Volksherrs<strong>ch</strong>aft allein in periodis<strong>ch</strong>en Wahlen vermittelt se-<br />
666 B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 11: »Neutrality. No reason is a good reason<br />
if it requires the power hol<strong>der</strong> to assert: (a) that his conception of the good is better than that asserted<br />
by any of his fellow citizens, or (b) that, regardless of his conception of the good, he is intrinsically<br />
superior to one or more of his fellow citizens.« (Hervorhebung bei Ackerman).<br />
667 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 159; vgl. zur Kritik <strong>der</strong> conversational restraints:<br />
J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 375 f.<br />
668 'Neutral constraints'; B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 15. Entspre<strong>ch</strong>endes<br />
gilt für die (psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en) Gesprä<strong>ch</strong>svoraussetzungen (conversational presuppositions), von denen<br />
Ackerman an an<strong>der</strong>er Stelle spri<strong>ch</strong>t; ebd., S. 59 ff.<br />
669 Dazu genauer B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 372 f.<br />
670 Dazu oben S. 223 (Regeln <strong>der</strong> Konsistenz und Kohärenz).<br />
671 Dazu oben S. 230 (Konsens und Diskursprinzip).<br />
672 B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 14.<br />
673 Zu den Anfor<strong>der</strong>ungen im einzelnen B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 28.<br />
Unter an<strong>der</strong>em muß eine 'genetis<strong>ch</strong>e Dominanz' einzelner Bürger ausges<strong>ch</strong>lossen werden, je<strong>der</strong><br />
eine liberale Erziehung erhalten und das Erwa<strong>ch</strong>senendasein hat generell unter Bedingungen materieller<br />
Glei<strong>ch</strong>heit zu beginnen.<br />
674 B. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (1980), S. 376; bestätigend <strong>der</strong>s., We The People<br />
(1991), S. 317 f.<br />
675 B. Ackerman, We The People (1991), S. 3 ff., 295 ff. (23): »In elaborating the constitutional will of the<br />
People, the dualist begins neither with the will of the present legislature nor the reason of some<br />
utopian assembly. Her aim is the kind of situated un<strong>der</strong>standing one might rea<strong>ch</strong> after a good<br />
conversation.«<br />
258
hen und konsequenterweise alle institutionellen Bes<strong>ch</strong>ränkungen, die dem Wahlgewinner<br />
auferlegt werden, als antidemokratis<strong>ch</strong> einordnen müssen (monistic democrats)<br />
676 . An<strong>der</strong>erseits grenzt er si<strong>ch</strong> gegenüber den 'Re<strong>ch</strong>te-Fundamentalisten' (rights<br />
foundationalists) ab, die das Primat vorpositiver (Freiheits-)Re<strong>ch</strong>te gegenüber <strong>der</strong><br />
Demokratie vertreten 677 . Na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie kann je<strong>der</strong> beliebige<br />
Inhalt zum Gegenstand <strong>der</strong> Verfassungsnormsetzung (higher lawmaking track)<br />
gema<strong>ch</strong>t werden 678 . Individuelle Re<strong>ch</strong>te sind dann (aber au<strong>ch</strong> nur dann) Trümpfe<br />
gegenüber einfa<strong>ch</strong>er Gesetzgebung und Regierungspolitik (normal demokratic politics),<br />
wenn sie auf diesem Wege Verfassungsrang erhalten 679 . Damit soll die Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en<br />
Demokratie einen Mittelweg zwis<strong>ch</strong>en dem absoluten, vorpositiv begründeten<br />
Vorrang <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te einerseits (Re<strong>ch</strong>te-Fundamentalismus) und ihrer völligen<br />
Relativierung dur<strong>ch</strong> das Primat <strong>der</strong> Demokratie an<strong>der</strong>erseits (monistis<strong>ch</strong>e Demokratie)<br />
eins<strong>ch</strong>lagen 680 . Die Unters<strong>ch</strong>eidung von einfa<strong>ch</strong>er und verfassungsän<strong>der</strong>n<strong>der</strong><br />
Normsetzung ist das 'Mediationsinstrument' zwis<strong>ch</strong>en den <strong>Theorien</strong> 681 .<br />
Konkreten Nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lag findet die Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie in <strong>der</strong><br />
(Re-)Aktivierung <strong>der</strong> verfassunggebenden und <strong>der</strong> verfassungsän<strong>der</strong>nden Gewalten<br />
682 . Neben <strong>der</strong> 'klassis<strong>ch</strong>en' Verfassungsän<strong>der</strong>ung im rigiden System des Artikels<br />
V <strong>der</strong> U.S.-amerikanis<strong>ch</strong>en Verfassung will Ackerman eine 'mo<strong>der</strong>ne' Verfassungsän<strong>der</strong>ung<br />
dur<strong>ch</strong> 'mobilisierte Deliberation' des Verfassungsgeri<strong>ch</strong>ts ausma<strong>ch</strong>en 683 . Eine<br />
Parlamentsmehrheit, die mit ihren Gesetzen am Verfassungsre<strong>ch</strong>t gelten<strong>der</strong> Doktrin<br />
s<strong>ch</strong>eitert, könne mit Beharrungsvermögen und deutli<strong>ch</strong>er Bestätigung in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>wahl<br />
errei<strong>ch</strong>en, daß das Verfassungsgeri<strong>ch</strong>t einen Interpretationswandel vornimmt,<br />
<strong>der</strong> einer formalen Verfassungsän<strong>der</strong>ung glei<strong>ch</strong>kommt 684 . Die nur bes<strong>ch</strong>ränkte<br />
Übertragbarkeit <strong>der</strong> Idee einer dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie auf an<strong>der</strong>e Verfassungsordnungen<br />
gesteht Ackerman zu 685 . Immerhin skizziert er mit diesem Ent-<br />
676 B. Ackerman, We The People (1991), S. 7 f.: Oliver Wendell Holmes, Alexan<strong>der</strong> Bickel, John Ely u.a.<br />
677 B. Ackerman, We The People (1991), S. 10 ff., 33: John Rawls, Robert Nozick u.a., vor allem au<strong>ch</strong> in<br />
Kontinentaleuropa.<br />
678 Vgl. B. Ackerman, We The People (1991), S. 12 ff. (14 f.). Am Beispiel <strong>der</strong> hypothetis<strong>ch</strong>en Verfassungsnorm:<br />
»Christianity is established as the state religion of the American people, and the public<br />
worship of other gods is hereby forbidden.« und Ackermans Beurteilung: »While I hope that I<br />
would stick to my conviction that this Christianity amendment was terribly wrong, I would<br />
uphold it as a fundamental part of the American Constitution«.<br />
679 Zur Idee von 'Re<strong>ch</strong>ten als Trümpfen' vgl. R. Dworkin, Rights as Trumps (1981), S. 153: »Rights are<br />
best un<strong>der</strong>stood as trumps over some background justification for political decisions that states a<br />
goal for the community as a whole.«<br />
680 Vgl. B. Ackerman, We The People (1991), S. 12 f., 32; vgl. S. 171 (third way); 193 (Bezugnahme auf<br />
Hamilton).<br />
681 B. Ackerman, We The People (1991), S. 12: »The basic mediating device is the dualist's two-track<br />
system of democratic lawmaking.«<br />
682 Vgl. unten S. 340 ff. (Verfassungsnormsetzung als realer Diskurs).<br />
683 B. Ackerman, We The People (1991), S. 266 ff. (268) – mobilized deliberation.<br />
684 B. Ackerman, We The People (1991), S. 268: »[T]he Court executes a 'swit<strong>ch</strong> in time' without awaiting<br />
a formal constitutional amendment.«<br />
685 Vgl. B. Ackerman, We The People (1991), S. 320 f. – Deuts<strong>ch</strong>land als Beispiel für eine Verfassungsordnung,<br />
in <strong>der</strong> die Grundre<strong>ch</strong>tsordnung zum unverän<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>en Bestandteil erklärt wird (entren<strong>ch</strong>ment).<br />
259
wurf, in wel<strong>ch</strong>er Weise eine mehrstufige diskursive Kontrolle im demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaat Wirkli<strong>ch</strong>keit werden kann 686 .<br />
c) Ergebnisse<br />
Ackermans Katalog <strong>der</strong> Legitimationsprinzipien bietet gegenüber den europäis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurstheorien inhaltli<strong>ch</strong> keinen Gewinn und hat zudem den Na<strong>ch</strong>teil, ein Katalog<br />
eklektis<strong>ch</strong>er Klugheitsregeln zu sein, weil die Stringenz einer transzendentalen Begründung<br />
fehlt. Die Idee <strong>der</strong> dualistis<strong>ch</strong>en Demokratie ist auf die Verfassung <strong>der</strong><br />
U.S.A. abgestimmt und kann nur insofern theoretis<strong>ch</strong> fru<strong>ch</strong>tbar gema<strong>ch</strong>t werden, als<br />
sie ein Anwendungsbeispiel für die mehrstufig diskursive Kontrolle dur<strong>ch</strong> Normenebenen<br />
im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat bildet.<br />
Insgesamt kann zusammenfassend festgehalten werden: Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition fragen na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns für alle Betroffenen.<br />
Sie kommen in den Darstellungsformen <strong>der</strong> Sozialvertrags-, Beoba<strong>ch</strong>ter- und Diskurstheorien<br />
vor. Trotz vielfa<strong>ch</strong>er Ähnli<strong>ch</strong>keiten im Ergebnis unters<strong>ch</strong>eiden sie si<strong>ch</strong><br />
grundlegend in <strong>der</strong> Methodik <strong>der</strong> Begründung.<br />
686 Dazu unten S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
260
Vierter Teil:<br />
Analyse und Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
A. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
I. Zur Analyse <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis ('Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma',<br />
H. Albert)<br />
Die Grundthese <strong>der</strong> 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> besagt, daß si<strong>ch</strong> Normen <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – wie überhaupt alle Aussagen über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns – einer<br />
positiven Begründung entziehen. Diese Skepsis, die inhaltli<strong>ch</strong> mit ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Argumenten gegen Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft begründet<br />
wird, ist analytis<strong>ch</strong>-epistemologis<strong>ch</strong> vom kritis<strong>ch</strong>en Rationalismus im sogenannten<br />
Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma aufgearbeitet worden 1 . Das von Albert wirkmä<strong>ch</strong>tig formulierte<br />
Trilemma bildet eine geeignete Grundlage für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis:<br />
»Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man au<strong>ch</strong><br />
für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung ... zurückgeführt<br />
hat, wie<strong>der</strong> eine Begründung verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei<br />
Alternativen, die alle drei unakzeptabel ers<strong>ch</strong>einen, also: zu einem Trilemma, das i<strong>ch</strong><br />
... das Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma nennen mö<strong>ch</strong>te. Man hat hier offenbar nämli<strong>ch</strong> nur die<br />
Wahl zwis<strong>ch</strong>en: 1. einem infiniten Regreß, ... 2. einem logis<strong>ch</strong>en Zirkel ... und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>:<br />
3. einem Abbru<strong>ch</strong> des Verfahrens ... dur<strong>ch</strong> Rekurs auf ein Dogma.« 2<br />
Das Trilemma erstreckt si<strong>ch</strong> auf die Normbegründung im allgemeinen. Eine<br />
Norm 3 kann nur dadur<strong>ch</strong> begründet werden, daß mindestens ein weiterer normativer<br />
Satz benutzt wird (z.B.: 'Es ist verboten, A zum Tode zu verurteilen, weil die Todesstrafe<br />
verboten ist.'), denn wenn man eine auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>tnormative Begründung<br />
versu<strong>ch</strong>t, so entsteht entwe<strong>der</strong> eine analytis<strong>ch</strong>e Aussage, die allein die Norm inhaltli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t begründen kann ('Verbote sollen bea<strong>ch</strong>tet werden.') 4 , o<strong>der</strong> es liegt eine empiris<strong>ch</strong>e<br />
Aussage zugrunde, die zusammen mit <strong>der</strong> normativen Konklusion einen realistis<strong>ch</strong>en<br />
Fehls<strong>ch</strong>luß bildet ('Die Todesstrafe ist verboten, weil niemand gern<br />
stirbt.') 5 . Da also für jeden normativen Satz wie<strong>der</strong>um mindestens ein normativer<br />
1 Vgl. dazu H. Albert, Die Wissens<strong>ch</strong>aft und die Fehlbarkeit <strong>der</strong> Vernunft (1982), S. 58 ff.; <strong>der</strong>s., Traktat<br />
über kritis<strong>ch</strong>e Vernunft (1991), S. 13 ff.; in <strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>e ebenso K.R. Popper, Logik <strong>der</strong> Fors<strong>ch</strong>ung<br />
(1989), S. 60 – Trilemma (Dogmatismus, unendli<strong>ch</strong>er Regreß, psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Basis).<br />
2 H. Albert, Traktat über kritis<strong>ch</strong>e Vernunft (1991), S. 1 (Hervorhebungen bei Albert).<br />
3 Vgl. oben S. 71 (D N – die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en Operators mit einer Handlungsweise; Gebot,<br />
Verbot, Erlaubnis).<br />
4 Vgl. dazu H. Albert, Traktat über kritis<strong>ch</strong>e Vernunft (1991), S. 13 f.: »Dur<strong>ch</strong> logis<strong>ch</strong>e Folgerung<br />
kann niemals Gehalt gewonnen werden. ... [Sie] dient ... ni<strong>ch</strong>t dazu, neue Informationen zu erzeugen.<br />
Das bedeutet unter an<strong>der</strong>em, daß aus analytis<strong>ch</strong>en Aussagen keine gehaltvollen Aussagen<br />
deduzierbar sind.«<br />
5 Der 'realistis<strong>ch</strong>e' o<strong>der</strong> 'naturalistis<strong>ch</strong>e Fehls<strong>ch</strong>luß' (naturalistic fallacy) besagt, daß eine evaluative<br />
o<strong>der</strong> normative Aussage (Werturteil, Norm) ni<strong>ch</strong>t logis<strong>ch</strong> fehlerfrei allein auf deskriptive Aussagen<br />
(Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen) gestützt werden kann. Der Grundsatz wird au<strong>ch</strong> Sein-Sollens-<br />
Fehls<strong>ch</strong>luß genannt, da er die strikte Trennung von Sein (is) und Sollen (ought) verlangt; vgl.<br />
261
Satz zur Begründung erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist ('Die Todesstrafe ist verboten, weil kein Mens<strong>ch</strong><br />
über das Lebensre<strong>ch</strong>t eines an<strong>der</strong>en urteilen darf.' u.s.w.) entsteht das Mün<strong>ch</strong>hausen-<br />
Trilemma bei <strong>der</strong> Begründung je<strong>der</strong> Norm, insbeson<strong>der</strong>e au<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
6 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptiker ma<strong>ch</strong>en deshalb geltend, daß es niemals<br />
mögli<strong>ch</strong> ist, eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm zu begründen, indem man ihre praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
zeigt 7 . Für sol<strong>ch</strong>e 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit', wie für jede Erkenntnis, gelte: »Alle Si<strong>ch</strong>erheiten<br />
in <strong>der</strong> Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung <strong>der</strong> Wirkli<strong>ch</strong>keit<br />
wertlos.« 8<br />
Was ist nun gegen dieses Grundargument des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus einzuwenden?<br />
Ein naheliegen<strong>der</strong> Ausweg aus dem Trilemma besteht darin, auf eine<br />
prozedurale statt auf eine materiale Begründung zu setzen, also die Regeln einer rationalen<br />
Begründung von Normen zu formulieren statt konkrete Gründe für einzelne<br />
Normen anzugeben 9 . Bei <strong>der</strong> Begründung sol<strong>ch</strong>er Regeln stellt si<strong>ch</strong> das Trilemma<br />
indes auf einer übergeordneten Ebene erneut, denn au<strong>ch</strong> Regeln für rationale Argumentation<br />
sind Normen 10 . Es sind vers<strong>ch</strong>iedene Argumentationswege vorges<strong>ch</strong>lagen<br />
worden, die aus diesem Trilemma auf <strong>der</strong> Metaebene herausführen sollen 11 .<br />
Hier soll ein an<strong>der</strong>er Einwand gegen das Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma erhoben werden,<br />
<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t die epistemologis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit, son<strong>der</strong>n die argumentative Rei<strong>ch</strong>weite<br />
des Trilemmas in Frage stellt. Das Trilemma gilt, so <strong>der</strong> Einwand, nur für<br />
Letztbegründung. Diese wird aber ni<strong>ch</strong>t von allen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien bean-<br />
G.E. Moore, Principia Ethica (1903), S. 10 ff. – naturalistic fallacy; J.R. Searle, Spee<strong>ch</strong> Acts (1969),<br />
S. 132 ff., 175 ff. – zur Relativierung des Grundsatzes (naturalistic fallacy fallacy). Polemis<strong>ch</strong> wird<br />
gelegentli<strong>ch</strong> von 'Verblendung' o<strong>der</strong> 'transzendentaler Illusion' gespro<strong>ch</strong>en; J.-F. Lyotard, Der Wi<strong>der</strong>streit<br />
(1983), S. 185. Die Di<strong>ch</strong>otomie von Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen und Werturteilen findet ihren<br />
philosophis<strong>ch</strong>en Nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lag in <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung von theoretis<strong>ch</strong>er und praktis<strong>ch</strong>er Philosophie;<br />
vgl. oben S. 27 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft). Sie hat re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>e Bedeutung<br />
etwa für die Konkretisierung <strong>der</strong> Meinungsäußerungsfreiheit und bei bestimmten Äußerungs-<br />
und Täus<strong>ch</strong>ungsdelikten; vgl. aus <strong>der</strong> neueren Literatur B. Timm, Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen<br />
und Meinungsäußerungen (1996), S. 29 ff.; E. Hilgendorf, Tatsa<strong>ch</strong>enaussagen und Werturteile<br />
(1998), S. 13 ff., 43 ff.<br />
6 Dazu oben S. 72 (D NG – die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en Operators mit einer sozialbezogenen<br />
Handlungsweise; Gebot, Verbot, Erlaubnis).<br />
7 Vgl. etwa die auf Albert gestützte Kritik an Diskurstheorien bei H. Keuth, Erkenntnis o<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
(1993), S. 203 ff., 260 ff., 351: »[D]as diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Verfahren taugt ni<strong>ch</strong>t dazu,<br />
Normen und Gebote auf eine Weise zu begründen, die sie als in einem wahrheitsanalogen Sinne<br />
ri<strong>ch</strong>tig auswiese.«<br />
8 H. Albert, Traktat über kritis<strong>ch</strong>e Vernunft (1991), S. 36 (bei Albert hervorgehoben).<br />
9 Vgl. dazu R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 223 ff.<br />
10 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 225.<br />
11 Alexy s<strong>ch</strong>lägt (ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>ließend) vier Begründungsweisen vor (te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>, empiris<strong>ch</strong>, definitoris<strong>ch</strong>,<br />
universalpragmatis<strong>ch</strong>), die in einem 'diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Diskurs' über die Begründung<br />
<strong>der</strong> Diskursregeln kombiniert werden könnten; R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1978), S. 225 ff. (233). Jansen weist die unerfüllbaren epistemologis<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen des kritis<strong>ch</strong>en<br />
Rationalismus mit einem 'Inakzeptabilitätsargument' zurück; N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1998), S. 193 f. Strangas versu<strong>ch</strong>t die logis<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legung des Trilemmas; J. Strangas,<br />
Bemerkungen zum Problem <strong>der</strong> Letztbegründung (1984), S. 476 ff.<br />
262
spru<strong>ch</strong>t und muß au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beanspru<strong>ch</strong>t werden 12 . Letztbegründung in Form eines<br />
transzendentalen Arguments <strong>der</strong> Diskursethik findet si<strong>ch</strong> beispielsweise bei Apel<br />
und Kuhlmann 13 . Das Argument besagt, daß ohne die Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln (also<br />
Normen!) keine Kommunikation stattfinden könnte, Kommunikation aber notwendig<br />
stattfindet, die Diskursregeln also notwendig gelten müssen 14 . Au<strong>ch</strong> in hobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Theorien</strong> wird vereinzelt eine Letztbegründung versu<strong>ch</strong>t. Ein Beispiel<br />
dafür ist <strong>der</strong> bekennende 'Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsfundamentalismus' in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
Höffes 15 . Im übrigen aber bes<strong>ch</strong>ränken si<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien auf einen<br />
Geltungsanspru<strong>ch</strong> im Rahmen ihrer empiris<strong>ch</strong>en und normativen Prämissen. Die<br />
Überzeugungskraft dieser Prämissen ist auss<strong>ch</strong>laggebend für die Theorie insgesamt.<br />
Gerade deshalb versu<strong>ch</strong>en prozedurale <strong>Theorien</strong>, si<strong>ch</strong> auf mögli<strong>ch</strong>st starke prozedurale<br />
Elemente und mögli<strong>ch</strong>st s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e materiale Prämissen zu stützen 16 .<br />
Die Letztbegründung von Normen erweist si<strong>ch</strong> jedenfalls für die Aufgabenstellung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien als entbehrli<strong>ch</strong> 17 . Wenn beispielsweise eine Theorie<br />
von <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en materialen Prämisse ausgeht, daß Mens<strong>ch</strong>en kommunizieren und<br />
dabei die Geltung von Diskursregeln voraussetzen, dann muß ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine<br />
Letztbegründung geführt werden, daß die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Kommunikation notwendig<br />
in alle Ewigkeit zu den mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Aktivitäten gehört 18 . Der Sa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> ist das ein<br />
Abbru<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Begründung im Sinne Alberts – aber kein unakzeptabler. Zwar kann bei<br />
einem 'Abbru<strong>ch</strong>' <strong>der</strong> Begründung nur no<strong>ch</strong> in einem einges<strong>ch</strong>ränkten Sinn von Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
gespro<strong>ch</strong>en werden 19 . Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie wäre s<strong>ch</strong>on dann falsifiziert,<br />
12 Ausdrückli<strong>ch</strong> J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 194 f.: »Der im s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en<br />
Sinne transzendentale Na<strong>ch</strong>weis ... genügt freili<strong>ch</strong>, um den universalistis<strong>ch</strong>en, nämli<strong>ch</strong> für alle<br />
spra<strong>ch</strong>- und handlungsfähigen Subjekte verbindli<strong>ch</strong>en Geltungsanspru<strong>ch</strong> eines prozedural gefaßten<br />
Moralprinzips zu begründen. ... Eine Letztbegründung <strong>der</strong> Ethik ist we<strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> nötig.«<br />
Vgl. P. Gril, Alexys Version einer transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
im Unters<strong>ch</strong>ied zu Habermas (1997), S. 215 f.; <strong>der</strong>s., Mögli<strong>ch</strong>keit praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis<br />
(1998), S. 149 f. – Gril meint indes, die Theorie Alexys könne an<strong>der</strong>s als diejenige von Habermas das<br />
Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma ni<strong>ch</strong>t vermeiden. Das ist s<strong>ch</strong>on deshalb wenig plausibel, weil Alexy ausdrückli<strong>ch</strong><br />
eine im Verglei<strong>ch</strong> zu Habermas »s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ere Variante« <strong>der</strong> Begründung von Diskursregeln<br />
vertritt; R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 231. Vgl. zum relativen<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> gegenüber einem absoluten Wahrheitsanspru<strong>ch</strong> ebd., S. 223 f.<br />
13 Zur Letztbegründung bei Apel bereits oben S. 233.<br />
14 Zur Analyse <strong>der</strong> logis<strong>ch</strong>en Struktur dieses tranzendentalen Arguments N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1998), S. 191 f. Dazu oben S. 225 (transzendentales Argument), S. 229 (Letztbegründung<br />
als Variante <strong>der</strong> Diskurstheorie), S. 233 (Letztbegründung bei Apel).<br />
15 Dazu oben S. 193 ff. (Theorie des transzendentalen Taus<strong>ch</strong>es).<br />
16 Dazu oben S. 139 ff. (Grenzziehung zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Theorien</strong>).<br />
17 Ablehnend zur Letztbegründung als Aufgabe <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsphilosophie au<strong>ch</strong> J. Habermas, Erläuterungen<br />
zur Diskursethik (1991), S. 195.<br />
18 Als Beispiel für eine sol<strong>ch</strong>e, ni<strong>ch</strong>t die Letztbegründung implizierende Begründung siehe die<br />
Theorie Alexys oben S. 247 ff. An<strong>der</strong>e Eins<strong>ch</strong>ätzung (Alexy meine Letztbegründung, s<strong>ch</strong>eitere aber<br />
an diesem Anspru<strong>ch</strong>) bei E. Hilgendorf, Zur transzendentalpragmatis<strong>ch</strong>en Begründung von Diskursregeln<br />
(1995), S. 199 f.; ansatzweise bereits <strong>der</strong>s., Argumentation in <strong>der</strong> Jurisprudenz (1991),<br />
S. 187.<br />
19 Zu dieser Folge einer 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' in einem einges<strong>ch</strong>ränkten Sinne R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en<br />
Argumentation (1978), S. 223.<br />
263
wenn ihre Prämissen wi<strong>der</strong>legt werden könnten 20 . Ein relativer Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong><br />
kann indes genügen, solange si<strong>ch</strong>ergestellt ist, daß die Prämissen s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong><br />
genug gewählt sind, um eine Begründung jetzt und in absehbarer Zukunft zu tragen.<br />
S<strong>ch</strong>on eine 'Jetztbegründung' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für die allgemeinste Lebensform<br />
(und Spra<strong>ch</strong>konvention 21 ) <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en, wie sie in <strong>der</strong> Gegenwart gepflegt wird,<br />
kann eine befriedigende Antwort auf die Frage na<strong>ch</strong> dem ri<strong>ch</strong>tigen Handeln und<br />
dem ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>t geben. Wer außerdem no<strong>ch</strong> Letztbegründung bieten will, versu<strong>ch</strong>t<br />
mehr zu leisten, als von einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie erwartet werden muß 22 .<br />
Im Ergebnis geht <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>tigkeitsskeptis<strong>ch</strong>e Einwand des Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemmas<br />
also ins Leere. Er kann zwar einer Letztbegründung entgegengehalten werden.<br />
Do<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind auf sol<strong>ch</strong>e Letztbegründung ni<strong>ch</strong>t angewiesen.<br />
Ein Abbru<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Begründung ist keinesfalls immer unakzeptabel 23 . Bereits mit<br />
<strong>der</strong> Rückführung auf s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Prämissen ist ein erhebli<strong>ch</strong>er Gewinn an Rationalität<br />
verbunden – jedenfalls vergli<strong>ch</strong>en mit einem völligen Begründungsverzi<strong>ch</strong>t (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus).<br />
S<strong>ch</strong>on wenn gezeigt wird, daß eine normative Aussage mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger gut begründet sein kann 24 , ist <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus <strong>der</strong><br />
nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition wi<strong>der</strong>legt.<br />
20 Vgl. K.R. Popper, Logik <strong>der</strong> Fors<strong>ch</strong>ung (1989), S. 26 – Falsifizierbarkeit als Kriterium <strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit.<br />
Man kann es geradezu als Merkmal wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Lauterkeit begreifen, wenn<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien die Prämissen, unter denen ihre Ergebnisse gelten, deutli<strong>ch</strong> ausweisen.<br />
Ni<strong>ch</strong>t zuzustimmen ist allerdings Poppers Setzung, daß es Falsifizierbarkeit nur bei empiris<strong>ch</strong>en<br />
Satzsystemen und Falsifikation nur bezügli<strong>ch</strong> (empiris<strong>ch</strong>er) Basissätze geben könne; K.R. Popper,<br />
Logik <strong>der</strong> Fors<strong>ch</strong>ung (1989), S. 54 f. Im Gegensatz dazu wird hier als Falsifikation jede Wi<strong>der</strong>legung<br />
eines notwendigen Begründungselementes einer Theorie angesehen, glei<strong>ch</strong> ob das Element ein<br />
empiris<strong>ch</strong>er, analytis<strong>ch</strong>er o<strong>der</strong> normativer Satz ist und glei<strong>ch</strong> ob die Wi<strong>der</strong>legung dur<strong>ch</strong> Tatsa<strong>ch</strong>enermittlung<br />
o<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>e Entkräftung, etwa in einem realen praktis<strong>ch</strong>en Diskurs, erfolgt.<br />
Erkennbarkeit und Ausweis sol<strong>ch</strong>er notwendigen Begründungselemente, gewissermaßen <strong>der</strong><br />
'Sollbru<strong>ch</strong>stellen' einer Theorie, dienen folgli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie.<br />
Zur falsifikatoris<strong>ch</strong>en Methode in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie U. Steinvorth, Glei<strong>ch</strong>e Freiheit<br />
(1999), S. 38 ff.<br />
21 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 74 – Lebensform und Spra<strong>ch</strong>spiel.<br />
22 Der vieldiskutierten Mögli<strong>ch</strong>keit einer sol<strong>ch</strong>en Letztbegründung kann und muß hier ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>gegangen<br />
werden; vgl. zum Diskussionsstand K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988),<br />
S. 271 ff.; W. Kuhlmann, Bemerkungen zum Problem <strong>der</strong> Letztbegründung (1993), S. 212 ff.; beide<br />
m.w.N.<br />
23 Vgl. die Parallele zu Kelsens Idee einer Grundnorm; H. Kelsen, Das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1960), S. 364: »Das Verfahren <strong>der</strong> normativen Geltungsbegründung führt aber notwendigerweise<br />
zu einem Endpunkt, zu einer allerhö<strong>ch</strong>sten, allgemeinsten, ni<strong>ch</strong>t weiter begründbaren Norm, zu<br />
<strong>der</strong> sogenannten Grundnorm, <strong>der</strong>en objektive Geltung vorausgesetzt wird, wenn das Sollen, das<br />
<strong>der</strong> subjektive Sinn irgendwel<strong>ch</strong>er Akte ist, als <strong>der</strong>en objektiver Sinn legitimiert wird. Wäre dem<br />
an<strong>der</strong>s, wäre das Verfahren <strong>der</strong> normativen Geltungsbegründung so wie das Verfahren <strong>der</strong> kausalen<br />
Erklärung, das, dem Begriff <strong>der</strong> Kausalität gemäß, zu keinem Ende, zu keiner letzten Ursa<strong>ch</strong>e<br />
führen kann, endlos, bliebe die Frage, wie wir handeln sollen, unbeantwortbar.«<br />
24 So das vorsi<strong>ch</strong>tige Fazit bei R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 126: »unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Grade <strong>der</strong> Relativität von Werturteilen«.<br />
264
II.<br />
Zur Kritik an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis<br />
Gegen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis in <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
läßt si<strong>ch</strong> erstens einwenden, daß sie die weitgehende Übereinstimmung in einzelnen<br />
Fragen des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns ni<strong>ch</strong>t zu erklären vermag, und zweitens, daß au<strong>ch</strong><br />
Skeptiker si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in Beliebigkeit flü<strong>ch</strong>ten können, son<strong>der</strong>n für die realen Gestaltungsaufgaben<br />
<strong>der</strong> sozialen Ordnung eine Antwort finden müssen, die wie<strong>der</strong>um<br />
ni<strong>ch</strong>t ohne normative Vorgaben auskommt. Der erste Einwand läßt si<strong>ch</strong> am Skeptizismus<br />
Kelsens, <strong>der</strong> zweite an demjenigen Hayeks illustrieren. Die Einwände gelten<br />
aber allgemein für alle 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition.<br />
Zum ersten Einwand: Der re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>e Relativismus Kelsens kann ni<strong>ch</strong>t erklären,<br />
warum zumindest im Berei<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>er Verfahrensgrundsätze weitgehende,<br />
au<strong>ch</strong> international und über lange historis<strong>ch</strong>e Zeiträume festzustellende Einigkeit<br />
darüber besteht, was gere<strong>ch</strong>t und was ungere<strong>ch</strong>t ist. Der Grundsatz, im Streit au<strong>ch</strong><br />
die an<strong>der</strong>e Seite anzuhören (audiatur et altera pars), und das Verbot, in eigener Sa<strong>ch</strong>e<br />
zu ri<strong>ch</strong>ten (nemo iudex in sua causa), sind Beispiele für unstreitige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
im Verfahrensre<strong>ch</strong>t 25 . In auffälliger Weise bes<strong>ch</strong>ränkt Kelsen seine Kritik auf<br />
die Unbestimmtheit formaler Klugheitsregeln über die ri<strong>ch</strong>tige Verteilung 26 – eine<br />
Unbestimmtheit, die von neueren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien überhaupt ni<strong>ch</strong>t bestritten<br />
wird. Die 'Globalwi<strong>der</strong>legung' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die Kelsen dur<strong>ch</strong> einen Angriff auf<br />
die inhaltli<strong>ch</strong>e Beliebigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sformeln versu<strong>ch</strong>t, geht fehlt, weil die<br />
Formelhaftigkeit nur eine Selbstverständli<strong>ch</strong>keit ausdrückt 27 . Der Relativismus Kelsens<br />
abstrahiert ni<strong>ch</strong>t nur von inhaltli<strong>ch</strong>en Bestimmungsversu<strong>ch</strong>en, son<strong>der</strong>n übersieht<br />
vor allem das Phänomen <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 28 und kann infolgedessen<br />
die inhaltsunabhängige Ri<strong>ch</strong>tigkeit bestimmter Verfahrensnormen ni<strong>ch</strong>t adäquat<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigen. Das ist um so erstaunli<strong>ch</strong>er, als Kelsen selbst in seiner Demokratietheorie<br />
ein ausgefeiltes System ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgen<strong>der</strong> Verfahrensgarantien<br />
vors<strong>ch</strong>lägt 29 , die allerdings bei ihm in die wertrelativistis<strong>ch</strong>e Prämisse einbezogen<br />
sind und deshalb keinen höheren Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit erheben können als Regeln<br />
autokratis<strong>ch</strong>er Systeme 30 . Wenn Verfahrensregeln aber bloß als neutrale Rückzugsposition<br />
angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Unents<strong>ch</strong>eidbarkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen fungieren,<br />
dann verfehlt das ihre Bedeutung in realen Verfahren: dort sollen sie ni<strong>ch</strong>t nur Neutralitäts-,<br />
son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgarantien sein. Der Ri<strong>ch</strong>ter hört ni<strong>ch</strong>t nur deshalb<br />
beide Seiten an, weil er damit seine institutionelle Unparteili<strong>ch</strong>keit beweisen<br />
kann, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong>, weil das einer im Ergebnis ri<strong>ch</strong>tigen Ents<strong>ch</strong>eidung, mithin <strong>der</strong><br />
25 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 43. Zum umfangrei<strong>ch</strong>en Bestand sol<strong>ch</strong>er Prinzipien<br />
vgl. oben S. 118 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und natural justice).<br />
26 Dazu oben S. 145 (Theorie des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus).<br />
27 F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 108 f.<br />
28 Dazu oben S. 121 (D 3 ' – diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit, die unter den Anwendungsbedingungen<br />
eines als gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>nd begründeten Verfahrens dur<strong>ch</strong> die korrekte<br />
Einhaltung <strong>der</strong> Verfahrensregeln errei<strong>ch</strong>t wird).<br />
29 Vgl. zur Demokratietheorie Kelsens insbeson<strong>der</strong>e H. Dreier, Re<strong>ch</strong>tslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie<br />
bei Hans Kelsen (1990), S. 249 ff. m.w.N.<br />
30 H. Dreier, Re<strong>ch</strong>tslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1990), S. 278 f.<br />
265
substantiellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, för<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> ist 31 . Sol<strong>ch</strong>e Bedeutungsgehalte können im<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus ni<strong>ch</strong>t erklärt werden.<br />
Zum zweiten Einwand, <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Theorie Hayeks illustrieren läßt: Au<strong>ch</strong><br />
Skeptiker müssen für die reale Sozialordnung normative Vorgaben treffen; eine völlige<br />
Neutralität ist real ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> und als epistemologis<strong>ch</strong>e Anfor<strong>der</strong>ung deshalb<br />
inakzeptabel 32 . Dieser Einwand gegen den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus betrifft die<br />
Adäquatheit seiner Ergebnisse. Wer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> für unbegründbar hält, <strong>der</strong> müßte<br />
si<strong>ch</strong> eigentli<strong>ch</strong> je<strong>der</strong> Aussage über die ri<strong>ch</strong>tige Gestaltung <strong>der</strong> Sozialordnung enthalten.<br />
Denn wer eine Handlungsweise im Ergebnis ni<strong>ch</strong>t akzeptieren will, glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
aber behauptet, es gebe keinen Weg, die Ri<strong>ch</strong>tigkeit o<strong>der</strong> Unri<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns<br />
zu begründen, <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>spri<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> selbst. Wenn man <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t begründen<br />
kann, dann kann man si<strong>ch</strong> über Ungere<strong>ch</strong>tigkeit au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beklagen 33 . Das<br />
Beispiel kann zwar die in si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lüssige Theorie eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptikers ni<strong>ch</strong>t<br />
wi<strong>der</strong>legen, aber do<strong>ch</strong> illustrieren, wie inadäquat ihre Ergebnisse sind.<br />
Eine den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> realen Welt adäquate Theorie muß eine Aussage<br />
über die ri<strong>ch</strong>tige Sozialordnung treffen. Denn bei allem Streit über die ri<strong>ch</strong>tigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>smaßstäbe<br />
herrs<strong>ch</strong>t do<strong>ch</strong> Übereinstimmung darin, daß <strong>der</strong> Staat für Unglei<strong>ch</strong>behandlungen<br />
prüfbare und diskussionsfähige Gründe angeben muß 34 . Daß<br />
mit sol<strong>ch</strong>en Aussagen, selbst wenn sie auf vermeintli<strong>ch</strong> neutrale Verfahren wie das<br />
des Marktes zurückgreifen, immer au<strong>ch</strong> normative Festlegungen verbunden sind,<br />
läßt si<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Theorie Hayeks zeigen. Dem Marktmodell Hayeks ist mit Re<strong>ch</strong>t entgegengehalten<br />
worden, daß au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Markt kein natürli<strong>ch</strong>es, vorpositives Faktum<br />
bildet, angesi<strong>ch</strong>ts dessen die Frage distributiver <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> überflüssig würde 35 .<br />
Regeln zur systembildenden Etablierung und kontrollierenden Absi<strong>ch</strong>erung des<br />
Marktes sind Mens<strong>ch</strong>enwerk 36 . Damit ist das Argument wi<strong>der</strong>legt, die dur<strong>ch</strong> den<br />
Markt bewirkte Verteilung sei gere<strong>ch</strong>t, weil <strong>der</strong> unpersönli<strong>ch</strong>e Verteilungsprozeß<br />
von niemandem verantwortet wird und in diesem Sinne neutral bleibt. Das marktgenerierte<br />
Verteilungsergebnis hängt von bewußten politis<strong>ch</strong>en Gestaltungsents<strong>ch</strong>eidungen<br />
ab 37 . Dieser politis<strong>ch</strong>en Verantwortung trägt letztli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Hayek Re<strong>ch</strong>nung,<br />
wenn er ein Minimaleinkommen für mögli<strong>ch</strong>erweise geboten hält 38 . Aber selbst<br />
31 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsjudikatur BVerfGE 42, 64 (65) – Zwangsversteigerung: »Die<br />
ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>e Unparteili<strong>ch</strong>keit ist kein wertfreies Prinzip, son<strong>der</strong>n an den Grundwerten <strong>der</strong> Verfassung<br />
orientiert, insbeson<strong>der</strong>e ... materialer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.«<br />
32 Vgl. zu diesem 'Inakzeptabilitätsargument' N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 193 f.;<br />
ähnli<strong>ch</strong> W. Reese-S<strong>ch</strong>äfer, Was bleibt na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Dekonstruktion? (1998), S. 143 f., 157 ff. – Kritik an<br />
<strong>der</strong> Unfähigkeit postmo<strong>der</strong>ner Politiktheorie, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie zu begründen.<br />
33 J.-R. Sieckmann, Justice and Rights (1995), S. 117.<br />
34 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 104. Vgl. allgemein zur 'Legitimitätserwartung' J. Habermas,<br />
Faktizität und Geltung (1992), S. 51: »Mit <strong>der</strong> Positivität des Re<strong>ch</strong>ts ist die Erwartung verbunden,<br />
daß das demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsetzung die Vermutung <strong>der</strong> rationalen Akzeptabilität<br />
<strong>der</strong> gesatzten Normen begründet.«<br />
35 C. Kukathas, Hayek and Mo<strong>der</strong>n Liberalism (1989), S. 166 ff. (172). Ähnli<strong>ch</strong> R. Kley, Hayek's Social<br />
and Political Thought (1994), S. 202; S. Brittan, Role and Limits of Government (1983), S. 53.<br />
36 R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 203.<br />
37 R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 203.<br />
38 F.A. Hayek, Liberalism (1973), S. 145: »[E]ven a minimum income assured to all might have been<br />
created within a liberal framework«.<br />
266
ganz ohne das regelhafte Rahmenwerk des Marktes läge in ihm die bewußte Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
für ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip <strong>der</strong> Form 'Jedem na<strong>ch</strong> seinem Marktwert.' 39<br />
Entspre<strong>ch</strong>endes läßt si<strong>ch</strong> für jede an<strong>der</strong>e Form des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus zeigen.<br />
Wenn eine Aussage über die ri<strong>ch</strong>tige Sozialordnung mit dem Skeptizismus verbunden<br />
wird, liegt ein innerer Wi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> vor; wird aber eine sol<strong>ch</strong>e Aussage vermieden,<br />
ist die Theorie inadäquat gegenüber den Gestaltungsaufgaben in <strong>der</strong> realen<br />
Welt.<br />
III. Ergebnisse<br />
Damit sind zwei Einwände erhoben, die entspre<strong>ch</strong>end au<strong>ch</strong> für systemtheoretis<strong>ch</strong>e<br />
und postmo<strong>der</strong>ne <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis gelten. Gegen den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus<br />
<strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spri<strong>ch</strong>t erstens,<br />
daß sie die Rationalitätspotentiale prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t realisieren<br />
(Inadäquatheitsargument), und zweitens, daß sie zur Ri<strong>ch</strong>tigkeit sozialer Ordnung<br />
Aussagen treffen, die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns aber glei<strong>ch</strong>zeitig für positiv ni<strong>ch</strong>t begründbar<br />
erklären (Inakzeptabilitätsargument). Die Kraft <strong>der</strong> Rationalitätspostulate<br />
prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, in <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> die Begründungsfähigkeit praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft erweist, wird no<strong>ch</strong> im einzelnen darzulegen sein 40 .<br />
B. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
I. Die neoaristotelis<strong>ch</strong>en Konzeptionen des Guten<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Tradition versu<strong>ch</strong>en zwar, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
rational zu begründen, sind aber in diesem Bemühen zum S<strong>ch</strong>eitern verurteilt. Als<br />
substantielle <strong>Theorien</strong> beruhen sie nämli<strong>ch</strong> auf Annahmen, die allenfalls des Bekenntnisses,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber <strong>der</strong> rationalen Begründung fähig sind. Dieses »Hauptproblem<br />
<strong>der</strong> materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien« 41 gilt für die neoaristotelis<strong>ch</strong>en Vernunftre<strong>ch</strong>tslehren<br />
ebenso wie für ältere Naturre<strong>ch</strong>tslehren, die religiöse Glaubenssätze<br />
zu Wahrheiten erhoben haben. Denn eine Konzeption des Guten mag vor dem<br />
Hintergrund individueller Lebensents<strong>ch</strong>eidungen ri<strong>ch</strong>tig sein. Sie mag au<strong>ch</strong> in einer<br />
homogenen Gruppe auf eine traditionsbedingt einheitli<strong>ch</strong>e, spontane Zustimmung<br />
hoffen, wie dies vor allem von Kommunitaristen geltend gema<strong>ch</strong>t wird. Eine Begründung<br />
jenseits sol<strong>ch</strong>er individuellen o<strong>der</strong> kollektiven Bekenntnisse ist dagegen<br />
ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, denn die Begründung mit tradierten Wertvorstellungen findet genau<br />
dort ihre Grenze, wo auf gemeinsame Werte ni<strong>ch</strong>t länger zurückgegriffen werden<br />
kann. Au<strong>ch</strong> eine Wie<strong>der</strong>belebung des einmal verlorenen Wertkonsenses ist innerhalb<br />
<strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> aristotelis<strong>ch</strong>er Tradition ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>. Denn es müßte ein Grund<br />
angegeben werden, warum si<strong>ch</strong> jemand, <strong>der</strong> die alten Wertvorstellungen ni<strong>ch</strong>t teilt,<br />
im Interesse einer Wie<strong>der</strong>herstellung von Einigkeit in ein ihm ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig ers<strong>ch</strong>einendes<br />
Wertesystem zwängen sollte. Gelegentli<strong>ch</strong> wird argumentiert, daß kommu-<br />
39 R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 204.<br />
40 Dazu unten S. 309 ff. (Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
41 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 109 ff. (110); vgl. au<strong>ch</strong> N. Luhmann, Gibt es in unserer<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft no<strong>ch</strong> unverzi<strong>ch</strong>tbare Normen? (1992), S. 18 f. (Werte als prinzipbedingt unbegründbarer<br />
'Reflexionsstop').<br />
267
nitaristis<strong>ch</strong>e Ideale Vorrang genießen müßten, weil nur sie ein erfülltes Leben in <strong>der</strong><br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft ermögli<strong>ch</strong>ten, das letztli<strong>ch</strong> im Interesse aller liege 42 . Ein sol<strong>ch</strong>es Argument<br />
führt aber aus <strong>der</strong> materialen Konzeption des Guten, wie sie für die aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Tradition typis<strong>ch</strong> ist, hinaus. Denn das Argument re<strong>ch</strong>tfertigt die Konzeption<br />
des Guten dur<strong>ch</strong> einen Verweis auf Interessen. Das wie<strong>der</strong>um ist <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong> für<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Tradition. Somit läßt si<strong>ch</strong> festhalten: Das substantielle<br />
Bekenntnis zu einer Konzeption des Guten, das für die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Tradition <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong> ist, s<strong>ch</strong>ließt eine rationale Begründung aus. Wird eine Begründung<br />
<strong>der</strong> für ri<strong>ch</strong>tig gehaltenen Werte versu<strong>ch</strong>t, so muß sie, um au<strong>ch</strong> jenseits<br />
des Bekenntnisses einer homogenen Gruppe gültig und in diesem Sinne rational zu<br />
sein, auf Kriterien außerhalb <strong>der</strong> Konzeption des Guten verweisen und verliert dadur<strong>ch</strong><br />
ihren aristotelis<strong>ch</strong>en Charakter. Daß jenseits <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> Begründungspotentiale<br />
in prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ers<strong>ch</strong>lossen werden<br />
können, wird si<strong>ch</strong> im letzten Teil <strong>der</strong> Untersu<strong>ch</strong>ung erweisen 43 .<br />
II.<br />
Zur Kritik des Kommunitarismus<br />
Abgesehen davon, daß <strong>der</strong> Kommunitarismus zumindest teilweise auf eine Begründung<br />
seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption verzi<strong>ch</strong>tet 44 , birgt er die Gefahr <strong>der</strong> Intoleranz<br />
gegenüber Außenseitern. Indem ein partikularistis<strong>ch</strong>er und kontextualistis<strong>ch</strong>er Traditionalismus<br />
gepflegt wird, abstrahiert <strong>der</strong> Kommunitarismus von Beson<strong>der</strong>heiten<br />
des Individuums. Wer si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Tradition einfügt, kann so einen besseren S<strong>ch</strong>utz als<br />
diejenigen genießen, die si<strong>ch</strong> den Gemeins<strong>ch</strong>aftswerten weniger verbunden fühlen.<br />
Dem halten die Kommunitaristen entgegen, daß aus ihrer Si<strong>ch</strong>t eine Ignoranz gegenüber<br />
Traditionen, wie sie de facto dur<strong>ch</strong> den liberalen Individualismus bewirkt<br />
werde, glei<strong>ch</strong>falls eine Form <strong>der</strong> Intoleranz darstelle. Das ist die These von <strong>der</strong> unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Wertbezogenheit politis<strong>ch</strong>er Ordnung, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> jede Gemeins<strong>ch</strong>aft<br />
notwendig wertbezogen ist und damit an<strong>der</strong>e Werte verdrängt. Au<strong>ch</strong> prozedurale<br />
<strong>Theorien</strong>, die verbindende Werte einer Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft ausblendeten, träfen<br />
allein mit dieser Festlegung eine substantielle Ents<strong>ch</strong>eidung über das gute Leben 45 .<br />
Dem kann mit Cohen erstens entgegnet werden, daß prozedurale <strong>Theorien</strong> nur eine<br />
vorgängige Bes<strong>ch</strong>ränkung <strong>der</strong> Ordnungsmodelle auf wertkonforme Lösungen ablehnen,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber die Berücksi<strong>ch</strong>tigung tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> vorhandener o<strong>der</strong> potentiell nützli<strong>ch</strong>er<br />
Gemeins<strong>ch</strong>aftsbildung dur<strong>ch</strong> Werte 46 . Denn au<strong>ch</strong> bei einer wertneutralen Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
über Fragen des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns in <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft (d.h. über Ge-<br />
42 Dazu oben S. 157 ff. (Kommunitarismus, insbeson<strong>der</strong>e Sandel).<br />
43 Dazu unten S. 309 ff. (Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
44 Dazu oben S. 167 (Ergebnis zu den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition).<br />
45 Dieser Einwand wird im anglo-amerikanis<strong>ch</strong>en als objection of sectarianism bezei<strong>ch</strong>net; siehe J. Cohen,<br />
Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 27.<br />
46 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 27: »A political conception is objectionably<br />
sectarian only if its justification depends on a particular view of the human good, and not<br />
simply because its stability is contingent on widespread agreement on the value of certain activities<br />
and aspirations. For this reason the democratic conception is not sectarian.«<br />
268
e<strong>ch</strong>tigkeit 47 ) muß zumindest die stabilitätsför<strong>der</strong>nde Wirkung gemeinsamer Werte<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigt werden 48 . Zweitens bedeutet es einen Unters<strong>ch</strong>ied, ob – wie bei substantiellen<br />
<strong>Theorien</strong> – bereits die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung von einem bestimmten<br />
Konzept des guten Lebens ausgeht, o<strong>der</strong> ob – wie bei prozeduralen <strong>Theorien</strong> – erst<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung zu substantiellen Aussagen darüber kommt, was eine<br />
gute politis<strong>ch</strong>e Ordnung ausma<strong>ch</strong>t 49 . Nur im ersten Fall obliegt <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
eine Argumentationslast, die sie mangels Begründbarkeit substantieller Vorgaben<br />
ni<strong>ch</strong>t tragen kann.<br />
III. Zur Kritik des Utilitarismus<br />
Die Vielfalt <strong>der</strong> utilitaristis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> ma<strong>ch</strong>t paus<strong>ch</strong>ale Kritik nahezu unmögli<strong>ch</strong>.<br />
Immerhin können die oben dargestellten Theoriebeispiele zeigen, wel<strong>ch</strong>e Probleme<br />
si<strong>ch</strong> bei Formen des ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>en Utilitarismus stellen 50 . Gegen einen '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sutilitarismus',<br />
wie ihn Trapp entworfen hat, muß eingewandt werden, daß<br />
si<strong>ch</strong> die dafür nötigen normativen Bes<strong>ch</strong>ränkungen <strong>der</strong> einkalkulierten Präferenzen,<br />
also beispielsweise die Illegitimität von sadistis<strong>ch</strong>en Neigungen, ni<strong>ch</strong>t auf <strong>der</strong><br />
Grundlage des Utilitarismus selbst begründen lassen 51 . Damit verliert die Theorie<br />
eine beson<strong>der</strong>e Qualität des klassis<strong>ch</strong>en Handlungsutilitarismus, die darin bestand,<br />
daß alle Einzelinteressen ganz ohne vorgängige Bewertung ihrer 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit' in ein<br />
kollektives Nutzenkalkül eingebunden sind. Das 'größte Glück <strong>der</strong> größten Zahl'<br />
stellte si<strong>ch</strong> dabei als eine bloße Re<strong>ch</strong>nung dar, in <strong>der</strong> das Gewi<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Interessen<br />
ni<strong>ch</strong>t in einer theoretis<strong>ch</strong>en Außenperspektive, son<strong>der</strong>n dur<strong>ch</strong> die Betroffenen selbst<br />
bestimmt wird. Demgegenüber überführen mo<strong>der</strong>ne Formen des ni<strong>ch</strong>t-klassis<strong>ch</strong>en<br />
Regelutilitarismus letztli<strong>ch</strong> das Nutzenkalkül in ein prozedural begründetes Regelsystem,<br />
das eine Nähe zu Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien (Harsanyi) o<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong><br />
(Trapp) zeigt und dadur<strong>ch</strong> an eigenständiger Begründungsleistung stark verliert.<br />
Letztli<strong>ch</strong> werden nur no<strong>ch</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>e und kantis<strong>ch</strong>e Begründungsmuster in einen<br />
ausdifferenzierten Konsequentialismus übersetzt 52 . Auf einen Satz gebra<strong>ch</strong>t:<br />
Der Utilitarismus steckt im Dilemma zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Inakzeptabilität <strong>der</strong> klassis<strong>ch</strong>en<br />
und <strong>der</strong> Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>tklassis<strong>ch</strong>en Formen.<br />
IV. Ergebnisse<br />
Abgesehen vom Utilitarismus, dessen Nutzenmaximierungsideal formal definiert ist,<br />
sind alle <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition einem Bekenntnis zu materiellen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen verpfli<strong>ch</strong>tet, das sie selbst ni<strong>ch</strong>t positiv begründen<br />
können. Ihre Konzeption des Guten liegt in einem Traditionalismus o<strong>der</strong> in einer re-<br />
47 Zum hier zugrundegelegten Verständnis von politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> siehe oben S. 78 (politis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
48 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 27.<br />
49 Vgl. J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 27.<br />
50 Zur Darstellung siehe oben S. 154 (<strong>Theorien</strong> des Utilitarismus).<br />
51 So au<strong>ch</strong> J.-R. Sieckmann, Justice and Rights (1995), S. 112.<br />
52 Zum Begriff des Konsequentialismus (consequentialism) siehe oben S. 152 (Charakteristika <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition).<br />
269
ligiösen o<strong>der</strong> sonst materialen Wertvorstellung, die zwar einem Wandel unterworfen<br />
sein kann, aber letztli<strong>ch</strong> immer einen unbegründeten Rest enthält. Mit dieser Begründungsabstinenz<br />
verhält es si<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong> wie bei den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition: Sie ist angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> prozeduralen Begründungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
inadäquat und angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> sozialen Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung inakzeptabel.<br />
Das bloße Bekenntnis zu einer kollektiven Konzeption des Guten, sei es material<br />
(Naturre<strong>ch</strong>tslehren, Kommunitarismus) o<strong>der</strong> formal (Utilitarismus), kann die<br />
For<strong>der</strong>ung na<strong>ch</strong> einer Begründung ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>t befriedigen.<br />
C. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
I. Zur Kritik spieltheoris<strong>ch</strong>er Grundlegung<br />
Die implizierte Grundregel <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens lautet:<br />
Gere<strong>ch</strong>t ist eine Verteilung von Gütern und Lasten, die das Ergebnis einer rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung <strong>der</strong> betroffenen Parteien ist o<strong>der</strong> sein könnte, si<strong>ch</strong> also aus einer<br />
vorteilsorientierten Verhandlung ergibt o<strong>der</strong> ergeben könnte 53 . Was allerdings eine<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung zu einer rationalen ma<strong>ch</strong>t, bleibt zwis<strong>ch</strong>en den Einzelansätzen umstritten.<br />
Während früher allein das Sozialvertragsmodell als Darstellungsmittel diente<br />
und <strong>der</strong> ausgehandelte Vertrag als zugrundeliegendes Rationalitätskonzept 54 , ist in<br />
neuerer Zeit die Spieltheorie das Werkzeug <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheoretiker. Unter<br />
'Spieltheorie' versteht man, seit ihrer Begründung dur<strong>ch</strong> von Neumann und Morgenstern<br />
55 , eine mathematis<strong>ch</strong>e Methode, um strategis<strong>ch</strong>e Interaktion zu analysieren. Sie<br />
findet ihr Hautanwendungsgebiet na<strong>ch</strong> wie vor in <strong>der</strong> Ökonomie, hat si<strong>ch</strong> aber als<br />
analytis<strong>ch</strong>es Werkzeug au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie etabliert. Die Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
(2) und Grenzen (3) <strong>der</strong> Spieltheorie in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien des rationalen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidens hängen maßgebli<strong>ch</strong> von <strong>der</strong>en Anwendungsbedingungen ab (1).<br />
1. Einige Anwendungsbedingungen <strong>der</strong> Spieltheorie<br />
a) Die Skalierbarkeitsthese in <strong>der</strong> Spieltheorie<br />
Die Spieltheorie als Werkzeug <strong>der</strong> Sozialphilosophie untersu<strong>ch</strong>t das vorteilhafte<br />
Verhalten bei regelgeleiteter Interaktion. Für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist die These<br />
zentral, daß si<strong>ch</strong> die Ergebnisse aus definierten Spielsituationen auf komplexere Situationen<br />
sozialer Interaktion übertragen lassen (Skalierbarkeitsthese) 56 . Die mathematis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie wird so zunä<strong>ch</strong>st zur Wirts<strong>ch</strong>aftstheorie und, bei weitergehen<strong>der</strong><br />
Verallgemeinerung, zur umfassenden Theorie rationalen Sozialverhaltens. So wie<br />
Spiele als Zweipersonenspiele o<strong>der</strong> n-Personen-Spiele (Mehrpersonenspiele) vor-<br />
53 Vgl. oben S. 167 (D 1RC ).<br />
54 Zum Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Vertrag als Darstellungsmittel und Vertrag als Rationalitätskonzept<br />
siehe oben S. 98 ff. (Vertrag).<br />
55 Vgl. J. v. Neumann/O. Morgenstern, The Theory of Games and Economic Behaviour (1944).<br />
56 Dazu oben S. 111 (Skalierbarkeitsthese).<br />
270
kommen, so ist au<strong>ch</strong> soziale Interaktion in Zwei- o<strong>der</strong> Mehrpersonenverhältnissen<br />
verallgemeinerbar. So wie bei Spielen neben Situationen <strong>der</strong> Gewißheit au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e<br />
<strong>der</strong> Ungewißheit vorkommen, etwa wenn si<strong>ch</strong> die Mitspieler ni<strong>ch</strong>t in die Karten sehen<br />
lassen, so gibt es au<strong>ch</strong> bei sozialer Interaktion kleinere und größere Risikofaktoren.<br />
Spielallianzen finden ihre Parallele in sozialen Allianzen, Spielziele in Lebenszielen,<br />
Spielregeln in Gesetzen sozialer Ordnung, d.h. Re<strong>ch</strong>t und Sitte. Für die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
parametrisierten Spielsituationen (Lebenssituationen) ermittelt die Spieltheorie<br />
die jeweils vorteilhafteste Ents<strong>ch</strong>eidungsstrategie. Im Idealfall kann also jede<br />
Einzelents<strong>ch</strong>eidung auf rationale Überlegungen zurückgeführt werden, die allein<br />
von den eigenen Interessen (Spielgewinn, Lebenserfolg) geleitet sind.<br />
b) Der spieltheoretis<strong>ch</strong>e Fairneßbegriff<br />
In <strong>der</strong> Spieltheorie, wie au<strong>ch</strong> sonst in <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskussion 57 , ist Fairneß<br />
glei<strong>ch</strong>bedeutend mit prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Der Fairneßbegriff hat aber hier eine<br />
enge, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Bedeutung und unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> von demjenigen in<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Spieltheoretis<strong>ch</strong>e Fairneß kann in genau zwei Eigens<strong>ch</strong>aften<br />
eines Spiels verwirkli<strong>ch</strong>t sein. Erstens ist ein Spiel fair, wenn es symmetris<strong>ch</strong> ist 58 , weil<br />
die Spieler genau die glei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te haben, so daß ein Rollentaus<strong>ch</strong> das Spiel ni<strong>ch</strong>t<br />
verän<strong>der</strong>t 59 . Symmetrie des Spiels bedeutet bei Mehrpersonenspielen wegen <strong>der</strong> Kooperationsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
aber ni<strong>ch</strong>t Symmetrie <strong>der</strong> Gewinn<strong>ch</strong>ancen im Einzelfall. Insoweit<br />
ist Fairneß s<strong>ch</strong>on dadur<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>t, daß die Gewinn<strong>ch</strong>ancen beliebiger Koalitionen<br />
nur von <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Spieler abhängen 60 . Mehr no<strong>ch</strong>: Die Kooperationsmögli<strong>ch</strong>keit<br />
wird in aller Regel zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Gewinn<strong>ch</strong>ancen führen (kooperative<br />
Chancenverzerrung) 61 . Zweitens ist ein Spiel fair, wenn es zwar unsymmetris<strong>ch</strong> ist,<br />
die Vor- und Na<strong>ch</strong>teile <strong>der</strong> Spieler aus dieser Unsymmetrie aber dur<strong>ch</strong> Spielregeln<br />
ausgegli<strong>ch</strong>en werden 62 . Verglei<strong>ch</strong>t man diesen spieltheoretis<strong>ch</strong>en Fairneßbegriff mit<br />
57 Dazu oben S. 121 ff. (Glei<strong>ch</strong>setzung von Fairneß und prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
58 Vgl. J. v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 259:<br />
»...games are symmetric and hence fair...«.<br />
59 J. v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 165 f.<br />
60 Dies ist dur<strong>ch</strong> eine Funktion des Wertes eines Spiels für Koalitionen auszudrücken. J. v. Neumann/O.<br />
Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 238 f., 258 f., 315: »<strong>ch</strong>aracteristic<br />
function«.<br />
61 J. v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 225: »It is quite<br />
instructive how the rules of the game are absolutely fair (in this case, symmetric), but the conduct<br />
of the players will necessarily not be.« Sowie Fn. 2: »This is, of course, a very essential feature of<br />
the most familiar forms of social organizations. It is also an argument whi<strong>ch</strong> occurs again and<br />
again in the criticism directed against these institutions, most of all against the hypothetical or<strong>der</strong><br />
based upon 'laisser faire.' It is the argument that even an absolute, formal fairness – symmetry of<br />
the rules of the game – does not guarantee that the use of these rules by the participants will be<br />
fair and symmetrical. Indeed, this 'does not guarantee' is an un<strong>der</strong>statement: it is to be expected<br />
that any exhaustive theory of raional behavior will show that the participants are driven to form<br />
coalitions in unsymmetric arrangements. ... It seems worth emphasizing that this <strong>ch</strong>aracteristically<br />
'social' phenomenon occurs only in the case of three or more participants.«<br />
62 J. v. Neumann/O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 166 f., Fn. 4.<br />
271
demjenigen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 63 , so ist die Regeleinhaltung (Anwendungsfairneß)<br />
stills<strong>ch</strong>weigend vorausgesetzt. Au<strong>ch</strong> minimale Anwendungsbedingungen<br />
des fairen Spiels (Hintergrundfairneß) sind definiert, indem die Re<strong>ch</strong>te symmetris<strong>ch</strong><br />
verteilt o<strong>der</strong> in ihrer Unsymmetrie dur<strong>ch</strong> Spielregeln ausgegli<strong>ch</strong>en sein müssen, was<br />
dur<strong>ch</strong> eine Rollentaus<strong>ch</strong>überlegung kontrolliert werden kann 64 . Do<strong>ch</strong> ist <strong>der</strong> Fairneßbegriff<br />
<strong>der</strong> Spieltheorie frei von je<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung. Es fehlt eine Begründung<br />
dafür, daß das Spiel selbst in fairer Weise zur Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung beiträgt<br />
(Prozedurfairneß). In <strong>der</strong> Terminologie <strong>der</strong> Spieltheorie ist das russis<strong>ch</strong>e Roulett genauso<br />
'fair' wie <strong>der</strong> herrs<strong>ch</strong>aftsfreie Diskurs. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheoretis<strong>ch</strong> müßte dagegen<br />
zusätzli<strong>ch</strong> begründet werden, warum eine bestimmte Prozedur für eine bestimmte<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung ri<strong>ch</strong>tig ist.<br />
c) Die rationale Kooperation<br />
Innerhalb <strong>der</strong> Spieltheorie werden kooperative von ni<strong>ch</strong>tkooperativen Spielen unters<strong>ch</strong>ieden.<br />
Ni<strong>ch</strong>tkooperativ ist beispielsweise ein S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>spiel: Die beiden Parteien<br />
stehen si<strong>ch</strong> gegenüber, ohne daß Spielergruppen Allianzen bilden könnten. An<strong>der</strong>s<br />
verhält es si<strong>ch</strong> bei den meisten Kartenspielen. Hier liegt <strong>der</strong> Reiz gerade darin, dur<strong>ch</strong><br />
Kooperation die Karten mehrerer Spieler einer gemeinsamen Spielstrategie zu unterwerfen<br />
und dadur<strong>ch</strong> effizienter zu nutzen, als dies bei Einzelstrategien mögli<strong>ch</strong><br />
wäre. Damit ist <strong>der</strong> Spieltheorie eine neue und s<strong>ch</strong>wierige Aufgabe gestellt. Denn<br />
für eine Kooperation kann si<strong>ch</strong> nur <strong>der</strong>jenige rational ents<strong>ch</strong>eiden, <strong>der</strong> rationale Kooperationsbedingungen<br />
vereinbart hat, also insbeson<strong>der</strong>e eine im Hinblick auf die<br />
jeweiligen Kooperationsbeiträge rationale Verteilung des Kooperationsgewinns. Die<br />
hierfür von Nash gefundene Formel (Nash-Equilibrium) bildet im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong><br />
rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens na<strong>ch</strong> wie vor einen Fixpunkt. Es ist kein zu weitgehendes<br />
Zugeständnis, wenn man mit <strong>der</strong> Spieltheorie davon ausgeht, daß es in je<strong>der</strong><br />
Verhandlung über Kooperation mindestens einen Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tspunkt gibt.<br />
Für eine Analyse und Kritik ist es wi<strong>ch</strong>tig zu sehen, was damit ni<strong>ch</strong>t gesagt ist. Es<br />
ist ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, ob si<strong>ch</strong> das Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>streitenden Interessen für o<strong>der</strong><br />
gegen eine Kooperation bildet. Es ist ni<strong>ch</strong>t notwendig nur genau ein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tspunkt<br />
vorhanden. Der am wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>sten eintretende Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustand ist<br />
ni<strong>ch</strong>t notwendig <strong>der</strong>, <strong>der</strong> insgesamt die größten Kooperationsvorteile bringt. Vor allem<br />
aber ist in <strong>der</strong> Spieltheorie selbst ni<strong>ch</strong>t begründet, wel<strong>ch</strong>e Handlungsstrategien<br />
die Parteien in das Spiel einbringen: ob sie risikos<strong>ch</strong>eu o<strong>der</strong> risikofreudig sind, ob sie<br />
einan<strong>der</strong> drohen o<strong>der</strong> auf Drohung verzi<strong>ch</strong>ten, ob sie für Drohung empfängli<strong>ch</strong> sind<br />
o<strong>der</strong> diese (weitgehend) ignorieren.<br />
63 Dazu oben S. 121 (D F – <strong>der</strong> Inbegriff <strong>der</strong> Verfahrensri<strong>ch</strong>tigkeit bei sol<strong>ch</strong>en Prozeduren und ihrer<br />
Dur<strong>ch</strong>führung (Prozeß), die selbst ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert sind). Fairneßelemente sind dort Hintergrundfairneß<br />
(background fairness), Anwendungsfairneß (procedural fairness) und Prozedurfairneß<br />
(fairness as su<strong>ch</strong>, fairness of the procedure).<br />
64 Vgl. oben S. 223 (Regeln <strong>der</strong> Konsistenz und Kohärenz).<br />
272
d) Zwei Bedingungen rationalen Verhandelns<br />
Bei aller Unbestimmtheit <strong>der</strong> Anwendungsbedingungen im Detail formuliert die<br />
Spieltheorie immerhin zwei Bedingungen, die für jedes rationale Verhalten in Verhandlungssituationen<br />
gelten: Erstens wird keine Partei eine Vereinbarung akzeptieren,<br />
die ihr weniger bietet als sie ohne Vereinbarung hätte (Freiwilligkeitsbedingung).<br />
Und zweitens werden die Parteien eine Vereinbarung treffen, bei <strong>der</strong> es<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr mögli<strong>ch</strong> ist, die Situation einer Partei zu verbessern, ohne glei<strong>ch</strong>zeitig die<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern (Optimalitätsbedingung). Diese zweite Handlungsbedingung<br />
entspri<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Erkenntnis, daß Verhandlungsergebnisse zumindest Pareto-optimal<br />
sein müssen. Pareto-Optimalität ist definiert als ein Ergebnis, bei dem die<br />
Besserstellung einer Partei ohne eine Vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terung für die an<strong>der</strong>e Partei ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr mögli<strong>ch</strong> ist. Vereinfa<strong>ch</strong>end kann man von einer 100%-Verteilung bei maximaler<br />
Güterproduktion spre<strong>ch</strong>en.<br />
Das Kriterium <strong>der</strong> Pareto-Optimalität ist indifferent gegenüber einer Vielzahl unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er<br />
Verteilungen. Das kann anhand eines Beispiels verdeutli<strong>ch</strong>t werden:<br />
A und B wollen ein Bebauungsprojekt dur<strong>ch</strong> Kooperation realisieren. Sie treffen die<br />
Vereinbarung, daß A 99% und B 1% des Gewinns erhalten soll. Die zwei Bedingungen<br />
rationalen Verhandelns werden dur<strong>ch</strong> eine 99 zu 1 Verteilung genauso erfüllt<br />
wie dur<strong>ch</strong> jede an<strong>der</strong>e 100%-Verteilung (98 zu 2, 97 zu 3 u.s.w.), denn beide Parteien<br />
sind besser gestellt als ohne Vereinbarung (Freiwilligkeitsbedingung) und keine Partei<br />
kann mehr erhalten, ohne daß dies zu Lasten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ginge (Optimalitätsbedingung).<br />
Wegen <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Pareto-optimalen Verteilungsmögli<strong>ch</strong>keiten (Pareto-Punkte)<br />
spri<strong>ch</strong>t man au<strong>ch</strong> von einer Verteilung auf <strong>der</strong> Pareto-Linie 65 .<br />
Die rationale Kooperation kann unter Umständen au<strong>ch</strong> jenseits <strong>der</strong> Pareto-Linie<br />
liegen. So etwa, wenn mit dem Kaldor-Hicks-Kriterium <strong>der</strong> Nutzen einzelner so lange<br />
zu Lasten an<strong>der</strong>er vergrößert wird, bis si<strong>ch</strong> die Ents<strong>ch</strong>ädigung <strong>der</strong> Bena<strong>ch</strong>teiligten<br />
dur<strong>ch</strong> die Begünstigten ni<strong>ch</strong>t mehr lohnt. Insoweit handelt es si<strong>ch</strong> um notwendige,<br />
aber ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>ende Bedingungen rationalen Verhandelns 66 .<br />
2. Die Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Spieltheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
Die Spieltheorie ist die Grundform einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie. Sie ist<br />
eine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 67 , weil sie eine Verteilung von Vorteilen und<br />
Lasten als gere<strong>ch</strong>t betra<strong>ch</strong>tet, wenn diese die beiden Bedingungen rationalen Verhandelns<br />
(Freiwilligkeits- und Optimalitätsbedingung) erfüllt, glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>es konkrete<br />
Verteilungsergebnis erzielt wird. Sie ist eine Grundform, weil die spieltheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Fairneß gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong> erst no<strong>ch</strong> ausgefüllt werden muß, um die<br />
65 B. Barry, Theories of Justice (1989), S. 3: »I can explain the notion of the Pareto frontier by saying<br />
that it is the set of Pareto-optimal points«.<br />
66 Kaldor-Hicks-Effizienz hat – an<strong>der</strong>s als Pareto-Effizienz – für si<strong>ch</strong> gesehen keine normative Relevanz,<br />
wenn ni<strong>ch</strong>t gezeigt werden kann, daß auf lange Si<strong>ch</strong>t die Implementierung von Kaldor-<br />
Hicks-Än<strong>der</strong>ungen für jeden vorteilhaft ist; R.J. Arneson, Rational Contractarianism (1992), S. 898.<br />
67 Dazu oben S. 132 (D 4 – eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau<br />
dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur P sein kann).<br />
273
Fairneß des Verfahrens selbst (Prozedurfairneß) zu begründen 68 . Die (konkretisierungsbedürftige)<br />
Spieltheorie beurteilt eine unendli<strong>ch</strong>e Anzahl von Verteilungsergebnissen<br />
und Verteilungsverfahren als glei<strong>ch</strong>ermaßen rational und gere<strong>ch</strong>t.<br />
Um zu ents<strong>ch</strong>eiden, wo genau auf <strong>der</strong> Pareto-Linie die gere<strong>ch</strong>te Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
liegt, können <strong>Theorien</strong> an zwei vers<strong>ch</strong>iedenen Punkten ansetzen. Bei je<strong>der</strong> Theorie<br />
rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens wird nämli<strong>ch</strong> in einem zweistufigen Verfahren zunä<strong>ch</strong>st ein<br />
Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt (nonagreement basepoint) festgelegt, das ist die Situation <strong>der</strong> Parteien<br />
bei Ni<strong>ch</strong>tzustandekommen einer Kooperation, und dana<strong>ch</strong> die Prozedur eingeführt,<br />
die bestimmt, na<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>em rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungskriterium si<strong>ch</strong> die Parteien<br />
dur<strong>ch</strong> Kooperation vom Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt zur Pareto-Linie hin bewegen.<br />
<strong>Theorien</strong>, die in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Weise die Ents<strong>ch</strong>eidungsprozedur ausgestalten<br />
o<strong>der</strong> den Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt festsetzen, wurden oben bereits ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t 69 . Für die<br />
Analyse wi<strong>ch</strong>tig ist hier, daß die Spieltheorie für jede dieser Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
offen ist. Sie steckt nur einen äußersten Rahmen ab, den Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren<br />
einhalten müssen, um als rational angesehen werden zu können. Die<br />
Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Konkretisierung <strong>der</strong> Spieltheorie zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
sind unendli<strong>ch</strong> und lassen eine Vielzahl unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Prozeduren und Ergebnisse<br />
zu. Au<strong>ch</strong> alle hobbesianis<strong>ch</strong>en Sozialvertragstheorien passen in dieses Modell: Ihr<br />
Naturzustand ist <strong>der</strong> Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt und ihre Vertragsverhandlung bildet die<br />
Prozedur, die zu einem Ergebnis auf <strong>der</strong> Pareto-Linie führt. Die Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie<br />
sind deshalb Grenzen, die für die hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition insgesamt<br />
gelten.<br />
3. Die Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
Der nur begrenzte Nutzen <strong>der</strong> Spieltheorie als Grundlage einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
kann erstens daran gezeigt werden, daß sie nur unvollständig Kritierien für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
liefert (a), und zweitens daran, daß das rationalistis<strong>ch</strong>e Nutzenkalkül ein für<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien inadäquates Modell anbietet, weil es sittli<strong>ch</strong>es o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>es<br />
Verhalten, auf das die politis<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft angewiesen ist, ni<strong>ch</strong>t erklären<br />
kann (b-d).<br />
a) Die immanenten Grenzen <strong>der</strong> Spieltheorie<br />
Mit <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten ist glei<strong>ch</strong>zeitig eine Grenze <strong>der</strong><br />
Spieltheorie als Werkzeug in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien aufgedeckt. Die Spieltheorie<br />
gibt selbst keine Anhaltspunkte dafür, wie eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprozedur ri<strong>ch</strong>tigerweise<br />
zu gestalten ist. Sol<strong>ch</strong>e Prozedurfairneß ist dem Fairneßbegriff <strong>der</strong> Spieltheorie<br />
fremd 70 . Es bleibt ergänzenden normativen Elementen vorbehalten, eine sol<strong>ch</strong>e Konkretisierung<br />
dur<strong>ch</strong>zuführen. Die S<strong>ch</strong>wierigkeiten, die für Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dabei entstehen, haben si<strong>ch</strong> beim Drohspielproblem gezeigt. Während<br />
Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan Drohungen als rational ansehen, werden diese von Selten,<br />
68 Vgl. oben S. 271 (spieltheoretis<strong>ch</strong>er Fairneßbegriff).<br />
69 Dazu oben S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren).<br />
70 Dazu oben S. 271 (spieltheoretis<strong>ch</strong>er Fairneßbegriff).<br />
274
Lucas und Gauthier als irrational zurückgewiesen. Sol<strong>ch</strong>e grundlegenden Wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>e<br />
in <strong>der</strong> Konkretisierung <strong>der</strong> Verhandlungsprozedur belegen, daß si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong><br />
Spieltheorie selbst keine eindeutige Bere<strong>ch</strong>nungsmögli<strong>ch</strong>keit für Verhandlungen<br />
über soziale Kooperation ergibt. Darin liegt eine theorieimmanente Grenze <strong>der</strong><br />
Spieltheorie 71 .<br />
Innerhalb <strong>der</strong> bestehenden Spieltheorie und Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie ist in <strong>der</strong> neueren<br />
Kritik no<strong>ch</strong> eine weitere immantene Grenze aufgezeigt worden 72 . Dabei geht es<br />
um die Art, in <strong>der</strong> die individuellen Präferenzen bere<strong>ch</strong>net werden. Einer <strong>der</strong> größten<br />
Vorzüge <strong>der</strong> Spieltheorie gegenüber älteren utilitaristis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> ist <strong>der</strong>jenige,<br />
daß hier mit relativen Nutzenfaktoren gearbeitet wird 73 . Damit s<strong>ch</strong>eint das Problem<br />
<strong>der</strong> interpersonellen Nutzenverglei<strong>ch</strong>e überwunden, das entsteht, wenn man<br />
den individuellen (subjektiven) Nutzen einer Person mit demjenigen einer an<strong>der</strong>en<br />
Person abwägen will, ohne einen gemeinsamen (objektiven) Maßstab zu haben, auf<br />
den si<strong>ch</strong> alle Individualnutzen glei<strong>ch</strong>maßen beziehen ließen 74 . Relative Nutzenfaktoren<br />
sind das Fundament, auf dem die Spieltheorie ruht 75 . Ihre Bere<strong>ch</strong>nung basiert<br />
letztli<strong>ch</strong> auf <strong>der</strong> Voraussetzung, daß jede Person für si<strong>ch</strong> selbst und unabhängig<br />
von an<strong>der</strong>en sagen kann, wie sehr sie eine Handlungsmögli<strong>ch</strong>keit gegenüber einer<br />
Handlungsalternative bevorzugt 76 . In <strong>der</strong> neueren Kritik wird dem für die Handlungsalternativen<br />
innerhalb sozialer Bindungen entgegengehalten, daß die Präferenzen<br />
selbst wie<strong>der</strong>um von <strong>der</strong> Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Personen abhängen, si<strong>ch</strong> also<br />
gerade ni<strong>ch</strong>t für jede Person unabhängig von an<strong>der</strong>en bestimmen lassen 77 . Die Konsequenzen<br />
aus dieser Kritik sind no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t übers<strong>ch</strong>aubar. Es s<strong>ch</strong>einen aber Zweifel<br />
daran bere<strong>ch</strong>tigt, daß si<strong>ch</strong> ökonomis<strong>ch</strong>e Verhaltensmuster auf alle an<strong>der</strong>en Berei<strong>ch</strong>e<br />
sozialen Handelns übertragen lassen. Wer beim Kauf eines Gebrau<strong>ch</strong>twagens und<br />
sogar bei <strong>der</strong> Partnerwahl im 'Heiratsmarkt' 78 seine relativen Nutzenfaktoren ohne<br />
fremde Hilfe 'bere<strong>ch</strong>nen' kann, <strong>der</strong> ist unter Umständen bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung über<br />
Erziehungsfragen o<strong>der</strong> bei politis<strong>ch</strong>en Wahlen dazu überhaupt ni<strong>ch</strong>t imstande, ohne<br />
vorher mit an<strong>der</strong>en Betroffenen über <strong>der</strong>en Präferenzen gespro<strong>ch</strong>en zu haben.<br />
71 Ähnli<strong>ch</strong> P. Ts<strong>ch</strong>annen, Stimmre<strong>ch</strong>t und politis<strong>ch</strong>e Verständigung (1995), S. 364.<br />
72 J. Nida-Rümelin/T. S<strong>ch</strong>midt/A. Munk, Interpersonal Dependency of Preferences (1996), S. 260 ff. –<br />
interpersonally dependent preferences.<br />
73 Vgl. oben S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren).<br />
74 Vgl. oben S. 154 (Harsanyis Utilitarismus).<br />
75 Vgl. oben S. 171 ff. (Nash, Harsanyi, Selten).<br />
76 Wenn A die Handlung X zur Verfolgung seine Interessen genauso nützli<strong>ch</strong> empfindet wie die<br />
Verhaltensalternative Y, dann besteht für X ein Nutzenfaktor von 0,5 (Indifferenz); repräsentiert X<br />
für A den größtmögli<strong>ch</strong>en Nutzen, dann ist <strong>der</strong> Nutzenfaktor für ihn 1,0; ist X für A völlig nutzlos,<br />
dann s<strong>ch</strong>milzt <strong>der</strong> Nutzenfaktor auf 0,0. Die beson<strong>der</strong>e Situation <strong>der</strong> Indifferenz wird in den<br />
Wirts<strong>ch</strong>afts- und Sozialwissens<strong>ch</strong>aften gern für die Analyse von Verhaltensalternativen mittels<br />
Indifferenzkurven genutzt; dazu ausführli<strong>ch</strong> N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 106 ff.<br />
m.w.N.<br />
77 J. Nida-Rümelin/T. S<strong>ch</strong>midt/A. Munk, Interpersonal Dependency of Preferences (1996), S. 260 ff.<br />
78 Vgl. R.B. McKenzie/G. Tullock, Homo Oeconomicus (1984), S. 138 (Wahl des Ehepartners): »Das rationale<br />
Individuum wird bei <strong>der</strong> Wahl des Ehepartners versu<strong>ch</strong>en, seinen Nutzen zu maximieren,<br />
wie bei allen an<strong>der</strong>en Handlungen au<strong>ch</strong>.«<br />
275
) Das Gefangenendilemma<br />
Wird mit <strong>der</strong> Spieltheorie das rationalistis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungskalkül als einzige<br />
Grundlage sozialer Ordnung betra<strong>ch</strong>tet, dann müßte es genügen, diejenigen Normen<br />
mit staatli<strong>ch</strong>em Zwang dur<strong>ch</strong>zusetzen, die eine Marktordnung für egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer<br />
s<strong>ch</strong>ützen, also eine Sozialordnung im Sinne des libertären Na<strong>ch</strong>twä<strong>ch</strong>terstaates.<br />
Bereits die Analyse des Gefangenendilemmas zeigt, daß eine <strong>der</strong>artige<br />
Minimalstaatli<strong>ch</strong>keit die mögli<strong>ch</strong>en Kooperationsgewinne in <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft<br />
ni<strong>ch</strong>t realisiert und darum ni<strong>ch</strong>t die bestmögli<strong>ch</strong>e soziale Ordnung begründen kann.<br />
Die Einzelheiten des Gefangenendilemmas sind so oft ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t worden, daß<br />
sie hier ni<strong>ch</strong>t wie<strong>der</strong>holt werden müssen 79 . Festzuhalten bleibt nur das bemerkenswerte<br />
Ergebnis: In einer ni<strong>ch</strong>tkooperativen Sozialsituation, in <strong>der</strong> die Beteiligten vollständig<br />
rational ihren je eigenen Vorteil verfolgen, kann das Ergebnis für jeden <strong>der</strong><br />
Beteiligten s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter sein als bei einer Kooperation. Die Beteiligten wissen zwar,<br />
daß es eigentli<strong>ch</strong> für alle besser wäre, wenn sie gemeinsam ein Kooperationsziel verwirkli<strong>ch</strong>ten,<br />
do<strong>ch</strong> aufgrund <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungsgesetze individueller Nutzenmaximierung<br />
bleibt ihnen keine Wahl: sie müssen die Kooperation verweigern. Dadur<strong>ch</strong> entgeht<br />
ihnen ein real mögli<strong>ch</strong>er Kooperationsvorteil. Hätten die Beteiligten ni<strong>ch</strong>t die<br />
Position individueller Nutzenmaximierer eingenommen, son<strong>der</strong>n si<strong>ch</strong> aus Tugendhaftigkeit<br />
(d.h. 'aristotelis<strong>ch</strong>') o<strong>der</strong> aus Moralität (d.h. 'kantis<strong>ch</strong>') nutzenunabhängig<br />
für die Kooperation ents<strong>ch</strong>ieden, dann ginge es ihnen im Ergebnis besser. Eine staatli<strong>ch</strong>e<br />
Ordnung, die au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Kooperationsvorteile no<strong>ch</strong> realisieren will, kann folgli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t allein dem freien Spiel <strong>der</strong> Kräfte seinen Lauf lassen, son<strong>der</strong>n muß die Rahmenbedingungen<br />
für »unbedingte Kooperation« setzen 80 . Der Staat muß s<strong>ch</strong>on aus<br />
pragmatis<strong>ch</strong>en Gründen jenseits minimalstaatli<strong>ch</strong>en Integritätss<strong>ch</strong>utzes au<strong>ch</strong> die Sittli<strong>ch</strong>keit<br />
o<strong>der</strong> Moralität för<strong>der</strong>n, um zusätzli<strong>ch</strong>e Kooperationsvorteile gegenüber individualistis<strong>ch</strong>er<br />
Nutzenmaximierung zu si<strong>ch</strong>ern.<br />
c) Das Beitragsdilemma bei öffentli<strong>ch</strong>en Gütern (D. Parfit)<br />
Ein weiterer Regelungsberei<strong>ch</strong>, in dem si<strong>ch</strong> die Inadäquatheit <strong>der</strong> Spieltheorie als<br />
Grundlage einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie erweist, ist die Si<strong>ch</strong>erung öffentli<strong>ch</strong>er Güter 81 .<br />
Das hier zu beoba<strong>ch</strong>tende Beitragsdilemma kann als volkswirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Son<strong>der</strong>fall<br />
des Gefangenendilemmas angesehen werden.<br />
79 Darstellungen etwa bei R. Axelrod/W.D. Hamilton, Evolution of Cooperation (1981), S. 1391 ff.;<br />
O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 420 ff.; G. Kir<strong>ch</strong>gässner, Homo oeconomicus (1991), S. 50<br />
ff. m.w.N.; L. Kern/J. Nida-Rümelin, Logik kollektiver Ents<strong>ch</strong>eidungen (1994), S. 201 ff. m.w.<br />
Beispielen. Eine weniger bekannte Variante des Gefangenendilemmas hat Hardin für die<br />
Nutzung öffentli<strong>ch</strong>er Güter ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t; G.J. Hardin, The Tragedy of the Commons (1968), S. 1243<br />
80 ff. Vgl. L. Kern/J. Nida-Rümelin, Logik kollektiver Ents<strong>ch</strong>eidungen (1994), S. 227 ff. (228).<br />
81 Der Begriff <strong>der</strong> 'öffentli<strong>ch</strong>en Güter' ist umstritten. W. Blümel/R. Pethig/O. v.d.Hagen, Theory of<br />
Public Goods (1986), S. 242 haben im wesentli<strong>ch</strong>en drei Begriffsverwendungen ausgema<strong>ch</strong>t: öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Güter als alle Gegenstände, bei <strong>der</strong>en Zurverfügungstellung ein Marktversagen eintreten<br />
kann; öffentli<strong>ch</strong>e Güter als öffentli<strong>ch</strong> vorgehaltene Güter; öffentli<strong>ch</strong>e Güter als alle Gegenstände,<br />
die zur Verfügung aller stehen und gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> verbrau<strong>ch</strong>t werden. Auf die Feinheiten <strong>der</strong><br />
Abgrenzung (ebd., S. 245 ff.) kann hier verzi<strong>ch</strong>tet werden, da Parfits Beitragsdilemma für alle diese<br />
Fälle gilt.<br />
276
Na<strong>ch</strong> dem von Parfit ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>te Beitragsdilemma (contributor's dilemma) lassen<br />
si<strong>ch</strong> bestimmte öffentli<strong>ch</strong>e Güter nur realisieren, wenn die Beitragsleistungen auf sittli<strong>ch</strong>en<br />
o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en Motiven beruhen, statt auf reinem Eigeninteresse 82 . Um beispielsweise<br />
eine saubere Stadt für alle zu si<strong>ch</strong>ern, muß i<strong>ch</strong> mein Kaugummi zum<br />
nä<strong>ch</strong>sten Mülleimer bringen, statt es auf den Gehweg zu spucken. Als eifriger Kaugummikauer<br />
könnte i<strong>ch</strong> das aus Eigeninteresse ni<strong>ch</strong>t tun, denn <strong>der</strong> Vorteil, <strong>der</strong> mir<br />
persönli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> das geringfügig reinli<strong>ch</strong>ere Stadtbild erwä<strong>ch</strong>st, wiegt den Na<strong>ch</strong>teil<br />
des zusätzli<strong>ch</strong>en Weges ni<strong>ch</strong>t auf. Der Beitrag ist für mi<strong>ch</strong> größer, als er für Ni<strong>ch</strong>tkaugummikauer<br />
wäre. Das Beitragsdilemma besteht also darin, daß zwar alle einsehen,<br />
warum in öffentli<strong>ch</strong>e Güter investiert werden muß, einige aber mehr zu leisten<br />
haben als an<strong>der</strong>e, so daß es meist einige gibt, die ni<strong>ch</strong>t aus reinen Vorteilserwägungen<br />
heraus ihren Beitrag leisten könnten. Beginnen aber erst einige, ihre Beitragsleistung<br />
einzustellen, so wirkt si<strong>ch</strong> das auf die Motivation <strong>der</strong> übrigen na<strong>ch</strong>haltig aus<br />
und das öffentli<strong>ch</strong>e Gut (hier: Reinheit <strong>der</strong> Stadt) geht in einer Kettenreaktion des<br />
Beitragsversagens unter.<br />
In vielen Berei<strong>ch</strong>en, etwa beim Steueraufkommen für Wohlfahrtsmaßnahmen, bei<br />
<strong>der</strong> Sozialversi<strong>ch</strong>erung o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Solidargemeins<strong>ch</strong>aften, kann <strong>der</strong> Staat die Beiträge<br />
dur<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tszwang effektiv dur<strong>ch</strong>setzen. Au<strong>ch</strong> in den Kernberei<strong>ch</strong>en des Umwelts<strong>ch</strong>utzes<br />
wirkt Re<strong>ch</strong>tszwang no<strong>ch</strong>, da si<strong>ch</strong> die Sanktionierung gravieren<strong>der</strong> Vers<strong>ch</strong>mutzungen<br />
effektiv dur<strong>ch</strong>setzen läßt. In Bagatellberei<strong>ch</strong>en, etwa beim Kaugummibeispiel,<br />
ist <strong>der</strong> Staat hingegen auf die freiwillige und uneigennützige Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Bürger angewiesen. Bestimmte Güter lassen si<strong>ch</strong> nur realisieren, wenn die Bürger<br />
zu sittli<strong>ch</strong>em o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>em Handeln motiviert werden können. Diese Motivation,<br />
Beiträge zur Erhaltung o<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>affung öffentli<strong>ch</strong>er Güter selbst dann zu leisten,<br />
wenn Re<strong>ch</strong>tszwang o<strong>der</strong> Sozialkontrolle sie ni<strong>ch</strong>t effektiv dur<strong>ch</strong>setzen könnten,<br />
ist au<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>tbar. Wäre dies ni<strong>ch</strong>t so, dann müßte je<strong>der</strong> unbeoba<strong>ch</strong>tete<br />
Wan<strong>der</strong>er auf dem Gipfel eines Berges seine Picknickabfälle aus Bequemli<strong>ch</strong>keit<br />
liegen lassen. Daß er dies ni<strong>ch</strong>t tut, erklärt si<strong>ch</strong> keinesfalls eigennützig aus <strong>der</strong> Vermeidung<br />
von Sanktionen (d.h. hobbesianis<strong>ch</strong>), son<strong>der</strong>n vielmehr daraus, daß er die<br />
Reinhaltung als individuelles o<strong>der</strong> kollektives Ideal akzeptiert (d.h. aristotelis<strong>ch</strong>),<br />
o<strong>der</strong> dadur<strong>ch</strong>, daß das Ni<strong>ch</strong>tvers<strong>ch</strong>mutzen für ihn eine moralis<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>t ist (d.h.<br />
kantis<strong>ch</strong>) 83 .<br />
d) Das Wählerparadoxon (Condorcet, K.J. Arrow)<br />
Eine entspre<strong>ch</strong>ende Argumentation für freiwillige und uneigennützige Bürgermitwirkung<br />
läßt si<strong>ch</strong> beim Wählerparadoxon (voter's paradox) zeigen. Das Paradoxon,<br />
das zunä<strong>ch</strong>st für den Einzelfall von Abstimmungen mit mehreren Alternativen<br />
82 D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 61 f.: »The commonest true Dilemmas are Contributor's<br />
Dilemmas. ... [O]nly a very small portion of the benefit he adds will come back to him. ... It may<br />
thus be better for ea<strong>ch</strong> if he does not contribute. ... Commuters: Ea<strong>ch</strong> goes faster if he drives, but if<br />
all drive ea<strong>ch</strong> goes slower than if all take buses; Soldiers: Ea<strong>ch</strong> will be safer if he turns and runs,<br />
but if all do more will be killed than if none do; Fishermen: When the sea is overfished, it can be<br />
better for ea<strong>ch</strong> if he tries to cat<strong>ch</strong> more, worse for ea<strong>ch</strong> if all do; ...« (Hervorhebungen bei Parfit).<br />
83 Vgl. D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 64 – einige Lösungsmögli<strong>ch</strong>keiten zum Beitragsdilemma:<br />
»We might become Kantians. ... We might become more altruistic.« (Hervorhebungen bei<br />
Parfit).<br />
277
dur<strong>ch</strong> Condorcet 84 und später als generelles Phänomen von Arrow formuliert wurde 85 ,<br />
besagt, daß si<strong>ch</strong> aus vollständigen und transitiven Präferenzordnungen von Einzelnen<br />
ni<strong>ch</strong>t immer eine vollständige und transitive Präferenzordnung <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft<br />
ermitteln läßt – im kollektiven Resultat wird unter Umständen »jede Alternative<br />
gegenüber je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en bevorzugt« 86 . Das Wählerparadoxon führt dazu, daß es<br />
für jeden einzelnen Wahlbere<strong>ch</strong>tigten irrational ist, überhaupt an <strong>der</strong> Wahl teilzunehmen<br />
87 . Irrational ist außerdem <strong>der</strong> bei einer Wahlteilnahme entstehende Aufwand<br />
im Verglei<strong>ch</strong> zu den verna<strong>ch</strong>lässigbar geringen Chancen einer Wahlbeeinflussung<br />
dur<strong>ch</strong> die einzelne Stimmabgabe 88 . Denno<strong>ch</strong> nehmen die meisten Wahlbere<strong>ch</strong>tigten<br />
jedenfalls gelegentli<strong>ch</strong> an Wahlen teil. In einigen Staaten wird das dur<strong>ch</strong> eine<br />
sanktionsbewehrte Wahlpfli<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>t, die aber die wahre Wahlbeteiligung verdeckt<br />
und damit eigene Na<strong>ch</strong>teile hat. In den übrigen Staaten ist die Wahlbeteiligung<br />
hingegen mit einem vorteilsorientierten Verhalten ni<strong>ch</strong>t zu erklären 89 , es sei<br />
denn, man betra<strong>ch</strong>tet Moralität selbst als vorteilhaft 90 . Die politis<strong>ch</strong>e Kooperation ist<br />
vielmehr, wie bei den Beiträgen zu öffentli<strong>ch</strong>en Gütern, dadur<strong>ch</strong> begründet, daß die<br />
Bürger zumindest teilweise aus sittli<strong>ch</strong>en 91 o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en Motiven handeln 92 : Sie<br />
nehmen den Aufwand ni<strong>ch</strong>t aus Eigennutz (d.h. hobbesianis<strong>ch</strong>) auf si<strong>ch</strong>, son<strong>der</strong>n um<br />
gute Bürger zu sein (d.h. aristotelis<strong>ch</strong>) o<strong>der</strong> um ihren Bürgerpfli<strong>ch</strong>ten zu genügen<br />
(d.h. kantis<strong>ch</strong>). Der 'perfekte Privatier' ist ein für die demokratis<strong>ch</strong>e Ordnung inadäquates<br />
Modell 93 .<br />
84 Condorcet, Essai sur l'Application de l'Analyse la Probabilité des Décisions la Pluralité des Voix<br />
(1785); vgl. dazu J.S. Kelly, Social Choice Theory (1988), S. 15 ff.; L. Kern/J. Nida-Rümelin, Logik kollektiver<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungen (1994), S. 29 ff.<br />
85 'Impossibility theorem'; K.J. Arrow, Social Choice and Individual Values (1951); vgl. dazu L. Kern/J.<br />
Nida-Rümelin, Logik kollektiver Ents<strong>ch</strong>eidungen (1994), S. 27 ff.; A.R. S<strong>ch</strong>otter, Microeconomics<br />
(1997), S. 604 ff.<br />
86 L. Kern/J. Nida-Rümelin, Logik kollektiver Ents<strong>ch</strong>eidungen (1994), S. 29, mit <strong>der</strong> Eins<strong>ch</strong>ränkung<br />
(S. 39), daß si<strong>ch</strong> in 94% aller mögli<strong>ch</strong>en Präferenzstrukturen ni<strong>ch</strong>t-zyklis<strong>ch</strong>e und damit konsistente<br />
kollektive Resultate ergeben.<br />
87 D.C. Mueller, Public Choice II (1989), S. 361.<br />
88 Ausführli<strong>ch</strong>e Analyse bei J.C. Harsanyi, Rule Utilitarianism, Rights, Obligations and the Theory of<br />
Rational Behavior (1980), S. 115 ff., 129 ff.<br />
89 B. Ackerman, We The People (1991), S. 236 ff. m.w.N., am Beispiel <strong>der</strong> U.S.A. S. 311: »The problem<br />
comes when the 'public <strong>ch</strong>oice' perspective mistakes this part of politics [the pursuit of selfinterest]<br />
for the whole. Perfect privatism is a crucial part of the problem of American politics, not<br />
the keystone of its constitutional solution.«<br />
90 Dazu oben S. 154 (Utilitarismus von Harsanyi).<br />
91 B. Ackerman, We The People (1991), S. 239: »[W]hile a mo<strong>der</strong>n democracy must learn to economize<br />
on public-regarding virtue, there can be no hope of doing without it entirely«; sowie S. 236: »I<br />
shall [insist] against some fashionable economist views, on the absolute necessity of a certain kind<br />
of virtue in the normal operation of the democratic system.« Ausführli<strong>ch</strong> dazu D.C. Mueller, Public<br />
Choice II (1989), S. 361 ff. m.w.N.<br />
92 So im Ergebnis au<strong>ch</strong> J.C. Harsanyi, Rule Utilitarianism, Rights, Obligations and the Theory of Rational<br />
Behavior (1980), S. 129 f., allerdings mit regelutilitaristis<strong>ch</strong>er Rückführung auf ein Nutzenkalkül.<br />
Vgl. oben S. 269 (Kritik am Utilitarismus als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie).<br />
93 B. Ackerman, We The People (1991), S. 298 – perfect privatist.<br />
278
4. Ergebnisse<br />
Die Spieltheorie als Grundform einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie läßt Raum<br />
für eine unendli<strong>ch</strong>e Vielfalt von Prozeduren, mit denen eine Verhandlung über soziale<br />
Kooperation modelliert werden kann. Sie stößt dadur<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> Bestimmung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> selbst dann auf immanente Grenzen, wenn man die implizierte<br />
Grundregel <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens akzeptiert, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> das ist, was si<strong>ch</strong> aus einer am individuellen Vorteil orientierten Verhandlung<br />
ergibt o<strong>der</strong> ergeben könnte. Ohne zusätzli<strong>ch</strong>e normative Argumente über<br />
das Verhandlungsverfahren kann aus <strong>der</strong> Spieltheorie allein keine S<strong>ch</strong>lußfolgerung<br />
für die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gezogen werden.<br />
Abgesehen von diesen immanenten Grenzen ist die Spieltheorie als Erklärungsmodell<br />
für eine gere<strong>ch</strong>te soziale Ordnung au<strong>ch</strong> inadäquat. Die im Gemeinwesen<br />
mögli<strong>ch</strong>en Kooperationsvorteile, <strong>der</strong>en Realisierung im Interesse aller Bürger geboten<br />
ist, können allein dur<strong>ch</strong> Eigennutz ni<strong>ch</strong>t erklärt werden. Für die weitgehende<br />
Kooperation, die in gegenwärtigen Sozialordnungen tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>tbar ist, gibt<br />
es an<strong>der</strong>e als rationalistis<strong>ch</strong>-vorteilsorientierte Gründe. Sol<strong>ch</strong>e Rationalitätspotentiale<br />
werden im letzten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung dargelegt 94 .<br />
II.<br />
Zur Kritik am neohobbesianis<strong>ch</strong>en Nutzenkalkül<br />
Die Analyse zur Spieltheorie hat gezeigt, daß ein normativer Rahmen für das Nutzenkalkül<br />
jeweils separat begründet werden muß, um in <strong>der</strong> unendli<strong>ch</strong>en Vielfalt <strong>der</strong><br />
Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten eine bestimmte Ents<strong>ch</strong>eidung als ri<strong>ch</strong>tig auszei<strong>ch</strong>nen<br />
zu können. Daraus läßt si<strong>ch</strong> eine grundlegende Kritik am Neohobbesianismus ableiten,<br />
die zugespitzt als die Unents<strong>ch</strong>eidbarkeit des normativen Rahmens für relevante<br />
Handlungsalternativen bezei<strong>ch</strong>net werden könnte.<br />
Was ist damit gemeint? Da jede neohobbesianis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie letztli<strong>ch</strong><br />
die individuelle Nutzenmaximierung zuläßt und for<strong>der</strong>t, muß sie au<strong>ch</strong> über die<br />
Mittel ents<strong>ch</strong>eiden, die bei <strong>der</strong> Verfolgung des eigenen Nutzens berücksi<strong>ch</strong>tigt werden<br />
sollen. Sie muß den normativen Rahmen des Nutzenkalküls bestimmen. Wenn<br />
für zwei Personen A und B, die eine Kooperation bei <strong>der</strong> Apfelernte planen, <strong>der</strong> kooperationslose<br />
Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt bere<strong>ch</strong>net wird 95 , dann muß ents<strong>ch</strong>ieden werden,<br />
ob dabei au<strong>ch</strong> Drohungen ins Kalkül eingehen. Immerhin könnte es für A die<br />
beste Handlungsstrategie sein, den B zu einem Ernteeinsatz zu zwingen, bei dem A<br />
die gesamte Ernte und B ni<strong>ch</strong>ts erhält. Sogar eine völlige Versklavung des B dur<strong>ch</strong><br />
den A ist im neohobbesianis<strong>ch</strong>en Gedankenspiel ni<strong>ch</strong>t von vornherein ausges<strong>ch</strong>lossen<br />
96 . Innerhalb des Rationalitätsrahmens <strong>der</strong> individuellen Nutzenmaximierung<br />
gibt es keinen normativen S<strong>ch</strong>utz gegen sol<strong>ch</strong>e Drohspiele 97 . <strong>Theorien</strong>, die einen sol<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utz unterstellen, verlassen damit die Grundlage <strong>der</strong> Vorteilskalkulation 98 .<br />
94 Dazu unten S. 309 ff. (Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
95 Dazu oben S. 176 ff. (<strong>Theorien</strong> zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt; nonagreement basepoint).<br />
96 Zu dieser Konsequenz siehe oben S. 178 ff. (Bu<strong>ch</strong>anan: Drohspiel als Sozialvertrag).<br />
97 Das Fehlen eines normativen S<strong>ch</strong>utzes zeigt si<strong>ch</strong> bereits im Re<strong>ch</strong>tsbegriff bei Hobbes, <strong>der</strong> zwar von<br />
'natürli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ten' (rights of nature) spri<strong>ch</strong>t, dabei aber ni<strong>ch</strong>t Ansprü<strong>ch</strong>e gegen an<strong>der</strong>e meint, al-<br />
279
Do<strong>ch</strong> selbst wenn man konsequenterweise Drohungen ins Kalkül einbezieht, so<br />
ist no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t geklärt, wel<strong>ch</strong>e Drohungen das sein sollen. Immerhin handelt es si<strong>ch</strong><br />
nur um ein Gedankenspiel: Die Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> findet ni<strong>ch</strong>t<br />
als realer, son<strong>der</strong>n allenfalls als hypothetis<strong>ch</strong>er Sozialvertrag statt. Als Gedankenspiel<br />
aber bleiben au<strong>ch</strong> alle Drohungen hypothetis<strong>ch</strong> – ob A wirkli<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>en würde,<br />
den B zu einer Kooperation zu zwingen, selbst wenn er dabei unter Umständen<br />
dur<strong>ch</strong> die Gegenwehr des B verletzt werden könnte, ist eine von psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en<br />
Faktoren im Einzelfall abhängige Frage, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t generell für alle mögli<strong>ch</strong>en<br />
Drohungen beantworten läßt. Damit ist die Unbestimmtheit für diejenigen neohobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Theorien</strong> belegt, die wie die von Lucas Drohungen unberücksi<strong>ch</strong>tigt lassen<br />
wollen, wenn sie ni<strong>ch</strong>t realistis<strong>ch</strong> sind 99 , denn was eine realistis<strong>ch</strong>e Drohung ist,<br />
läßt si<strong>ch</strong> im hypothetis<strong>ch</strong>en Gedankenspiel <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ni<strong>ch</strong>t beantworten.<br />
Die Unbestimmtheit erweist si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei <strong>Theorien</strong>, die wie diejenige<br />
von Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan jede Drohung als relevant für das Nutzenkalkül akzeptieren.<br />
Diese an<strong>der</strong>sartige Unbestimmtheit läßt si<strong>ch</strong> am obigen Beispiel zeigen: Angenommen,<br />
A bietet B an: 'Wir teilen die Ernte 51% zu 49%, sonst werde i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> verprügeln.'<br />
Wenn A tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> kräftiger ist als B und dadur<strong>ch</strong> einen Verhandlungsvorteil<br />
hat, <strong>der</strong> in das Drohspiel eingeht, müßte B si<strong>ch</strong> dann ni<strong>ch</strong>t klugerweise auf<br />
das Angebot einlassen? Immerhin ist <strong>der</strong> Na<strong>ch</strong>teil, den er gegenüber einer Glei<strong>ch</strong>verteilung<br />
<strong>der</strong> Ernte hat, relativ geringfügig vergli<strong>ch</strong>en mit dem körperli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>aden,<br />
<strong>der</strong> ihm von einem antagonistis<strong>ch</strong>en A droht. Trotz dieser vermeintli<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>en<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungssituation ist die Frage des Nutzenkalküls ni<strong>ch</strong>t definitiv zu beantworten.<br />
Bei bloß hypothetis<strong>ch</strong>en Drohungen könnte B beispielsweise einwenden:<br />
'Auf einer Glei<strong>ch</strong>verteilung muß i<strong>ch</strong> bestehen, weil i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> mit einer Bena<strong>ch</strong>teiligung<br />
aus Prinzip ni<strong>ch</strong>t abfinden kann und di<strong>ch</strong>, A, ein Leben lang verfolgen würde,<br />
bis dieses Unre<strong>ch</strong>t gerä<strong>ch</strong>t ist.' Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie, die jede hypothetis<strong>ch</strong>e<br />
Drohung genügen läßt, müßte au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Aussagen des wildents<strong>ch</strong>lossenen B berücksi<strong>ch</strong>tigen.<br />
Dur<strong>ch</strong> die hypothetis<strong>ch</strong>en Drohmögli<strong>ch</strong>keiten werden unter Umständen<br />
die Verhandlungsvorteile, die ohne Drohung bestünden, nivelliert, je na<strong>ch</strong>dem,<br />
wel<strong>ch</strong>e Drohungen konstruiert werden. S<strong>ch</strong>on Hobbes hat den Umstand erkannt, daß<br />
selbst <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ste eine (hypothetis<strong>ch</strong>e) Bedrohung für den Stärksten werden<br />
kann, und daraus gefolgert, daß alle Mens<strong>ch</strong>en im wesentli<strong>ch</strong>en glei<strong>ch</strong> sind 100 . Darin<br />
liegt eine Nivellierung von Unters<strong>ch</strong>ieden <strong>der</strong> Verhandlungsma<strong>ch</strong>t, die bei allen neohobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Theorien</strong> zum Unbestimmtheitsproblem führt. Letztli<strong>ch</strong> unterliegt<br />
eine Vorteilskalkulation, die hypothetis<strong>ch</strong>e Drohungen benutzt, einer Beliebigkeit<br />
<strong>der</strong> Ergebnisse.<br />
Man kann diesen Zusammenhang so zu einer Kritik zusammenfassen: Neohobbesianis<strong>ch</strong>e<br />
Nutzenkalkulationen können konsequenterweise hypothetis<strong>ch</strong>e Drohunso<br />
ni<strong>ch</strong>t Re<strong>ch</strong>te, denen die Pfli<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf A<strong>ch</strong>tung korrespondieren. Ausführli<strong>ch</strong> zu<br />
dieser Analyse D. Gauthier, The Logic of the Leviathan (1969), S. 30 f.<br />
98 Dazu exemplaris<strong>ch</strong> unten S. 281 ff. (Kritik an <strong>der</strong> Theorie Gauthiers).<br />
99 Zu dieser Konsequenz siehe oben S. 179 (Theorie <strong>der</strong> realistis<strong>ch</strong>en Verhaltenshypothesen).<br />
100 T. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 13: »Nature has made men so equall, ... the weakest has<br />
strength enough to kill the strongest«.<br />
280
gen ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>ließen, geraten aber zwangsläufig in die Unbestimmbarkeit, wenn<br />
sie sie zulassen 101 .<br />
III. Zur Kritik an D.P. Gauthiers Moral dur<strong>ch</strong> Vereinbarung<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Darstellung von Gauthiers <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist bereits deutli<strong>ch</strong><br />
geworden, daß die Lockes<strong>ch</strong>e Provisio als ein moralis<strong>ch</strong>es Element eingesetzt wird,<br />
das mit den Grundlagen <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien ni<strong>ch</strong>t vereinbar ist 102 . Gauthier<br />
versu<strong>ch</strong>t eine rationalistis<strong>ch</strong>e Begründung für etwas, das es innerhalb des Rationalitätsrahmens<br />
<strong>der</strong> individuellen Nutzenmaximierung gerade ni<strong>ch</strong>t geben kann: den<br />
normativen S<strong>ch</strong>utz gegen Drohung und Gewalt 103 . Die Begründung von Moral läßt<br />
si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t (moralfrei) auf eine rationalistis<strong>ch</strong>e Vereinbarung unter egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierern<br />
zurückführen. Die Gegenüberstellung von Gauthiers Modell mit<br />
Drohspieltheorien, wie sie von Braithwaite und Bu<strong>ch</strong>anan vertreten werden, hat gezeigt,<br />
daß au<strong>ch</strong> mit einem transzendentalen Argument die moralfreie Begründung<br />
von Moralität ni<strong>ch</strong>t gelingen kann: Die Gewaltfreiheit ist ni<strong>ch</strong>t eine denknotwendige<br />
Voraussetzung für rationalistis<strong>ch</strong>e Vereinbarungen, son<strong>der</strong>n steht im Gegenteil einem<br />
freien S<strong>ch</strong>lagabtaus<strong>ch</strong> <strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Verhandlungsvorteile entgegen.<br />
Insoweit hat Hobbes mit seinem gewaltgeneigten Naturzustand ein konsequentes und<br />
na<strong>ch</strong> wie vor zutreffendes Bild für die Interaktion zwis<strong>ch</strong>en egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierern<br />
gezei<strong>ch</strong>net, das au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> neohobbesianis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien<br />
ni<strong>ch</strong>t überwunden werden kann. Gauthiers Projekt einer Begründung von Moral<br />
dur<strong>ch</strong> Vereinbarung ist in diesem Punkt ges<strong>ch</strong>eitert.<br />
IV. Zur Kritik an O. Höffes transzendentalem Taus<strong>ch</strong><br />
Das faszinierende Programm <strong>der</strong> Theorie Höffes besteht darin, politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
insgesamt auf ein einziges, relativ unbestrittenes Prinzip zurückzuführen – das<br />
<strong>der</strong> Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit. Der Taus<strong>ch</strong> ist deshalb im hobbesianis<strong>ch</strong>en Sinne gere<strong>ch</strong>t,<br />
weil er für beide Seiten vorteilhaft ist. Um zu taus<strong>ch</strong>en muß man si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zu einer<br />
beson<strong>der</strong>en 'Taus<strong>ch</strong>moral' bekennen, son<strong>der</strong>n kann einfa<strong>ch</strong> den Gesetzen <strong>der</strong> Klugheit<br />
folgen und den individuellen Vorteil su<strong>ch</strong>en. Allerdings kann Höffes Herleitung<br />
politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> allein aus klugem Taus<strong>ch</strong>verhalten in mindestens drei<br />
Punkten ni<strong>ch</strong>t überzeugen 104 .<br />
101 Ähnli<strong>ch</strong> P. Koller, Neue <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts (1987), S. 225: Bu<strong>ch</strong>anans Theorie sei unbestimmt<br />
im gesamten Spektrum zwis<strong>ch</strong>en Sklaverei und Wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>keit.<br />
102 Vgl. oben S. 191 (Moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie Gauthiers).<br />
103 Zur Unmögli<strong>ch</strong>keit des normativen S<strong>ch</strong>utzes gegen Drohung soeben S. 279 (Kritik des neohobbesianis<strong>ch</strong>en<br />
Nutzenkalküls).<br />
104 Weitere Kritikpunkte, auf die hier ni<strong>ch</strong>t näher eingegangen werden kann, finden si<strong>ch</strong> bei P. Koller,<br />
Otfried Höffes Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und des Staates (1997), S. 301 ff. – Ein Re<strong>ch</strong>tsbegriff,<br />
<strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>e und monopolisierte Zwangsgewalt voraussetze, sei zu stark, weil ethnologis<strong>ch</strong>e<br />
Verglei<strong>ch</strong>e zeigten, daß re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnung au<strong>ch</strong> in ni<strong>ch</strong>tzentralsierten 'segmentären Gesells<strong>ch</strong>aften'<br />
mögli<strong>ch</strong> sei. Der Staatsbegriff sei hingegen zu weit, als daß er den neuzeitli<strong>ch</strong>en Sinn<br />
erfassen könnte.<br />
281
Erstens führt die Theorie zu einem wenig überzeugenden Verständnis politis<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei dem die Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te negiert wird. Denn eine<br />
unliebsame Konsequenz des Taus<strong>ch</strong>konzepts von Höffe ist <strong>der</strong> Untergang all jener Interessen,<br />
die ni<strong>ch</strong>t mit Taus<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>t einhergehen. Bei Kin<strong>der</strong>n und Alten kann das<br />
Problem mit einem asyn<strong>ch</strong>ronen Taus<strong>ch</strong> umgangen werden. Aber we<strong>der</strong> die Interessen<br />
von Mens<strong>ch</strong>en mit angeborener Behin<strong>der</strong>ung no<strong>ch</strong> diejenigen <strong>der</strong> weit in <strong>der</strong> Zukunft<br />
liegenden Generationen kann Höffes Taus<strong>ch</strong> einfangen. In beiden Fällen gibt es<br />
keinerlei Drohpotential, das den Handlungsmä<strong>ch</strong>tigen <strong>der</strong> Jetztgeneration entgegengehalten<br />
werden könnte. Höffe sieht das Problem selbst 105 . Er meint, man könne unter<br />
Umständen die Grundre<strong>ch</strong>te Behin<strong>der</strong>ter statt als eine Leistung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als eine sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Solidarität ansehen. Das ist s<strong>ch</strong>on deshalb unbefriedigend, weil<br />
die Re<strong>ch</strong>te Behin<strong>der</strong>ter dann eine an<strong>der</strong>e Qualität hätten als diejenigen von Ni<strong>ch</strong>tbehin<strong>der</strong>ten.<br />
Sie sind keine vorpositiv begründeten, staatli<strong>ch</strong> 'gewährleisteten' Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te,<br />
son<strong>der</strong>n allein positiv 'gewährte' Grundre<strong>ch</strong>te. Außerdem wi<strong>der</strong>spri<strong>ch</strong>t<br />
diese Lösung <strong>der</strong> Sozialstaatskonzeption Höffes. Wenn Staatli<strong>ch</strong>keit nur dienend ist –<br />
Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit also vor allem demokratiefunktional zur Verwirkli<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
legitimiert werden kann – dann bestünde für den Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz Behin<strong>der</strong>ter<br />
kein Grund. Erst <strong>der</strong> Bestand von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten re<strong>ch</strong>tfertigt staatli<strong>ch</strong>e Aktivität<br />
zu ihrem S<strong>ch</strong>utz.<br />
Zweitens bildet die Unbestimmtheit des Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskanons einen S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>punkt<br />
<strong>der</strong> Theorie. Höffe äußert si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t eindeutig dazu, wel<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te in<br />
<strong>der</strong> natürli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bestehen. Er spri<strong>ch</strong>t zunä<strong>ch</strong>st nur von Leib, Leben, Eigentum,<br />
Ehre und Religion, führt später aber au<strong>ch</strong> die Meinungsfreiheit an 106 . Diese<br />
Unbestimmtheit hat gerade für Höffes Theorie einiges Gewi<strong>ch</strong>t. Denn davon, was in<br />
dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Taus<strong>ch</strong>paket enthalten ist, hängt ab, ob ein späterer Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
nur funktional ist und damit unter Umständen zur Disposition des Staates<br />
steht, o<strong>der</strong> ob eine vorpositive Geltung beanspru<strong>ch</strong>t werden kann. Versu<strong>ch</strong>t man<br />
Höffes Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tspaket zu konkretisieren, so fällt auf, daß bei nahezu allen Kandidaten<br />
für den Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskanon die glei<strong>ch</strong>e Argumentation wie bei Ehre und<br />
Religion gilt. Praktis<strong>ch</strong> jedes Re<strong>ch</strong>t ist einigen Mens<strong>ch</strong>en wi<strong>ch</strong>tiger als ihr Leben. Es<br />
gibt immer Einzelne, die für ihre Meinungsfreiheit, ihre Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit, ihre<br />
Kunstfreiheit, ihr Erziehungsre<strong>ch</strong>t, ihren ungestörten Naturgenuß sogar sterben würden.<br />
Konsequenterweise muß darum eine allgemeine Handlungsfreiheit zum Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t<br />
erhoben werden 107 . Damit aber gewinnt das Taus<strong>ch</strong>paket einen an<strong>der</strong>en<br />
Charakter. Die Re<strong>ch</strong>te im sekundären Naturzustand haben ni<strong>ch</strong>t mehr nur ein Wirkli<strong>ch</strong>keitsdefizit,<br />
weil sie ohne staatli<strong>ch</strong>e Autorität ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>setzbar sind, son<strong>der</strong>n<br />
sie haben zusätzli<strong>ch</strong> ein Bestimmtheitsdefizit, weil ohne Abgrenzung <strong>der</strong> Hand-<br />
105 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 427: »Es soll ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>wiegen werden, daß bei einer<br />
Legitimation natürli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te dur<strong>ch</strong> den Taus<strong>ch</strong> von Freiheitsverzi<strong>ch</strong>ten diejenigen aus dem<br />
Kreis <strong>der</strong> Nutznießer ausgenommen bleiben, die aufgrund angeborener Behin<strong>der</strong>ung über keine<br />
Drohpotentiale verfügen und deshalb au<strong>ch</strong> in entwicklungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Betra<strong>ch</strong>tung zu keinem<br />
(nennenswerten) Taus<strong>ch</strong> auf Gegenseitigkeit fähig sind.«<br />
106 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 402: »als Lebewesen brau<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> ... Leib und<br />
Leben, als Spra<strong>ch</strong>- und Denkwesen die Meinungsfreiheit u.s.w.«<br />
107 Etwas unbestimmt insofern O. Höffe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>? (1991), S. 125: Ein »Interesse zweiter<br />
Stufe besteht in <strong>der</strong> Handlungsfreiheit«.<br />
282
lungssphären niemand mehr sagen kann, auf wel<strong>ch</strong>e Handlungsweisen ein Re<strong>ch</strong>t besteht<br />
und auf wel<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t. Damit aber verliert das Paket seine Taus<strong>ch</strong>fähigkeit.<br />
Denn zum Taus<strong>ch</strong> in Höffes Theorie gehört <strong>der</strong> Freiheitsverzi<strong>ch</strong>t. Man kann zwar darauf<br />
verzi<strong>ch</strong>ten, die eigene Freiheit so zu gebrau<strong>ch</strong>en, daß die Integrität von Leib, Leben,<br />
Eigentum, Ehre o<strong>der</strong> Religion an<strong>der</strong>er beeinträ<strong>ch</strong>tigt wird. Man kann aber ni<strong>ch</strong>t<br />
darauf verzi<strong>ch</strong>ten, die eigene Freiheit so zu gebrau<strong>ch</strong>en, daß die Handlungsfreiheit<br />
an<strong>der</strong>er beeinträ<strong>ch</strong>tigt ist. Denn das ist bei je<strong>der</strong> Handlung mit Sozialbezug <strong>der</strong> Fall.<br />
Wann immer meine Handlungssphäre diejenige einer an<strong>der</strong>en Person berührt, ist <strong>der</strong>en<br />
Handlungsfreiheit betroffen.<br />
Drittens – und dies kann als gewi<strong>ch</strong>tigster Kritikpunkt gelten – gerät Höffe mit seiner<br />
Anwendung <strong>der</strong> Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit in ein unauflösli<strong>ch</strong>es Dilemma. Er will<br />
Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit frei von moralis<strong>ch</strong>em Vorverständnis wirken lassen 108 . Das<br />
kann er nur, wenn er die natürli<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en beim Taus<strong>ch</strong> uneinges<strong>ch</strong>ränkt<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigt. Es muß trotz <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>iede gezeigt werden können,<br />
daß alle Mens<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> auf einen Taus<strong>ch</strong> einlassen würden, denn<br />
Taus<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit steht unter <strong>der</strong> Bedingung, daß au<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> getaus<strong>ch</strong>t<br />
wird 109 . Da es von Natur aus unstreitig 'Starke' und 'S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e' gibt, gewinnen die<br />
Mens<strong>ch</strong>en im Naturzustand eine vers<strong>ch</strong>iedene Taus<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>t. Unter diesen Bedingungen<br />
ist es ni<strong>ch</strong>t rational, daß sie si<strong>ch</strong> gegenseitig alle dasselbe Paket von Re<strong>ch</strong>ten<br />
gewähren. Bu<strong>ch</strong>anan hat sehr viel überzeugen<strong>der</strong> dargelegt, wie ein Taus<strong>ch</strong> bei moralis<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t vorgeprägter Ausgangssituation aussehen müßte 110 . Erst na<strong>ch</strong> einem<br />
'Kampf bis aufs Messer' stellt si<strong>ch</strong> eine natürli<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tslage ein, in <strong>der</strong> die<br />
Parteien nur no<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> gegenseitige Abrüstungspakte ihre Lage verbessern können.<br />
Der für beide Seiten vorteilhafte Taus<strong>ch</strong> muß dann keinesfalls glei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te zeitigen.<br />
Es kann sogar die Versklavung <strong>der</strong> einen dur<strong>ch</strong> die an<strong>der</strong>en bei<strong>der</strong>seits vorteilhaft<br />
sein, wenn nur die Unters<strong>ch</strong>iede in <strong>der</strong> Verhandlungsma<strong>ch</strong>t groß genug sind 111 .<br />
Dann sieht <strong>der</strong> Abrüstungsvertrag vor, daß Sklaven ein Re<strong>ch</strong>t auf Leib und Leben<br />
erhalten, die Herren aber zusätzli<strong>ch</strong> das Re<strong>ch</strong>t, die Arbeitskraft <strong>der</strong> Sklaven auszubeuten<br />
112 . Dieses Gegenmodell zeigt das Dilemma, in dem si<strong>ch</strong> die Theorie Höffes<br />
befindet. Ohne die von ihr ni<strong>ch</strong>t gewollte Moralisierung des Ausgangszustands<br />
kann sie ni<strong>ch</strong>t begründen, warum <strong>der</strong> Taus<strong>ch</strong> im Naturzustand eine Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te erzeugen soll 113 . Dieses Dilemma wird au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> auf-<br />
108 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 402: »Weil die entspre<strong>ch</strong>enden Freiheitsverzi<strong>ch</strong>te für<br />
jeden vorteilhaft sind, bleiben sie Gebote <strong>der</strong> Klugheit und verlangen keine darüber hinausgehende<br />
Moralität.«<br />
109 Zu dieser Bedingtheit M. Kettner, Otfried Höffes transzendental-kontraktualistis<strong>ch</strong>e Begründung<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1997).<br />
110 Hierzu und im folgenden J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 23 ff., 59 f.<br />
111 Zur Versklavung in <strong>der</strong> Theorie Bu<strong>ch</strong>anans oben S. 178 (Drohspiel als Sozialvertrag).<br />
112 Vgl. J.M. Bu<strong>ch</strong>anan, Limits of Liberty (1975), S. 23 ff., 60: »A contract of slavery would, as other<br />
contracts, define individual rights, and, to the extent that this assignment is mutually accepted,<br />
mutual gains may be secured from the consequent reduction in defense and predation effort.« Zu<br />
dieser Konsequenz P. Koller, Otfried Höffes Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und des Staates<br />
(1997), S. 289 f.; J. Nida-Rümelin, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bei John Rawls und Otfried Höffe (1997), S. 310 f.<br />
113 Ausführli<strong>ch</strong> zu dieser Kritik K. Günther, Kann ein Volk von Teufeln Re<strong>ch</strong>t und Staat moralis<strong>ch</strong> legitimieren?<br />
(1991), S. 199 ff.; P. Koller, Zur ethis<strong>ch</strong>en Begründung von Re<strong>ch</strong>t und Staat (1989),<br />
S. 480 – mit dem Beispiel einer Bu<strong>ch</strong>anan-Situation des Sklavereivertrags; <strong>der</strong>s., Otfried Höffes Be-<br />
283
gelöst, daß Höffe in jüngerer Zeit einen erhebli<strong>ch</strong> umfassen<strong>der</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
vertritt 114 . Dasselbe gilt für seine Hinweise auf 'entmoralisierte Moral' 115 und<br />
'Bedingungen von Handlungsfähigkeit' 116 .<br />
V. Ergebnisse<br />
Im Hinblick auf das strategis<strong>ch</strong>e Handeln unter egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierern,<br />
das bei den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition den Ausgangspunkt<br />
bildet, verfügt die Spieltheorie über einen gegenüber älteren Sozialvertragsmodellen<br />
genaueren Begründungsansatz. Die Spieltheorie kann aber ni<strong>ch</strong>t die<br />
normativen Argumente liefern, die zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung no<strong>ch</strong> fehlen.<br />
Die si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>enden Ansätze <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien zeigen,<br />
daß ein universelles Nutzenkalkül ni<strong>ch</strong>t bestimmbar ist. Dieses Defizit läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> überbrücken, daß – gewissermaßen dur<strong>ch</strong> die Hintertür – moralis<strong>ch</strong>e<br />
Bes<strong>ch</strong>ränkungen <strong>der</strong> Nutzenmaximierung eingeführt werden, denn damit verliert<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ihren Charakter als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
<strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition stellen si<strong>ch</strong> also insgesamt als prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien dar, <strong>der</strong>en konkrete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung mit<br />
so gewi<strong>ch</strong>tigen Unwägbarkeiten belastet ist und zu so inadäquaten Sozialmodellen<br />
führt, daß die <strong>Theorien</strong> im Ergebnis ni<strong>ch</strong>t überzeugen können.<br />
D. <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />
I. Zur Kritik <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien<br />
Neuere Sozialvertragstheorien orientieren si<strong>ch</strong> meist an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
von Rawls. Au<strong>ch</strong> als Referenzpunkt für Gegenmodelle und als Kristallisationspunkt<br />
für grundlegende Kritik dient diese Theorie. Deshalb sollen ihre S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>en hier stellvertretend<br />
für viele an<strong>der</strong>e Sozialvertragstheorien untersu<strong>ch</strong>t werden. Analyse und<br />
Kritik können dabei auf die Dreiteilung zurückgreifen, die in <strong>der</strong> Darstellung gewählt<br />
wurde: ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e Elemente, ältere Fairneßtheorie und neuere<br />
Liberalismustheorie 117 . Die Rawls-Kritik in <strong>der</strong> Sekundärliteratur ist so umfangrei<strong>ch</strong>,<br />
daß sie hier ni<strong>ch</strong>t präsentiert werden kann 118 . Es muß bei einer Auswahl von Kritikpunkten<br />
bleiben.<br />
gründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und des Staates (1997), S. 289 ff.; W. Kersting, Herrs<strong>ch</strong>aftslegitimation<br />
(1997), S. 48 ff.<br />
114 Vgl. O. Höffe, Moral als Preis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (1993), S. 172 ff. (ökologis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>), S. 175<br />
(negatives Trittbrettfahren), S. 218 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber Tieren).<br />
115 O. Höffe, Erwi<strong>der</strong>ung (1997), S. 338.<br />
116 O. Höffe, Erwi<strong>der</strong>ung (1997), S. 347.<br />
117 Dazu oben S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl), S. 199 ff. (Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß),<br />
S. 205 ff. (Theorie des politis<strong>ch</strong>en Liberalismus).<br />
118 Die frühe Bibliographie von H.G. Wellbank/D. Snook/D.T. Mason, John Rawls and his Critics (1982),<br />
S. 23 ff. zählt allein 2.512 Sekundärquellen; zum jetzigen Zeitpunkt ist die Sekundärliteratur ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr erfaßbar. Ein hier ni<strong>ch</strong>t weiter verfolgter Kritikpunkt ist <strong>der</strong> von B. Barry, The Liberal Theory<br />
of Justice (1973), S. 134 ff. – im Vierstufenmodell bleibe für den Verfassunggeber kaum no<strong>ch</strong><br />
Handlungsspielraum. Sehr ausführli<strong>ch</strong>e Kritik u.a. bei P. Koller, Neue <strong>Theorien</strong> des Sozialkontrakts<br />
(1987), S. 77 ff.<br />
284
1. Zur Kritik an J. Rawls ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>em Ansatz<br />
Das ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e Element bei Rawls, die Maximin-Regel, ist bereits kritis<strong>ch</strong><br />
gewürdigt worden 119 . Hier bleibt <strong>der</strong> Kritik nur hinzuzufügen, daß die risikos<strong>ch</strong>eue<br />
Grundhaltung <strong>der</strong> Parteien im Rawlss<strong>ch</strong>en Urzustand ein Ergebnis <strong>der</strong> künstli<strong>ch</strong>en<br />
Unwissenheit ist, die Rawls dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens erzeugt.<br />
Dur<strong>ch</strong> dieses Konstrukt sollen die Parteien eine mögli<strong>ch</strong>st hohe Grundsi<strong>ch</strong>erung begehren,<br />
die sie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Güterverteilung vorziehen (Maximin), so daß sogar das<br />
egalitäre Differenzprinzip als Verteilungsprinzip in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Ordnung akzeptabel<br />
ers<strong>ch</strong>eint. Für eine sol<strong>ch</strong>e Verallgemeinerung <strong>der</strong> Risikos<strong>ch</strong>eu fehlt bei Rawls<br />
indes jede Begründung. Es ist mit Re<strong>ch</strong>t kritisiert worden, daß ein verallgemeinerbares<br />
Interesse an risikoarmen Ents<strong>ch</strong>eidungen ni<strong>ch</strong>t besteht 120 . In bezug auf diese Annahme<br />
kann die Theorie von Rawls nur als unbegründet angesehen werden, was seine<br />
spätere Abwendung von dem ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en Ansatz verständli<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>t 121 .<br />
2. Zur Kritik an J. Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß<br />
Die ältere Fairneßtheorie zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die weitgehenden Wissensbes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
<strong>der</strong> Parteien hinter dem S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens aus. Sie führt letztli<strong>ch</strong> dazu,<br />
daß alle persönli<strong>ch</strong>en Fähigkeiten <strong>der</strong> Parteien sozialisiert werden. Niemand<br />
kann für die eigenen Talente Partei ergreifen, wenn er sie ni<strong>ch</strong>t kennt. Wer also tü<strong>ch</strong>tiger,<br />
kräftiger, intelligenter ist als an<strong>der</strong>e, muß das in <strong>der</strong> Fairneßkonzeption von<br />
Rawls ignorieren. Dur<strong>ch</strong> diese glei<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>en Prämissen nutzt die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
zwar weiterhin das Darstellungmittel des Vertrags, löst si<strong>ch</strong> aber vom<br />
kontraktualistis<strong>ch</strong>en Rationalitätskonzept 122 , denn die Parteien treten ni<strong>ch</strong>t länger in<br />
eine Verhandlung über den Ausglei<strong>ch</strong> ihrer gegenseitigen Interessen, son<strong>der</strong>n sind<br />
konstruktiv so stark einan<strong>der</strong> angegli<strong>ch</strong>en, daß jede Partei die glei<strong>ch</strong>en Überlegungen<br />
anstellen muß.<br />
Dur<strong>ch</strong> diese Verzerrung des Vertragsmodells bei Rawls wird eine generelle<br />
S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Sozialvertragstheorien deutli<strong>ch</strong>: ihre konstruktive Beliebigkeit 123 . Je<br />
na<strong>ch</strong>dem, wie <strong>der</strong> Urzustand o<strong>der</strong> Naturzustand ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t wird, können ganz gegensätzli<strong>ch</strong>e<br />
Sozialordnungen als gere<strong>ch</strong>t begründet werden. Dieser Mangel entspri<strong>ch</strong>t<br />
dem altbekannten Problem <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien, daß die Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
mit <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungssituation dur<strong>ch</strong> den Theoretiker bereits präju-<br />
119 Dazu oben S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl).<br />
120 A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 14; A. Weale, Limits of Democracy<br />
(1989), S. 45; R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 462 f. Vgl. au<strong>ch</strong> R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 117; M.R. Deckert, Folgenorientierung in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995),<br />
S. 200 f. – Zusammenfassung <strong>der</strong> Kritik.<br />
121 Zu diesem Ri<strong>ch</strong>tungswe<strong>ch</strong>sel siehe S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl).<br />
122 Zur Differenz zwis<strong>ch</strong>en dem Vertrag als Darstellungsmittel und dem Vertrag als Rationalitätskonzept<br />
siehe oben S. 98 ff. (Vertrag).<br />
123 Vgl. W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags (1994), S. 52: »[D]ie generellen<br />
Gültigkeitsbedingungen des re<strong>ch</strong>tfertigungstheoretis<strong>ch</strong>en Kontraktualismus: seine Begründungsleistungen<br />
sind abhängig von den Bestimmungen <strong>der</strong> Vertragssituation«.<br />
285
diziert ist 124 . Bei Vertragstheorien führt die Natur- o<strong>der</strong> Urzustandskonstruktion in<br />
aller Regel zu einer Zirkularität <strong>der</strong> Begründung 125 . Eindrückli<strong>ch</strong> illustriert wird diese<br />
Beliebigkeit dur<strong>ch</strong> die auffällige Differenz zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> als gere<strong>ch</strong>t erkannten egalitären<br />
Sozialordnung bei Rawls und dem libertären Minimalstaat bei Nozick. Der<br />
Verglei<strong>ch</strong> zeigt, wie weit die Ergebnisse von Sozialvertragstheorien auseinan<strong>der</strong>fallen<br />
können. Eine sol<strong>ch</strong>e Ergebnisdifferenz folgt ni<strong>ch</strong>t allein daraus, daß Rawls eine<br />
kantis<strong>ch</strong>e und Nozick eine hobbesianis<strong>ch</strong>e Theorie begründet. Au<strong>ch</strong> innerhalb <strong>der</strong><br />
kantis<strong>ch</strong>en Tradition gibt es erhebli<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede je na<strong>ch</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> kontraktuellen<br />
Ausgangsposition 126 . Als grundlegende Kritik kann deshalb festgestellt<br />
werden: Das Modell des Sozialvertrags bietet allein keine überzeugende Grundlage<br />
für die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
3. Zur Kritik an J. Rawls politis<strong>ch</strong>em Liberalismus<br />
Die neuere Liberalismustheorie von Rawls wendet si<strong>ch</strong> weitgehend von dem älteren<br />
Modell ab. Ni<strong>ch</strong>t die Deduktion eines sozialen Ideals aus einem hypothetis<strong>ch</strong>en Sozialvertrag,<br />
son<strong>der</strong>n die Mögli<strong>ch</strong>keit und Notwendigkeit einer freistehenden Konzeption<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, getragen von einem übergreifenden Konsens in <strong>der</strong> realen<br />
Welt, wird zum Ziel <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Darin liegt zwar no<strong>ch</strong> keine<br />
Synthese von Kommunitarismus und Liberalismus 127 , do<strong>ch</strong> eine deutli<strong>ch</strong>e Abwendung<br />
von dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Sozialvertragsmodell <strong>der</strong> Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
128 . Die neue methodis<strong>ch</strong>e Einbettung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie führt<br />
dazu, daß die ursprüngli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien (N 1 N 2<br />
129), selbst na<strong>ch</strong> ihrer<br />
inhaltli<strong>ch</strong>en Än<strong>der</strong>ung dur<strong>ch</strong> Rawls (N 1 ' N 2 ' 130 ), kaum no<strong>ch</strong> als realistis<strong>ch</strong>es Ergebnis<br />
<strong>der</strong> Theorie angesehen werden können. Die kritis<strong>ch</strong>e Rezeption <strong>der</strong> Theorie hat si<strong>ch</strong><br />
deshalb verlagert. Sie konzentriert si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t länger auf das problematis<strong>ch</strong>e Differenzprinzip,<br />
das ohnehin kein realistis<strong>ch</strong>er Kandidat für einen übergreifenden Konsens<br />
sein kann 131 , son<strong>der</strong>n fragt, ob es überhaupt mögli<strong>ch</strong> und notwendig ist, einen<br />
sol<strong>ch</strong>en übergreifenden Konsens herzustellen, also eine Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
die 'freistehend' in dem Sinne ist, daß sie aus <strong>der</strong> Perspektive unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>-<br />
124 P. Ricœur, Soi-même comme un autre (1990), S. 274: »Ma thèse est que cette conception fournit au<br />
mieux la formalisation d'un sens de la justice qui ne cesse d'être présupposé.« R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t<br />
und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 117 kennzei<strong>ch</strong>net diese Zirkularität als das Hauptproblem aller Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien.<br />
125 P. Pre<strong>ch</strong>tl, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Individualität (1990), S. 176 f. m.w.N. Zur Zirkularität speziell in<br />
Rawls' Theorie etwa M. Köhler, Iustitia distributiva (1993), S. 474. P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als<br />
Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995), S. 156 verortet die Zirkularität, die in <strong>der</strong> älteren<br />
Theorie bei <strong>der</strong> Gestaltung des Urzustands lag, außerdem in <strong>der</strong> neueren Theorie bei <strong>der</strong> Idee eines<br />
übergreifenden Konsenses.<br />
126 Vgl. etwa oben S. 211 ff. (Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unabweisbarkeit; Scanlon).<br />
127 So aber P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995), S. 156.<br />
128 Zur grundlegenden Bedeutung des Methodenwe<strong>ch</strong>sels bereits oben S. 199 ff. (Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als Fairneß).<br />
129 Dazu oben S. 203 (Zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
130 Dazu oben S. 209 (Neue <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien).<br />
131 Bezei<strong>ch</strong>nen<strong>der</strong>weise hält Rawls das Differenzprinzip selbst ni<strong>ch</strong>t für geeignet, auf die Verteilungsfragen<br />
innerhalb <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft ausgedehnt zu werden; J. Rawls, Das Völkerre<strong>ch</strong>t (1993),<br />
S. 87.<br />
286
ster Konzeptionen des Guten (Religionen, Moralphilosophien) befürwortet werden<br />
könnte.<br />
Beides, sowohl die Mögli<strong>ch</strong>keit wie die Notwendigkeit einer freistehenden Konzeption<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, ist zweifelhaft. Das gilt jedenfalls für diejenigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien,<br />
die Rawls vorges<strong>ch</strong>lagen hat. Au<strong>ch</strong> zeigt si<strong>ch</strong>, daß <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>e<br />
Liberalismus nur vor<strong>der</strong>gründig eine moralis<strong>ch</strong> zielneutrale Konzeption ist, da er<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> alle wi<strong>ch</strong>tigen moralis<strong>ch</strong>en Normen im Interesse <strong>der</strong> Stabilität explizit<br />
festlegt und abwei<strong>ch</strong>ende Konzeptionen als irrational auss<strong>ch</strong>ließt 132 .<br />
Do<strong>ch</strong> mögen sol<strong>ch</strong>e Bedenken überwindbar sein, wenn man wie Jansen den methodis<strong>ch</strong>en<br />
Ansatz <strong>der</strong> freistehenden Konzenption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Rawls neu<br />
ausfüllt 133 . Als Beispiel für eine freistehende Konzeption, die real mögli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint,<br />
führt Jansen die Werkinterpretation unter Kammermusikern an. Diese müssen eine<br />
einheitli<strong>ch</strong>e Interpretation finden, obwohl sie unter Umständen von ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Vorstellungen ausgehen. An<strong>der</strong>s als in einem Symphonieor<strong>ch</strong>ester, das<br />
<strong>der</strong> Autorität des Dirigenten gehor<strong>ch</strong>t, müssen die Kammermusiker untereinan<strong>der</strong><br />
selbst eine Lösung finden. Diese gemeinsame Interpretation tritt neben diejenige, die<br />
aus Si<strong>ch</strong>t des einzelnen Musikers ri<strong>ch</strong>tig wäre. Niemand kann seine eigene Interpretationsvorstellung<br />
ganz dur<strong>ch</strong>setzen. Die individuellen Ansi<strong>ch</strong>ten werden glei<strong>ch</strong>wohl<br />
ni<strong>ch</strong>t wi<strong>der</strong>legt, son<strong>der</strong>n ledigli<strong>ch</strong> im Interesse eines gemeinsamen Werkverständnisses<br />
zurückgestellt. Ein Mittel, die so verstandene freistehende Konzeption<br />
in <strong>der</strong> Sozialordnung real mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, besteht na<strong>ch</strong> Jansen darin, die Prinzipienstruktur<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen zu nutzen. Die Prinzipienstruktur erlaubt<br />
dur<strong>ch</strong> das Konzept <strong>der</strong> Abwägung die Berücksi<strong>ch</strong>tigung kollidieren<strong>der</strong> Normen 134 .<br />
Sie ist darum in beson<strong>der</strong>er Weise geeignet, zu einer freistehenden Konzeption <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beizutragen und wird dann zu einer freistehenden Prinzipienkonzeption<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die ihren realen Nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lag in einem Konsens über eine Grundre<strong>ch</strong>tsordnung<br />
findet, in <strong>der</strong> die wi<strong>der</strong>streitenden Interessen dur<strong>ch</strong> eine Abwägung<br />
zwis<strong>ch</strong>en divergierenden Grundre<strong>ch</strong>tsnormen zu einem fairen Ausglei<strong>ch</strong> gebra<strong>ch</strong>t<br />
werden. Bei alledem wird deutli<strong>ch</strong>, daß freistehende Konzeptionen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
mit dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Sozialvertragsmodell von Rawls ni<strong>ch</strong>ts mehr gemein<br />
haben. Sie bilden einen Neubeginn, <strong>der</strong> am ehesten mit den Darstellungsmitteln <strong>der</strong><br />
Standpunkt- o<strong>der</strong> Diskurstheorien ausgearbeitet werden könnte, was indes no<strong>ch</strong> aussteht.<br />
132 Zu dieser Kritik P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995),<br />
S. 154.<br />
133 In <strong>der</strong> Rekonstruktion von N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 271 ff., ist eine freistehende<br />
Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> vier Elemente gekennzei<strong>ch</strong>net: Erstens ist sie das Ergebnis<br />
einer moralis<strong>ch</strong>en Einigung, ni<strong>ch</strong>t das einer gemeinsamen Erkenntnis. Zweitens bildet sie<br />
neben individuellen Überzeugungen ein zusätzli<strong>ch</strong>es Element einer gemeinsamen Moral. Drittens<br />
ist eine freistehende Konzeption dabei unabhängig von einzelnen weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>en Konzeptionen<br />
<strong>der</strong> Moral begründet. Viertens muß sie sämtli<strong>ch</strong>e als relevant behauptete Argumente berücksi<strong>ch</strong>tigen.<br />
134 N. Jansen, Validity of Public Morality (1988), S. 10; <strong>der</strong>s., Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 267 ff.<br />
Ähnli<strong>ch</strong> zum Potential <strong>der</strong> Abwägung unter Prinzipien, wenn au<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Analyse des<br />
Abwägungsvorgangs: J.-R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen (1995), S. 45 ff.<br />
(46 ff.).<br />
287
Zusammenfassend kann am Beispiel <strong>der</strong> Rawlss<strong>ch</strong>en Theorie festgehalten werden:<br />
Das Modell des Sozialvertrags bietet allein keine überzeugende Grundlage für<br />
die Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Eine freistehende Prinzipienkonstruktion <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mag eine überzeugen<strong>der</strong>e Begründung ermögli<strong>ch</strong>en, harrt aber no<strong>ch</strong><br />
einer inhaltli<strong>ch</strong>en Ausarbeitung. Bisher können we<strong>der</strong> Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie,<br />
no<strong>ch</strong> die Versu<strong>ch</strong>e zu ihrer Rettung überzeugen.<br />
4. Zur Kritik an T.M. Scanlon, B. Barry und T. Nagel<br />
Was bei Rawls '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß' stellvertretend für alle Vertragstheorien kritisiert<br />
wurde, daß sie si<strong>ch</strong> nämli<strong>ch</strong> dem Problem konstruktiver Beliebigkeit ausgesetzt<br />
sehen, weil sie in den Ur- o<strong>der</strong> Naturzustand bereits substantielle Annahmen<br />
aufnehmen, die das Ergebnis präjudizieren, kann au<strong>ch</strong> für die <strong>Theorien</strong> von Scanlon,<br />
Barry und Nagel belegt werden. Beim Scanlon-Kriterium (T S ) hat si<strong>ch</strong> gezeigt, daß die<br />
'Unerzwungenheit' in einem (aus <strong>der</strong> Formulierung selbst ni<strong>ch</strong>t ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en) egalitären<br />
Sinn gemeint ist; eine s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ere Verhandlungsposition einzelner Teilnehmer ist<br />
ni<strong>ch</strong>t erlaubt. Scanlon sagt ni<strong>ch</strong>ts darüber, ob eine vernünftigerweise ni<strong>ch</strong>t zurückweisbare<br />
Vereinbarung mögli<strong>ch</strong> ist, wenn die Voraussetzung <strong>der</strong> glei<strong>ch</strong>en Verhandlungsma<strong>ch</strong>t<br />
fehlt. Man wird angesi<strong>ch</strong>ts des Gewi<strong>ch</strong>ts, das dieses egalitäre Element<br />
hat, wohl annehmen müssen, daß T S ni<strong>ch</strong>t länger als hinrei<strong>ch</strong>endes Abgrenzungskriterium<br />
zwis<strong>ch</strong>en Ungere<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> angesehen werden kann, wenn<br />
die Ausgangspositionen unglei<strong>ch</strong> sind. Dadur<strong>ch</strong> aber wird die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
bei Scanlon ähnli<strong>ch</strong> zirkulär wie bei Rawls: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
Unabweisbarkeit, die wie<strong>der</strong>um nur bei Glei<strong>ch</strong>heit gilt, also unter Bedingungen, die<br />
eines <strong>der</strong> Kernelemente <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bereits enthalten 135 . Indem Barry auf das<br />
Scanlon-Kriterium zurückgreift, setzt si<strong>ch</strong> seine Theorie <strong>der</strong>selben Kritik aus. Entspre<strong>ch</strong>endes<br />
gilt für Nagels Theorie; hier verbirgt si<strong>ch</strong> die Voraussetzung <strong>der</strong> Egalität<br />
in <strong>der</strong> 'vernünftigen' Parteili<strong>ch</strong>keit 136 .<br />
II.<br />
Zur Kritik <strong>der</strong> Standpunkttheorien<br />
Beoba<strong>ch</strong>ter- und an<strong>der</strong>e Standpunkttheorien unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> von Sozialvertragsund<br />
Diskurstheorien zentral dadur<strong>ch</strong>, daß sie bei <strong>der</strong> Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
auf eine dialogis<strong>ch</strong>e Argumentation verzi<strong>ch</strong>ten. Auf die Frage, was eine Handlung<br />
gere<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>t, geben sie eine monologis<strong>ch</strong> konzipierte Antwort. Als gere<strong>ch</strong>t ist dana<strong>ch</strong><br />
das anzusehen, was eine einzelne Person na<strong>ch</strong> reifli<strong>ch</strong>er Überlegung als ri<strong>ch</strong>tig<br />
erkennt. Die Analyse und Kritik <strong>der</strong> Standpunkttheorien kann bei <strong>der</strong> Frage ansetzen,<br />
ob gute Gründe besser dur<strong>ch</strong> dialogis<strong>ch</strong> konzipierte o<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> monologis<strong>ch</strong><br />
konzipierte Kriterien identifiziert werden können. Die Antwort auf diese Frage soll<br />
auf den hier interessierenden Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft bes<strong>ch</strong>ränkt bleiben;<br />
sie kann in zwei S<strong>ch</strong>ritten gegeben werden. In einem ersten S<strong>ch</strong>ritt ist zu zeigen, was<br />
eine monologis<strong>ch</strong>e von einer dialogis<strong>ch</strong>en Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft unters<strong>ch</strong>eidet.<br />
Erst dann kann als Kritik an den Standpunkttheorien begründet werden,<br />
135 Vgl. oben S. 56 ff. (Glei<strong>ch</strong>heitsbezug <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
136 Dazu oben S. 214 ('vernünftige' Parteili<strong>ch</strong>keit).<br />
288
warum die dialogis<strong>ch</strong>e Konzeption zumindest für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen vorzugswürdig<br />
ist.<br />
Zu den Eigenheiten je<strong>der</strong> monologis<strong>ch</strong>en Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft gehört,<br />
daß sie si<strong>ch</strong> den Prozeß <strong>der</strong> Begründung in einer einzigen Person denkt. Das<br />
beste Beispiel für eine sol<strong>ch</strong>e Konzeption ist die Beoba<strong>ch</strong>tertheorie, wie sie vor allem<br />
von Nagel vertreten wird 137 . Eine Beoba<strong>ch</strong>tertheorie glei<strong>ch</strong>t den dialogis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong><br />
darin, daß sie ein gewisses Maß an Unparteili<strong>ch</strong>keit voraussetzt, um von guten<br />
Gründen zu spre<strong>ch</strong>en. An<strong>der</strong>s als bei dialogis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong> wird aber behauptet,<br />
daß diese Unparteili<strong>ch</strong>keit von einer einzigen Person si<strong>ch</strong>ergestellt werden kann.<br />
Na<strong>ch</strong> Nagel nimmt <strong>der</strong> über ri<strong>ch</strong>tiges Handeln Na<strong>ch</strong>denkende (moral agent) eine innere<br />
Haltung ein, die in einem angemessenen Maße neben den eigenen Interessen au<strong>ch</strong><br />
die Interessen aller an<strong>der</strong>en zur Geltung kommen läßt. Es ist eine Perspektive wohlabgewogenen<br />
Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts zwis<strong>ch</strong>en subjektiven Bedürfnissen und objektiven Erfor<strong>der</strong>nissen.<br />
Der 'moral agent' tritt gewissermaßen aus si<strong>ch</strong> selbst heraus und wird<br />
zum Beoba<strong>ch</strong>ter. Was in dieser selbstentrückten Perspektive des Beoba<strong>ch</strong>tens an<br />
Einsi<strong>ch</strong>t gewonnen werden kann, trägt dann ein Maß an Unparteili<strong>ch</strong>keit in si<strong>ch</strong>, das<br />
es zu einem guten Grund ma<strong>ch</strong>t.<br />
Die Eigenheit dialogis<strong>ch</strong>er Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft besteht demgegenüber<br />
darin, die Unparteili<strong>ch</strong>keit dur<strong>ch</strong> eine Vielfalt glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigter o<strong>der</strong> glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigt<br />
vertretener Personen si<strong>ch</strong>erzustellen. Wer mehr als eine Person zu Wort<br />
kommen läßt, hat bereits Unparteili<strong>ch</strong>keit errei<strong>ch</strong>t, wenn die Teilnahme <strong>der</strong> einzelnen<br />
Person glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigt und zwangsfrei erfolgt. Die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Interessen<br />
werden ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> individuelle Entrückung, son<strong>der</strong>n dur<strong>ch</strong> individuelle Repräsentation<br />
geltend gema<strong>ch</strong>t. Diese Repräsentation kann dabei je na<strong>ch</strong> dialogis<strong>ch</strong>er<br />
Konzeption sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> ausfallen. Eine Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie wie die von<br />
Gauthier wird die einzelnen Personen immer im Vollbesitz all ihrer tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Fähigkeiten,<br />
Kenntnisse und Unters<strong>ch</strong>iede sehen, eine Theorie wie die von Rawls hingegen<br />
wird dur<strong>ch</strong> einen S<strong>ch</strong>leier des Ni<strong>ch</strong>twissens zusätzli<strong>ch</strong>e Unparteili<strong>ch</strong>keit au<strong>ch</strong><br />
innerhalb <strong>der</strong> einzelnen Person erzeugen und eine Argumentationstheorie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
wird weitergehende Anfor<strong>der</strong>ungen an gute Gründe stellen, die über die Vertretung<br />
von Einzelinteressen hinausgehen. Gemeinsam ist allen dialogis<strong>ch</strong>en Konzeptionen<br />
nur, daß sie darauf verzi<strong>ch</strong>ten können, den Einen zu innerer Distanz zu zwingen, indem<br />
sie ihm einen An<strong>der</strong>en gegenüberstellen, so daß si<strong>ch</strong> im Zusammenwirken bei<strong>der</strong><br />
die Unparteili<strong>ch</strong>keit ergibt. Während monologis<strong>ch</strong>e Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er<br />
Vernunft also einen Binnenpluralismus voraussetzen, beruhen dialogis<strong>ch</strong>e Konzeptionen<br />
auf einem Außenpluralismus <strong>der</strong> geltend gema<strong>ch</strong>ten Gründe.<br />
Warum ist nun eine dialogis<strong>ch</strong>e Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft – zumindest<br />
für den hier interessierenden Anwendungsberei<strong>ch</strong> – vorzugswürdig? Es geht hier<br />
darum, bestimmte Gründe als gute Gründe zu identifizieren, also als sol<strong>ch</strong>e, die<br />
Wahrheit o<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit belegen können. In den betra<strong>ch</strong>teten <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />
Vernunft geht es allein um Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Es kann darum dahingestellt bleiben,<br />
ob si<strong>ch</strong> monologis<strong>ch</strong>e Konzeptionen im Berei<strong>ch</strong> des Beweisens (Wahrheit) glei<strong>ch</strong> gut<br />
bewähren wie dialogis<strong>ch</strong>e Konzeptionen. Es genügt s<strong>ch</strong>on zu zeigen, daß sie bei<br />
praktis<strong>ch</strong>en Fragen, also beim 'ni<strong>ch</strong>tbeweisenden' Begründen von Handlungsnor-<br />
137 Dazu oben S. 212 ff. (Theorie des unparteiis<strong>ch</strong>en Beoba<strong>ch</strong>ters).<br />
289
men, weniger geeignet sind, gute Gründe zu identifizieren. Dies indes kann mit folgen<strong>der</strong><br />
Argumentation belegt werden.<br />
Bei praktis<strong>ch</strong>en Fragen ist die persönli<strong>ch</strong>e Voreingenommenheit in aller Regel<br />
größer als bei sol<strong>ch</strong>en über beweisbare Tatsa<strong>ch</strong>en. Wer über Handeln urteilt, tut dies<br />
immer vor dem Hintergrund <strong>der</strong> eigenen vergangenen und geplanten zukünftigen<br />
Aktivität – er ist befangen. Bezogen auf beweisbare Tatsa<strong>ch</strong>en wird si<strong>ch</strong> eine sol<strong>ch</strong>e<br />
Befangenheit nur selten einstellen. Damit kommt in Fragen des Handelns <strong>der</strong> Herstellung<br />
von Unparteili<strong>ch</strong>keit eine größere Bedeutung zu. Es ist folgli<strong>ch</strong> unter vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft diejenige vorzugswürdig, bei<br />
<strong>der</strong> eher zu erwarten ist, daß sie die Unparteili<strong>ch</strong>keit tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> herstellen kann.<br />
Während dialogis<strong>ch</strong>e Konzeptionen dies dur<strong>ch</strong> eine Mehrzahl von frei und glei<strong>ch</strong><br />
agierenden Teilnehmern garantieren, sind monologis<strong>ch</strong>e Konzeptionen auf die innere<br />
Distanzierung von persönli<strong>ch</strong>en Interessen und Meinungen angewiesen. In hypothetis<strong>ch</strong>en<br />
Idealsituationen mag die innere Distanzierung (Binnenpluralismus) glei<strong>ch</strong><br />
gut gelingen wie die äußere Pluralität <strong>der</strong> Ansi<strong>ch</strong>ten. Bei einer Übertragung auf reale<br />
Situationen des praktis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong>s wird dagegen in aller Regel eine<br />
äußere Meinungsvielfalt einfa<strong>ch</strong>er und umfassen<strong>der</strong> herzustellen sein als die psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong><br />
anspru<strong>ch</strong>svolle, tendenziell s<strong>ch</strong>wer kontrollierbare und kaum jemals umfassende<br />
innere Distanzierung von eigenen Überzeugungen. Monologis<strong>ch</strong>e Konzeptionen<br />
<strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft stoßen dadur<strong>ch</strong> auf zusätzli<strong>ch</strong>e Probleme 138 , dialogis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeptionen haben zumindest einen heuristis<strong>ch</strong>en Vorteil 139 . Abgesehen von<br />
einigen Son<strong>der</strong>situationen, in denen (friedli<strong>ch</strong>e) Pluralität <strong>der</strong> Meinungen unter vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Personen s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terdings ni<strong>ch</strong>t herzustellen ist, sollten deshalb dialogis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft den monologis<strong>ch</strong>en vorgezogen werden.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Einbindung <strong>der</strong> Argumente in eine kommunikative – d.h. ni<strong>ch</strong>t bloß<br />
monologis<strong>ch</strong>e – Struktur kann das größtmögli<strong>ch</strong>e Maß an Rationalität realisiert werden<br />
140 .<br />
III. Zur Kritik <strong>der</strong> Diskurstheorien<br />
Am diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Ansatz ist vielfältige Kritik geübt worden 141 , die in allen ihren<br />
Facetten und in den unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ansatzpunkten zu ihrer Wi<strong>der</strong>legung 142<br />
138 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 224 mit Fn. 11 – zusätzli<strong>ch</strong>e Probleme<br />
müßten au<strong>ch</strong> bei einer Theorie des 'inneren Diskurses' gelöst werden.<br />
139 Das ist selbst bei diskurskritis<strong>ch</strong>er Betra<strong>ch</strong>tung zuzugestehen: H. Koriath, Diskurs und Strafre<strong>ch</strong>t<br />
(1999), S. 193: »Der Diskurs ist ein heuristis<strong>ch</strong>es Mittel, Begründungen enthält er ni<strong>ch</strong>t.«<br />
140 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 409.<br />
141 Etwa bei E. Tugendhat, Probleme <strong>der</strong> Ethik (1984), S. 108 ff. (monologis<strong>ch</strong>es statt dialogis<strong>ch</strong>es Rationalitätskonzept);<br />
A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 17 ff. (Inhaltsleere);<br />
<strong>der</strong>s., Über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 301 ff., 320 (Rangordnung <strong>der</strong> Argumente); H. Keuth, Erkenntnis<br />
o<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung (1993), S. 203 ff., 347 ff. (Beliebigkeit <strong>der</strong> Begründung); O. Weinberger,<br />
Conflicting Views on Practical Rationality (1992), S. 256 ff. (260) (Konsens als 'Pseudo-Argument');<br />
<strong>der</strong>s., Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 150; <strong>der</strong>s., Habermas on Democracy<br />
and Justice (1994), S. 242 (Konvergenzbeweis); <strong>der</strong>s., Diskursive Demokratie ohne Diskursphilosophie<br />
(1996), S. 428 ff. (Diskurs als 's<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Idealisierung'); U. Steinhoff, Probleme <strong>der</strong> Legitimation<br />
(1996), S. 449 ff.<br />
290
hier ni<strong>ch</strong>t im einzelnen dargestellt werden kann 143 . Statt dessen konzentriert si<strong>ch</strong> die<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung auf einige Punkte, die <strong>der</strong> Klärung bedürfen, bevor im fünften und<br />
letzten Teil die Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dargelegt werden<br />
können.<br />
1. Zur Kritik des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>s<br />
Begreift man praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit diskurstheoretis<strong>ch</strong>, so gilt eine Handlungsnorm<br />
genau dann als ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie das Ergebnis <strong>der</strong> Prozedur des rationalen praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses sein kann 144 . Dieser Zusammenhang kann als Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> in<br />
<strong>der</strong> Diskurstheorie bezei<strong>ch</strong>net werden. Das 'Ergebnis <strong>der</strong> Prozedur' besteht in einem<br />
Konsens. Die Diskurstheorie ist folgli<strong>ch</strong> eine Konsensustheorie <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Diese<br />
Verbindung von Ri<strong>ch</strong>tigkeit mit Konsens hat in beson<strong>der</strong>em Maße die Kritik <strong>der</strong>jenigen<br />
herausgefor<strong>der</strong>t, die eine Korrespondenz- o<strong>der</strong> eine Konvergenztheorie <strong>der</strong><br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit vertreten 145 . Im Kern geht es bei <strong>der</strong> Kritik um die Frage, ob eine Einhaltung<br />
von Diskursregeln als Kriterium zur Begründung praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit genügt<br />
146 . Dabei können vor allem vier Einzelkritiken unters<strong>ch</strong>ieden werden. Erstens<br />
die Aussage, daß es in Diskursen ni<strong>ch</strong>t notwendig zu einem Konsens kommt. Zweitens<br />
die Feststellung, daß nur ein relativer Begriff <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit gebildet werden<br />
kann. Drittens die Behauptung, die Einhaltung von Diskursregeln habe mit Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
überhaupt ni<strong>ch</strong>ts zu tun. Und viertens <strong>der</strong> Hinweis, die Diskurstheorie könne<br />
zwar die Ri<strong>ch</strong>tigkeit moralis<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t aber diejenige pragmatis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong>en<br />
Handelns begründen.<br />
Zur ersten Kritik: Die Aussage, daß es in Diskursen ni<strong>ch</strong>t notwendig zu einem<br />
Konsens kommt, enthält für diejenigen eine Kritik, die (explizit o<strong>der</strong> implizit) for<strong>der</strong>n,<br />
es müsse ein Kriterium geben, das in jedem Fall eine definitive Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsfrage mögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t. Anfe<strong>ch</strong>tbar ist daran s<strong>ch</strong>on die Voraussetzung,<br />
142 Ansätze zur Wi<strong>der</strong>legung etwa bei J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln<br />
(1983), S. 78 ff.; R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 399 ff. – 'Antwort auf<br />
einige Kritiker'.<br />
143 Das gilt etwa für die Unters<strong>ch</strong>eidung von Anwendungs- und Begründungsdiskursen; dafür vor<br />
allem K. Günther, Sinn für Angemessenheit (1988), S. 25 ff., 50, 65 ff.; zustimmend J. Habermas,<br />
Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 138 ff.; dagegen R. Alexy, Normbegründung und Normanwendung<br />
(1993), S. 52 ff. Zum Ganzen oben S. 222 (Anwendungsdiskurs?).<br />
144 R. Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1979), S. 95; vgl.<br />
oben S. 218 (D R ).<br />
145 Etwa P. Gril, Mögli<strong>ch</strong>keit praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis (1998), S. 161 ff. Zu Korrespondenztheorien etwa<br />
L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in <strong>der</strong> neueren Philosophie (1978), S. 26 ff. Für eine Konvergenztheorie<br />
insbeson<strong>der</strong>e A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986),<br />
S. 440 ff.; <strong>der</strong>s., <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 19; O. Weinberger, Habermas on<br />
Democracy and Justice. Limits of a Sound Conception (1994), S. 240 ff., 244 m.w.N. Vgl. M.R. Deckert,<br />
Folgenorientierung in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung (1995), S. 208 ff. – Zusammenfassung <strong>der</strong> Positionen.<br />
146 Hinzuweisen ist insbeson<strong>der</strong>e auf die Kritik Weinbergers, <strong>der</strong> die Prozedur des rationalen Diskurses<br />
damit kritisiert, daß ein für ihre Plausibilität notwendiger Konvergenzbeweis fehle; O. Weinberger,<br />
Habermas on Democracy and Justice (1994), S. 242; sinngemäß ebenso <strong>der</strong>s., Über die Kultur<br />
<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 150. Vgl. zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Kritik in dieser Ri<strong>ch</strong>tung<br />
R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 410 ff.<br />
291
daß eine Theorie <strong>der</strong>art 'ents<strong>ch</strong>eidungsdefinit' sein soll 147 . Die Aussage selbst ist für<br />
reale Diskurse trivial: Kein reales Verfahren kann je si<strong>ch</strong>erstellen, daß alle Beteiligten<br />
si<strong>ch</strong> in je<strong>der</strong> potentiellen Frage auf ein Ergebnis einigen werden (Konsens). Für ideale<br />
Diskurse ist die Aussage ni<strong>ch</strong>t trivial. Es ist ni<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>eidbar, ob es in je<strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>frage<br />
zu einem Konsens kommen müßte o<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t. Denn die idealen Bedingungen,<br />
insbeson<strong>der</strong>e die unbegrenzte Zeit, lassen si<strong>ch</strong> niemals herstellen 148 und si<strong>ch</strong>ere Prognosen<br />
darüber, wie si<strong>ch</strong> reale Personen als Diskursteilnehmer in einem idealen Diskurs<br />
bezügli<strong>ch</strong> aller denkbaren Gegenstände verhalten würden, können ni<strong>ch</strong>t getroffen<br />
werden 149 . Bei <strong>der</strong> Gewi<strong>ch</strong>tung sol<strong>ch</strong>er Kritik muß berücksi<strong>ch</strong>tigt werden, daß<br />
ein Rest an Ungewißheit unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint; selbst für Erkenntnisse <strong>der</strong> Naturwissens<strong>ch</strong>aften<br />
kann von endgültiger Gewißheit kein Rede sein 150 . Daß eine Konsensustheorie<br />
<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong>artige Gewißheit ni<strong>ch</strong>t herstellen kann, ist darum<br />
wenig verwun<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> und allein no<strong>ch</strong> kein Mangel.<br />
Zur zweiten Kritik: Ähnli<strong>ch</strong> verhält es si<strong>ch</strong> mit dem relativen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff.<br />
Eine Diskurstheorie muß für reale Diskurse mit einem relativen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff<br />
operieren. Das gilt ni<strong>ch</strong>t nur, wenn man auf einen Letztbegründungsanspru<strong>ch</strong> verzi<strong>ch</strong>tet<br />
151 , son<strong>der</strong>n in je<strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Diskurstheorie, weil die Bedingungen des idealen<br />
Diskurses in <strong>der</strong> Realität nur unvollständig verwirkli<strong>ch</strong>t werden können 152 . So,<br />
wie <strong>der</strong> ideale Diskurs für reale Diskurse als eine regulative Idee wirkt 153 , so bildet<br />
au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> absolute Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff eine regulative Idee für den relativen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff<br />
<strong>der</strong> Diskursrealität 154 : Es muß stets na<strong>ch</strong> nur einem, absolut ri<strong>ch</strong>tigen Ergebnis<br />
gesu<strong>ch</strong>t werden, obwohl real nie mehr als relative Ri<strong>ch</strong>tigkeit im Diskurs zu<br />
errei<strong>ch</strong>en ist. Wenn beispielsweise die Beteiligten eines realen Diskurses si<strong>ch</strong> zu einem<br />
Zeitpunkt T1 auf die Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N einigen, zu einem<br />
späteren Zeitpunkt T2 aber über das genaue Gegenteil, ¬N, einen Konsens erzielen<br />
können, dann ist N 'ri<strong>ch</strong>tig relativ zu T1' und ¬N 'ri<strong>ch</strong>tig relativ zu T2', do<strong>ch</strong> es läßt<br />
si<strong>ch</strong> we<strong>der</strong> für N no<strong>ch</strong> für ¬N je sagen, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm sei absolut, also zu je<strong>der</strong><br />
Zeit, ri<strong>ch</strong>tig 155 .<br />
Der relative Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff ist allein no<strong>ch</strong> kein Mangel <strong>der</strong> Diskurstheorie. Er<br />
stellt si<strong>ch</strong> als Konsequenz aus <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legbarkeit praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis dar. Es ist<br />
kein Fehler, son<strong>der</strong>n ein Qualitätsmerkmal, wenn eine Theorie definieren kann, unter<br />
147 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 416 – Analyse <strong>der</strong> Kritik.<br />
148 Dazu oben S. 218 ff. (D Di ).<br />
149 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juritis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 412. Zur Mögli<strong>ch</strong>keit, bezügli<strong>ch</strong> einzelner<br />
Gegenstände praktis<strong>ch</strong>er Diskurse eine unmittelbare Begründung (unabhängig von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung<br />
einzelner Diskurse) vorzunehmen, vgl. unten S. 310 ff. (Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
150 Hierzu und zum Wissens<strong>ch</strong>afts<strong>ch</strong>arakter <strong>der</strong> Jurisprudenz R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1978), S. 356.<br />
151 Vgl. oben S. 233 ff. (Letztbegründung bei Apel), S. 261 ff. (Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma).<br />
152 Dazu oben S. 218 (D Di ).<br />
153 Dazu oben S. 218 (D Dr ).<br />
154 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 414 f. – unter Bezugnahme auf das<br />
'regulative Prinzip <strong>der</strong> Vernunft' und den 'regulativen Gebrau<strong>ch</strong> des Verstandes' bei I. Kant, KrV<br />
(1781), A 509 / B 537, A 644 / B 672.<br />
155 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 413 f.<br />
292
wel<strong>ch</strong>en Bedingungen ihre Ergebnisse falsifizierbar sind 156 . Soweit diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
begründete Anfor<strong>der</strong>ungen bestimmt werden können, unter denen reale Diskurse<br />
relativ zu ihren Bedingungen (Zeitpunkt, Teilnehmer, Dauer u.v.m.) ri<strong>ch</strong>tige<br />
und damit gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorbringen, ist allein in dieser Bedingungsdefinition<br />
ein Erkenntnisgewinn zu sehen 157 . Diskursive Überprüfung führt zwar ni<strong>ch</strong>t in<br />
den Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>erheit, aber immerhin aus dem Berei<strong>ch</strong> des bloßen Meinens hinaus<br />
158 . Außerdem bietet das diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Erkenntnismodell die Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />
Normen ni<strong>ch</strong>t nur in Diskursen, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> unabhängig von konkreten Diskursen zu<br />
begründen 159 . Insoweit kann ni<strong>ch</strong>t nur relative, son<strong>der</strong>n absolute Ri<strong>ch</strong>tigkeit geltend<br />
gema<strong>ch</strong>t werden, was unter an<strong>der</strong>em die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Begründung universeller<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te mögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t 160 .<br />
Zur dritten Kritik: Eine grundlegende Kritik liegt in <strong>der</strong> Behauptung, die Einhaltung<br />
von Diskursregeln habe mit Ri<strong>ch</strong>tigkeit überhaupt ni<strong>ch</strong>ts zu tun, weil ni<strong>ch</strong>t zu<br />
beweisen sei, daß formale Verfahrensregeln eine Annäherung an inhaltli<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
bewirken könnten (Konvergenzbeweis 161 ). Die gefor<strong>der</strong>te Konvergenz ist »die<br />
Ineinssetzung vers<strong>ch</strong>iedener, von vers<strong>ch</strong>iedenen Subjekten herrühren<strong>der</strong> und untereinan<strong>der</strong><br />
unabhängiger Erkenntnisse von demselben Seienden.« 162 Sie soll »ni<strong>ch</strong>t nur<br />
ein Mittel zur Erkenntnis des Konkreten, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> ein Kriterium <strong>der</strong> Wahrheit«<br />
sein 163 . Worin eine sol<strong>ch</strong>e Konvergenz zu sehen ist, kann unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> beurteilt<br />
werden. Es sind zwei Formen <strong>der</strong> Annäherung vorstellbar, <strong>der</strong>en eine uneinlösbar<br />
und <strong>der</strong>en an<strong>der</strong>e, entgegen <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Konvergenztheorie 164 , inhaltsleer ist. Uneinlösbar<br />
ist die For<strong>der</strong>ung, praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis müsse in einem Prozeß stetiger<br />
Annäherung erfolgen, also so, daß jedes neue (Zwis<strong>ch</strong>en-)Ergebnis garantiert näher<br />
an <strong>der</strong> wirkli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit o<strong>der</strong> Wahrheit, dem 'Seienden an si<strong>ch</strong>' 165 , liegt als alle<br />
vorausgegangenen 166 . Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Fehlbarkeit s<strong>ch</strong>ließt eine sol<strong>ch</strong>e irrtumsfreie Ziel-<br />
156 Dazu oben S. 264, Fn. 20.<br />
157 Dazu unten S. 312 ff. (Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen; mittelbare Begründung).<br />
158 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 416.<br />
159 Dazu unten S. 310 ff. (Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen; unmittelbare Begründung).<br />
160 Dazu unten S. 317 ff. (Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie).<br />
161 A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 440 ff.; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t<br />
und Rationalität (1988), S. 34 ff.<br />
162 A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 441.<br />
163 A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 441 (Hervorhebung<br />
bei Kaufmann).<br />
164 Die Konvergenztheorie will si<strong>ch</strong> von prozeduralen <strong>Theorien</strong> ja gerade dadur<strong>ch</strong> abgrenzen, daß ihre<br />
Inhalte ni<strong>ch</strong>t 'ers<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en' sind; vgl. A. Kaufmann, Re<strong>ch</strong>t und Rationalität (1988), S. 34; <strong>der</strong>s., <strong>Prozedurale</strong><br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 11 ff. Mittels <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> Person will sie<br />
den formal definierten Diskurs um einen Gehalt erweitern und so »das Fundament einer sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
begründeten prozeduralen Theorie ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>ts« legen; A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 442 (Hervorhebung bei Kaufmann).<br />
165 A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 441.<br />
166 Von dieser Art <strong>der</strong> stetigen Kovergenz s<strong>ch</strong>eint Kaufmann auszugehen; vgl. A. Kaufmann, Über die<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft (1986), S. 441: Es gelte, »daß die subjektiven Momente<br />
si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wie<strong>der</strong> na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> zu einer Einheit zusammens<strong>ch</strong>ließen lassen, son<strong>der</strong>n, gegeneinan<strong>der</strong><br />
gehalten, si<strong>ch</strong> gegenseitig abs<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> sogar aufheben. Die objektiven Momente weisen<br />
dagegen alle auf den Einheitspunkt des Seienden an si<strong>ch</strong> hin und bewähren si<strong>ch</strong> so als begründet.«<br />
293
strebigkeit aus 167 . We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Diskurs no<strong>ch</strong> irgendein an<strong>der</strong>es Verfahren kann garantieren,<br />
daß Mens<strong>ch</strong>en stets gute Einfälle haben o<strong>der</strong> gute Urteile treffen. Es gibt deshalb<br />
keine Garantie, daß si<strong>ch</strong> subjektive Momente solange gegenseitig abs<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en,<br />
bis die objektiven Elemente deutli<strong>ch</strong> hervortreten 168 . Ein Konvergenzbeweis in diesem<br />
starken Sinne kann ni<strong>ch</strong>t erbra<strong>ch</strong>t werden. Geht man an<strong>der</strong>sherum davon aus,<br />
die Erkenntnis müsse wenigstens langfristig in einem Prozeß <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>tstetigen Annäherung<br />
erfolgen, dann wäre für kein einzelnes Ergebnis si<strong>ch</strong>er, daß genau dieser<br />
S<strong>ch</strong>ritt eine Annäherung an die absolute Ri<strong>ch</strong>tigkeit statt eine (vorübergehende) Entfernung<br />
von ihr bedeutet. Ein sol<strong>ch</strong>er s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Konvergenzbeweis, wenn er überhaupt<br />
erbra<strong>ch</strong>t werden kann, wäre für die Beurteilung des Erkenntnisgewinns dur<strong>ch</strong><br />
einzelne Ergebnisse ohne inhaltli<strong>ch</strong>e Aussage. Eine Konvergenztheorie <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
vermag die S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en einer Konsenstheorie ni<strong>ch</strong>t zu überbrücken.<br />
Zur vierten Kritik: S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> kann eine Kritik darin bestehen, die Diskurstheorie<br />
sei in Diskursen über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Re<strong>ch</strong>ts auf moralis<strong>ch</strong>e Argumentation bes<strong>ch</strong>ränkt,<br />
könne hingegen diejenige des pragmatis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong>en Handelns<br />
ni<strong>ch</strong>t erklären 169 . Au<strong>ch</strong> diese Kritik verfängt ni<strong>ch</strong>t. Wenn die Diskurstheorie davon<br />
ausgeht, man könne si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewissern 170 , so folgt<br />
daraus no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, daß pragmatis<strong>ch</strong>e und ethis<strong>ch</strong>e Argumente aus diesem Diskurs<br />
verbannt wären. Elemente rationalen Ents<strong>ch</strong>eidungsverhaltens o<strong>der</strong> konsequentialistis<strong>ch</strong>er<br />
Denkweise sind ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen 171 . In einem praktis<strong>ch</strong>en Diskurs<br />
können vielmehr moralis<strong>ch</strong>e, ethis<strong>ch</strong>e und pragmatis<strong>ch</strong>e Fragen und Gründe miteinan<strong>der</strong><br />
verbunden werden 172 . Ein Diskurs kann deshalb sogar begründen, warum<br />
einzelne Ents<strong>ch</strong>eidungen gerade ni<strong>ch</strong>t diskursiv, son<strong>der</strong>n pragmatis<strong>ch</strong> getroffen<br />
werden sollten. Es könnte si<strong>ch</strong> beispielsweise im Diskurs eine marktwirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />
kontrollierte Verteilung von Gütern als ri<strong>ch</strong>tig erweisen, in <strong>der</strong> die einzelnen Handlungen<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr diskursiv, son<strong>der</strong>n na<strong>ch</strong> Kriterien rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens gefällt<br />
werden. Allerdings bleibt bei allen Fragen letztli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Diskurs kontrollierend. Ein<br />
ni<strong>ch</strong>tdiskursives Handelns ist genau so lange ri<strong>ch</strong>tig, wie es si<strong>ch</strong> in einem Diskurs als<br />
ri<strong>ch</strong>tig begründen ließe.<br />
Im Ergebnis erweisen si<strong>ch</strong> die allgemeinen Bedenken gegen die Diskurstheorie als<br />
prozedurale Theorie <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t als dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagend. Zu prüfen<br />
bleibt die Kritik, die an einzelnen Formen <strong>der</strong> Diskurstheorie geltend gema<strong>ch</strong>t<br />
werden kann.<br />
167 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 403 – selbst von einem hinrei<strong>ch</strong>enden<br />
Erfindungs- und Urteilsvermögen könne ein mangeln<strong>der</strong> o<strong>der</strong> fehlerhafter Gebrau<strong>ch</strong><br />
gema<strong>ch</strong>t werden.<br />
168 So aber die Vorstellung bei A. Kaufmann, Über die Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aft<br />
(1986), S. 441.<br />
169 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 283: »Nun liegt es nahe, die Diskurstheorie des<br />
Re<strong>ch</strong>ts na<strong>ch</strong> dem Modell <strong>der</strong> besser untersu<strong>ch</strong>ten Diskursethik auszuri<strong>ch</strong>ten. ... juristis<strong>ch</strong>e Diskurse<br />
als Teilmenge moralis<strong>ch</strong>er Argumentation ...«. Dagegen R. Alexy, Jürgen Habermas' Theorie<br />
des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 172 f.<br />
170 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
171 Zum Begriff des Konsequentialismus (consequentialism) siehe oben S. 152 (Charakteristika <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition).<br />
172 R. Alexy, Jürgen Habermas' Theorie des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 173. So au<strong>ch</strong> oben S. 250<br />
(T R ).<br />
294
2. Zur Kritik an K.-O. Apels Transzendentalpragmatik<br />
Die Probleme, die si<strong>ch</strong> allgemein mit einer Letztbegründung von Normen verbinden,<br />
sind bereits im Zusammenhang mit dem Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>t worden<br />
173 . Ihnen ist au<strong>ch</strong> Apels Transzendentalpragmatik ausgesetzt. Eine Kritik an diesem<br />
Letztbegründungsversu<strong>ch</strong> muß dabei ni<strong>ch</strong>t in seine Wi<strong>der</strong>legung münden, son<strong>der</strong>n<br />
ergibt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on daraus, daß eine Letztbegründung jedenfalls für Fragen <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ni<strong>ch</strong>t notwendig ers<strong>ch</strong>eint 174 . S<strong>ch</strong>on wenn für die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Lebensweise,<br />
wie wir sie <strong>der</strong>zeit beoba<strong>ch</strong>ten können, eine überzeugende Konzeption<br />
des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns gefunden wird, ist die Begründungsaufgabe einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
erfüllt.<br />
Abgesehen von <strong>der</strong> Letztbegründung verdient au<strong>ch</strong> Apels Erweiterung <strong>der</strong> Diskursethik<br />
zur Verantwortungsethik Kritik. Das Ergänzungsprinzip führt dazu, daß<br />
si<strong>ch</strong> Kommunikationsteilnehmer in <strong>der</strong> realen Welt von <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
s<strong>ch</strong>on dann freima<strong>ch</strong>en dürfen, wenn die Einhaltung dur<strong>ch</strong> alle an<strong>der</strong>en ni<strong>ch</strong>t<br />
si<strong>ch</strong>ergestellt ist. Da Diskursregeln real nie vollständig erfüllbar sind, verbirgt si<strong>ch</strong> in<br />
diesem Doppelprinzip eine mögli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Diskurstheorie, <strong>der</strong>en reales<br />
Ausmaß nur s<strong>ch</strong>wer einzus<strong>ch</strong>ätzen ist. Wer si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>weg auf den Standpunkt<br />
stellt, daß es angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> realen Umstände unzumutbar ist, si<strong>ch</strong> in Diskursen zu<br />
verständigen, <strong>der</strong> kann dafür auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Apels<strong>ch</strong>en Verantwortungsethik<br />
immer Gründe anführen. Diese Ents<strong>ch</strong>uldigungswirkung führt real zu einer S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Diskurstheorie und kann damit letztli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal das propagierte Ziel<br />
einer Steigerung <strong>der</strong> Verantwortung bewirken.<br />
3. Zur Kritik an J. Habermas Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts<br />
Für die Rezeption von Habermas Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts in 'Faktizität und Geltung'<br />
gilt ähnli<strong>ch</strong>es wie für Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie: Die Vielzahl <strong>der</strong> Argumente<br />
für und gegen die Konzeption ist ni<strong>ch</strong>t mehr übers<strong>ch</strong>aubar 175 . Die Analyse und Kritik<br />
muß si<strong>ch</strong> darum hier auf eine S<strong>ch</strong>lüsselstelle <strong>der</strong> Theorie bes<strong>ch</strong>ränken, die im letzten<br />
Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung erneut aufgegriffen wird 176 .<br />
a) Zur Übertragbarkeit des Diskursprinzips auf das Re<strong>ch</strong>t<br />
Eine S<strong>ch</strong>lüsselstelle in Habermas neuerer Theorie ist die Übertragung des Diskursprinzips<br />
auf das Re<strong>ch</strong>t. Die ersten und grundlegendsten Re<strong>ch</strong>tskategorien stützt Habermas<br />
unmittelbar auf eine sol<strong>ch</strong>e Übertragung: »Diese drei Kategorien von Re<strong>ch</strong>ten<br />
ergeben si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips auf das Re<strong>ch</strong>tsmedium<br />
als sol<strong>ch</strong>es« 177 . Damit werden oberste Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen eingeführt: das größtmö-<br />
173 Dazu oben S. 261 ff. (Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma).<br />
174 G. Patzig, 'Principium diiudicationis' und 'Principium executionis' (1986), S. 218.<br />
175 Vgl. nur die 26 Symposionsbeiträge zum Thema 'Habermas on Law and Democracy' in: Cardozo<br />
Law Review 17 (1996), S. 767-1684; die 10 Beiträge im 'Habermas-Son<strong>der</strong>heft' Re<strong>ch</strong>tstheorie 26<br />
(1996), S. 271-473; I. Maus, Freiheitsre<strong>ch</strong>te und Volkssouveränität (1995), S. 514 ff. u.v.m.<br />
176 Dazu unten S. 317 ff. (unmittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
177 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156.<br />
295
gli<strong>ch</strong>e Maß glei<strong>ch</strong>er subjektiver Handlungsfreiheiten, das Mitglieds<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong><br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft, <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> auf Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz 178 . Sie sollen zwar »no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im<br />
Sinne von liberalen Abwehrre<strong>ch</strong>ten verstanden werden«, aber bereits »die Beziehungen<br />
<strong>der</strong> frei assoziierten Bürger untereinan<strong>der</strong> regeln« 179 , haben also den Status vorpositiver<br />
Re<strong>ch</strong>te. Es soll si<strong>ch</strong> bei ihnen um genau diejenigen Re<strong>ch</strong>te handeln, die Bürger<br />
einan<strong>der</strong> notwendig zuerkennen müssen, um ihr Zusammenleben mit Mitteln<br />
des positiven Re<strong>ch</strong>ts legitim regeln zu können 180 . Habermas stellt fest, seine »logis<strong>ch</strong>e<br />
Genese dieser Re<strong>ch</strong>te« 181 habe das Diskursprinzip »aus <strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>t eines Theoretikers<br />
an die Re<strong>ch</strong>tsform glei<strong>ch</strong>sam von außen herangetragen« 182 .<br />
Der genaue Inhalt dieser Begründung bleibt weitgehend offen für Interpretationen.<br />
Immerhin s<strong>ch</strong>eint Habermas bestimmte Si<strong>ch</strong>tweisen explizit auss<strong>ch</strong>ließen zu<br />
wollen. Zunä<strong>ch</strong>st ers<strong>ch</strong>öpft si<strong>ch</strong> seine Begründung <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen ni<strong>ch</strong>t<br />
darin, daß diese in realen Prozessen von freien und glei<strong>ch</strong>en Bürgern hervorgebra<strong>ch</strong>t<br />
werden. Vielmehr setzen die Re<strong>ch</strong>tssubjekte sol<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te notwendig voraus und<br />
erlangen erst na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> ersten Begründungsstufe au<strong>ch</strong> »die Rolle von Autoren ihrer<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung« 183 . Vor allem aber bes<strong>ch</strong>ränken si<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t auf gegenseitige<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e innerhalb von Diskursen. Wenn also von einem Re<strong>ch</strong>t »auf das größtmögli<strong>ch</strong>e<br />
Maß glei<strong>ch</strong>er subjektiver Handlungsfreiheiten« die Rede ist 184 , so kommt dieses<br />
Re<strong>ch</strong>t je<strong>der</strong> Person au<strong>ch</strong> außerhalb von Diskursen zu. Ni<strong>ch</strong>t als Diskursteilnehmer,<br />
son<strong>der</strong>n im »Status von Re<strong>ch</strong>tspersonen« 185 sind die Adressaten bere<strong>ch</strong>tigt und verpfli<strong>ch</strong>tet<br />
186 ; die Re<strong>ch</strong>te sind ni<strong>ch</strong>t bloß subjektive Ansprü<strong>ch</strong>e aus objektiven Diskursregeln,<br />
son<strong>der</strong>n universelle Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te. Beispielsweise kommt die Meinungsfreiheit<br />
(als Ausdruck des Re<strong>ch</strong>ts auf weitestgehende subjektive Handlungsfreiheiten)<br />
den Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t deshalb zu, weil sol<strong>ch</strong>e Freiheit für die freie und glei<strong>ch</strong> Teilnahme<br />
an Diskursen notwendig vorausgesetzt werden muß, son<strong>der</strong>n weil je<strong>der</strong> einzelne<br />
als Person einen Anspru<strong>ch</strong> auf sie hat.<br />
Die von Habermas ausges<strong>ch</strong>lossenen Interpretationen ma<strong>ch</strong>en es jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wesentli<strong>ch</strong><br />
einfa<strong>ch</strong>er, festzulegen, wie die Begründung <strong>der</strong> ersten drei Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen<br />
gemeint ist. Es geht konkret um folgende Aussage: »Mit dem Begriff <strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tsform ... und dem Diskursprinzip ... verfügen wir über die Mittel, die ausrei<strong>ch</strong>en,<br />
um ... Kategorien von Re<strong>ch</strong>ten in abstracto einzuführen ... [Die] drei Kategorien<br />
von Re<strong>ch</strong>ten ergeben si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips auf das<br />
178 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155 f. Dazu oben S. 241 (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in<br />
Re<strong>ch</strong>tsform).<br />
179 Zur Vorpositivität ausdrückli<strong>ch</strong> J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156.<br />
180 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 151, 155; die Ausführungen S. 157 ff. sind ledigli<strong>ch</strong><br />
eine Inhaltsbestimmung <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>tskategorien und enthalten keine weitergehende Begründung.<br />
181 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155.<br />
182 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 160.<br />
183 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156 (Hervorhebung bei Habermas).<br />
184 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155 (Hervorhebung bei Habermas).<br />
185 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155.<br />
186 Vgl. dazu die Betonung <strong>der</strong> privaten Autonomie bei J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992),<br />
S. 156.<br />
296
Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es« 187 . Diese Aussage läßt mindestens drei Interpretationen<br />
zu:<br />
(1) Die Re<strong>ch</strong>te sind begründet, weil bereits <strong>der</strong> »Begriff <strong>der</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tsform« sie voraussetzt.<br />
(2) Die Re<strong>ch</strong>te sind begründet, weil das Diskursprinzip 188<br />
ihre Gültigkeit als Handlungsnormen im Ergebnis bestimmt.<br />
(3) Die Re<strong>ch</strong>te sind begründet, weil in Anwendung des<br />
Diskursprinzips festgestellt werden muß, daß re<strong>ch</strong>tsförmige<br />
Handlungsnormen diese Re<strong>ch</strong>te immer s<strong>ch</strong>on<br />
voraussetzen.<br />
Für die erste Interpretation, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> es allein auf das 'Re<strong>ch</strong>t' ankommt, spre<strong>ch</strong>en<br />
Textstellen, in denen Habermas <strong>der</strong> »Re<strong>ch</strong>tsförmigkeit« o<strong>der</strong> dem »System <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te«<br />
eigenständige Begründungskraft zuordnet 189 . Für die zweite Interpretation, na<strong>ch</strong><br />
<strong>der</strong> es allein auf das 'Diskursprinzip' ankommt, spri<strong>ch</strong>t, daß die ersten drei Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen<br />
»vor je<strong>der</strong> objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Organisation einer Staatsgewalt« begründet<br />
sein sollen 190 . Für die dritte Interpretation, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> erst die Kombination<br />
bei<strong>der</strong> Elemente die Begründung trägt, spri<strong>ch</strong>t die Aussage, daß <strong>der</strong> »ents<strong>ch</strong>eidende<br />
Gedanke« darin bestehe, »daß si<strong>ch</strong> das Demokratieprinzip <strong>der</strong> Vers<strong>ch</strong>ränkung von<br />
Diskursprinzip und Re<strong>ch</strong>tsform verdankt.« 191<br />
b) Zur Begründungslücke bei J. Habermas<br />
Unabhängig davon, wel<strong>ch</strong>er Interpretation man folgt, stößt man in Habermas Theorie<br />
auf folgendes Problem: Der Übergang von philosophis<strong>ch</strong>en Diskursvoraussetzungen<br />
zu universellen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten ist ni<strong>ch</strong>t lückenlos begründet (Begründungslückenthese).<br />
Bei Interpretation (1) ist diese Begründungslücke offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. Wie sollten si<strong>ch</strong><br />
aus <strong>der</strong> bloßen Form des Re<strong>ch</strong>ts so weitgehende inhaltli<strong>ch</strong>e Aussagen ableiten lassen,<br />
wie Habermas sie in Gestalt <strong>der</strong> ersten drei Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen vorstellt? Aber au<strong>ch</strong><br />
bei den Interpretationen (2) und (3) erweist si<strong>ch</strong> die Begründung als lückenhaft. In<br />
beiden Fällen wäre das Diskursprinzip <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Begründung. Dieses<br />
ma<strong>ch</strong>t die Zustimmungsfähigkeit in rationalen Diskursen zum Kriterium <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tig-<br />
187 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155 f.<br />
188 Dazu oben S. 240: »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen<br />
als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.«<br />
189 Etwa bei J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156: »Diese drei Kategorien von Re<strong>ch</strong>ten<br />
ergeben si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips auf das Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es,<br />
das heißt auf die Bedingungen <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsförmigkeit einer horizontalen Vergesells<strong>ch</strong>aftung überhaupt.«;<br />
sowie S. 229: »Im Taumel dieser Freiheit gibt es keine Fixpunkte mehr außer dem des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfahrens selber – eines Verfahrens, dessen Sinn s<strong>ch</strong>on im System <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te bes<strong>ch</strong>lossen<br />
ist.« (Hervorhebungen hinzugefügt, A.T.).<br />
190 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156 (Hervorhebung bei Habermas).<br />
191 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 154.<br />
297
keit von Normen. Dabei kommen grundsätzli<strong>ch</strong> reale und ideale Diskurse in Betra<strong>ch</strong>t<br />
192 . S<strong>ch</strong>on Habermas Aussage, daß die ersten drei Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen begründet<br />
seien, bevor es zu einer Autorenstellung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssubjekte komme, ma<strong>ch</strong>t<br />
deutli<strong>ch</strong>, daß er bezügli<strong>ch</strong> dieser Re<strong>ch</strong>te keine realen Diskurse als Grundlage <strong>der</strong><br />
Normbegründung ansieht. Vor allem aber läßt si<strong>ch</strong> die Ri<strong>ch</strong>tigkeit von Normen definitiv<br />
nur in idealen Diskursen begründen. Wenn Habermas argumentiert, die Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen<br />
gehörten zu denjenigen Re<strong>ch</strong>ten, »die Bürger einan<strong>der</strong> zuerkennen<br />
müssen, wenn sie ihr Zusammenleben ... legitim regeln wollen« 193 , so klingt das na<strong>ch</strong><br />
einer Legitimität, die dur<strong>ch</strong> ideale Diskurse definitiv begründbar ist 194 .<br />
Damit bleiben für eine Begründung <strong>der</strong> ersten Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen nur no<strong>ch</strong><br />
zwei Mögli<strong>ch</strong>keiten. Entwe<strong>der</strong> es wird postuliert, die Re<strong>ch</strong>te müßten das Ergebnis<br />
eines idealen Diskurses sein – Interpretation (2) – o<strong>der</strong> es ist ein transzendentales Argument<br />
gemeint – Interpretation (3) –, na<strong>ch</strong> dem die Grundre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> ersten drei<br />
Gruppen notwendig vorausgesetzt werden müssen, wenn man überhaupt Re<strong>ch</strong>te dur<strong>ch</strong><br />
ideale Diskurse begründen will. Es spri<strong>ch</strong>t einiges dafür, daß si<strong>ch</strong> für einzelne Re<strong>ch</strong>te<br />
zeigen läßt, daß sie notwendiges Ergebnis eines idealen Diskurses sein müssen 195 ;<br />
bei Habermas fehlt indes eine sol<strong>ch</strong>e Begründung. Au<strong>ch</strong> ein transzendentales Argument,<br />
na<strong>ch</strong> dem in <strong>der</strong> Anerkennung des Diskursprinzips bestimmte Grundre<strong>ch</strong>te<br />
notwendig vorausgesetzt sind, läßt si<strong>ch</strong> vortragen 196 . Es kann aber ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong> davon<br />
ausgegangen werden, daß Diskurse die Geltung universeller Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te notwendig<br />
voraussetzen 197 . Für eine vollständige Begründung muß vielmehr <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>ritt<br />
von <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> Freiheiten im idealen Diskurs hin zur Anerkennung <strong>der</strong><br />
Freiheiten im realen Handeln gelingen, für den bei Habermas bisher Argumente fehlen<br />
198 . Letztli<strong>ch</strong> weist seine Theorie bei <strong>der</strong> Übertragung des Diskursprinzips auf das<br />
Re<strong>ch</strong>t – glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e Interpretation man ihr geben mag – eine Begründungslücke<br />
auf 199 . Au<strong>ch</strong> gegenüber an<strong>der</strong>en, meist an Apel und Habermas orienterten Versu<strong>ch</strong>en<br />
einer diskurtheoretis<strong>ch</strong>en Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te läßt si<strong>ch</strong> diese Begründungslücke<br />
aufzeigen 200 . Ihr Gewi<strong>ch</strong>t wird ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> geringer, daß heute eine<br />
192 Vgl. oben S. 220 ff. (ideale und reale Diskurse). Diese Zweigleisigkeit <strong>der</strong> diskursiven Normbegründung<br />
findet si<strong>ch</strong> in an<strong>der</strong>em Zusammenhang au<strong>ch</strong> bei J. Habermas, Faktizität und Geltung<br />
(1992), S. 47 f.: »Hingegen bemißt si<strong>ch</strong> die Legitimität von Regeln ... letztli<strong>ch</strong> daran, ob sie in einem<br />
rationalen Gesetzgebungsverfahren zustandegekommen sind – o<strong>der</strong> wenigstens unter pragmatis<strong>ch</strong>en,<br />
ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkten hätten gere<strong>ch</strong>tfertigt werden können.« (Hervorhebung<br />
bei Habermas).<br />
193 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 155.<br />
194 An<strong>der</strong>s begründet, nämli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> reale Diskurse, sind bei Habermas die Normen, die si<strong>ch</strong> aus dem<br />
demokratis<strong>ch</strong>en Prozeß ergeben; vgl. oben S. 242 ff. (deliberative Politik).<br />
195 Dazu unten S. 326 ff. (diskursiv notwendige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
196 Dazu oben S. 250 ff. (Alexys Begründung <strong>der</strong> Freiheit) sowie unten S. 321 ff. (diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
notwendige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
197 Ähnli<strong>ch</strong> E. Zimmermann, Multideontis<strong>ch</strong>e Logik und <strong>Prozedurale</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie II (1999), S. 273 ff.<br />
– aus den Diskursregeln allein folgen keine normativen Prinzipien für den Berei<strong>ch</strong> des Handelns.<br />
198 Ähnli<strong>ch</strong> K.T. S<strong>ch</strong>uon, Von <strong>der</strong> Diskursethik zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie (1990), S. 43 – Lücke zwis<strong>ch</strong>en<br />
Grundprinzipien <strong>der</strong> Diskursethik und einer politis<strong>ch</strong>en Theorie.<br />
199 Daran än<strong>der</strong>t au<strong>ch</strong> die jüngere Argumentation ni<strong>ch</strong>ts; vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung<br />
(1994), S. 670 ff.<br />
200 Das gilt beispielsweise gegenüber <strong>der</strong> Argumentation von E. Arens, Der Beitrag <strong>der</strong> Diskursethik<br />
zur universalen Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1991), S. 69 f. zu erheben. Dort heißt es: »Zu-<br />
298
weitgehende Übereinstimmung dahingehend besteht, die Demokratie als 'ri<strong>ch</strong>tige'<br />
Regierungsform anzusehen 201 . Eine Begründung bleibt vielmehr s<strong>ch</strong>on deshalb erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>,<br />
weil die gegenwärtige Einigkeit in <strong>der</strong> Zukunft wie<strong>der</strong> in Frage gestellt<br />
werden könnte 202 . Außerdem gibt es na<strong>ch</strong> wie vor kommunistis<strong>ch</strong>e, autoritäre und<br />
religiös-fundamentalistis<strong>ch</strong>e Staaten, denen gegenüber Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie<br />
<strong>der</strong> Begründung bedürfen. Daß die festgestellte Begründungslücke hier<br />
S<strong>ch</strong>wierigkeiten aufwirft, soll im folgenden kurz illustriert werden.<br />
c) Zur Illustration <strong>der</strong> Begründungslücke: Können China, Singapur und <strong>der</strong> Iran<br />
na<strong>ch</strong> Habermas Begründung gere<strong>ch</strong>t sein?<br />
Die beson<strong>der</strong>e Begründungsbedürftigkeit des Übergangs vom Diskursprinzip zu realen<br />
Re<strong>ch</strong>ten wird deutli<strong>ch</strong>, wenn man die Theorie von Habermas mit den <strong>der</strong>zeitigen<br />
Sozialordnungen in China, Singapur und im Iran konfrontiert. S<strong>ch</strong>on das erste <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip<br />
und Grundre<strong>ch</strong>t, na<strong>ch</strong> dem das umfassendste System glei<strong>ch</strong>er<br />
subjektiver Handlungsfreiheiten gefor<strong>der</strong>t ist, wird in diesen Ordnungen ni<strong>ch</strong>t erfüllt.<br />
Sie sind deshalb na<strong>ch</strong> Habermas (wie übrigens au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Rawls 203 und Alexy 204<br />
sowie na<strong>ch</strong> den meisten <strong>Theorien</strong> universeller Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te 205 ) im Ergebnis illegitim<br />
und ungere<strong>ch</strong>t. Denkt man si<strong>ch</strong> jeweils einen Regierungsvertreter dieser Staaten<br />
als habermass<strong>ch</strong>en Diskurstheoretiker, so wird deutli<strong>ch</strong>, wel<strong>ch</strong>e Auswirkungen die<br />
Begründungslücke in Habermas Theorie auf <strong>der</strong>en Leistungsfähigkeit hat. Bei diesen<br />
Beispielen kann dahingestellt bleiben, ob die Charakterisierung <strong>der</strong> Staaten empiris<strong>ch</strong><br />
wahr ist. Es soll ledigli<strong>ch</strong> illustriert werden, inwieweit real mögli<strong>ch</strong>e und über<br />
längere Zeiträume stabile Sozialordnungen, die ni<strong>ch</strong>t dem Typus westli<strong>ch</strong>er Demoglei<strong>ch</strong><br />
stellt si<strong>ch</strong> die Frage, ob den diskursiv zu begründenden einzelnen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t<br />
ein in die Diskursethik strukturell eingebautes Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t zugrunde liegt, das seinerseits<br />
eben ni<strong>ch</strong>t Inhalt praktis<strong>ch</strong>er Diskurse, son<strong>der</strong>n Voraussetzung für ihr Zustandekommen und ihren<br />
Vollzug ist, mithin zu den Präsuppositionen und Prozeduren des Diskurses gehört. Es ist dies<br />
das Re<strong>ch</strong>t, an Diskursen teilzunehmen. [Es] läßt si<strong>ch</strong> diskursethis<strong>ch</strong> als das fundamentale Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t<br />
begreifen.« Arens beruft si<strong>ch</strong> zur Begründung allein auf die Diskursregel <strong>der</strong> universellen<br />
Teilnahme und übersieht dabei, daß die Regeln des Diskurses ni<strong>ch</strong>t ohne weitere Begründung<br />
als reale Regeln im Handeln anzusehen sind. An<strong>der</strong>nfalls wären no<strong>ch</strong> eine ganze Reihe<br />
an<strong>der</strong>er Re<strong>ch</strong>te unmittelbar begründet: die Glei<strong>ch</strong>heit, die (Herrs<strong>ch</strong>afts-)Freiheit, Meinungsäußerungsfreiheit<br />
u.v.m. Entspre<strong>ch</strong>enden Bedenken begegnen Ausführungen bei E. Weiß, Diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Aspekte zur Demokratietheorie (1998), S. 80 f., sowie das apodiktis<strong>ch</strong>e Ergebnis bei<br />
R. Hoffmann, Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit (1992), S. 248: »Der Diskurs wird somit zur zentralen For<strong>der</strong>ung<br />
prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.«<br />
201 In Ri<strong>ch</strong>tung einer Abwertung <strong>der</strong> Begründungsbedürftigkeit hingegen A. Cortina, Diskursethik<br />
und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 239: »Das wi<strong>ch</strong>tigste Problem hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Demokratie<br />
ist also heute ni<strong>ch</strong>t mehr das ihrer ethis<strong>ch</strong>en Begründung. Es besteht vielmehr darin, eine<br />
Antwort auf folgende Frage zu finden: Was ist o<strong>der</strong> was bedeutet Demokratie heute, und wel<strong>ch</strong>e Modelle<br />
<strong>der</strong> Demokratie sind moralis<strong>ch</strong> erstrebenswert und te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>führbar.« (Hervorhebung bei<br />
Cortina).<br />
202 Dazu unten S. 318 (universeller Geltungsanspru<strong>ch</strong> und Begründungsbedürftigkeit).<br />
203 Vgl. die Rawlss<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien oben S. 203 (N 1 , N 2 ) und S. 209 (N 1 ', N 2 ').<br />
204 Vgl. dessen Herleitung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te oben S. 250 ff.<br />
205 Vgl. unten S. 318 ff. (universeller Geltungsberei<strong>ch</strong> von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsnormen).<br />
299
kratien entspre<strong>ch</strong>en, <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie von Habermas argumentativ wi<strong>der</strong>stehen<br />
können.<br />
Die Volksrepublik China steht für ein Einparteiensystem mit eng geführter<br />
Staatskontrolle und einer alle Lebensberei<strong>ch</strong>e erfassenden politis<strong>ch</strong>en Ideologie. Die<br />
Freiheit zur politis<strong>ch</strong>en Meinungsäußerung und Information, die Mögli<strong>ch</strong>keit einer<br />
legalen Opposition und die Öffnung gegenüber an<strong>der</strong>en Kulturen sind dur<strong>ch</strong> ein effektives<br />
Verbotssystem nahezu auf Null reduziert (Äußerungsverbote, Medienregime,<br />
Kontaktsperren, Internetzensur an zentralisierten Zugangsknoten). Die Persönli<strong>ch</strong>keitsentfaltung,<br />
körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit, persönli<strong>ch</strong>e Freiheit und das Lebensre<strong>ch</strong>t<br />
stehen unter dem Vorbehalt <strong>der</strong> Ideologiekonformität (Ein-Kind-Politik,<br />
Haftstrafen ohne Verfahren, Demonstrationsnie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lagung, exzessive Todesstrafenpolitik).<br />
Sol<strong>ch</strong>e Defizite an öffentli<strong>ch</strong>er und privater Autonomie sind mit den<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsgeboten in Habermas Theorie ni<strong>ch</strong>t vereinbar. Was würde ein regierungstreuer<br />
Diskurstheoretiker in China auf die Begründung erwi<strong>der</strong>n, die Freiheitsgebote<br />
ergäben si<strong>ch</strong> »s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips auf das<br />
Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es« 206 ? Er könnte zugestehen, daß das Diskursprinzip D 207 H<br />
als Begründungsprinzip gilt und glei<strong>ch</strong>wohl bestreiten, es verlange individuelle<br />
Freiheiten aller Staatsbürger. Es ist geradezu Teil <strong>der</strong> staatssozialistis<strong>ch</strong>en Ideologie,<br />
daß je<strong>der</strong>mann – Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit und Informiertheit vorausgesetzt – idealiter die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Sozialordnung erkennen kann. Die Behauptung, daß<br />
si<strong>ch</strong> die Betroffenen in einem idealen Diskurs auf die Ordnungsregeln des <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en<br />
Sozialismus und damit auf die zumindest teilweise Ablehnung individueller<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te einigen könnten, wird in Habermas Theorie ni<strong>ch</strong>t entkräftet. Nun<br />
könnte Habermas als Argument für Legitimationsmängel im <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en System<br />
feststellen, daß in China die prozeduralen Anfor<strong>der</strong>ungen an reale Diskurse, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die Informations- und Meinungsfreiheit, ni<strong>ch</strong>t erfüllt sind. Das trifft zu.<br />
Do<strong>ch</strong> könnte <strong>der</strong> <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Diskurstheoretiker einwenden, die gegenwärtigen Eins<strong>ch</strong>ränkungen<br />
realer Diskurse ließen si<strong>ch</strong> ihrerseits unter Rückgriff auf ideale Diskurse<br />
re<strong>ch</strong>tfertigen: gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Diskussion könne außerhalb des ideologis<strong>ch</strong> gesi<strong>ch</strong>erten<br />
Rahmens keine Ri<strong>ch</strong>tigkeit verbürgen, weil die notwendige Informiertheit<br />
und Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit dur<strong>ch</strong> westli<strong>ch</strong>e Propaganda boykottiert würde. Derlei<br />
(hypothetis<strong>ch</strong>en) Argumenten mag viel entgegenzuhalten sein; die Begründung <strong>der</strong><br />
Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bei Habermas liefert die nötigen Gegenargumente indes ni<strong>ch</strong>t.<br />
Im na<strong>ch</strong>revolutionären Iran ist im Gegensatz zu China ein politis<strong>ch</strong>er Pluralismus<br />
und eine marktwirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ökonomie vorhanden, nur steht die Staatsordnung<br />
unter einem umfassenden Religionsvorbehalt. Die Regeln <strong>der</strong> Sozialordnung prägen<br />
religiöse Revolutionswä<strong>ch</strong>ter: Frauen ist in <strong>der</strong> Öffentli<strong>ch</strong>keit je<strong>der</strong> unvers<strong>ch</strong>leierte<br />
Aufenthalt o<strong>der</strong> Kontakt mit ni<strong>ch</strong>tverwandten Männern verboten; <strong>der</strong> Zugang zu<br />
westli<strong>ch</strong>er Kultur unterliegt religiöser Aufsi<strong>ch</strong>t (Verbot des Satellitenfernsehens, religiöse<br />
Kontrolle des Kinoprogramms); die Re<strong>ch</strong>tsordnung, insbeson<strong>der</strong>e das strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Sanktionensystem, untersteht dem Primat des Islam. Mit den Grundre<strong>ch</strong>-<br />
206 So J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156.<br />
207 D H lautet na<strong>ch</strong> J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 138: »Gültig sind genau die Handlungsnormen,<br />
denen alle mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen<br />
könnten.«<br />
300
ten in Habermas Theorie ist dieser Zustand ni<strong>ch</strong>t vereinbar 208 . Do<strong>ch</strong> könnte ein islamis<strong>ch</strong>er<br />
Diskurstheoretiker ähnli<strong>ch</strong> wie sein <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>er Kollege einwenden, daß<br />
bestimmte Freiheiten ni<strong>ch</strong>t diskurstheoretis<strong>ch</strong> geboten seien. Wer argumentiert, daß<br />
alle Betroffenen si<strong>ch</strong> in einem idealen Diskurs auf die Lebensweise des Islam einigen<br />
würden und nur dur<strong>ch</strong> die Verlockungen <strong>der</strong> realen Lebenswelt an dieser Einsi<strong>ch</strong>t<br />
gehin<strong>der</strong>t seien, <strong>der</strong> kehrt Habermas Behauptung um: Aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips<br />
auf das Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es folgt, daß das Re<strong>ch</strong>t den Islam gebieten<br />
muß. Eine sol<strong>ch</strong>e religiöse Instrumentalisierung des Re<strong>ch</strong>ts mag unbegründet<br />
sein, do<strong>ch</strong> solange Habermas ni<strong>ch</strong>t den Übergang vom Diskursprinzip zu universellen<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten dur<strong>ch</strong> Argumente abstützt, bilden <strong>der</strong>lei Gegenpositionen eine<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung für seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie.<br />
Selbst für Singapur, dessen Staatsform si<strong>ch</strong> weitgehend an westli<strong>ch</strong>en Demokratievorstellungen<br />
orientiert, läßt si<strong>ch</strong> eine Unvereinbarkeit mit den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen<br />
bei Habermas aufzeigen. Eine politis<strong>ch</strong>e Opposition zur Regierungsmehrheit ist<br />
zwar re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> erlaubt, tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aber dur<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>e Handhabung von Verleumdungsklagen<br />
nur s<strong>ch</strong>wer mögli<strong>ch</strong>. Individuelle Freiheiten stehen unter einem<br />
strikten Gemeins<strong>ch</strong>aftsvorbehalt (Medienregime, Kaugummiverbot, erniedrigende<br />
Prügelstrafen). Der demokratis<strong>ch</strong>en Sozialordnung westli<strong>ch</strong>en Musters, wie sie letztli<strong>ch</strong><br />
von Habermas mit den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen na<strong>ch</strong>gezei<strong>ch</strong>net wird, entspre<strong>ch</strong>en<br />
diese weitgehenden Bes<strong>ch</strong>ränkungen öffentli<strong>ch</strong>er und privater Autonomie ni<strong>ch</strong>t.<br />
Do<strong>ch</strong> könnte ein Diskurstheoretiker in Singapur argumentieren, daß er sowohl dem<br />
Diskursprinzip als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Notwendigkeit realer Diskurse zustimme und ledigli<strong>ch</strong><br />
in <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> realen Diskurse an<strong>der</strong>e S<strong>ch</strong>werpunkte setze als dies in<br />
westli<strong>ch</strong>en Demokratien übli<strong>ch</strong> sei: Es gebe asiatis<strong>ch</strong>e Tugenden des Ehrgefühls und<br />
<strong>der</strong> Zurückhaltung, die <strong>der</strong> Meinungsfreiheit und damit den realen Diskursen engere<br />
Grenzen zögen als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die regulative Idee<br />
des idealen Diskurses führe zwangsläufig je na<strong>ch</strong> den sozialen Rahmenbedingungen<br />
zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen. Die Freiheiten, auf die si<strong>ch</strong> ideale Diskursteilnehmer<br />
in Singapur einigen würden, müßten deshalb an<strong>der</strong>e sein als in westli<strong>ch</strong>en<br />
Demokratien.<br />
Das letzte Beispiel zeigt die argumentativen S<strong>ch</strong>wierigkeiten, die zu überwinden<br />
sind, wenn aus <strong>der</strong> Diskurstheorie auf bestimmte Freiheiten ges<strong>ch</strong>lossen werden soll.<br />
Die vorausgegangenen Beispiele 'China' und 'Iran' belegen, warum es zusätzli<strong>ch</strong>er<br />
Gründe bedarf, wenn überhaupt universelle Freiheiten aus dem Diskursprinzip abgeleitet<br />
werden sollen. Sol<strong>ch</strong>e Gründe fehlen bisher bei Habermas. Seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />
kann ni<strong>ch</strong>t vollständig erklären, warum Sozialordnungen wie diejenige<br />
Chinas, des Irans o<strong>der</strong> Singapurs illegitim und ungere<strong>ch</strong>t sind, obwohl ein sol<strong>ch</strong>es<br />
Urteil zu den Konsequenzen gehört, die aus den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bei Habermas<br />
zu ziehen wären.<br />
208 Vgl. L. Müller, Islam und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 142 ff. (Bes<strong>ch</strong>ränkung <strong>der</strong> Religions-, Meinungs-<br />
und Vereinigungsfreiheit), S. 182 ff., 321 (Körperstrafen).<br />
301
4. Zur Kritik an R. Alexys analytis<strong>ch</strong>em Liberalismus<br />
Ursprüngli<strong>ch</strong> wurde an <strong>der</strong> Diskurstheorie Alexys vor allem die Son<strong>der</strong>fallthese kritisiert<br />
209 . Hier soll si<strong>ch</strong> die Analyse und Kritik auf die neuen Thesen Alexys zur diskurstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te konzentrieren. Dieser Untersu<strong>ch</strong>ungss<strong>ch</strong>werpunkt<br />
ist au<strong>ch</strong> deshalb geboten, weil Alexy mit <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te genau dort ansetzt, wo bei Habermas eine Begründungslücke festgestellt<br />
wurde: beim Übergang vom Diskurs zu realen Re<strong>ch</strong>ten.<br />
a) Zur Notwendigkeit <strong>der</strong> geheu<strong>ch</strong>elten genuinen Diskursteilnahme<br />
Von einer 'genuinen Diskursteilnahme' spri<strong>ch</strong>t Alexy, wenn <strong>der</strong> Diskursteilnehmer<br />
bereit ist, sein Handeln na<strong>ch</strong> allen Ergebnissen des Diskurses auszuri<strong>ch</strong>ten 210 . Die<br />
genuine Diskursteilnahme führt von <strong>der</strong> verpfli<strong>ch</strong>tenden Wirkung <strong>der</strong> Diskursregeln<br />
im Diskurs zu einer verpfli<strong>ch</strong>tenden Anerkennung <strong>der</strong> Autonomie im Handeln. Es<br />
handelt si<strong>ch</strong> damit um eine S<strong>ch</strong>lüsselstelle <strong>der</strong> Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten.<br />
Wenn gezeigt werden kann, daß eine genuine Diskursteilnahme diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
notwendig ist, dann wäre damit die Autonomie im Handeln auf die kommunikationsnotwendige<br />
Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln gestützt. Die objektive Anerkennung von<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten wäre dann diskurstheoretis<strong>ch</strong> notwendig.<br />
Die einzelnen S<strong>ch</strong>ritte des Autonomiearguments lassen si<strong>ch</strong> folgen<strong>der</strong>maßen zusammenfassen<br />
211 : (1) Man kann si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewissern 212 .<br />
(2) Regierungen haben ein objektives Interesse an <strong>der</strong> Legitimation ihrer Herrs<strong>ch</strong>aft,<br />
müssen also <strong>der</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit behaupten. (3) Wer an Diskursen teilnimmt, setzt die<br />
Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner im Diskurs voraus. (4) Wer ernsthaft an Diskursen<br />
teilnimmt (genuine Diskursteilnahme), will soziale Konflikte dur<strong>ch</strong> diskursiv erzeugte<br />
und kontrollierte Konsense lösen. (5) Wer soziale Konflikte dur<strong>ch</strong> Konsense<br />
lösen will, akzeptiert die Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner au<strong>ch</strong> im Handeln. (6)<br />
Wer verhin<strong>der</strong>n will, daß das Interesse <strong>der</strong> Diskurspartner am Diskurs und damit die<br />
209 Aus <strong>der</strong> neueren Literatur etwa U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses<br />
(1996), S. 417 ff.; zustimmend demgegenüber J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993),<br />
S. 149 ff., 161 ff. (parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung), 170 ff. (geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verfahren), 180 ff. (juristis<strong>ch</strong>e<br />
Interpretation); P. Ts<strong>ch</strong>annen, Stimmre<strong>ch</strong>t und politis<strong>ch</strong>e Verständigung (1995), S. 388. Vgl.<br />
allgemein zur Kritik an <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1991), S. 426 ff. (Zusammenstellung <strong>der</strong> Positionen). Habermas hatte si<strong>ch</strong> trotz <strong>der</strong> positivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Bindung, <strong>der</strong> prozeßordnungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Bes<strong>ch</strong>ränkungen, des autoritativen Ents<strong>ch</strong>eidungs<strong>ch</strong>arakters<br />
und <strong>der</strong> Erfolgsorientierung ursprüngli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese Alexys ausdrückli<strong>ch</strong> anges<strong>ch</strong>lossen;<br />
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (1981), S. 62 mit Fn. 63.<br />
Neuerdings hat er, <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung Günthers zwis<strong>ch</strong>en Begründungs- und Anwendungsdiskursen<br />
folgend (dazu oben S. 222), die Bejahung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese deutli<strong>ch</strong> relativiert; J. Habermas,<br />
Faktizität und Geltung (1992), S. 283 ff. (286): »Aber die komplexere Geltungsdimension von<br />
Re<strong>ch</strong>tsnormen verbietet es, ... insofern den juristis<strong>ch</strong>en Diskurs als Son<strong>der</strong>fall von moralis<strong>ch</strong>en<br />
(Anwendungs-)Diskursen zu begreifen.« Vgl. dazu die Entgegnung von R. Alexy, Jürgen Habermas'<br />
Theorie des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 172 ff.<br />
210 Vgl. oben S. 252 (diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit <strong>der</strong> Autonomie).<br />
211 Vgl. dazu die ausführli<strong>ch</strong>ere Darstellung des Argumentationsgangs oben S. 250 ff. sowie R. Alexy,<br />
Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 129 ff.<br />
212 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
302
Mögli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Legitimation »auf Null o<strong>der</strong> fast auf Null« sinkt, <strong>der</strong> muß die genuine<br />
Diskursteilnahme wenigstens heu<strong>ch</strong>eln 213 . (7) Wer genuine Diskursteilnahme<br />
heu<strong>ch</strong>elt, erkennt damit die Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner im Handeln immer<br />
no<strong>ch</strong> objektiv an. Aus alledem folgt, daß staatli<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aft die objektive Anerkennung<br />
<strong>der</strong> Autonomie im Handeln (und damit Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te) notwendig voraussetzt.<br />
Kritis<strong>ch</strong> ist allein <strong>der</strong> se<strong>ch</strong>ste S<strong>ch</strong>ritt. Alexy formuliert als Mindestanfor<strong>der</strong>ung dafür,<br />
daß man seine Mitmens<strong>ch</strong>en auf Dauer zur Teilnahme an Diskursen motivieren<br />
kann, die geheu<strong>ch</strong>elte genuine Diskursteilnahme. Dana<strong>ch</strong> muß ein Diskursteilnehmer<br />
zumindest immer vorgeben, sein Handeln na<strong>ch</strong> den Ergebnissen des Diskurses ri<strong>ch</strong>ten<br />
zu wollen und dadur<strong>ch</strong> die Autonomie <strong>der</strong> übrigen Diskursteilnehmer au<strong>ch</strong> im<br />
Handeln anzuerkennen 214 . Ni<strong>ch</strong>t genügend wäre es hingegen, die Freiheit an<strong>der</strong>er<br />
im Diskurs zu a<strong>ch</strong>ten, dabei aber von vornherein offen zuzugeben, daß man sie im<br />
Handeln ni<strong>ch</strong>t zu a<strong>ch</strong>ten gedenke; dann würden für zukünftige Diskurse die Teilnehmer<br />
fehlen 215 . Die geheu<strong>ch</strong>elte genuine Diskursteilnahme bedeutet zwar ni<strong>ch</strong>t,<br />
daß man sein Handeln wirkli<strong>ch</strong> immer na<strong>ch</strong> den Ergebnissen des Diskurses ri<strong>ch</strong>tet,<br />
denn zum 'Heu<strong>ch</strong>eln' gehört es ja gerade, daß Reden und Handeln auseinan<strong>der</strong>fallen<br />
können. Do<strong>ch</strong> das Kriterium verlangt von jedem, wenigsten vorzugeben, si<strong>ch</strong> vollständig<br />
na<strong>ch</strong> den im Diskurs erzielten Konsensen zu ri<strong>ch</strong>ten. Dieses Element in Alexys<br />
Kriterium könnte man als vorgebli<strong>ch</strong>en umfassenden Diskursgehorsam bezei<strong>ch</strong>nen.<br />
Für die Existenz von Diskursen wäre na<strong>ch</strong> dieser Argumentation ein sol<strong>ch</strong>er vorgebli<strong>ch</strong>er<br />
umfassen<strong>der</strong> Diskursgehorsam notwendig.<br />
Es ist aber zweifelhaft, ob man wirkli<strong>ch</strong> umfassenden Diskursgehorsam vorgeben<br />
muß, um die Existenz von Diskursen si<strong>ch</strong>erzustellen. Denn die Bereits<strong>ch</strong>aft zur Diskursteilnahme<br />
wird ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on dann enden ('auf Null o<strong>der</strong> fast auf Null' sinken),<br />
wenn die Beteiligten ihr Handeln zwar ni<strong>ch</strong>t vollständig, aber jedenfalls zu einem erhebli<strong>ch</strong>en<br />
Teil dur<strong>ch</strong> Diskurse beeinflussen lassen. Allein dur<strong>ch</strong> die Chance eines ergebniskonformen<br />
Handelns stellt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Diskurs als ni<strong>ch</strong>t völlig sinnentleert dar<br />
und lohnt si<strong>ch</strong> für die Teilnehmer. Selbst ein geringer Einfluß des Diskurses auf das<br />
Handeln könnte s<strong>ch</strong>on genügen, um die Diskursteilnahme realistis<strong>ch</strong> werden zu lassen.<br />
Insoweit ähnelt die Motivationslage bei Diskursen <strong>der</strong>jenigen bei Verhandlungen<br />
216 .<br />
213 Zu diesem Argumentationss<strong>ch</strong>ritt R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152.<br />
214 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152 f.<br />
215 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152: »Es ist ni<strong>ch</strong>t attraktiv, mit jemandem<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskurse zu führen, dessen Gesprä<strong>ch</strong>sangebot die Form hat: 'Bevor i<strong>ch</strong><br />
di<strong>ch</strong> mit Gewalt dazu bringe, na<strong>ch</strong> meinen Vorstellungen zu leben, will i<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>en, ob i<strong>ch</strong> dieses<br />
Ziel ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong>er dur<strong>ch</strong> Überredung errei<strong>ch</strong>en kann.'«<br />
216 Von realen politis<strong>ch</strong>en Diskursen kann man spre<strong>ch</strong>en, wenn die Beteiligten ni<strong>ch</strong>t bloß 'verhandelnd'<br />
die we<strong>ch</strong>selseitigen Interessen gegeneinan<strong>der</strong> ausspielen, son<strong>der</strong>n 'argumentierend' um eine<br />
ri<strong>ch</strong>tige Lösung ringen. Zum Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en bargaining und arguing siehe oben S. 232.<br />
Zur Interpretation bestimmter Politikformen als reale Diskurse unten S. 347 ff. Die Motivationslage<br />
ist bei Diskursen und Verhandlungen ganz ähnli<strong>ch</strong>: Eine Oppositionsfraktion beteiligt si<strong>ch</strong><br />
konstruktiv an einem Gesetzgebungsverfahren <strong>der</strong> Regierung, wenn eine Chance besteht, daß ihre<br />
Argumente Auswirkungen haben (Diskurs); eine Gewerks<strong>ch</strong>aft kehrt zur Tarifdiskussion zurück,<br />
wenn überhaupt signifikante Zugeständnisse <strong>der</strong> Arbeitgebervertretung zu erwarten sind<br />
(Verhandlung); eine Wi<strong>der</strong>standsgruppe in einer Militärdiktatur erklärt si<strong>ch</strong> zu Gesprä<strong>ch</strong>en über<br />
303
Alexy spri<strong>ch</strong>t bei Situationen, in denen die Parteien zwar keine Gewißheit, aber<br />
do<strong>ch</strong> »eine gewisse Hoffnung« haben, die an<strong>der</strong>e Seite zur Anerkennung von Autonomie<br />
im Handeln zu bewegen, von »eher unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>en und s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Motiven«<br />
217 . Do<strong>ch</strong> so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> sind diese Motive ni<strong>ch</strong>t. Sie genügen im Regelfall, um<br />
reale Diskurse mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Die grundsätzli<strong>ch</strong>e Diskursbereits<strong>ch</strong>aft geht<br />
ni<strong>ch</strong>t sofort verloren, wenn eine Seite si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an die Diskursergebnisse hält. Kommunikation<br />
verursa<strong>ch</strong>t nur geringen Aufwand. Deshalb lohnt sie si<strong>ch</strong> selbst dann,<br />
wenn eine Verbesserung <strong>der</strong> Lage zwar ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, aber immerhin mögli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint.<br />
Zwar ers<strong>ch</strong>eint es »ni<strong>ch</strong>t sehr attraktiv«, mit jemandem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskurse<br />
zu führen, <strong>der</strong> ohne Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Ergebnisse seine Herrs<strong>ch</strong>aft mit Gewalt<br />
fortführt 218 . Do<strong>ch</strong> für die Existenz von Diskursen bedarf es einer beson<strong>der</strong>en Attraktivität<br />
ni<strong>ch</strong>t. Es ist geradezu ein Beleg für das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Potential von<br />
Diskursen, daß sie selbst dort sofort aufleben, wo ihre latente Unterdrückung nur<br />
teilweise gelockert wird. Die Sozialordnungen Chinas, Singapurs und des Iran sind<br />
als Systeme <strong>ch</strong>arakterisiert worden, in denen ein größtmögli<strong>ch</strong>es System individueller<br />
Freiheiten absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t realisiert wird 219 . Diese Staaten bes<strong>ch</strong>ränken politis<strong>ch</strong>e<br />
Meinungsäußerung und verhin<strong>der</strong>n damit eine diskursive Kontrolle ihrer Ordnungsprinzipien.<br />
Do<strong>ch</strong> wo immer sol<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen nur teilweise gelockert<br />
werden, sprießen sofort Reformdiskussionen hervor, selbst wenn die Realisierung<br />
sol<strong>ch</strong>er Reformen angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>tverhältnisse außerordentli<strong>ch</strong><br />
unrealistis<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint. Das allseitige Vorgeben umfassenden Diskursgehorsams ist<br />
folgli<strong>ch</strong> keine notwendige Voraussetzung für die Existenz von Diskursen. Die empiris<strong>ch</strong>e<br />
Prämisse, daß eine genuine Diskursteilnahme, d.h. die Bereits<strong>ch</strong>aft, alle sozialen<br />
Konflikte dur<strong>ch</strong> Konsense zu lösen, wenigstens geheu<strong>ch</strong>elt werden muß ('S<strong>ch</strong>ritt 6'<br />
<strong>der</strong> Argumentationsfolge), trifft in dieser Allgemeinheit ni<strong>ch</strong>t zu 220 .<br />
No<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>er als in den politis<strong>ch</strong>en Situationen wird <strong>der</strong> Zusammenhang bei<br />
Einzelents<strong>ch</strong>eidungen: Wenn si<strong>ch</strong> M mit ihrer To<strong>ch</strong>ter T auf eine Debatte über das<br />
Tas<strong>ch</strong>engeldes einläßt und dabei zugesteht, daß <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige Betrag eigentli<strong>ch</strong> zu<br />
niedrig ist, dann aber die Diskussion abbri<strong>ch</strong>t und eine Erhöhung ohne weitere Begründung<br />
verweigert, wird dann die T nie wie<strong>der</strong> einen Versu<strong>ch</strong> unternehmen, mit<br />
M über eine Tas<strong>ch</strong>engel<strong>der</strong>höhung zu diskutieren? Es ist wohl eher das Gegenteil<br />
<strong>der</strong> Fall: T wird erkennen, daß das Zugeständnis s<strong>ch</strong>on ein erster S<strong>ch</strong>ritt auf dem<br />
Weg zur Verbesserung <strong>der</strong> Situation ist. Allein <strong>der</strong> Umstand, daß si<strong>ch</strong> M auf eine<br />
Waffenstillstand s<strong>ch</strong>on dann bereit, wenn überhaupt eine Chance besteht, die Lage signifikant zu<br />
verbessern (Verhandlung o<strong>der</strong> Diskurs).<br />
217 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152.<br />
218 So das Argument bei R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152.<br />
219 Dazu oben S. 299 ff. (Illustration).<br />
220 Dieselbe Kritik gilt gegenüber <strong>der</strong> Konzeption von A. Honneth, Diskursethik und implizites <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzept<br />
(1986), S. 188: »nur die Gesells<strong>ch</strong>aft darf im Sinne einer Diskursethik letztli<strong>ch</strong><br />
als gere<strong>ch</strong>t gelten, die in ihrer normativen Infrastruktur die Voraussetzungen für herrs<strong>ch</strong>aftsfreie<br />
Dialoge bereithält und also all ihren Mitglie<strong>der</strong>[n] die Chance einer zwanglosen und glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten<br />
Aushandlung von strittigen Normen überhaupt erst gewährt.« A. Cortina, Diskursethik<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1990), S. 46 f. – Je<strong>der</strong> Teilnehmer habe ein Re<strong>ch</strong>t darauf, daß »Argumente ...<br />
einen wirkli<strong>ch</strong>en Einfluß in den dur<strong>ch</strong> Konsens getroffenen Ents<strong>ch</strong>eidungen haben.« Reale 'Diskurs<strong>ch</strong>ance'<br />
o<strong>der</strong> realer 'Diskursgehorsam' lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als notwendige Voraussetzung mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Kommunikation verstehen (Präsuppositionsanalyse).<br />
304
Diskussion einläßt und die Argumente <strong>der</strong> T anhört, begründet eine Chance, daß die<br />
M <strong>der</strong> Einsi<strong>ch</strong>t irgendwann au<strong>ch</strong> Taten folgen läßt und das Tas<strong>ch</strong>engeld erhöht. T<br />
wird also um so mehr darauf drängen, den Diskurs neu aufzunehmen. Erst wenn<br />
klar ist, daß überhaupt keine Chance besteht, dur<strong>ch</strong> den Diskurs einen Einfluß auf<br />
das Handeln zu gewinnen, wenn also M niemals <strong>der</strong> argumentativen Einsi<strong>ch</strong>t Taten<br />
folgen läßt, wird T si<strong>ch</strong> auf neue Diskurse ni<strong>ch</strong>t mehr einlassen.<br />
Aus alledem ist <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>luß zu ziehen, daß die Bereits<strong>ch</strong>aft zur Teilnahme an Diskursen<br />
und damit die Existenz von Diskursen s<strong>ch</strong>on dann realistis<strong>ch</strong> ist, wenn immerhin<br />
eine Chance zur Einflußnahme auf das Handeln besteht und si<strong>ch</strong> deshalb die<br />
Diskursbereits<strong>ch</strong>aft au<strong>ch</strong> in Zukunft für die Beteiligten lohnt. Wenn <strong>der</strong> kooperative<br />
Geist des Diskurses ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall vollständig in reales Handeln umgesetzt<br />
wird, ma<strong>ch</strong>t das Diskurse ni<strong>ch</strong>t unmögli<strong>ch</strong>. Eine geheu<strong>ch</strong>elte genuine Diskursteilnahme<br />
in dem Sinn, daß alle Beteiligten stets vorgeben, au<strong>ch</strong> im Handeln die Autonomie<br />
aller an<strong>der</strong>en umfassend und ausnahmslos anzuerkennen, gehört ni<strong>ch</strong>t zu den<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Notwendigkeiten.<br />
Gegen dieses Ergebnis könnte eingewandt werden, daß <strong>der</strong>lei entwertete Diskurse<br />
eine wirkli<strong>ch</strong>e Legitimation sozialer Ordnung ni<strong>ch</strong>t tragen können. Das stimmt.<br />
Do<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> das Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t notwendig auf eine wirkli<strong>ch</strong>e<br />
Legitimation sozialer Ordnung. »Man kann an Diskursen teilnehmen, ohne an<br />
<strong>der</strong> Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner im geringsten interessiert zu sein« 221 , also<br />
ohne ein subjektives o<strong>der</strong> motivationales Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Dann bleibt nur<br />
ein objektives o<strong>der</strong> institutionelles Interesse. Das ist wie<strong>der</strong>um dur<strong>ch</strong> die langfristige<br />
Stabilität <strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aft bedingt. Der Tyrann hat nur insoweit ein objektives Interesse<br />
an Ri<strong>ch</strong>tigkeit, als die Legitimation seiner Herrs<strong>ch</strong>aft notwendige Voraussetzung<br />
für <strong>der</strong>en längerfristige Stabilität ist. Nun zeigt si<strong>ch</strong> aber, daß zwar einige Unre<strong>ch</strong>tsregimes<br />
instabil sind, do<strong>ch</strong> längst ni<strong>ch</strong>t jede Bes<strong>ch</strong>ränkung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten<br />
und Demokratie zu einem revolutionären Herrs<strong>ch</strong>aftsumsturz führt. Jedenfalls während<br />
<strong>der</strong> Lebenszeit eines autokratis<strong>ch</strong>en Herrs<strong>ch</strong>ers kann die Stabilität andauern, solange<br />
sie ni<strong>ch</strong>t als offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Unre<strong>ch</strong>tsregime den latenten Wi<strong>der</strong>stand zusätzli<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>ürt 222 . Selbst für einen friedli<strong>ch</strong>en Übergang von autokratis<strong>ch</strong>er Herrs<strong>ch</strong>aft zu<br />
demokratis<strong>ch</strong>er Organisation gibt es historis<strong>ch</strong>e Beispiele 223 . In aller Regel bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
si<strong>ch</strong> das empiris<strong>ch</strong> belegbare objektive Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit folgli<strong>ch</strong> darauf,<br />
daß die Herrs<strong>ch</strong>enden zumindest pro forma die Legitimität ihrer Herrs<strong>ch</strong>aft behaupten<br />
und jedenfalls eine Chance dafür eröffnen, daß eine Sozialordnung entsteht, die in<br />
Diskursen gere<strong>ch</strong>tfertigt wird o<strong>der</strong> werden könnte. So ist zu erklären, daß Militärdiktatoren<br />
mit einigem Erfolg immer wie<strong>der</strong> demokratis<strong>ch</strong>e Wahlen ankündigen, vers<strong>ch</strong>ieben<br />
und annullieren, selbst wenn sie zu keinem Zeitpunkt zur Ma<strong>ch</strong>taufgabe tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
bereit sind. Ein »diskurstheoretis<strong>ch</strong>es Tyrannendilemma« 224 zwingt zwar zur<br />
Vers<strong>ch</strong>leierung des Terrors, begründet aber no<strong>ch</strong> kein objektives Interesse an <strong>der</strong><br />
vollständigen Anerkennung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie.<br />
221 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 151.<br />
222 Zur reinen Ma<strong>ch</strong>therrs<strong>ch</strong>aft als eines labilen, aber glei<strong>ch</strong>wohl mögli<strong>ch</strong>en Grenzfalles vgl. H. Dreier,<br />
Staatli<strong>ch</strong>e Legitimität, Grundgesetz und neue soziale Bewegung (1987), S. 140 f. m.w.N.<br />
223 Beispiele aus <strong>der</strong> jüngeren Zeit sind die Demokratisierung Chiles, Osteuropas und Südafrikas.<br />
224 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 153.<br />
305
Es bleibt also dabei: Die in den Diskursregeln verkörperte spra<strong>ch</strong>pragmatis<strong>ch</strong>e<br />
Autonomie <strong>der</strong> Diskursteilnehmer wird ni<strong>ch</strong>t vollständig in eine moralis<strong>ch</strong>e Autonomie<br />
im Handeln transformiert. Daraus folgt indes ni<strong>ch</strong>t, daß die Begründung von<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie, wie sie im analytis<strong>ch</strong>en Liberalismus von Alexy<br />
angelegt ist, im Ergebnis ni<strong>ch</strong>t trägt, son<strong>der</strong>n nur, daß si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>werpunkt <strong>der</strong> Begründung<br />
verlagert 225 .<br />
b) Zur Konkretisierung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
Die Ausdifferenzierung eines Katalogs von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten aus dem allgemeinen<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>t R F (»Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t, frei zu beurteilen, was geboten und was gut<br />
ist, und entspre<strong>ch</strong>end zu handeln.« 226 ) wird bei Alexy in zwei Operationen verortet:<br />
Erstens könne man zeigen, daß einzelne Freiheitsre<strong>ch</strong>te Spezialfälle dieses Re<strong>ch</strong>ts<br />
seien. Und zweitens sei es mögli<strong>ch</strong>, Re<strong>ch</strong>te als notwendige Voraussetzung für die Realisierung<br />
von R F zu begründen 227 . Diese zweite Vorgehensweise entspri<strong>ch</strong>t Alexys<br />
Begründung <strong>der</strong> Autonomie im Handeln: Au<strong>ch</strong> dort erweist si<strong>ch</strong> das Ergebnis als eine<br />
notwendige Voraussetzung des Diskurses. Die Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
wird in das transzendentale Argument <strong>der</strong> Diskurstheorie einbezogen und gerät dadur<strong>ch</strong><br />
zum Bestandteil einer erweiterten Präsuppositionsanalyse. Daran ist im Prinzip<br />
ni<strong>ch</strong>ts auszusetzen, nur fragt si<strong>ch</strong>, ob die unmittelbare diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Begründung<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te ausrei<strong>ch</strong>end präzise S<strong>ch</strong>lüsse zuläßt, um einen 'Katalog<br />
konkreter Freiheitsre<strong>ch</strong>te', d.h. Grundre<strong>ch</strong>tsprinzipien für das positive (Verfassungs-)Re<strong>ch</strong>t,<br />
tragen zu können.<br />
Die mögli<strong>ch</strong>en Bestimmungen einzelner Grund- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te sind vielfältig,<br />
wie die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Regelungen und S<strong>ch</strong>werpunktsetzungen in geltenden<br />
Verfassungen belegen. Das gilt erst re<strong>ch</strong>t für die sozialen Grundre<strong>ch</strong>te, die laut<br />
Alexy zumindest teilweise als notwendige Voraussetzung für die Verwirkli<strong>ch</strong>ung<br />
von Freiheit begründet werden können 228 . Wel<strong>ch</strong>es sind die 'konkreten Freiheitsre<strong>ch</strong>te',<br />
die si<strong>ch</strong> aus dem allgemeinen Freiheitsre<strong>ch</strong>t R F gewinnen lassen? In R F ist unter<br />
an<strong>der</strong>em von Geboten und <strong>der</strong>en Beurteilung die Rede. Die in <strong>der</strong> Lebenswelt in<br />
erster Linie problematis<strong>ch</strong>en Gebote sind Re<strong>ch</strong>tsnormen, ihre Beurteilung ist eine kollektive.<br />
Eine erste konkretisierende Folgerung aus R F kann darum im Gebot fortgesetzter<br />
diskursiver Kontrolle aller Re<strong>ch</strong>tsnormen gesehen werden. Im Diskurs muß<br />
es je<strong>der</strong>zeit mögli<strong>ch</strong> sein, einmal gefundene Ergebnisse wie<strong>der</strong> in Frage zu stellen.<br />
Über das Kriterium <strong>der</strong> diskursiven Kontrolle wird diese Restriktion auf die Dimension<br />
des Handelns übertragen. So, wie man si<strong>ch</strong> im Diskurs <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit von<br />
Handlungsnormen nur vergewissern kann, wenn man zur neuerli<strong>ch</strong>en Infragestellung<br />
einzelner Ergebnisse je<strong>der</strong>zeit bereit ist, so kann im Handeln eine Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
nur andauern, solange das Handeln diskursiv kontrolliert bleibt. Die diskursi-<br />
225 Dazu unten S. 315 ff. (die hier verfolgte Begründungsstrategie).<br />
226 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 153.<br />
227 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 154: »Die zweite Operation besteht darin,<br />
daß dargelegt wird, daß bestimmte Re<strong>ch</strong>te notwendige Mittel sind, um autonom handeln zu können.«<br />
228 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 154; ausführli<strong>ch</strong> zu diesen Re<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong>s.,<br />
Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te (1985), S. 454 ff.<br />
306
ve Kontrolle des Handelns ist ein Akt öffentli<strong>ch</strong>er Autonomie. Diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
notwendige Gehalte des allgemeinen Freiheitsre<strong>ch</strong>ts R F sind deshalb jedenfalls diejenigen<br />
Einzelre<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en gegenseitig einräumen müssen, wenn sie die<br />
Regelungen ihres Zusammenlebens einer fortlaufenden diskursiven Kontrolle aussetzen<br />
wollen 229 . Dazu gehört die Meinungsäußerungsfreiheit in öffentli<strong>ch</strong>en Angelegenheiten<br />
(political spee<strong>ch</strong>) sowie ein Mindestmaß an den mit <strong>der</strong> individuellen und<br />
kollektiven Wahrnehmung dieser Freiheit verbundenen weiteren Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>ten<br />
(Informations-, Presse-, Rundfunk-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit).<br />
Insoweit läßt si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Inhalt von R F tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ohne die Dur<strong>ch</strong>führung<br />
konkreter Diskurse ('unmittelbar') bestimmen. Au<strong>ch</strong> ein Grundre<strong>ch</strong>t auf Leben und<br />
körperli<strong>ch</strong>e Integrität und einige an<strong>der</strong>e Einzelaspekte <strong>der</strong> privaten Autonomie sowie<br />
das Re<strong>ch</strong>t auf ein Existenzminimum an Gütern können so begründet werden.<br />
Damit endet die Bestimmbarkeit aber. We<strong>der</strong> die genaue Abgrenzung zwis<strong>ch</strong>en<br />
den als Prinzipien zu verstehenden Grundre<strong>ch</strong>ten, no<strong>ch</strong> <strong>der</strong> konkrete Bestand an<br />
Re<strong>ch</strong>ten lassen si<strong>ch</strong> aus R F unmittelbar bestimmen. Ob etwa Privateigentum und<br />
Erbre<strong>ch</strong>t gewährleistet sein müssen, ob staatli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utz dur<strong>ch</strong> Enteignung verfolgt<br />
werden darf, wel<strong>ch</strong>e kollektiven Pfli<strong>ch</strong>ten den Grundre<strong>ch</strong>ten gegenüberstehen – dies<br />
alles sind Einzelfragen zur Festlegung eines Grundre<strong>ch</strong>tskatalogs, die ohne die<br />
Dur<strong>ch</strong>führung konkreter (Verfassungs-)Diskurse ni<strong>ch</strong>t beantwortet werden können.<br />
Ein vollständiger Katalog konkreter Freiheitsre<strong>ch</strong>te läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t diskurstheoretis<strong>ch</strong>unmittelbar<br />
begründen. Vielmehr muß die Begründung um eine mittelbare Komponente<br />
ergänzt werden, wie Alexy sie in <strong>der</strong> Theorie von Habermas feststellt 230 , selbst<br />
aber ni<strong>ch</strong>t verfolgen will 231 , son<strong>der</strong>n nur als mögli<strong>ch</strong>e Ergänzung andeutet 232 . Ri<strong>ch</strong>tigerweise<br />
wird man zur Begründung eines Katalogs konkreter Freiheitsre<strong>ch</strong>te nur gelangen<br />
können, wenn man die unmittelbare um eine mittelbare Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
erweitert 233 .<br />
IV. Ergebnisse<br />
Au<strong>ch</strong> die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition bieten nur teilweise eine hinrei<strong>ch</strong>ende<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien und Standpunkttheorien<br />
begegnen s<strong>ch</strong>on im methodis<strong>ch</strong>en Ansatz dur<strong>ch</strong>greifenden Bedenken;<br />
229 Vgl. den ähnli<strong>ch</strong>en, wenn au<strong>ch</strong> von vornherein sehr viel weiter gefaßten Ansatz bei J. Habermas,<br />
Faktizität und Geltung (1992), S. 151: »Dieses System [<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te, das die private und öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Autonomie zur Geltung bringt,] soll genau die Grundre<strong>ch</strong>te enthalten, die si<strong>ch</strong> Bürger gegenseitig<br />
einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Re<strong>ch</strong>ts legitim regeln<br />
wollen.«<br />
230 Dazu R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146: »Um eine bloß mittelbare Begründung<br />
handelt es si<strong>ch</strong> demgegenüber, wenn die Ents<strong>ch</strong>eidung über die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te einem<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> stattfindenden Prozeß überlassen wird, <strong>der</strong> aber bestimmten diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründeten<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen genügen muß.« (Hervorhebung bei Alexy).<br />
231 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 147: »Hier sollen nur Re<strong>ch</strong>te interessieren,<br />
die si<strong>ch</strong> unmittelbar diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründen lassen, also nur im engeren Sinne diskursiv<br />
notwendige Re<strong>ch</strong>te.«<br />
232 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 163 f. – Demokratieargument.<br />
233 Zu einem Versu<strong>ch</strong>, diese Ergänzung vorzunehmen, vgl. unten S. 326 ff. (diskursiv notwendige<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen); S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
307
sie können den Verda<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> konstruktiven Beliebigkeit ihrer moralis<strong>ch</strong>en Gehalte<br />
ni<strong>ch</strong>t ausräumen. Diskurstheorien verspre<strong>ch</strong>en am ehesten, eine befriedigende Antwort<br />
auf die Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t geben zu können. Dabei öffnet Apels<br />
Verantwortungsethik das Tor für Ausnahmen von <strong>der</strong> diskursiven Bindung des<br />
Handelns unkontrolliert weit. Die Idee <strong>der</strong> deliberativen Politik bei Habermas bildet<br />
hingegen einen vielverspre<strong>ch</strong>enden Ansatzpunkt dafür, die aus diskurstheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>en Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln für die Genese<br />
ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>ts zu formulieren. Habermas Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und<br />
Demokratie erweist si<strong>ch</strong> hingegen als lückenhaft. Für eine sol<strong>ch</strong>e Begründung verspri<strong>ch</strong>t<br />
das Modell Alexys eine Grundlage.<br />
308
Fünfter Teil:<br />
Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Auf 'Grundzüge' einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> muß dieser letzte Teil <strong>der</strong><br />
Untersu<strong>ch</strong>ung bes<strong>ch</strong>ränkt bleiben, weil eine ausgearbeitete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>s-, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ts-<br />
und Demokratietheorie den hier gesteckten Rahmen sprengen würde.<br />
Es soll nur darum gehen, die verglei<strong>ch</strong>ende Theoriedarstellung im dritten sowie die<br />
Analyse und Kritik im vierten Teil dieser Untersu<strong>ch</strong>ung zusammenzuführen und<br />
no<strong>ch</strong> um einen kleinen S<strong>ch</strong>ritt zu ergänzen, <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> als Beitrag zu einem analytis<strong>ch</strong><br />
begründeten Liberalismus versteht 1 . Dabei muß <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>werpunkt auf sol<strong>ch</strong>en Elementen<br />
liegen, die bei den bisher vorgestellten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien zu kurz kommen.<br />
Das gilt vor allem für die Verknüpfung von prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung,<br />
wie sie die politis<strong>ch</strong>e Philosophie <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition prägt, mit prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung, wie sie als Leitbild<br />
von realen Diskursen in Re<strong>ch</strong>t und Politik fungiert. S<strong>ch</strong>on diese letzte Aussage, daß<br />
es si<strong>ch</strong> bei re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er und politis<strong>ch</strong>er Kommunikation überhaupt um Diskurse handle,<br />
ist umstritten. In den s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen, die an reale Diskurse gestellt<br />
werden, wei<strong>ch</strong>t das hier vorgestellte Diskursmodell vom bisher übli<strong>ch</strong>en ab 2 .<br />
A. Vorüberlegungen<br />
I. Die fünf Fragen politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Mindestgehaltsthese)<br />
Für die Vorüberlegungen zu einer diskursiven <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie kann bei <strong>der</strong><br />
s<strong>ch</strong>on zuvor begründeten Mindestgehaltsthese angesetzt werden. Na<strong>ch</strong> dieser These<br />
muß eine politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie – und um eine sol<strong>ch</strong>e geht es hier 3 – mindestens<br />
Aussagen zu Begründungsmodell, Institutionalisierung, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten,<br />
Demokratie und Güterverteilung treffen 4 .<br />
Das Begründungsmodell ist erstens ein notwendiger Bestandteil von politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien,<br />
weil jede Explikation von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zunä<strong>ch</strong>st eine Konzeption<br />
<strong>der</strong> allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Vernunft benötigt, um die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns<br />
im <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 5 dur<strong>ch</strong> Kriterien konkretisieren zu können. Darin liegt eine<br />
Antwort auf die Herausfor<strong>der</strong>ung des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus. Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Konzeption praktis<strong>ch</strong>er Vernunft wurde bereits im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
Diskurstheorie erläutert 6 . Darauf kann hier zurückgegriffen werden. Als Ergebnis<br />
ist festzuhalten, daß man si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewis-<br />
1 Vgl. die Einleitung, S. 21 ff. a.E.<br />
2 Dazu unten S. 347 ff. (Diskursivität <strong>der</strong> Politik) sowie oben S. 218 (D Dr ).<br />
3 Vgl. oben S. 78 (S<strong>ch</strong>werpunktthese).<br />
4 Dazu oben S. 117 (Mindestgehaltsthese).<br />
5 Dazu oben S. 45 (D 1 ).<br />
6 Dazu oben S. 217 ff. (Diskurstheorien).<br />
309
sern kann 7 . Ein Begründungsmodell ist zweitens au<strong>ch</strong> deshalb nötig, weil die Explikation<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Weise auf eine Konzeption <strong>der</strong> allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Vernunft gestützt werden kann. Zur Vervollständigung des Begründungsmodells<br />
muß deshalb erklärt werden, auf wel<strong>ch</strong>e Weise die Diskurstheorie<br />
zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen einzusetzen ist 8 .<br />
Die Frage <strong>der</strong> Institutionalisierung verlangt na<strong>ch</strong> einer Verteidigung <strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en<br />
Zwangsordnung gegenüber <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung des Anar<strong>ch</strong>ismus. Hier sind<br />
Gründe dafür zu nennen, daß es überhaupt einen Staat geben muß, <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Befugnisse<br />
und Pfli<strong>ch</strong>ten seiner Bürger festlegt und dur<strong>ch</strong>setzt. Da in dieser Frage<br />
weitgehende Übereinstimmung unter allen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien besteht, kann die<br />
Antwort hierzu kurz ausfallen 9 .<br />
Der inhaltli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>werpunkt einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie liegt in <strong>der</strong> Begründung<br />
von universellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen über Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Demokratie und Güterverteilung<br />
(soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Hier führt die Zurückhaltung, die gegenüber einer<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te geboten ers<strong>ch</strong>eint 10 , dazu,<br />
daß in allen drei Berei<strong>ch</strong>en (Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Demokratie, Güterverteilung) gilt: Nur<br />
wenige gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong>e Ordnungsgebote lassen si<strong>ch</strong> als diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Notwendigkeit verstehen. Au<strong>ch</strong> eine diskursive Notwendigkeit läßt si<strong>ch</strong> nur<br />
für einige Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskategorien geltend ma<strong>ch</strong>en (unmittelbare Begründung).<br />
Weitergehende Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten gibt es erst im Rahmen <strong>der</strong> Herausbildung<br />
einer Verfassungs- und Re<strong>ch</strong>tsordnung. Im Interesse mögli<strong>ch</strong>st detaillierter<br />
Aussagen müssen die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln untersu<strong>ch</strong>t<br />
werden, unter denen ri<strong>ch</strong>tiges (d.h. gere<strong>ch</strong>tes) Re<strong>ch</strong>t in realen Verfahren einer sol<strong>ch</strong>en<br />
Ordnung begründet werden kann (mittelbare Begründung).<br />
II.<br />
Zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
Es gibt unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Argumentationswege, um eine Theorie des allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurses zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie auszubauen. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
lassen si<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st begründen, indem man – unabhängig von <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Dur<strong>ch</strong>führung einzelner Diskurse – ihre diskurstheoretis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> diskursive<br />
Notwendigkeit zeigt. Von diskurstheoretis<strong>ch</strong>er Notwendigkeit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm<br />
soll die Rede sein, wenn ihre Geltung als notwendige Voraussetzung von Diskursen begründet<br />
wird (1). Demgegenüber sei eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm hier diskursiv notwendig<br />
genannt, wenn gezeigt werden kann, daß ihre Geltung eine notwendige Folge von<br />
Diskursen sein muß (2). Beide Begründungsweisen gehören wegen ihrer Unabhängigkeit<br />
von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung konkreter Diskurse zu den Formen <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen 11 . Um den Kreis diskursiv bloß mögli<strong>ch</strong>er<br />
7 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
8 Dazu unten S. 314 ff. (kombinative Begründungsstrategien).<br />
9 Dazu unten S. 333 ff. (Institutionalisierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
10 Dazu oben S. 302 ff. (Kritik an <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> genuinen Diskursteilnahme).<br />
11 Vgl. Alexys methodis<strong>ch</strong>es Vorgehen bei <strong>der</strong> 'unmittelbaren Begründung' <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te:<br />
R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146 ff. Alexy spri<strong>ch</strong>t in allen Fällen von<br />
diskursiv notwendigen, unmögli<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> mögli<strong>ch</strong>en Normen im engeren Sinn (unmittelbare Begründung:<br />
unabhängig von <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>führung einzelner Diskurse) sowie diskursiv<br />
310
Normen näher einzugrenzen, ist eine ergänzende mittelbare Begründung sinnvoll, bei<br />
<strong>der</strong> »die Ents<strong>ch</strong>eidung über die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te einem tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> stattfindenden politis<strong>ch</strong>en<br />
Prozeß überlassen wird, <strong>der</strong> aber bestimmten diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründeten<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen genügen muß.« 12 Au<strong>ch</strong> im Rahmen <strong>der</strong> mittelbaren Begründung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen bleibt die Diskurstheorie bestimmend, weil sie die Kriterien<br />
für Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln liefert, unter denen reale<br />
Verfahren gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorbringen können (3). S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> bleibt im diskurstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Rahmen au<strong>ch</strong> Raum für Argumente <strong>der</strong> individuellen Nutzenmaximierung<br />
(4).<br />
1. Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit von Normen<br />
Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit, also <strong>der</strong> Umstand, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
eine notwendige Voraussetzung von Diskursregeln sind, wird gezeigt, indem man<br />
das transzendentale Argument <strong>der</strong> Begründung von Diskursregeln weiterführt 13 .<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen werden in die Präsuppositionsanalyse <strong>der</strong> Diskurstheorie<br />
einbezogen. So, wie si<strong>ch</strong> bestimmte Spre<strong>ch</strong>akte ni<strong>ch</strong>t denken lassen, ohne daß dabei<br />
<strong>der</strong> Diskurs na<strong>ch</strong> den Diskursregeln als Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgarant anerkannt wird, so könnte<br />
die Anwendung <strong>der</strong> Diskursregeln undenkbar sein, ohne daß glei<strong>ch</strong>zeitig bestimmte<br />
grundlegende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien gewährleistet sind (diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit).<br />
Methodis<strong>ch</strong> wird bei dieser transzendentalen Argumentation die Präsuppositionsanalyse<br />
<strong>der</strong> Diskurstheorie um Voraussetzungen <strong>der</strong> spezifis<strong>ch</strong>en Kommunikation<br />
über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erweitert, ohne daß es <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung einzelner<br />
(<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>s-)Diskurse bedarf.<br />
Die diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen sind immer universalistis<strong>ch</strong>,<br />
da sie mit einer Erweiterung <strong>der</strong> universell geltenden Diskursregeln in die Lebenswelt<br />
begründet werden. Wer beispielsweise argumentiert, daß die Diskursregeln<br />
(zusammen mit universell geda<strong>ch</strong>ten empiris<strong>ch</strong>en Prämissen) notwendig dazu<br />
führen, die Autonomie <strong>der</strong> Mitmens<strong>ch</strong>en anzuerkennen 14 , <strong>der</strong> begründet diese Autonomie<br />
unabhängig von historis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aften und in diesem Sinne universell.<br />
Die universell begründete Autonomie ist damit glei<strong>ch</strong>zeitig vorpositiv, gilt also unabhängig<br />
von den mögli<strong>ch</strong>en Konkretisierungen, die Sozialordnungen annehmen können.<br />
notwendigen, unmögli<strong>ch</strong>en und mögli<strong>ch</strong>en Normen im weiteren Sinn (mittelbare Begründung: in<br />
einem tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> stattfindenden Verfahren). Die erweiterte Terminologie (diskurstheoretis<strong>ch</strong>/diskursiv)<br />
wird hier zur Verdeutli<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den Argumentationswegen<br />
eingeführt.<br />
12 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146. Zustimmend zur Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
dieser Begründungsformen H. Koriath, Diskurs und Strafre<strong>ch</strong>t (1999), S. 188.<br />
13 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146 ff.; außerdem A. Cortina, Diskursethik<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1990), S. 44 f. – Die als unhintergehbare pragmatis<strong>ch</strong>e Voraussetzungen<br />
<strong>der</strong> Kommunikation begründeten Re<strong>ch</strong>te werden dort 'pragmatis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te' genannt. Vgl.<br />
oben S. 225 ff. (transzendentales Argument).<br />
14 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 148 ff.<br />
311
2. Die diskursive Notwendigkeit von Normen<br />
Ein zweiter Argumentationsweg, in dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen unabhängig von<br />
konkreten Diskursen, also unmittelbar, begründet werden, liegt vor, wenn gezeigt<br />
wird, daß eine Norm notwendige Folge <strong>der</strong> Diskursregeln ist, also in jedem denkbaren<br />
Diskurs als Ergebnis bestätigt werden müßte (diskursive Notwendigkeit). Bei einem<br />
hypothetis<strong>ch</strong>en Diskurs ergibt si<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>wierigkeit, daß dafür erhebli<strong>ch</strong>es empiris<strong>ch</strong>es<br />
Wissen und Prognosen über das Diskussionsverhalten aller Betroffenen erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong><br />
sind 15 . Die unmittelbare Begründung einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm als diskursiv<br />
notwendig ist mit <strong>der</strong> Unsi<strong>ch</strong>erheit belastet, daß sie s<strong>ch</strong>on falsifiziert werden kann,<br />
indem eine einzige empiris<strong>ch</strong>e Prämisse o<strong>der</strong> Verhaltensprognose wi<strong>der</strong>legt wird 16 .<br />
Häufig sind über hypothetis<strong>ch</strong>e Konsense nur Spekulationen mögli<strong>ch</strong>, so daß si<strong>ch</strong><br />
die Aussagen auf wenige elementare Fälle bes<strong>ch</strong>ränken müssen, in denen si<strong>ch</strong> mit<br />
hinrei<strong>ch</strong>en<strong>der</strong> Si<strong>ch</strong>erheit sagen läßt, was ein notwendiges Ergebnis unabhängig von<br />
<strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>führung einzelner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskurse sei 17 .<br />
Au<strong>ch</strong> die unmittelbar als diskursiv notwendig begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
sind universalistis<strong>ch</strong> in dem Sinne, daß si<strong>ch</strong> Diskursteilnehmer zu allen Zeiten<br />
und an allen Orten auf sie einigen müßten. Mögli<strong>ch</strong>e Kandidaten für sol<strong>ch</strong>e Normen<br />
sind beispielsweise prinzipielle Tötungsverbote. Will man mögli<strong>ch</strong>st konkrete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgebote<br />
herleiten, so ers<strong>ch</strong>eint es am aussi<strong>ch</strong>tsrei<strong>ch</strong>sten, die diskursive mit<br />
<strong>der</strong> diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Begründung zu verbinden. Dabei wird argumentiert, daß<br />
unter den Bedingungen einer Sozialordnung, die den diskurstheoretis<strong>ch</strong> notwendigen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgeboten entspri<strong>ch</strong>t (z.B.: Gebot einer minimalen Volkssouveränität<br />
18 ), je<strong>der</strong> Diskurs über die Konkretisierung dieser Gebote notwendig zu bestimmten<br />
Ergebnissen gelangen muß (z.B. Geltung <strong>der</strong> Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätze 19 ). Diese Ergebnisse<br />
bilden dann selbst wie<strong>der</strong>um universalistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen.<br />
3. Die diskursive Mögli<strong>ch</strong>keit von Normen<br />
Eine mittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen liegt darin, bestimmte diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
begründete Anfor<strong>der</strong>ungen zu formulieren, die si<strong>ch</strong>erstellen, daß die<br />
in tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> stattfindenden Einzelverfahren begründeten Normen gere<strong>ch</strong>t sind 20 .<br />
Die so begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen sind zumindest diskursiv mögli<strong>ch</strong>, etwa<br />
wenn si<strong>ch</strong> ein Parlament ents<strong>ch</strong>ließt, eine Quellensteuer auf Kapitalgewinne zu verabs<strong>ch</strong>ieden.<br />
Sie sind darüber hinaus diskursiv notwendig, wenn kein Fall eines anfor<strong>der</strong>ungsgere<strong>ch</strong>ten<br />
Verfahrens denkbar ist, in dem sie abgelehnt würden, wenn ihre<br />
Ni<strong>ch</strong>t-Geltung also diskursiv unmögli<strong>ch</strong> ist 21 . Eine sol<strong>ch</strong>e Prognose läßt si<strong>ch</strong> allenfalls<br />
für ganz grundlegende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen abgeben; man könnte beispielsweise<br />
15 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 241 – hypothetis<strong>ch</strong>e Kriterien.<br />
16 Zum hier verwendeten Falsifikationsbegriff oben S. 264, Fn. 20.<br />
17 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 157.<br />
18 Dazu unten S. 323 (minimale Volkssouveränität).<br />
19 Dazu unten S. 330 (Begründung <strong>der</strong> Demokratie).<br />
20 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146.<br />
21 Zum logis<strong>ch</strong>en Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en Notwendigkeit und Unmögli<strong>ch</strong>keit von Normen vgl. R. Alexy,<br />
Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146: »Derartige Re<strong>ch</strong>te sind im engeren Sinne<br />
diskursiv notwendig. Ihre Ni<strong>ch</strong>t-Geltung ist im engeren Sinne diskursiv unmögli<strong>ch</strong>.«<br />
312
die These vertreten, daß jedes Parlament, ausrei<strong>ch</strong>ende Informiertheit und Diskussionsfreiheit<br />
vorausgesetzt, die willkürli<strong>ch</strong>e Tötung von Mens<strong>ch</strong>en verbieten würde.<br />
Um die diskursive Mögli<strong>ch</strong>keit einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm in mittelbarer Begründung<br />
darzulegen, ist es eigentli<strong>ch</strong> nötig, das Verfahren tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>zuführen. In<br />
einer Theorie lassen si<strong>ch</strong> einzelne Verfahren aber ni<strong>ch</strong>t vorwegnehmen. Der Kern<br />
<strong>der</strong> mittelbaren Begründung besteht für eine Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> deshalb<br />
darin, die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln zu bestimmen, unter<br />
denen Verfahren gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorbringen; die Theorie muß die realen<br />
Bedingungen einer Genese ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>ts aufzeigen. Nun wäre es naheliegend, die<br />
vollständige Verwirkli<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Diskursregeln als Verfahrensregeln zu for<strong>der</strong>n. Da<br />
aber die Diskursregeln in realen Diskursen nie vollständig verwirkli<strong>ch</strong>t werden können,<br />
verlagert si<strong>ch</strong> die Aufgabenstellung auf die Frage, wel<strong>ch</strong>e Annäherung an die<br />
regulative Idee des idealen Diskurses in wel<strong>ch</strong>en realen Verfahren geboten ist 22 .<br />
Die mittelbare Begründung ist universalistis<strong>ch</strong>, wenn sie Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln von realen Verfahren bestimmt, die in je<strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten Sozialordnung<br />
ges<strong>ch</strong>affen werden müssen; sie ist ni<strong>ch</strong>tuniversalistis<strong>ch</strong>, wenn sie Regeln<br />
definiert, die in einer bestimmten Sozialordnung als Annäherung an Diskursideale<br />
gefor<strong>der</strong>t sind.<br />
4. Die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong> ergänzte Normbegründung<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien können (s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e) empiris<strong>ch</strong>e Prämissen enthalten,<br />
ohne dadur<strong>ch</strong> ihren Charakter als prozedurale <strong>Theorien</strong> zu verlieren 23 . Entspre<strong>ch</strong>end<br />
kann in einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Normbegründung dur<strong>ch</strong> Argumente <strong>der</strong> individuellen Nutzenmaximierung unterstützt<br />
und verstärkt werden, ohne daß die Theorie dadur<strong>ch</strong> ihren Charakter als Diskurstheorie<br />
verlöre 24 . Der kantis<strong>ch</strong>e Begründungsrahmen bleibt gegenüber sol<strong>ch</strong>en<br />
hobbesianis<strong>ch</strong>en Begründungselementen dominant 25 . Zeigt man beispielsweise, daß<br />
es für jeden einzelnen individuell nützli<strong>ch</strong>er ist, wenn eine staatli<strong>ch</strong>e Zwangsordnung<br />
als ri<strong>ch</strong>tige Ordnung legitimiert wird, dann kann man damit die reale Bedeutung<br />
des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgaranten 'Diskurs' stärken 26 . Methodis<strong>ch</strong> wird die Diskurstheorie<br />
dabei ledigli<strong>ch</strong> um empiris<strong>ch</strong>e und analytis<strong>ch</strong>e Prämissen ergänzt 27 . Das Konzept<br />
des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses ist offen für sol<strong>ch</strong>e Erweiterungen, denn in<br />
22 Vgl. oben S. 218 (D Dr ).<br />
23 Dazu oben S. 139 ff. (Grenzziehung zwis<strong>ch</strong>en prozeduralen und materialen <strong>Theorien</strong>).<br />
24 So beispielsweise bei R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 133 ff.<br />
25 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 133: »Zur Verstärkung seiner Geltung<br />
[<strong>der</strong> des transzendentalen Arguments] muß ihm als zweiter Teil ein auf individuelle Nutzenmaximierung<br />
abstellendes Argument hinzugesellt werden. Die kantis<strong>ch</strong>e und hobbesianis<strong>ch</strong>e Linie<br />
gehen auf diese Weise bei <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln eine Verbindung ein. In ihr bleibt<br />
die kantis<strong>ch</strong>e Linie allerdings dominant.«<br />
26 So R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 142 ff.<br />
27 Das rationalistis<strong>ch</strong>e Nutzenkalkül läßt si<strong>ch</strong> als eine Kombination von empiris<strong>ch</strong>en Prämissen (realen,<br />
individuellen Nutzenfunktionen) mit einer ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong> anlysierbaren Logik <strong>der</strong><br />
strategis<strong>ch</strong>en Interaktion auffassen. Vgl. zu dieser Deutung <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie als empiris<strong>ch</strong>-analytis<strong>ch</strong>e<br />
Theorie die Ausführungen zur Spieltheorie oben S. 270 ff. (Kritik <strong>der</strong> spieltheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Grundlegung).<br />
313
ihm werden außer moralis<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> ethis<strong>ch</strong>e und pragmatis<strong>ch</strong>e Fragen und Gründe<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden 28 .<br />
III. Zu kombinativen Begründungsstrategien<br />
Die Argumentationswege können einzeln verfolgt o<strong>der</strong> zu einer kombinativen Begründungsstrategie<br />
verbunden werden. Die hier verfolgte Begründungsstrategie<br />
kann am besten als ein Mittelweg zwis<strong>ch</strong>en Habermas und Alexy <strong>ch</strong>arakterisiert werden:<br />
Im Verglei<strong>ch</strong> zu Habermas soll die Begründungsbrücke zwis<strong>ch</strong>en Diskursideal<br />
und realen Re<strong>ch</strong>ten verstärkt, im Verglei<strong>ch</strong> zu Alexy hingegen soll sie abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t<br />
werden.<br />
1. Die Begründungsstrategie bei J. Habermas<br />
Habermas begründet die ersten drei <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien (Handlungsfreiheiten,<br />
Mitglieds<strong>ch</strong>aft, Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz), die er als Klassen von Grundre<strong>ch</strong>ten bezei<strong>ch</strong>net 29 ,<br />
mit <strong>der</strong> Aussage: »Diese drei Kategorien ergeben si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des<br />
Diskursprinzips auf das Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es« 30 . Ob damit eine Begründung<br />
als notwendiges Ergebnis o<strong>der</strong> als notwendige Voraussetzung jedes Diskurses über die<br />
Etablierung von Re<strong>ch</strong>ten gemeint ist, bleibt offen 31 . Eindeutig ist hingegen in Habermas<br />
Begründungsstrategie, daß die einzelnen Grundre<strong>ch</strong>te zur Konkretisierung <strong>der</strong><br />
Grundre<strong>ch</strong>tskategorien dur<strong>ch</strong> einen Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Autonomie hervorgebra<strong>ch</strong>t<br />
werden. Die diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen an die gesetzli<strong>ch</strong>e Autorens<strong>ch</strong>aft<br />
bilden die mittelbare Begründung <strong>der</strong> einzelnen Grund- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te.<br />
Au<strong>ch</strong> beim Begriff <strong>der</strong> deliberativen Politik setzt Habermas darauf, die »Bedingungen<br />
einer legitimationswirksamen Genese des Re<strong>ch</strong>ts« aufzuzeigen 32 , also Bedingungen,<br />
unter denen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> reale Diskurse begründet wird. Vorbehaltli<strong>ch</strong><br />
interpretatoris<strong>ch</strong>er Ungenauigkeiten wird man wohl sagen können, die Begründungsstrategie<br />
bei Habermas kombiniert den zweiten und dritten <strong>der</strong> oben genannten<br />
Argumentationswege: unmittelbar begründete diskursive Notwendigkeit<br />
für die Grundre<strong>ch</strong>tskategorien, mittelbar begründete diskursive Notwendigkeit o<strong>der</strong><br />
Mögli<strong>ch</strong>keit für die konkreten Grundre<strong>ch</strong>te und sonstigen Re<strong>ch</strong>te.<br />
2. Die Begründungsstrategie bei R. Alexy<br />
Im Gegensatz zu Habermas verfolgt Alexy eine Begründungsstrategie, die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Elemente eins<strong>ch</strong>ließt 33 , si<strong>ch</strong> aber auf die unmittelbare Begründung<br />
28 R. Alexy, Jürgen Habermas' Theorie des juristis<strong>ch</strong>en Diskurses (1995), S. 173.<br />
29 Dazu oben S. 241 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in Re<strong>ch</strong>tsform).<br />
30 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156.<br />
31 Zu mögli<strong>ch</strong>en Interpretationen siehe oben S. 295 (Übertragbarkeit des Diskursprinzips auf das<br />
Re<strong>ch</strong>t).<br />
32 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349 ff. (349); zur Grundlegung ebd., S. 160 f.<br />
33 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 132 f., 142 ff., 151 ff. Dazu oben S. 247 ff.<br />
(analytis<strong>ch</strong>er Liberalismus).<br />
314
konzentriert 34 . Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie werden in ein transzendentales Argument<br />
über die notwendigen Voraussetzungen von Diskursen eingebunden und<br />
stellen si<strong>ch</strong> dabei selbst als Notwendigkeit dar. Während Alexys Autonomieargument<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit im Sinne notwendiger Voraussetzungen des<br />
Diskurses zeigt, ist das an Habermas orientierte Konsensargument auf diskursive Notwendigkeit<br />
geri<strong>ch</strong>tet, indem es zeigt, daß die Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung konkreter Diskurse ein notwendiges Ergebnis jedes<br />
Diskurses sein muß 35 . Alexys Transformationsargument markiert ebenfalls die Umsetzung<br />
moralis<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te in positives Re<strong>ch</strong>t als notwendiges Ergebnis eines jeden<br />
Diskurses über das Erkenntnis-, das Dur<strong>ch</strong>setzungs- und das Organisationsproblem<br />
36 . Das Demokratieargument s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> verweist auf die Legitimation dur<strong>ch</strong><br />
demokratis<strong>ch</strong>e Prozeduren und zei<strong>ch</strong>net die Diskurstheorie als eine Basistheorie des<br />
demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates aus 37 .<br />
Die Begründungsstrategie Alexys kombiniert folgli<strong>ch</strong> alle vier <strong>der</strong> oben genannten<br />
Argumentationswege, wobei im Zentrum das Autonomieargument steht, na<strong>ch</strong> dem<br />
die Anerkennung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten (und Demokratie) bereits eine notwendige<br />
Voraussetzung für diskursive Legitimation ist (diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit).<br />
3. Die hier verfolgte Begründungsstrategie<br />
Au<strong>ch</strong> hier soll, wie bei Alexy und an<strong>der</strong>s als bei Habermas, die unmittelbare Begründung<br />
von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie im Zentrum stehen. Ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Überlegungen zeigen ergänzend, warum die Institutionalisierung sol<strong>ch</strong>er<br />
Re<strong>ch</strong>te als positives Gesetz nötig ist. Die Theorie wird vervollständigt dur<strong>ch</strong><br />
Aussagen darüber, wie eine mittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen zur<br />
Konkretisierung <strong>der</strong> Grund- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te sowie des ri<strong>ch</strong>tigen (d.h. gere<strong>ch</strong>ten)<br />
Re<strong>ch</strong>ts insgesamt beitragen kann.<br />
Innerhalb <strong>der</strong> unmittelbaren Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie<br />
ist, wie das Ergebnis des vierten Teils gezeigt hat, bei <strong>der</strong> Annahme diskurstheo-<br />
34 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 147. Die Verbindung <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
Begründung mit einer mittelbaren, die im tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Autonomie<br />
mögli<strong>ch</strong> wird, deutet Alexy auf S. 155 an: dur<strong>ch</strong> den öffentli<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Autonomie könne<br />
»die unmittelbare diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Begründung <strong>der</strong> Grund- und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te systematis<strong>ch</strong><br />
mit <strong>der</strong> mittelbaren verbunden werden. Erst diese Verknüpfung führt zu einem voll entwickelten<br />
System <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te.«<br />
35 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 157 ff.: In einigen elementaren Fällen<br />
lasse si<strong>ch</strong> (ausnahmsweise) mit Si<strong>ch</strong>erheit sagen, was diskursiv notwendige Ergebnisse eines idealen<br />
Diskurses wären. Dem glei<strong>ch</strong>heitsfeindli<strong>ch</strong>en Rassisten stünden keine überprüfbaren Argumente<br />
zur Verfügung. Gegenüber einer Elite sei die freiwillige Re<strong>ch</strong>tsaufgabe wegen empiris<strong>ch</strong><br />
belegter Gefahren des Ma<strong>ch</strong>tmißbrau<strong>ch</strong>s unrealistis<strong>ch</strong>. Zusätzli<strong>ch</strong> wird bei Alexy die Glei<strong>ch</strong>heit<br />
au<strong>ch</strong> auf das Autonomieargument gestützt; ebd., S. 161 f.<br />
36 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 144 ff. (145) – Wenn Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
garantiert sein sollen, dann folgt daraus, daß sie in die Form des positiven Re<strong>ch</strong>ts transformiert<br />
werden müssen.<br />
37 Dazu oben S. 247, Fn. 608.<br />
315
etis<strong>ch</strong>er Notwendigkeiten Zurückhaltung geboten 38 . Nur in engen Grenzen vermag<br />
eine sol<strong>ch</strong>e Begründung Elemente von Demokratie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsordnung zu<br />
stützen. Im wesentli<strong>ch</strong>en muß sie inhaltli<strong>ch</strong> auf eine minimale Volkssouveränität<br />
und die für <strong>der</strong>en Nutzung erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>e Existenzsi<strong>ch</strong>erung und Meinungsäußerungsfreiheit<br />
in politis<strong>ch</strong>en Angelegenheiten (political spee<strong>ch</strong>) bes<strong>ch</strong>ränkt bleiben.<br />
Nur insoweit läßt si<strong>ch</strong>, zusammen mit empiris<strong>ch</strong>en und analytis<strong>ch</strong>en Prämissen, das<br />
transzendentale Argument anführen, daß die universelle Anerkennung <strong>der</strong> Autonomie<br />
im Handeln eine notwendige Voraussetzung für mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Kommunikation<br />
darstellt 39 .<br />
Die unmittelbare Begründung verstärkt si<strong>ch</strong> allerdings, indem die diskursive<br />
Notwendigkeit eines Konsenses über die Anerkennung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und<br />
Demokratie gezeigt wird. Nimmt man s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Prämissen über die<br />
Wirkungszusammenhänge <strong>der</strong> Lebenswelt hinzu, so müssen die wi<strong>ch</strong>tigsten Kategorien<br />
von Grundre<strong>ch</strong>ten als ein notwendiges Ergebnis je<strong>der</strong> idealen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Kommunikation<br />
über staatli<strong>ch</strong>e Ordnung angesehen werden. Dur<strong>ch</strong> diese beiden Argumentationss<strong>ch</strong>ritte<br />
zusammen lassen si<strong>ch</strong> universelle und vorpositive Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
zumindest als konkretisierungsbedürftige Kategorien diskursiv begründen, ohne<br />
daß es auf die Dur<strong>ch</strong>führung konkreter Diskurse ankäme 40 . Der Diskurs unter idealen<br />
Bedingungen fungiert dabei als (hypothetis<strong>ch</strong>es) Verfahren reiner prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
41 .<br />
Ergänzt wird die unmittelbare Begründung zunä<strong>ch</strong>st dur<strong>ch</strong> die ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Überlegungen dazu, was eine Konkretisierung und Institutionalisierung<br />
<strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>tskategorien als positives Re<strong>ch</strong>t notwendig ma<strong>ch</strong>t.<br />
Die mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts kann s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> nur darin bestehen,<br />
die »Bedingungen einer legitimationswirksamen Genese des Re<strong>ch</strong>ts« aufzuzeigen 42 –<br />
d.h. die »diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründeten Anfor<strong>der</strong>ungen« 43 , unter denen die in juristis<strong>ch</strong>en<br />
und politis<strong>ch</strong>en Verfahren getroffenen Ents<strong>ch</strong>eidungen gere<strong>ch</strong>t sind. Dadur<strong>ch</strong>,<br />
daß für reale Verfahren bereits die unmittelbar begründeten Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskategorien<br />
normativ vorgegeben sind, gibt es insoweit teils einen äußeren Rahmen<br />
und teils einen verfahrensexternen Maßstab für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Reale Diskurse und<br />
an<strong>der</strong>e Verfahren explizieren deshalb ni<strong>ch</strong>t mehr reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n es kommen nur no<strong>ch</strong> die Gedanken <strong>der</strong> quasi-reinen, unvollkommenen und<br />
vollkommenen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zum Ausdruck 44 . Als Verfahren quasi-reiner<br />
Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit gilt beispielsweise die Auswahl, die ein Gesetzgeber unter<br />
unzähligen diskursiv mögli<strong>ch</strong>en und damit gere<strong>ch</strong>ten Ents<strong>ch</strong>eidungen treffen kann 45 .<br />
Als Verfahren unvollkommener Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit, bei <strong>der</strong> die Verfahrensdur<strong>ch</strong>führung<br />
nur die Aufgabe hat, ein aufgrund verfahrensexterner Kriterien als gere<strong>ch</strong>t<br />
38 Dazu oben S. 302 ff. (Kritik an <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> genuinen Diskursteilnahme).<br />
39 Dazu unten S. 321 ff. (diskurstheoretis<strong>ch</strong> notwendige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
40 Dazu unten S. 326 ff. (diskursiv notwendige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
41 Dazu oben S. 127 (reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
42 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349.<br />
43 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 146.<br />
44 Dazu oben S. 127 (reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
45 Vgl. oben S. 128 (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
316
feststehendes Ergebnis real zu errei<strong>ch</strong>en, wurde bereits <strong>der</strong> Strafpozeß erwähnt 46 .<br />
Ob es im Re<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> Verfahren vollkommener prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gibt, etwa<br />
beim Zivilprozeß, ist eine Frage <strong>der</strong> einzelnen Re<strong>ch</strong>tsordnung 47 . Reale Re<strong>ch</strong>tsdiskurse<br />
verbinden also Konstruktionselemente sowohl <strong>der</strong> definitoris<strong>ch</strong>en Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
(quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> dienenden Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
(vollkommene und unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) 48 .<br />
In wel<strong>ch</strong>em Verhältnis diese Konstruktionselemente zueinan<strong>der</strong> stehen, ist indes eine<br />
bisher ungeklärte Frage 49 . Sie wird hier für die Elemente einer Diskurstheorie <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> am Beispiel westli<strong>ch</strong>er Demokratien in Grundzügen zu beantworten<br />
sein 50 .<br />
Für die Reihenfolge innerhalb dieser kombinativen Begründungsstrategie liegt es<br />
nahe, mit den vorpositiven <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen, die unmittelbar begründet werden<br />
können, zu beginnen (B), dann die Notwendigkeit ihrer Institutionalisierung<br />
darzulegen (C), um s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die mittelbare Begründung bei konkreten Diskursen<br />
in staatli<strong>ch</strong> organisierten Verfahren zu untersu<strong>ch</strong>en (D).<br />
IV. Ergebnisse<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen lassen si<strong>ch</strong> unmittelbar begründen, indem man ihre diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
o<strong>der</strong> diskursive Notwendigkeit zeigt; sie lassen si<strong>ch</strong> mittelbar begründen, indem<br />
man die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln definiert, unter denen reale<br />
Diskurse gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorbringen. Es bietet si<strong>ch</strong> an, diese Begründungsformen<br />
zu einer kombinierten Begründungsstrategie zu verbinden.<br />
B. Zur unmittelbaren Begründung von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und<br />
Demokratie<br />
In wel<strong>ch</strong>em Umfang müssen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie in je<strong>der</strong> staatli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung realisiert sein? Diese Grundfrage zur persönli<strong>ch</strong>en und öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Autonomie, zu Freiheits- und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten <strong>der</strong> Bürger betrifft die Spitze <strong>der</strong><br />
re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>en Normenpyramide. Wenn Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong><br />
geboten sein sollten, dann deshalb, weil sie die Integrität des einzelnen gegen<br />
staatli<strong>ch</strong>e Eingriffe und gegen Übergriffe <strong>der</strong> Mitbüger zu s<strong>ch</strong>ützen vermögen. Als<br />
Kontrollinstrumente können sie nur funktionieren, wenn ihnen <strong>der</strong> hö<strong>ch</strong>ste Rang unter<br />
den Re<strong>ch</strong>tsnormen zukommt – <strong>der</strong> Status von Grundre<strong>ch</strong>ten. Derartige hö<strong>ch</strong>strangige<br />
Normen sind in den Diskurstheorien von Habermas und Alexy begründet<br />
worden. Do<strong>ch</strong> bleibt keine <strong>der</strong> Begründungsweisen frei von Kritik. Hier soll deshalb<br />
die skizzierte kombinative Begründungsstrategie verfolgt werden, die einerseits im<br />
46 Dazu oben S. 126 (unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
47 Dazu oben S. 129 (dienende Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
48 Ebenso U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses (1996), S. 424.<br />
49 Au<strong>ch</strong> U. Neumann, Zur Interpretation des forensis<strong>ch</strong>en Diskurses (1996), S. 424 ff., <strong>der</strong> diese Eins<strong>ch</strong>ätzung<br />
teilt, greift sie ni<strong>ch</strong>t auf. Bei A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1989), S. 16 ff. ist nur dargestellt, daß hier unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Komponenten <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
einfließen.<br />
50 Dazu unten S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
317
Verglei<strong>ch</strong> zu Habermas die Begründungsdi<strong>ch</strong>te beim Übergang von dem Diskursideal<br />
zu realen Re<strong>ch</strong>ten erhöht, die aber an<strong>der</strong>erseits im Verglei<strong>ch</strong> zu Alexy zurückhalten<strong>der</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>lußfolgerungen für die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit einer realen Anerkennung<br />
von Autonomie zieht.<br />
I. Der universelle Geltungsberei<strong>ch</strong><br />
»Die Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te bestreiten, heißt, die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te bestreiten.«<br />
51 Diese These Krieles bringt treffli<strong>ch</strong> zum Ausdruck, daß es s<strong>ch</strong>on zum Begriff<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te gehört, sie als vorpositive Verbindli<strong>ch</strong>keit für jede Sozialordnung<br />
anzusehen 52 . Vermittelt dur<strong>ch</strong> die Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te erstreckt si<strong>ch</strong><br />
diese Verbindli<strong>ch</strong>keit auf Grundgedanken <strong>der</strong> Demokratie 53 . Do<strong>ch</strong> ein starker Geltungsanspru<strong>ch</strong><br />
verlangt, gerade weil die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Anerkennung universeller<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te in <strong>der</strong> internationalen Gemeins<strong>ch</strong>aft na<strong>ch</strong> wie vor hinter dem Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsideal<br />
von Deklarationen und Konventionen zurücksteht, na<strong>ch</strong> einer starken<br />
Begründung 54 . Kriele meint, dem auswei<strong>ch</strong>en zu können, indem er die Begründungspfli<strong>ch</strong>t<br />
umkehrt: Ni<strong>ch</strong>t die Befürworter universeller Mens<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>te müßten die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Universalitätsgedankens zeigen, son<strong>der</strong>n die Mens<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tsverletzer<br />
ihr Handeln re<strong>ch</strong>tfertigen. Die damit geltend gema<strong>ch</strong>te Evidenz, die viellei<strong>ch</strong>t bei<br />
<strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit von Folter no<strong>ch</strong> plausibel ist 55 , trägt allenfalls einen Mindestgehalt<br />
von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten, <strong>der</strong> als S<strong>ch</strong>nittmenge <strong>der</strong> konkreten Freiheiten und<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssätze sowohl in westli<strong>ch</strong>en Demokratien als au<strong>ch</strong> in sozialistis<strong>ch</strong>en Staaten,<br />
islamis<strong>ch</strong>en Theokratien und traditionellen Stammeskulturen anerkannt wird 56 .<br />
Und selbst insoweit gilt: Was evident ist, müßte si<strong>ch</strong> beson<strong>der</strong>s gut begründen lassen.<br />
Gelingt eine Begründung indes ni<strong>ch</strong>t, so ist das ein Indiz, daß au<strong>ch</strong> mit <strong>der</strong> behaupteten<br />
Evidenz etwas ni<strong>ch</strong>t stimmt.<br />
51 M. Kriele, Zur Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1993), S. 47; ähnli<strong>ch</strong> bereits <strong>der</strong>s., Die demokratis<strong>ch</strong>e<br />
Weltrevolution (1987), §§ 12 ff. (S. 39 ff.). Ebenso D. Klippel, Politis<strong>ch</strong>e Freiheit und Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
im deuts<strong>ch</strong>en Naturre<strong>ch</strong>t des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts (1976), S. 124 ff. (»Absolutheitsanspru<strong>ch</strong>«);<br />
J. Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice (1989), S. 9 ff. Zweifelnd L. Kühnhardt,<br />
Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1991), S. 133 ff.: »Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsuniversalität in <strong>der</strong> Anfe<strong>ch</strong>tung«.<br />
Differenzierend zwis<strong>ch</strong>en einer Universalität <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und einer<br />
sol<strong>ch</strong>en ihrer Verwirkli<strong>ch</strong>ung: K. Stern, Zur Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1998), S. 1066 f.<br />
52 Dazu etwa L. Kühnhardt, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, politis<strong>ch</strong>es Denken und politis<strong>ch</strong>e Systeme (1988), S. 71<br />
ff. m.w.N.<br />
53 Vgl. J. Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice (1989), S. 88 ff. – notwendige<br />
Verbindung zwis<strong>ch</strong>en universellen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und einem demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat<br />
im Sinne des westli<strong>ch</strong>en Liberalismus.<br />
54 Vgl. zu <strong>Theorien</strong> kulturellen Relativismus L. Kühnhardt, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, politis<strong>ch</strong>es Denken und<br />
politis<strong>ch</strong>e Systeme (1988), S. 69 f. – Universalität im Sinne allgemeiner faktis<strong>ch</strong>er Verwirkli<strong>ch</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te sei von <strong>der</strong> Universalität ihrer theoretis<strong>ch</strong>en Begründung zu unters<strong>ch</strong>eiden;<br />
außerdem K. Stern, Zur Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1998), S. 1071 ff.<br />
55 So das wi<strong>ch</strong>tigste Argument für die Argumentationslastverteilung bei M. Kriele, Zur Universalität<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1993), S. 53.<br />
56 Vgl. zum europäis<strong>ch</strong>-amerikanis<strong>ch</strong>en Ursprung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te K. Stern, Zur Universalität<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1998), S. 1066 ff. m.w.N.<br />
318
Es ist zudem fragli<strong>ch</strong>, ob si<strong>ch</strong> die Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te als vorpositive<br />
Verbindli<strong>ch</strong>keit auf alle Einzelre<strong>ch</strong>te in völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Konventionen beziehen<br />
kann 57 . Zweifel hieran sind um so bere<strong>ch</strong>tigter, als <strong>der</strong>lei Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te inzwis<strong>ch</strong>en<br />
in ihrer 'dritten Generation' weitrei<strong>ch</strong>ende Befugnisse beinhalten, wie sie in<br />
den meisten Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt ni<strong>ch</strong>t gewährleistet werden und teils ni<strong>ch</strong>t einmal gewährleistet<br />
werden können 58 ; wer akut Gefahr läuft zu verhungern, dem nützen politis<strong>ch</strong>-demokratis<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>te wenig 59 . Zwar mag es mögli<strong>ch</strong> sein, die Universalität<br />
einzelner Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und einzelner Elemente des westli<strong>ch</strong>en Demokratieverständnisses<br />
zu begründen und damit ihrer Verurteilung als westli<strong>ch</strong>es Kulturgut zu<br />
entrinnen. Äußerst unplausibel, ja »vermessen« 60 muß es aber ers<strong>ch</strong>einen, wenn<br />
ausgere<strong>ch</strong>net diejenige Ausprägung, die si<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> in Staaten <strong>der</strong> westli<strong>ch</strong>en<br />
Hemisphäre entwickelt hat und <strong>der</strong>en Grundelemente Individualität und Säkularität<br />
sind, ohne nähere Begründung absolut gesetzt wird 61 . Vor dem Hintergrund einer<br />
<strong>der</strong>artigen 'Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsdi<strong>ch</strong>te' müßten Zweifel entstehen, ob beispielsweise <strong>der</strong><br />
Islam als kulturelles System mit einem universellen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsverständnis<br />
westli<strong>ch</strong>er Prägung überhaupt vereinbar ist 62 . Sol<strong>ch</strong>en inhaltli<strong>ch</strong>en Zweifeln am Ergebnis<br />
stehen methodis<strong>ch</strong>e zur Seite. Wenn man diskurstheoretis<strong>ch</strong> beurteilen will,<br />
ob kulturspezifis<strong>ch</strong>e Rituale wie die Zwangsbes<strong>ch</strong>neidung von Frauen ungere<strong>ch</strong>t<br />
sind 63 , weil sie einen Verstoß gegen ein insoweit universell geltendes Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t<br />
57 Vgl. L. Kühnhardt, Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1991), S. 229: »Die Untersu<strong>ch</strong>ungen haben<br />
zu dem Ergebnis führen müssen, daß si<strong>ch</strong> historis<strong>ch</strong> und ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> kein Na<strong>ch</strong>weis über<br />
die Existenz des Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsbegriffs in ausgewählten politis<strong>ch</strong>en Kulturen vor ihrer Berührung<br />
und Reibung mit <strong>der</strong> westli<strong>ch</strong>en Welt finden läßt.«<br />
58 Die erste Generation bürgerli<strong>ch</strong>er und politis<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te kann man als individualistis<strong>ch</strong> und freiheitli<strong>ch</strong>,<br />
die zweite Generation ökonomis<strong>ch</strong>er und sozialer Re<strong>ch</strong>te als solidaris<strong>ch</strong> und egalitär und<br />
die dritte Generation <strong>der</strong> gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en und kulturellen Re<strong>ch</strong>te als kollektivistis<strong>ch</strong> bezei<strong>ch</strong>nen;<br />
vgl. J. Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice (1989), S. 143 f. – mit <strong>der</strong><br />
Parallele zu 'liberty', 'equality' und 'fraternity'. Zur Kritik an <strong>der</strong> Generationenlehre: ebd., S. 144<br />
ff. (146): »insurmountable conceptual problems«. Zur Kennzei<strong>ch</strong>nung <strong>der</strong> dritten Generation als<br />
Re<strong>ch</strong>te zur Befriedigung wirts<strong>ch</strong>afli<strong>ch</strong>er, sozialer und kultureller Bedürfnisse K. Stern, Zur Universalität<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1998), S. 1071.<br />
59 Zu dieser Skepsis gegenüber westli<strong>ch</strong> konnotierten Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskatalogen siehe J.K. Nyerere,<br />
Essays on Socialism (1968), S. 10.<br />
60 K. Stern, Zur Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1998), S. 1063 f.<br />
61 Zu den Unters<strong>ch</strong>ieden im Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsverständnis westli<strong>ch</strong>er Demokratien, afrikanis<strong>ch</strong>er<br />
Staaten und islamis<strong>ch</strong>er Gesells<strong>ch</strong>aftsordnungen siehe J. Donnelly, Universal Human Rights in<br />
Theory and Practice (1989), S. 49 ff.; L. Kühnhardt, Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1991), S. 86<br />
ff., 142 ff., 212 ff.; J. Hinkmann, Philosophis<strong>ch</strong>e Argumente für und wi<strong>der</strong> die Universalität <strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 10 ff., 80 ff., 104 ff. Zum Islam außerdem C.E. Ritterband, Universeller<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz und völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Interventionsverbot (1982), S. 519 ff.; L. Müller, Islam<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 111 ff. Zu relativistis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonzeptionen etwa<br />
S.P. Sinha, Human Rights: Freeing Human Rights from Natural Rights, in: ARSP 70 (1984), S. 342<br />
ff., 378 ff. (Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te als wertvolle Ideologie); <strong>der</strong>s., Non-Universality of Law (1995), S. 193<br />
ff. (Ni<strong>ch</strong>tuniversalität des Re<strong>ch</strong>ts insgesamt). Verglei<strong>ch</strong>end J. Hinkmann, Philosophis<strong>ch</strong>e Argumente<br />
für und wi<strong>der</strong> die Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 79.<br />
62 Vgl. S.P. Huntington, The Clash of Civilizations? (1993), S. 38. Diese Gefahr übersieht Fukuyama;<br />
vgl. oben S. 24, Fn. 12.<br />
63 Zum Problem <strong>der</strong> Bes<strong>ch</strong>neidung von Frauen in Afrika vgl. H. Lightfoot-Klein, Das grausame Ritual<br />
(1992), S. 43 ff.; zur Klitorisbes<strong>ch</strong>neidung während des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts in England und<br />
Nordamerika als 'Behandlung' gegen Masturbation und 'lesbis<strong>ch</strong>e Neigungen': ebd., S. 214 ff.; zu<br />
319
darstellen, dann kann das dur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Begründungsstrategien ges<strong>ch</strong>ehen,<br />
die ni<strong>ch</strong>t alle glei<strong>ch</strong>ermaßen geeignet sind, Universalität zu begründen 64 .<br />
Die Universalität und ihre Begründungsbedürftigkeit werden dur<strong>ch</strong> den Prinzipien<strong>ch</strong>arakter<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te beeinflußt. Na<strong>ch</strong> ihrem Inhalt führen die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
und Grundfreiheiten zu latenten Zielkonflikten zwis<strong>ch</strong>en Einzelre<strong>ch</strong>ten,<br />
die stets eine Abwägung kollidieren<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>te erfor<strong>der</strong>n. Sol<strong>ch</strong>e Abwägungen geben<br />
den Re<strong>ch</strong>ten je na<strong>ch</strong> den sozialen Rahmenbedingungen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Gestalt:<br />
die Wohnraumbewirts<strong>ch</strong>aftung in <strong>der</strong> Na<strong>ch</strong>kriegszeit, die Nahrungspreisbindung in<br />
Hungersnöten, die Ein-Kind-Politik in Zeiten <strong>der</strong> Bevölkerungsexplosion könnten<br />
mit <strong>der</strong> Idee universeller Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te vereinbar sein, während sie unter normalen<br />
Bedingungen die Eigentums- und Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>te verletzen würden. Einerseits<br />
vers<strong>ch</strong>ärft si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> die Begründungsbedürftigkeit, weil <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong><br />
unter allen Umständen 'evidenten' Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te kleiner wird 65 . An<strong>der</strong>erseits bietet<br />
si<strong>ch</strong> im Prinzipien<strong>ch</strong>arakter eine neue Chance für die Begründungsfähigkeit, wie<br />
sie Jansen in dem Konzept einer freistehenden Prinzipientheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
zum Ausdruck gebra<strong>ch</strong>t hat 66 .<br />
Trotz aller Unsi<strong>ch</strong>erheit über den Inhalt universeller Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te kann mindestens<br />
das zu ihrem unbestrittenen Kanon gezählt werden, was gelegentli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
als »harter Kern des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>smaßstabes« bezei<strong>ch</strong>net wird: die Verbote von<br />
Sklaverei, Hexenverfolgung, feudalistis<strong>ch</strong>er Kastenbildung, mör<strong>der</strong>is<strong>ch</strong>er Rasseno<strong>der</strong><br />
Klassendiskriminierung sowie absoluter Herrs<strong>ch</strong>aft ausgewählter Einzelpersonen<br />
o<strong>der</strong> sol<strong>ch</strong>er Parteien, die für si<strong>ch</strong> in Anspru<strong>ch</strong> nehmen, die 'Wahrheit' erkannt<br />
zu haben 67 . Do<strong>ch</strong> selbst für diesen Kernberei<strong>ch</strong> ist die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Begründung<br />
ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong>. Die Diskurstheorie besagt nur (aber au<strong>ch</strong> immerhin), daß man<br />
si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des eigenen Handelns nur in Diskursen vergewissern kann 68 , daß<br />
diese Diskurse (zumindest näherungsweise) na<strong>ch</strong> den Diskursregeln zu erfolgen haben<br />
und daß sie als reale Diskurse bei nahezu allen Mens<strong>ch</strong>en gemäß <strong>der</strong>en normaler<br />
Lebensform zumindest gelegentli<strong>ch</strong> vorkommen 69 . Eine gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Begründung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te muß hingegen Handlungsnormen re<strong>ch</strong>tfertigen, die<br />
für das Handeln aller Mens<strong>ch</strong>en unter allen Umständen gelten sollen. Wer freiwillig,<br />
gelegentli<strong>ch</strong> und zu Einzelfragen an Diskursen teilnimmt, erklärt damit ni<strong>ch</strong>t implizit<br />
seine Bereits<strong>ch</strong>aft, si<strong>ch</strong> zwangsweise, fortdauernd und umfassend einer Kontrolle<br />
seines Handelns dur<strong>ch</strong> Diskurse auszusetzen.<br />
einer Analyse <strong>der</strong> vers<strong>ch</strong>iedenen Ers<strong>ch</strong>einungsformen in mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t vgl. J. Hinkmann,<br />
Philosophis<strong>ch</strong>e Argumente für und wi<strong>der</strong> die Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996),<br />
S. 86 ff.<br />
64 Dazu oben S. 314 ff. (Zu kombinativen Begründungsstrategien).<br />
65 W. Brugger, Mens<strong>ch</strong>enwürde, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Grundre<strong>ch</strong>te (1997), S. 23 ff. hält selbst das Folterverbot<br />
unter beson<strong>der</strong>en Umständen in einer Abwägung mit an<strong>der</strong>en Re<strong>ch</strong>ten (Rettung vor terroristis<strong>ch</strong>er<br />
Erpressung) für überwindbar.<br />
66 Dazu oben S. 286 ff. (Kritik an Rawls' politis<strong>ch</strong>em Liberalismus).<br />
67 F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 138 f.; ähnli<strong>ch</strong> W. Brugger, Mens<strong>ch</strong>enwürde,<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Grundre<strong>ch</strong>te (1997), S. 13 ff.<br />
68 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
69 Vgl. oben S. 248 ff. (Teilnahme an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform).<br />
320
II.<br />
Die diskurstheoretis<strong>ch</strong> notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
1. Eine Modifikation <strong>der</strong> Argumentationsfolge Alexys<br />
Um den S<strong>ch</strong>ritt von <strong>der</strong> spra<strong>ch</strong>pragmatis<strong>ch</strong>en Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln hin zur<br />
Geltung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te im Handeln zu vollziehen, kann im wesentli<strong>ch</strong>en an die<br />
Argumentationsfolge von Alexy angeknüpft werden, wobei allerdings bei <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en<br />
Prämisse über die Bedingungen <strong>der</strong> Existenz realer Diskurse ('S<strong>ch</strong>ritt 6') größere<br />
Zurückhaltung geboten ist 70 . Die modifizierte Argumentation enthält folgende<br />
Einzels<strong>ch</strong>ritte:<br />
(1) Man kann si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewissern. (2) Regierungen<br />
haben ein objektives Interesse an <strong>der</strong> Legitimation ihrer Herrs<strong>ch</strong>aft, müssen also <strong>der</strong>en<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit behaupten. (3) Wer an Diskursen teilnimmt, setzt die Autonomie seiner<br />
Gesprä<strong>ch</strong>spartner im Diskurs voraus. (4) Wer ernsthaft an Diskursen teilnimmt<br />
(genuine Diskursteilnahme), will soziale Konflikte dur<strong>ch</strong> diskursiv erzeugte und<br />
kontrollierte Konsense lösen. (5) Wer soziale Konflikte dur<strong>ch</strong> Konsense lösen will,<br />
akzeptiert die Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner au<strong>ch</strong> im Handeln. (6) Wer verhin<strong>der</strong>n<br />
will, daß das Interesse <strong>der</strong> Diskurspartner am Diskurs und damit die Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
<strong>der</strong> Legitimation 'auf Null o<strong>der</strong> fast auf Null' sinkt, muß die genuine Diskursteilnahme<br />
wenigstens gelegentli<strong>ch</strong> heu<strong>ch</strong>eln. (7) Wer genuine Diskursteilnahme heu<strong>ch</strong>elt,<br />
erkennt damit die Autonomie seiner Gesprä<strong>ch</strong>spartner im Handeln immer<br />
no<strong>ch</strong> objektiv an.<br />
Was bedeutet dieser eins<strong>ch</strong>ränkend formulierte 'S<strong>ch</strong>ritt 6' <strong>der</strong> Argumentation?<br />
Warum genügt es beispielsweise dem Militärdiktator, daß er 'gelegentli<strong>ch</strong>' eine genuine<br />
Diskursteilnahme heu<strong>ch</strong>elt? Sein objektives Interesse an <strong>der</strong> Legitimation <strong>der</strong><br />
Herrs<strong>ch</strong>aft bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> auf <strong>der</strong>en Stabilität wenigstens zu seinen Lebzeiten 71 . Eine<br />
Legitimation läßt si<strong>ch</strong> zwar ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Akklamationswahlen, Regierungsdemonstrationen,<br />
Medienkontrolle und ähnli<strong>ch</strong>e Diktaturmittel, son<strong>der</strong>n nur dur<strong>ch</strong> Diskurse<br />
begründen. Do<strong>ch</strong> die empiris<strong>ch</strong>e Prämisse, daß zur Stabilitätssi<strong>ch</strong>erung legitimationsverbürgende<br />
Diskurse nötig sind, kann nur mit abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>tem Inhalt aufre<strong>ch</strong>terhalten<br />
werden: Den Betroffenen muß nur (aber au<strong>ch</strong> immerhin) eine Chance<br />
bleiben, daß soziale Konflikte dur<strong>ch</strong> Konsense gelöst werden 72 . Angesi<strong>ch</strong>ts dieser<br />
Motivationslage weiß ein kluger Diktator, daß er ni<strong>ch</strong>t uneinges<strong>ch</strong>ränkt und je<strong>der</strong>zeit<br />
seine Bereits<strong>ch</strong>aft heu<strong>ch</strong>eln muß, das Regieren konsensfähig zu ma<strong>ch</strong>en. Er kann es<br />
si<strong>ch</strong> in vielen Fragen erlauben, Legitimationsmögli<strong>ch</strong>keiten unverblümt zu ignorieren,<br />
kann also beispielsweise öffentli<strong>ch</strong>e Regierungskritik und politis<strong>ch</strong>e Opposition<br />
weitgehend bes<strong>ch</strong>ränken. Dadur<strong>ch</strong> verstößt er we<strong>der</strong> gegen innere Gesetzmäßigkeiten<br />
<strong>der</strong> Kommunikation no<strong>ch</strong> gegen sein (pragmatis<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränktes) Interesse an<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Wenn allerdings die Herrs<strong>ch</strong>aft vollständig in ein offenes Unre<strong>ch</strong>tsregime<br />
ums<strong>ch</strong>lägt, weil ni<strong>ch</strong>t einmal ein Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit erhoben wird und<br />
70 Dazu oben S. 302 ff. (Kritik an <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> genuinen Diskursteilnahme). Der 'S<strong>ch</strong>ritt 6'<br />
<strong>der</strong> Begründung bei Alexy wurde wie folgt <strong>ch</strong>arakterisiert: '(6) Wer verhin<strong>der</strong>n will, daß das Interesse<br />
<strong>der</strong> Diskurspartner am Diskurs und damit die Mögli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Legitimation »auf Null o<strong>der</strong><br />
fast auf Null« sinkt, <strong>der</strong> muß die genuine Diskursteilnahme wenigstens heu<strong>ch</strong>eln.'<br />
71 Vgl. hierzu und zum folgenden die Bespre<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Argumentationsfolge Alexys oben S. 250 ff.<br />
(Begründung von Freiheit und Demokratie).<br />
72 Vgl. oben S. 302 ff. (Kritik und Beispiele zur Motivation für eine Diskursteilnahme).<br />
321
s<strong>ch</strong>on gar ni<strong>ch</strong>t die Chance einer diskursiven Kontrolle gewahrt bleibt, dann wird<br />
<strong>der</strong> Legitimationsmangel so gravierend, daß die langfristige Stabilität gefährdet ist 73 .<br />
Insoweit gilt dann die empiris<strong>ch</strong>-analytis<strong>ch</strong>e Argumentation: Stabilität erfor<strong>der</strong>t Legitimation<br />
und diese erfor<strong>der</strong>t mindestens geheu<strong>ch</strong>elte genuine Diskursteilnahme.<br />
Das Mindeste, zu dem ein Militärdiktator bereit sein muß, um das eigene (d.h. begrenzte)<br />
objektive Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu verfolgen, ist das gelegentli<strong>ch</strong>e Heu<strong>ch</strong>eln<br />
einer genuinen Diskursteilnahme. Mehr ist für Stabilität ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall nötig,<br />
und mehr implizierte Anerkennung von Re<strong>ch</strong>ten kann dem kommunikativen Handeln<br />
au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t entnommen werden. Damit erkennt ein Diktator zwar Autonomie<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t insgesamt als notwendige Voraussetzungen seiner Kommunikation<br />
an, do<strong>ch</strong> werden immerhin einzelne Grundsätze <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsund<br />
Demokratieidee vorausgesetzt, wenn si<strong>ch</strong> eine Regierung überhaupt irgendwann<br />
Diskursen stellt.<br />
2. Die notwendig vorausgesetzten Prinzipien (N S N M N E N G )<br />
Wel<strong>ch</strong>es sind diejenigen Einzelgrundsätze, die selbst dann notwendig vorausgesetzt<br />
werden müssen, wenn si<strong>ch</strong> jemand nur gelegentli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitskontrolle in Diskursen<br />
stellt? Sol<strong>ch</strong>e Grundsätze können in einer Präsuppositionsanalyse <strong>der</strong> Kommunikation<br />
ers<strong>ch</strong>lossen werden, erweitert dur<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Prämisse,<br />
daß Regierende ein (dur<strong>ch</strong> Stabilitätsziele begrenztes) objektives Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
haben.<br />
Wer si<strong>ch</strong> zumindest gelegentli<strong>ch</strong> in Diskursen mit an<strong>der</strong>en über praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
verständigt, setzt dabei die Geltung <strong>der</strong> Diskursregeln voraus. Er erkennt<br />
deshalb erstens die Autonomie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en in diesem Diskurs an. Und er erkennt<br />
zweitens an, daß <strong>der</strong> Diskurs unter Mens<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t etwa die göttli<strong>ch</strong>e Eingebung o<strong>der</strong><br />
ähnli<strong>ch</strong>es, insoweit das adäquate Verfahren zur Begründung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit bietet<br />
(anthropozentris<strong>ch</strong>es Erkenntnismodell). Wer als Regieren<strong>der</strong> gelegentli<strong>ch</strong> ernsthaft<br />
an Diskursen teilnimmt (genuiner Diskursteilnehmer) o<strong>der</strong> die ernsthafte Teilnahme<br />
jedenfalls heu<strong>ch</strong>elt, <strong>der</strong> erkennt erstens in diesem Diskurs objektiv an, daß die dabei<br />
behandelten Fragen sozialen Handelns tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Konsense aller Betroffenen<br />
beantwortet werden sollten. Er erkennt zweitens objektiv an, daß <strong>der</strong> Diskurs unter<br />
Mens<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t etwa die autoritative Ents<strong>ch</strong>eidung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zufall 74 , insoweit das<br />
adäquate Verfahren zur Begründung <strong>der</strong> sozialen Ordnung bietet (anthropozentris<strong>ch</strong>es<br />
Souveränitätsmodell).<br />
Der Grundsatz <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität kann als unhintergehbare<br />
Voraussetzung von Kommunikation und Staatli<strong>ch</strong>keit angesehen werden. In ihm ist<br />
erstens anerkannt, daß Mens<strong>ch</strong>en ents<strong>ch</strong>eiden, und zweitens, daß sie au<strong>ch</strong> über die<br />
Herrs<strong>ch</strong>aftsordnung ents<strong>ch</strong>eiden. Selbst ein 'König von Gottes Gnaden' muß si<strong>ch</strong> gelegentli<strong>ch</strong><br />
bei seinen Bürgern vergewissern, ob sie sein Gottesgnadentum na<strong>ch</strong> wie<br />
vor für ri<strong>ch</strong>tig halten. Das bedeutet ni<strong>ch</strong>t, daß ein Regieren<strong>der</strong> sein Handeln immer<br />
73 Vgl. oben S. 37 ff. (notwendiger Anspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
74 Vgl. B. Barry, Political Argument (1965), S. 84 ff., <strong>der</strong> außer dem Diskurs und <strong>der</strong> autoritativen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung fünf Verfahren nennt: S<strong>ch</strong>lagabtaus<strong>ch</strong> (combat), Verhandlung (bargaining), Abstimmung<br />
(voting), Los (<strong>ch</strong>ance) und Wettkampf (contest).<br />
322
diskursiv kontrollieren lassen müßte 75 . Denn hier genügt, daß für die Regierten eine<br />
Chance <strong>der</strong> Einflußnahme besteht. Aber jedenfalls kann si<strong>ch</strong> ein Regieren<strong>der</strong> nur im<br />
Zusammenwirken mit den Betroffenen <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns vergewissern<br />
76 , und es ist für ihn ein pragmatis<strong>ch</strong>es Gebot, daß er eine sol<strong>ch</strong>e Vergewisserung<br />
zumindest gelegentli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vornimmt. Man könnte dies eine 'minimale Volkssouveränität'<br />
nennen.<br />
Die Anerkennung dreier weiterer Grundsätze ist Voraussetzung dafür, daß eine<br />
diskursive Kontrolle des Regierungshandelns, und sei sie nur gelegentli<strong>ch</strong>, überhaupt<br />
stattfinden kann. Wer einen realen Diskurs über die Regeln <strong>der</strong> sozialen Ordnung<br />
führen will, muß in diesem Diskurs mindestens politis<strong>ch</strong>e Meinungsäußerungsfreiheit,<br />
Existenzbere<strong>ch</strong>tigung und Glei<strong>ch</strong>heit zugestehen, wobei Glei<strong>ch</strong>heit<br />
au<strong>ch</strong> die Einbeziehung aller kommunikationsfähigen Betroffenen bedeutet. Dies<br />
sind diejenigen Anfor<strong>der</strong>ungen aus den Diskursregeln 77 , die si<strong>ch</strong> in jedem realen Diskurs<br />
verwirkli<strong>ch</strong>en lassen, glei<strong>ch</strong>gültig wie dessen sonstige Rahmenbedingungen<br />
aussehen mögen (z.B. Ents<strong>ch</strong>eidungsdruck 78 ). Werden sie ni<strong>ch</strong>t gewährleistet, so ist<br />
die Kommunikation ni<strong>ch</strong>t länger <strong>der</strong> regulativen Idee des idealen Diskurses verpfli<strong>ch</strong>tet.<br />
Sie kann kein Garant praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit sein; es handelt si<strong>ch</strong> dann<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr um einen Diskurs 79 . Wer beispielsweise gelegentli<strong>ch</strong> das Gesprä<strong>ch</strong> über<br />
Fragen <strong>der</strong> Sozialordnung su<strong>ch</strong>t, glei<strong>ch</strong>zeitig aber alle Oppositionsführer töten läßt,<br />
ihnen die Meinungsäußerung verbietet o<strong>der</strong> sie sonst von <strong>der</strong> Kommunikation abs<strong>ch</strong>neidet,<br />
<strong>der</strong> kann keinerlei Legitimationswirkung von einem sol<strong>ch</strong>en Gesprä<strong>ch</strong> erwarten.<br />
Mangels Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung führt eine Regierung, die dies tut, keinen<br />
Diskurs. Mehr no<strong>ch</strong>: Sie verhält si<strong>ch</strong> insoweit wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, denn die vier Grundsätze<br />
stellen si<strong>ch</strong> als notwendige Voraussetzungen von Kommunikation und Staatli<strong>ch</strong>keit<br />
dar. Eine Apartheidsregierung o<strong>der</strong> die Regierung einer Sklavereigesells<strong>ch</strong>aft<br />
handelt ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lüssig, wenn sie einerseits meint, die Ri<strong>ch</strong>tigkeit ihrer sozialen<br />
Ordnung begründen zu können, an<strong>der</strong>erseits aber die unterdrückte Min<strong>der</strong>heit<br />
(o<strong>der</strong> sogar eine Mehrheit) nie zu Wort kommen läßt.<br />
Diese Präsuppositionsanalyse bedeutet ni<strong>ch</strong>t, daß si<strong>ch</strong> Regierende aus diskurstheoretis<strong>ch</strong>er<br />
Notwendigkeit zu je<strong>der</strong> Zeit und in je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t einer diskursiven<br />
Kontrolle zu stellen hätten. Sie müssen gelegentli<strong>ch</strong> Diskurse über die Sozialordnung<br />
zulassen. Das Regierungshandeln muß si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t vollständig na<strong>ch</strong> diesen<br />
ri<strong>ch</strong>ten, son<strong>der</strong>n es genügt, wenn im Prinzip anerkannt ist, daß dur<strong>ch</strong> Diskurse eine<br />
gewisse Einflußnahme auf die soziale Ordnung mögli<strong>ch</strong> wird. Ein Militärdiktator,<br />
<strong>der</strong> reale Diskurse grundsätzli<strong>ch</strong> zuläßt, sie in militäris<strong>ch</strong>en Fragen aber verbietet,<br />
handelt ni<strong>ch</strong>t wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>. Dadur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> die hier entwickelten<br />
75 Die diskursive Kontrolle des gesamten Regierungshandelns gehört indes zu den spezifis<strong>ch</strong>en<br />
Merkmalen des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates; vgl. R. Zippelius, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in<br />
<strong>der</strong> offenen Gesells<strong>ch</strong>aft (1996), S. 84 f. – demokratis<strong>ch</strong>e 'Rückkoppelung'.<br />
76 Vgl. oben S. 250 (T R ).<br />
77 Vgl. oben S. 222 ff. (Diskursregeln).<br />
78 Zu Gründen, warum in realen Diskursen nie alle Bedingungen eines idealen Diskurses verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
werden können, siehe oben S. 218 ff. (Diskursarten).<br />
79 Zum Begriff des idealen und realen Diskurses siehe D Di und D Dr oben S. 218 ff. Zum Charakteristikum<br />
<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung vgl. S. 232 (arguing vs. bargaining).<br />
323
Grundsätze von dem Autonomieprinzip A und dem allgemeinen Freiheitsre<strong>ch</strong>t R F<br />
80.<br />
Die Relativierung kann mit <strong>der</strong> Formulierung 'im Prinzip' ausgedrückt werden 81 :<br />
N S :<br />
N M :<br />
N E :<br />
N G :<br />
Grundsatz <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität: Im Prinzip<br />
haben Mens<strong>ch</strong>en das Re<strong>ch</strong>t, die Regeln <strong>der</strong> sie betreffenden<br />
sozialen Ordnung zu bestimmen.<br />
Grundsatz <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Meinungsfreiheit: Im Prinzip haben<br />
Mens<strong>ch</strong>en das Re<strong>ch</strong>t, ihre Meinung in politis<strong>ch</strong>en<br />
Angelegenheiten zu äußern.<br />
Grundsatz <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung: Im Prinzip<br />
haben Mens<strong>ch</strong>en ein Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e<br />
Unversehrtheit.<br />
Grundsatz <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit: Bezügli<strong>ch</strong> dieser Grundsätze<br />
sind alle Mens<strong>ch</strong>en im Prinzip glei<strong>ch</strong>.<br />
Der inhaltli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e dieser Grundsätze 82 steht die Stärke ihrer Geltung gegenüber:<br />
Allein dur<strong>ch</strong> eine Analyse <strong>der</strong> Kommunikationsbedingungen zusammen mit<br />
<strong>der</strong> s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en empiris<strong>ch</strong>en Prämisse über ein begrenztes objektives Interesse <strong>der</strong><br />
Regierenden an Ri<strong>ch</strong>tigkeit kann die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit <strong>der</strong> Grundsätze<br />
begründet werden. Sie gelten deshalb zu allen Zeiten und an allen Orten, solange<br />
die Annahmen über die allgemeinste Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en (Kommunikation)<br />
83 und das pragmatis<strong>ch</strong>e Interesse <strong>der</strong> Regierung zutreffend sind. Sie sind in<br />
diesem Sinne universell, wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t letztbegründet 84 .<br />
Folge <strong>der</strong> Universalität ist, ganz im Sinne <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsidee, ihre Unverzi<strong>ch</strong>tbarkeit<br />
und Unveräußerli<strong>ch</strong>keit 85 . Die Grundsätze können beispielsweise ni<strong>ch</strong>t<br />
80 Vgl. insoweit das Autonomieprinzip und das allgemeine Freiheitsre<strong>ch</strong>t (hier mit Hervorhebungen):<br />
zu A (»Es ist wüns<strong>ch</strong>enswert, daß [alle] Mens<strong>ch</strong>en ihr Verhalten nur na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> freien Annahme<br />
von Prinzipien ri<strong>ch</strong>ten, die sie, na<strong>ch</strong> genügen<strong>der</strong> Reflexion und Beratung, als gültig beurteilen.«)<br />
oben S. 250; zu R F (»Je<strong>der</strong> hat [zu jedem Zeitpunkt] das Re<strong>ch</strong>t, [in je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t] frei zu beurteilen,<br />
was geboten und was gut ist, und entspre<strong>ch</strong>end zu handeln.«) oben S. 253.<br />
81 Es mag hier offen bleiben, ob N S bis N G trotz ihrer inhaltli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> Prinzipien im Sinne<br />
<strong>der</strong> Prinzipientheorie sind, also ni<strong>ch</strong>t-regelhafte Normen mit inhärenter Optimierungstendenz.<br />
Immerhin tragen N S bis N G die Ausnahmen bereits in si<strong>ch</strong>. Den Status von Optimierungsgeboten<br />
könnte man ihnen wohl nur zuspre<strong>ch</strong>en, wenn man glei<strong>ch</strong>zeitig ein starkes gegenläufiges Prinzip<br />
als abwägungsrelevant gegenüberstellte, etwa ein sol<strong>ch</strong>es <strong>der</strong> Realpolitik samt <strong>der</strong> damit implizierten<br />
Spielräume.<br />
82 Zu ihr soglei<strong>ch</strong> S. 325 (inhaltli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Prinzipien).<br />
83 Zu dieser Annahme als Teil <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Diskursregeln siehe oben S. 248 (Teilnahme an<br />
<strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform als Begründungselement bei Alexy).<br />
84 Zur Kritik an <strong>der</strong> Letztbegründung vgl. oben S. 261 (Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma). Zur Wi<strong>der</strong>legbarkeit<br />
<strong>der</strong> Grundsätze siehe unten S. 325 (mögli<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legung).<br />
85 Vgl. zum Gedanken <strong>der</strong> Unveräußerli<strong>ch</strong>keit von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten: Allgemeine Erklärung <strong>der</strong><br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, Resolution 217 (III) <strong>der</strong> Generalversammlung <strong>der</strong> Vereinten Nationen vom 10.<br />
Dezember 1948, übersetzt und abgedruckt in: B. Simma/U. Fastenrath (Hrsg.), Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(1992), S. 5-10, Präambel: »Da die Anerkennung <strong>der</strong> allen Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Familie<br />
324
dadur<strong>ch</strong> ausgehebelt werden, daß in einem realen Diskurs ein Konsens erzielt wird,<br />
zukünftig nur no<strong>ch</strong> den König und seine dynastis<strong>ch</strong>en Thronfolger über die Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
<strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aft befinden zu lassen. Eine sol<strong>ch</strong>e Selbstentäußerung <strong>der</strong> Erkenntniskompetenz<br />
ist unmögli<strong>ch</strong>, denn <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit kann man si<strong>ch</strong> nur im Diskurs vergewissern<br />
86 . Au<strong>ch</strong> ein sol<strong>ch</strong>ermaßen 'ermä<strong>ch</strong>tigter' König müßte si<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Zukunft<br />
zumindest gelegentli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit seiner Herrs<strong>ch</strong>aft in Diskursen mit an<strong>der</strong>en<br />
vergewissern. Diese Notwendigkeit und mit ihr den Grundsatz <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en<br />
Souveränität (N S ) erkennt er bereits an, indem er kommuniziert und regiert.<br />
Um aber reale Diskurse führen zu können, sind au<strong>ch</strong> N M , N E und N G notwendig vorausgesetzt.<br />
Also sind die mit diesen Grundsätzen ausgedrückten Re<strong>ch</strong>te genauso<br />
unverzi<strong>ch</strong>tbar wie die Erkenntniskompetenz selbst.<br />
3. Die inhaltli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Prinzipien<br />
Immerhin markieren die vier Prinzipien jedes Sklaverei- o<strong>der</strong> Apartheidsregime, in<br />
dem die Unterdrückten ni<strong>ch</strong>t einmal eine Chance haben, die Regeln <strong>der</strong> sie betreffenden<br />
Sozialordnung mitzubestimmen, als ungere<strong>ch</strong>t. Entspre<strong>ch</strong>endes gilt für die<br />
Verni<strong>ch</strong>tung von Mens<strong>ch</strong>en in einem Genozid. Abgesehen von sol<strong>ch</strong>en eindeutigen<br />
Beispielen erweisen si<strong>ch</strong> die Prinzipien aber als inhaltli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>. Beispielsweise<br />
könnten sie eine Sozialordnung wie das Apartheidsregime des vorreformatoris<strong>ch</strong>en<br />
Südafrika ni<strong>ch</strong>t als ungere<strong>ch</strong>t qualifizieren. Dort waren die unterdrückten Bevölkerungsgruppen<br />
am öffentli<strong>ch</strong>en Diskurs über Reformen beteiligt. Diese Diskurse waren<br />
von idealen Bedingungen weit entfernt, do<strong>ch</strong> sie eröffneten immerhin eine Chance,<br />
daß Reformen dur<strong>ch</strong>geführt würden. Damit war die Einflußnahmemögli<strong>ch</strong>keit<br />
dur<strong>ch</strong> öffentli<strong>ch</strong>e Meinungsäußerung 'im Prinzip' anerkannt, hat aber an <strong>der</strong> Realität<br />
des Apartheidsregimes lange Zeit ni<strong>ch</strong>ts än<strong>der</strong>n können. Eine <strong>der</strong>artige Kombination<br />
aus grundsätzli<strong>ch</strong>er Anerkennung diskursiver Kontrollmögli<strong>ch</strong>keiten bei glei<strong>ch</strong>zeitiger<br />
Wirkungslosigkeit in <strong>der</strong> realen Sozialordnung läßt si<strong>ch</strong> mit je unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Nuancen au<strong>ch</strong> für China, Singapur und den Iran feststellen 87 . Als diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Notwendigkeit lassen si<strong>ch</strong> die bei sol<strong>ch</strong>en Staaten defizitären Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(z.B. Wahlre<strong>ch</strong>t, Eigentum, allgemeine Glei<strong>ch</strong>heit) ni<strong>ch</strong>t begründen.<br />
4. Zu mögli<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Prinzipien<br />
Mit alledem ist keine Letztbegründung gegeben, son<strong>der</strong>n es gibt definierte Punkte,<br />
an denen ein Versu<strong>ch</strong> zur Falsifizierung dieser Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ansetzen<br />
könnte 88 . Eine Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> bisherigen Aussagen kann analytis<strong>ch</strong> o<strong>der</strong><br />
empiris<strong>ch</strong> begründet werden. Als analytis<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legung müßte sie zeigen, daß<br />
die Präsuppositionsanalyse <strong>der</strong> Diskurstheorie fals<strong>ch</strong> ist. Nur dadur<strong>ch</strong> ließe si<strong>ch</strong> die<br />
These ers<strong>ch</strong>üttern, daß jede Kommunikation, verbunden mit <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Prämisse<br />
eines bes<strong>ch</strong>ränkten objektiven Interesses je<strong>der</strong> Regierung an Ri<strong>ch</strong>tigkeit, die<br />
innewohnenden Würde und ihrer glei<strong>ch</strong>en und unveräußerli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te die Grundlage <strong>der</strong> Freiheit,<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und des Friedens in <strong>der</strong> Welt bildet, ...«.<br />
86 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
87 Vgl. zu diesen Beispielen oben S. 299 ff. (Illustration).<br />
88 Zum hier verwendeten Falsifikationsbegriff oben S. 264, Fn. 20.<br />
325
Geltung <strong>der</strong> vier Prinzipien bereits notwendig voraussetzt. Als empiris<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legung<br />
müßte sie belegen, daß eine <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Prämissen unzutreffend ist. Dazu<br />
könnte bezweifelt werden, daß ein argumentierendes Begründen zur allgemeinsten<br />
Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en gehört. O<strong>der</strong> es könnte behauptet werden, daß es Regierungen<br />
gibt, die kein pragmatis<strong>ch</strong>es Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit haben. Am erfolgverspre<strong>ch</strong>endsten<br />
ers<strong>ch</strong>eint dieser letzte Wi<strong>der</strong>legungsversu<strong>ch</strong>. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> läßt si<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t positiv beweisen, daß es niemals eine Regierung geben kann, die dauerhaft stabil<br />
ist, ohne die Ri<strong>ch</strong>tigkeit ihrer Herrs<strong>ch</strong>aft geltend zu ma<strong>ch</strong>en, also als offenes Unre<strong>ch</strong>tsregime.<br />
Aber gegen die empiris<strong>ch</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keit einer legitimationsfreien Stabilität<br />
spri<strong>ch</strong>t immerhin, daß es keine Regierungen gibt, die darauf verzi<strong>ch</strong>ten, ihre<br />
Legitimität zu behaupten 89 .<br />
5. Ergebnisse<br />
Eine um s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Prämissen erweiterte Präsuppsitionsanalyse <strong>der</strong><br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Kommunikation kann begründen, daß die objektive Anerkennung <strong>der</strong><br />
Grundsätze <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität, <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit im Diskurs, <strong>der</strong><br />
politis<strong>ch</strong>en Meinungsfreiheit und <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
notwendig sind. Bestimmte Formen von Sklaverei, Apartheid und Genozid<br />
erweisen si<strong>ch</strong> bereits dadur<strong>ch</strong> als ungere<strong>ch</strong>t. Im übrigen erlauben die Grundsätze<br />
nur eine s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skontrolle.<br />
III. Die diskursiv notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
1. Zur Begründung <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit<br />
Während bisher na<strong>ch</strong> denjenigen Normen gesu<strong>ch</strong>t wurde, die notwendige Voraussetzungen<br />
für Kommunikation und Staatli<strong>ch</strong>keit sind, soll nun dana<strong>ch</strong> gefragt werden,<br />
was die notwendigen Ergebnisse von Diskursen über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen sein müssen.<br />
Dabei sollen zunä<strong>ch</strong>st nur sol<strong>ch</strong>e Ergebnisse interessieren, die unabhängig von<br />
<strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung konkreter Diskurse eintreten müssen (unmittelbare Begründung).<br />
Man stellt dazu auf einen »hypothetis<strong>ch</strong>en Konsens ab, den reale Personen unter<br />
idealen Bedingungen errei<strong>ch</strong>en würden.« 90 Alexy hat für den allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatz<br />
bereits eine sol<strong>ch</strong>e Begründung vorgelegt (Konsensargument 91 ). Dem ist an<br />
dieser Stelle ni<strong>ch</strong>ts hinzuzufügen; <strong>der</strong> allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz ist diskursiv notwendig.<br />
Er s<strong>ch</strong>ließt sowohl rassistis<strong>ch</strong>e als au<strong>ch</strong> elitäre Begründungen von Re<strong>ch</strong>tsunglei<strong>ch</strong>heit<br />
aus.<br />
89 Vgl. dazu M. Kriele, Zur Universalität <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1993), S. 47 ff.<br />
90 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 157.<br />
91 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 155 ff. Dazu oben S. 254 (Begründung <strong>der</strong><br />
Glei<strong>ch</strong>heit).<br />
326
2. Zur Begründung <strong>der</strong> Freiheit<br />
a) Ein Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten (N F )<br />
Die Begründungsweise des Konsensarguments kann auf an<strong>der</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
ausgedehnt werden und dadur<strong>ch</strong> eine zusätzli<strong>ch</strong>e Last bei <strong>der</strong> Begründung von<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten und Demokratie tragen, die den diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Notwendigkeiten<br />
ni<strong>ch</strong>t aufzubürden war 92 . In Anlehnung an Rawls und Habermas kann zunä<strong>ch</strong>st<br />
ein Re<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten formuliert werden 93 :<br />
N F :<br />
Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten: Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t<br />
auf das größtmögli<strong>ch</strong>e Maß glei<strong>ch</strong>er subjektiver Handlungsfreiheiten.<br />
Das Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten ist diskursiv notwendig. So, wie si<strong>ch</strong> Unglei<strong>ch</strong>heit<br />
in einem idealen Diskurs über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>tfertigen<br />
ließe, so kann au<strong>ch</strong> kein Grund gegen die Optimierung subjektiver Handlungsfreiheiten<br />
angeführt werden.<br />
Vor <strong>der</strong> Begründung dieser These muß zunä<strong>ch</strong>st betont werden, daß ein System<br />
größtmögli<strong>ch</strong>er Freiheiten no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t bedeutet, es müsse dabei eine bestimmte Gewi<strong>ch</strong>tung<br />
<strong>der</strong> Freiheiten geben. Das Grundre<strong>ch</strong>t N F drückt beispielsweise ni<strong>ch</strong>t aus,<br />
daß dem Freiheitsre<strong>ch</strong>t auf Nutzung privaten Grundeigentums gegenüber einem<br />
mögli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t auf Bewegungsfreiheit ein bestimmter Vorrang eingeräumt werden<br />
müßte – sozialistis<strong>ch</strong>e Vorstellungen über das Primat kollektiven Eigentums sind<br />
ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen. N F legt au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t fest, daß eine Staatsordnung laizistis<strong>ch</strong> sein<br />
muß, son<strong>der</strong>n erlaubt beispielsweise Konkretisierungen des Re<strong>ch</strong>tssystems, in denen<br />
bestimmten religiösen Freiheiten Vorrang vor künstleris<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Freiheiten<br />
eingeräumt wird. Dadur<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> dieses Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte<br />
Freiheiten unter an<strong>der</strong>em von Rawls erstem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip, das zwar<br />
ähnli<strong>ch</strong> formuliert ist, inhaltli<strong>ch</strong> aber bereits ein bestimmtes Maß an politis<strong>ch</strong>en<br />
Handlungsfreiheiten voraussetzt. Das Grundre<strong>ch</strong>t N F gebietet ni<strong>ch</strong>t bestimmte Einzelfreiheiten,<br />
son<strong>der</strong>n verbietet ledigli<strong>ch</strong>, daß eine staatli<strong>ch</strong>e Ordnung ohne sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Grund unglei<strong>ch</strong> behandelt bzw. ohne Abwägung mit an<strong>der</strong>en Freiheitsinteressen<br />
Handlungsbes<strong>ch</strong>ränkungen erri<strong>ch</strong>tet. N F enthält insoweit ein Verbot staatli<strong>ch</strong>er Willkür<br />
im Sinne eines allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatzes sowie das Gebot <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit,<br />
das dem Staat verbietet, ungeeignete, ni<strong>ch</strong>t erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> unangemessene<br />
92 Zur gebotenen Zurückhaltung oben S. 302 ff. (Kritik an <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> genuinen Diskursteilnahme).<br />
93 Vgl. oben S. 203 (N 1 : »Jede Person hat das glei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t auf das umfangrei<strong>ch</strong>ste Gesamtsystem<br />
glei<strong>ch</strong>er Grundfreiheiten, das mit einem entspre<strong>ch</strong>enden Freiheitssystem für alle vereinbar ist.«),<br />
S. 209 (N 1 ': »Jede Person hat einen glei<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> auf ein vollständig angemessenes System<br />
glei<strong>ch</strong>er Grundre<strong>ch</strong>te und Freiheiten, das mit dem glei<strong>ch</strong>en System für alle verträgli<strong>ch</strong> ist; und in<br />
diesem System muß den glei<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en Freiheiten, und nur diesen Freiheiten, ihr fairer Wert<br />
garantiert werden.«) und Habermas' erste Grundre<strong>ch</strong>tskategorie oben S. 241 (»Grundre<strong>ch</strong>te, die<br />
si<strong>ch</strong> aus <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong> autonomen Ausgestaltung des Re<strong>ch</strong>ts auf das größtmögli<strong>ch</strong>e Maß glei<strong>ch</strong>er subjektiver<br />
Handlungsfreiheiten ergeben. ...«).<br />
327
Freiheitsbes<strong>ch</strong>ränkungen zu erri<strong>ch</strong>ten. Au<strong>ch</strong> ohne Konkretisierung auf Einzelfreiheiten<br />
liegt in N F damit bereits ein Grundbestand formaler Freiheitssi<strong>ch</strong>erungsmittel.<br />
Das Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten wi<strong>der</strong>legt nur <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> zeigen<br />
kann, daß es mögli<strong>ch</strong> ist, die Diskursregeln einzuhalten, dabei ein begrenztes objektives<br />
Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu wahren und trotzdem unter idealen Bedingungen<br />
des Diskurses die Geltung von N F abzulehnen 94 . Wer argumentiert, ein Staat dürfe<br />
Freiheit au<strong>ch</strong> ohne Abwägung mit an<strong>der</strong>en Freiheitsinteressen bes<strong>ch</strong>ränken, etwa<br />
weil es (unabhängig von realen religiösen Interessen) ein Gottesgebot sei, daß ein bestimmter<br />
Berggipfel niemals von Mens<strong>ch</strong>en bestiegen werde, <strong>der</strong> rekurriert damit<br />
auf obskure Vorstellungen über praktis<strong>ch</strong>e Vernunft. Damit würde er entwe<strong>der</strong> dem<br />
Grundsatz anthropozentris<strong>ch</strong>er Souveränität 95 wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>en, na<strong>ch</strong> dem es allein Sa<strong>ch</strong>e<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en ist, über die Regeln ihres Zusammenlebens zu ents<strong>ch</strong>eiden. O<strong>der</strong><br />
er würde einen Begründungsverzi<strong>ch</strong>t for<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Prämisse eines<br />
begrenzten objektiven Interesses an Ri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t in Einklang zu bringen ist.<br />
Also ist es unter den notwendigen Voraussetzungen von Kommunikation und sozialer<br />
Ordnung eine notwendige Folge, die Geltung von N F anzuerkennen.<br />
b) Die diskursiv notwendigen Einzelfreiheiten<br />
Wel<strong>ch</strong>e Freiheiten müssen notwendig in ein Gesamtsystem optimierter Freiheiten,<br />
wie es N F erfor<strong>der</strong>t, einbezogen werden? Einen ersten Anhaltspunkt bieten die<br />
Grundsätze <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Meinungsfreiheit N M und <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung<br />
N E . Ihre diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit rei<strong>ch</strong>t nur so weit, wie sie<br />
für die Existenz realer Diskurse über Fragen <strong>der</strong> sozialen Ordnung vorausgesetzt<br />
werden müssen. Do<strong>ch</strong> wenn sie überhaupt irgendwie vorausgesetzt werden müssen,<br />
dann müssen sie, glei<strong>ch</strong> mit wel<strong>ch</strong>em Gewi<strong>ch</strong>t, jedenfalls Teil des Gesamtsystems<br />
optimierter Freiheiten sein, das dur<strong>ch</strong> N F gefor<strong>der</strong>t ist. Dasselbe kann für alle<br />
Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te gelten, die für eine Optimierung politis<strong>ch</strong>er Meinungsäußerung<br />
jedenfalls ansatzweise erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong> sind. Au<strong>ch</strong> sie sind diskursiv<br />
notwendige Einzelfreiheiten. Diskursiv notwendig sind folgli<strong>ch</strong>, ohne daß ihr relatives<br />
Gewi<strong>ch</strong>t damit bestimmt wäre, erstens das Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit<br />
(eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts auf persönli<strong>ch</strong>e Freiheit und <strong>der</strong> Freiheit von<br />
Folter) und zweitens die politis<strong>ch</strong>e Meinungsäußerungsfreiheit mit allen ihren Voraussetzungen,<br />
also Vereinigungs-, Versammlungs-, Presse-, Rundfunk- und Informationsfreiheit<br />
sowie Gewissens-, Religions-, Kunst-, private Meinungsfreiheit und das<br />
Re<strong>ch</strong>t auf Privatsphäre (alle als Voraussetzung zur Meinungsbildung) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>te, die zur Verwirkli<strong>ch</strong>ung dieser Freiheiten notwendig sind, insbeson<strong>der</strong>e<br />
subjektive Re<strong>ch</strong>te auf S<strong>ch</strong>utz dur<strong>ch</strong> den Staat, soziale Grundre<strong>ch</strong>te sowie das<br />
Re<strong>ch</strong>t auf ein Existenzminimum 96 . Dur<strong>ch</strong> dieses System vorpositiv begründeter Einzelfreiheiten,<br />
beson<strong>der</strong>s dur<strong>ch</strong> die zuletzt erwähnten Re<strong>ch</strong>te auf S<strong>ch</strong>utz und Existenzminimum,<br />
wird insgesamt ein Konzept <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enwürde begründet 97 .<br />
94 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 158 – dort zur Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
95 Dazu oben S. 321 ff. (N S ).<br />
96 Vgl. R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 154 – dort allerdings als diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Notwendigkeit begründet. Vgl. oben S. 253 (konkrete Freiheitsre<strong>ch</strong>te).<br />
97 Vgl. F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 160 f.<br />
328
Sämtli<strong>ch</strong>e Einzelre<strong>ch</strong>te sind diskursiv notwendig, wenn es darum geht, ein System<br />
optimierter Freiheiten zu entwickeln. Es gibt keine Gründe, sie ni<strong>ch</strong>t jedenfalls<br />
mit einem Kerngehalt in die Gesamtabwägung <strong>der</strong> Freiheitsre<strong>ch</strong>te einzubeziehen.<br />
Eine Staatsordnung, die eine dieser Freiheiten kategoris<strong>ch</strong> verbietet, etwa die Presseo<strong>der</strong><br />
Religionsfreiheit ganz abs<strong>ch</strong>afft, genügt ni<strong>ch</strong>t länger dem Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte<br />
Freiheiten und ist s<strong>ch</strong>on deshalb ungere<strong>ch</strong>t.<br />
Die Konkretisierung von N F auf Einzelfreiheiten eröffnet neue Wi<strong>der</strong>legungsmögli<strong>ch</strong>keiten,<br />
denn in ihr verbirgt si<strong>ch</strong> die zusätzli<strong>ch</strong>e (s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e) empiris<strong>ch</strong>e Prämisse,<br />
daß es si<strong>ch</strong> in allen Fällen um Freiheiten handelt, die zur Optimierung politis<strong>ch</strong>er<br />
Meinungsäußerung und damit zur souveränen Gestaltung <strong>der</strong> sozialen Ordnung<br />
dur<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en beitragen können. Nur wegen dieses Potentials dürfen sie –<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> hier verfolgten 'kommunikationszentrierten' Begründung – in einem System<br />
weitestgehen<strong>der</strong> Freiheiten jedenfalls ni<strong>ch</strong>t vollständig unberücksi<strong>ch</strong>tigt bleiben.<br />
Wer begründen kann, daß eine <strong>der</strong> Freiheiten mit mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Gestaltungshoheit<br />
über die soziale Ordnung ni<strong>ch</strong>ts zu tun hat, <strong>der</strong> hätte die diskursive Notwendigkeit<br />
insoweit wi<strong>der</strong>legt. Do<strong>ch</strong> eine <strong>der</strong>artige Wi<strong>der</strong>legung ers<strong>ch</strong>eint sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ausges<strong>ch</strong>lossen.<br />
c) Zu den Grenzen einer Eigentumsbegründung<br />
S<strong>ch</strong>wieriger ers<strong>ch</strong>eint die Begründung von Privateigentum, Besitzre<strong>ch</strong>ten, Immaterialgüterre<strong>ch</strong>ten<br />
und S<strong>ch</strong>utz vor Enteignung. Wer <strong>der</strong>en diskursive Notwendigkeit behaupten<br />
wollte, müßte begründen, daß es niemals eine von freien und glei<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en<br />
souverän gestaltete Sozialordnung geben könnte, in <strong>der</strong> individuelle Eigentumsre<strong>ch</strong>te<br />
weitgehend ausges<strong>ch</strong>lossen sind. So eine weitgehende Folgerung ergibt<br />
si<strong>ch</strong> jedenfalls ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on aus den materiellen Voraussetzungen realer Diskurse, denn<br />
ein Existenzminimum und ein staatli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utz <strong>der</strong> Freiheitsbetätigung gegen Übergriffe<br />
ist au<strong>ch</strong> denkbar, ohne daß Individualeigentum begründet wird. Do<strong>ch</strong> kann<br />
die Begründung von Eigentumsre<strong>ch</strong>ten in zweierlei Hinsi<strong>ch</strong>t gelingen. Erstens ist<br />
die S<strong>ch</strong>affung und Nutzung von Privateigentum in einem Kernberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts an<strong>der</strong>es<br />
als eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Handlungsfreiheit (Arbeitstheorie des Eigentums 98 ).<br />
Zumindest ein sol<strong>ch</strong>er Kernberei<strong>ch</strong> des Privateigentums muß darum Bestandteil eines<br />
jeden Systems optimierter Freiheiten sein. Und zweitens ist <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>utz vor willkürli<strong>ch</strong>er<br />
Enteignung aus denselben Gründen diskursiv notwendig, aus denen bereits<br />
das allgemeine Verbot staatli<strong>ch</strong>er Willkür begründet war 99 .<br />
Im übrigen muß die Gestaltung <strong>der</strong> Eigentumsordnung konkreten Diskursen<br />
überlassen bleiben. Ihre <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> o<strong>der</strong> Ungere<strong>ch</strong>tigkeit kann nur in einer mittelbaren<br />
Begründung untersu<strong>ch</strong>t werden 100 . Einer unmittelbaren Begründung sind<br />
insoweit enge Grenzen gesetzt.<br />
98 Vgl. zu dieser Theorie von J. Locke oben S. 84 ff., Fn. 210.<br />
99 Dazu oben S. 327 (Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten).<br />
100 Dazu unten S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
329
3. Zur Begründung <strong>der</strong> Güterordnung<br />
Ni<strong>ch</strong>t unmittelbar begründbar sind au<strong>ch</strong> die Verteilungsprinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
die häufig als Prinzipien <strong>der</strong> 'sozialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' bezei<strong>ch</strong>net werden und regelmäßig<br />
die Güterordnung und die Mögli<strong>ch</strong>keit von Umverteilung im Interesse materieller<br />
Glei<strong>ch</strong>stellung betreffen. Im eng begrenzten Umfang sozialer Grundre<strong>ch</strong>te<br />
und eines Re<strong>ch</strong>ts auf das Existenzminimum sind Umverteilungsansprü<strong>ch</strong>e bereits als<br />
Voraussetzungen <strong>der</strong> Freiheitsnutzung gewährleistet. Im übrigen aber, wie beispielsweise<br />
bei dem von Rawls vorges<strong>ch</strong>lagenen Differenzprinzip, gilt, daß sol<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätze ni<strong>ch</strong>t als notwendige Folge des diskursiven Erkenntnisverfahrens<br />
begründet werden können. Die abstrakte Festlegung einer gere<strong>ch</strong>ten Eigentumsordnung<br />
ist genauso unmögli<strong>ch</strong> wie jede konkrete Abgrenzung zwis<strong>ch</strong>en Einzelfreiheiten:<br />
Aus <strong>der</strong> Diskurstheorie läßt si<strong>ch</strong> insoweit kein bestimmtes Sozialmodell<br />
ableiten.<br />
4. Zur Begründung <strong>der</strong> Demokratie (N D )<br />
Diskursiv notwendig sind hingegen die politis<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>te und institutionellen<br />
Mindestgarantien des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates. Dazu gehören Wahl- und<br />
Abstimmungsre<strong>ch</strong>te, Wählbarkeitsre<strong>ch</strong>te, Staatsbürgers<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>te, die Grundelemente<br />
des Demokratie- und Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzips (Gewaltenteilung, Bindung <strong>der</strong> Gewalten<br />
an das Re<strong>ch</strong>t, Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätze, Mehrheitsprinzip, Verantwortli<strong>ch</strong>keit<br />
<strong>der</strong> Regierung u.v.m.). Sie alle folgen aus <strong>der</strong> Verbindung des Souveränitätsgedankens<br />
in N S mit dem Optimierungsgedanken in N F zu einem Grundsatz <strong>der</strong> optimalen<br />
diskursiven Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung 101 , dem ein Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie<br />
entspri<strong>ch</strong>t:<br />
N D :<br />
Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie: Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t auf die<br />
optimale diskursive Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung in<br />
Form eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates.<br />
S<strong>ch</strong>on <strong>der</strong> Grundsatz <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität (N S ) besagt, daß es diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
notwendig ist, jedenfalls gelegentli<strong>ch</strong> die Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> sozialen Ordnung<br />
einer Kontrolle in realen Diskursen auszusetzen. Mit dem Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte<br />
Freiheiten (N F ) läßt si<strong>ch</strong> dieser Grundsatz zu einem sol<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> fortgesetzten<br />
diskursiven Kontrolle erweitern, denn nur diese kann eine Optimierung begründen<br />
102 . Dabei ist es s<strong>ch</strong>on dur<strong>ch</strong> das Glei<strong>ch</strong>heitsgebot im realen Diskurs (N G ) ausges<strong>ch</strong>lossen,<br />
eine sol<strong>ch</strong>e 'Optimierung' in <strong>der</strong> Kontrolle dur<strong>ch</strong> einzelne Gruppen zu sehen,<br />
etwa dur<strong>ch</strong> reale Diskurse innerhalb einer Staatspartei 103 . In einem idealen Diskurs<br />
über die ri<strong>ch</strong>tige soziale Ordnung kann es keine Gründe geben, die optimale<br />
diskursive Kontrolle zu verweigern. Damit ist <strong>der</strong> erste Teil von N D begründet.<br />
Zur Begründung des zweiten Teils von N D muß gezeigt werden, daß nur die<br />
Form eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates, also eine zumindest in Grundzügen<br />
101 Dazu oben S. 220 (realer Diskurs als diskursive Kontrolle).<br />
102 Vgl. oben S. 112, Fn. 350 (marketplace of ideas, Zitat aus dem KPD-Verbotsurteil).<br />
103 Dazu oben S. 299 ff. (Illustration; Argumente gegen Habermas' Begründung am Beispiel Chinas).<br />
330
estimmbare Vielzahl von individuellen Re<strong>ch</strong>ten und institutionellen Garantien, für<br />
die optimale diskursive Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung sorgen kann. Dazu sind<br />
weitergehende empiris<strong>ch</strong>e Prämissen und analytis<strong>ch</strong>e Begründungss<strong>ch</strong>ritte nötig, die<br />
hier ni<strong>ch</strong>t im einzelnen dargelegt werden können. Eins<strong>ch</strong>ränkend muß angesi<strong>ch</strong>ts<br />
<strong>der</strong> unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Rahmenbedingungen von Gesells<strong>ch</strong>aften angemerkt werden,<br />
daß die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N D ni<strong>ch</strong>t notwendig bedeutet, die Demokratie müsse, so<br />
sie no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>t ist, übergangslos eingeführt werden 104 .<br />
Die Darstellung von Grundzügen einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
si<strong>ch</strong> hier darauf, den Status <strong>der</strong> Demokratiebegründung festzulegen: Das<br />
Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> des implizierten Demokratiegebots ist diskursiv<br />
notwendig, gilt also unabhängig von <strong>der</strong> Dur<strong>ch</strong>führung konkreter Diskurse für<br />
jede Form <strong>der</strong> sozialen Ordnung. Daraus folgt, daß Staaten unabhängig von den in<br />
ihnen stattfindenden realen Diskursen unter Umständen als ungere<strong>ch</strong>t beurteilt werden<br />
können, weil sie Grundparameter <strong>der</strong> demokratis<strong>ch</strong>en Organisation ni<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>en<br />
105 . Die <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Staatsordnung ist dana<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on wegen ihrer sozialistis<strong>ch</strong>en<br />
Eigentumsordnung ungere<strong>ch</strong>t, wohl aber wegen ihres Verzi<strong>ch</strong>ts auf eine<br />
optimale diskursive Kontrolle, konkret also wegen <strong>der</strong> sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiter begründeten<br />
Unterdrückung von Opposition im Interesse einer Parteiwahrheit. Mit N D ist<br />
indes no<strong>ch</strong> keine Festlegung auf eine bestimmte Demokratieform verbunden 106 , au<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t etwa auf westli<strong>ch</strong>e Demokratien na<strong>ch</strong> nordamerikanis<strong>ch</strong>em o<strong>der</strong> europäis<strong>ch</strong>em<br />
Muster. Es kann beispielsweise in den s<strong>ch</strong>on erörterten Fällen von Singapur und<br />
dem Iran 107 kein Verstoß gegen N D festgestellt werden, weil beide Staaten zwar die<br />
Meinungsäußerung und allgemeine Handlungsfreiheit in einer Weise bes<strong>ch</strong>ränken,<br />
wie sie in westli<strong>ch</strong>en Demokratien ni<strong>ch</strong>t akzeptabel wäre, si<strong>ch</strong> aber, wenn au<strong>ch</strong> mit<br />
ganz an<strong>der</strong>er Gewi<strong>ch</strong>tung, dem Grundsatz einer optimierten Freiheit ihrer Bürger<br />
(N F ) no<strong>ch</strong> verpfli<strong>ch</strong>tet fühlen und eine diskursive Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung<br />
(N D ) grundsätzli<strong>ch</strong> zulassen. Sol<strong>ch</strong>e Staatsordnungen lassen si<strong>ch</strong> erst dann als ungere<strong>ch</strong>t<br />
bezei<strong>ch</strong>nen, wenn si<strong>ch</strong> zeigt, daß ihre Konkretisierung von Einzelfreiheiten<br />
ni<strong>ch</strong>t in konkreten Diskursen erfolgte, die diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen genügen,<br />
wie sie in einer mittelbaren Begründung formuliert werden können 108 .<br />
104 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 39, S. 245 f. (nonideal theory) sowie bereits E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1943), S. 236 ff., <strong>der</strong> zu Re<strong>ch</strong>t darauf hinweist, daß in <strong>der</strong> Stufenfolge staatli<strong>ch</strong>er Ordnungsbildung<br />
vor allem erst einmal eine Friedensordnung erri<strong>ch</strong>tet werden muß, was ni<strong>ch</strong>t unter allen<br />
Umständen dur<strong>ch</strong> unmittelbare Einführung einer Demokratie mögli<strong>ch</strong> ist. Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Demokratien<br />
in Afrika bietet rei<strong>ch</strong>es Ans<strong>ch</strong>auungsmaterial für dieses Problem.<br />
105 Im Ergebnis ähnli<strong>ch</strong>, wenn au<strong>ch</strong> bezogen auf positives Re<strong>ch</strong>t, verläuft die völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Diskussion<br />
zum Anspru<strong>ch</strong> auf Demokratie. Vgl. B. Bauer, Der völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Anspru<strong>ch</strong> auf Demokratie<br />
(1998), S. 234 ff. m.w.N.<br />
106 Vgl. au<strong>ch</strong> P. Ts<strong>ch</strong>annen, Stimmre<strong>ch</strong>t und politis<strong>ch</strong>e Verständigung (1995), S. 494 ff., wona<strong>ch</strong> eine<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Demokratiebegründung ni<strong>ch</strong>t nur eine Konkurrenz-, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> eine Konkordanzdemokratie<br />
s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Musters zu tragen vermag.<br />
107 Dazu oben S. 299 ff. (Illustration; Frage na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von China, Singapur und dem Iran<br />
vor dem Hintergrund von Habermas' <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung).<br />
108 Dazu unten S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
331
5. Zu mögli<strong>ch</strong>en Wi<strong>der</strong>legungen <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te<br />
Au<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> diskursiv notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen lassen si<strong>ch</strong> Ansatzpunkte<br />
für eine mögli<strong>ch</strong>e Falsifizierung markieren 109 . Eine Wi<strong>der</strong>legung müßte<br />
zeigen, daß <strong>der</strong> hypothetis<strong>ch</strong>e Konsens, den reale Personen unter idealen Bedingungen<br />
errei<strong>ch</strong>en würden, ni<strong>ch</strong>t notwendig alle genannten Grundre<strong>ch</strong>te und Ordnungsprinzipien<br />
eins<strong>ch</strong>ließen muß. Das könnte analytis<strong>ch</strong> gelingen, wenn si<strong>ch</strong> zeigen ließe,<br />
daß jenseits bloßer Spekulation niemals Aussagen darüber mögli<strong>ch</strong> sind, was Ergebnis<br />
eines idealen Diskurses sein muß; den besten S<strong>ch</strong>utz gegen eine sol<strong>ch</strong>e analytis<strong>ch</strong>e<br />
Wi<strong>der</strong>legung mit dem Argument des 'Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemmas' bietet <strong>der</strong> Verzi<strong>ch</strong>t<br />
auf Letztbegründung 110 .<br />
Eine empiris<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legung müßte belegen, daß eine <strong>der</strong> empiris<strong>ch</strong>en Prämissen<br />
unzutreffend ist. Hier konnten die weitergehenden empiris<strong>ch</strong>en Prämissen, na<strong>ch</strong> denen<br />
nur die Form eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates geeignet ist, die optimale<br />
diskursive Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung zu errei<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t im einzelnen dargelegt<br />
werden. Die relative Konkretisierungsoffenheit, die für den demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaat angenommen wurde, ma<strong>ch</strong>t eine empiris<strong>ch</strong>e Wi<strong>der</strong>legbarkeit aber<br />
jedenfalls unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>.<br />
IV. Ergebnisse<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie lassen si<strong>ch</strong> weitgehend unmittelbar begründen, also<br />
ohne Rückgriff auf konkrete Diskurse. Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Präsuppositionsanalyse,<br />
erweitert um s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Prämissen, kann dabei zeigen, daß die<br />
Grundsätze <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität, <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Meinungsäußerungsfreiheit,<br />
<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit im Diskurs und <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung<br />
bei je<strong>der</strong> Kommunikation über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> notwendig vorausgesetzt werden müssen<br />
(diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit). Sie sind damit aber ni<strong>ch</strong>t ausnahmslos, son<strong>der</strong>n<br />
nur 'im Prinzip' objektiv anerkannt, haben also no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t den Status vorpositiver<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te. Mit Hilfe des hypothetis<strong>ch</strong>en idealen Diskurses – einem Verfahren<br />
<strong>der</strong> reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – lassen si<strong>ch</strong> darüber hinaus einzelne<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien begründen (diskursive Notwendigkeit). Dazu gehören ein<br />
umfassendes System öffentli<strong>ch</strong>er und privater Freiheiten, <strong>der</strong> allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz,<br />
das Gebot <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit und ein Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie. Die<br />
spezifis<strong>ch</strong>e Abwägung <strong>der</strong> Freiheitsre<strong>ch</strong>te untereinan<strong>der</strong>, die Begründung einer Eigentumsordnung<br />
und die konkrete Institutionalisierung eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />
folgen hingegen ni<strong>ch</strong>t aus einem idealen Diskurs. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
sol<strong>ch</strong>er Konkretisierungen kann nur in einer mittelbaren Begründung unter Bezugnahme<br />
auf reale Diskurse gezeigt werden 111 .<br />
109 Zum hier verwendeten Falsifikationsbegriff oben S. 264, Fn. 20.<br />
110 Dazu oben S. 261 ff. (Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma).<br />
111 Dazu unten S. 334 ff. (mittelbare Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts).<br />
332
C. Zur Institutionalisierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (Trittbrettfahrerproblem)<br />
Die Frage <strong>der</strong> Institutionalisierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gehört na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Mindestgehaltsthese<br />
zu den notwendigen Themen einer politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie,<br />
denn die Theorie muß si<strong>ch</strong> gegenüber Konzepten des Anar<strong>ch</strong>ismus bewähren 112 .<br />
Das kann sie nur, wenn gezeigt wird, daß es überhaupt notwendig ist, staatli<strong>ch</strong>e<br />
Ma<strong>ch</strong>t auszuüben. Für die Notwendigkeit staatli<strong>ch</strong>er Ma<strong>ch</strong>tausübung gibt es Gründe,<br />
die keine bestimmte <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung voraussetzen, son<strong>der</strong>n si<strong>ch</strong> allein<br />
an Effizienzüberlegungen orientieren.<br />
Am Beispiel des Trittbrettfahrerproblems 113 läßt si<strong>ch</strong> zeigen, warum handlungsleitende<br />
Normen in die Re<strong>ch</strong>tsform überführt und dadur<strong>ch</strong> mit staatli<strong>ch</strong>em Zwang<br />
sanktioniert werden müssen. Ohne eine sol<strong>ch</strong>e Institutionalisierung <strong>der</strong> Normen<br />
wäre es für den einzelnen am vorteilhaftesten, von allen an<strong>der</strong>en die Einhaltung <strong>der</strong><br />
Normen zu erwarten, si<strong>ch</strong> selbst aber ni<strong>ch</strong>t an sie zu halten. Wenn beispielsweise alle<br />
an<strong>der</strong>en für ein öffentli<strong>ch</strong>es Verkehrsmittel zahlen, i<strong>ch</strong> selbst aber s<strong>ch</strong>warzfahre, so<br />
ist das die für mi<strong>ch</strong> vorteilhafteste Lösung, bei <strong>der</strong> i<strong>ch</strong> ein gutes Nahverkehrsnetz<br />
ohne eigene Kosten nutzen kann. Wäre dies zulässig, würde also ein für alle wirksamer<br />
Zwang fehlen, so wäre mein Vorteil aber s<strong>ch</strong>nell verloren, denn dann würden<br />
au<strong>ch</strong> alle an<strong>der</strong>en die Zahlung einstellen und die Finanzierung des Nahverkehrs brä<strong>ch</strong>e<br />
zusammen. Ohne einen wirksamen Zwang befinde i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> folgli<strong>ch</strong> in einem<br />
Dilemma, dem Trittbrett- o<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>warzfahrerdilemma. Dem anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Ideal<br />
<strong>der</strong> Freiheit von staatli<strong>ch</strong>en Zwängen läßt si<strong>ch</strong> deshalb entgegenhalten: Nur die Institutionalisierung<br />
von Normen, ihre Bewehrung mit staatli<strong>ch</strong>em Zwang, kann die<br />
Normdur<strong>ch</strong>setzung und damit die Realisierung von Kooperationsgewinnen in <strong>der</strong><br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong>ern 114 .<br />
Dem ist von Mi<strong>ch</strong>ael Taylor entgegengehalten worden, daß <strong>der</strong> positive Altruismus<br />
und die freiwillige Kooperationsbereits<strong>ch</strong>aft nur deshalb so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> seien, weil<br />
<strong>der</strong> Staat si<strong>ch</strong> bereits regelnd eingemis<strong>ch</strong>t habe 115 . Der Staat sei wie eine sü<strong>ch</strong>tigma<strong>ch</strong>ende<br />
Droge: er werde erst dadur<strong>ch</strong> notwendig, daß man in eine Abhängigkeit gerate,<br />
die dur<strong>ch</strong> den Staat selbst erzeugt sei 116 . Angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Empfindli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong><br />
altruistis<strong>ch</strong>en Balance ist dieser Einwand indes ni<strong>ch</strong>t plausibel: S<strong>ch</strong>on wenige offen<br />
und sanktionslos agierende S<strong>ch</strong>warzfahrer könnten genügen, um eine Kettenreaktion<br />
112 Dazu oben S. 117 (Mindestgehaltsthese); vgl. A. de Jasay, Social Contract Free Ride (1989), S. 205 ff.<br />
– unfairness of anar<strong>ch</strong>y.<br />
113 Dazu etwa M. Olson, The Logic of Collective Action (1965), S. 2: »[E]ven if all of the individuals in<br />
a large group are rational and self-interested, and would gain if, as a group, they acted to a<strong>ch</strong>ieve<br />
their common interest or objective, they will still not voluntarily act to a<strong>ch</strong>ieve that common or<br />
group interest.« Fallbeispiele bei G.J. Hardin, The Tragedy of the Commons (1986), S. 1243 ff.<br />
114 Vgl. H.L.A. Hart, Concept of Law (1961), S. 91 – Notwendigkeit autoritativer Ents<strong>ch</strong>eidung über<br />
Regelverletzung.<br />
115 M. Taylor, Anar<strong>ch</strong>y and Cooperation (1976), S. 134.<br />
116 M. Taylor, Anar<strong>ch</strong>y and Cooperation (1976), S. 134.<br />
333
in Gang zu setzen, die das Finanzierungssystem verni<strong>ch</strong>tet 117 . Die Ingerenz des Staates<br />
kann deshalb ni<strong>ch</strong>t als einziger Grund für mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Unvollkommenheit angesehen<br />
werden. Au<strong>ch</strong> Gauthiers Auffassung, daß si<strong>ch</strong> eine bes<strong>ch</strong>ränkte Maximierung<br />
(constrained maximization) allein ents<strong>ch</strong>eidungsrational begründen lasse, wurde bereits<br />
wi<strong>der</strong>legt 118 . Deshalb bleibt es bei dem Ergebnis: Zumindest einige Normen<br />
müssen mit Re<strong>ch</strong>tsma<strong>ch</strong>t staatli<strong>ch</strong> erzwungen werden.<br />
Es gilt: Die unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen müssen in <strong>der</strong> Form<br />
zwingenden Re<strong>ch</strong>ts institutionalisiert werden, weil nur die Institutionalisierung von<br />
Normen, ihre Bewehrung mit staatli<strong>ch</strong>em Zwang, die Normdur<strong>ch</strong>setzung und damit<br />
die Realisierung von Kooperationsgewinnen in <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong>ern kann.<br />
D. Zur mittelbaren Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts<br />
Bei <strong>der</strong> mittelbaren Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts verlagert die Diskurstheorie den<br />
Blick von den inhaltli<strong>ch</strong>en Geboten <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie hin zu den<br />
Prozeduren und Institutionen, die in einem demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat notwendig<br />
sind, um die Erzeugung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts si<strong>ch</strong>erzustellen; sie wird zur »Basistheorie<br />
des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates« 119 . Als sol<strong>ch</strong>e kann sie diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Bedingungen formulieren, die für Verfahren und Institutionen gelten<br />
müssen. Im folgenden geht es nur um die Verfahren.<br />
I. Der verfassungsrelative Geltungsberei<strong>ch</strong><br />
Wenn na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gesu<strong>ch</strong>t wird, die Bedingungen realer Verfahren<br />
so bestimmen, daß die Erzeugung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts jedenfalls geför<strong>der</strong>t wird, dann<br />
ist damit ni<strong>ch</strong>t länger die universalistis<strong>ch</strong>e 120 , son<strong>der</strong>n eine verfassungsrelative Perspektive<br />
eingenommen: Es wird bereits vorausgesetzt, daß eine konkrete Verfassungsordnung<br />
existiert o<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> den Prozeß <strong>der</strong> Verfassunggebung begründet<br />
wird. Diese muß dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen entspre<strong>ch</strong>en, <strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> die unmittelbar<br />
begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen (Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie) gesetzt ist.<br />
Soweit ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>s gekennzei<strong>ch</strong>net, beziehen si<strong>ch</strong> die re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>en<br />
Beispiele im folgenden auf die gegenwärtige Staatsordnung <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
Deuts<strong>ch</strong>land, ohne daß dabei <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> aufgegeben würde, daß die Aussagen<br />
als allgemeine Gehalte einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> jedenfalls sinngemäß<br />
au<strong>ch</strong> für alle an<strong>der</strong>en demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaaten zutreffen.<br />
117 Au<strong>ch</strong> Taylor gesteht zu, daß die reale Kooperation bei vielen 'Spielern' eher unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />
wird als bei einem 'Zweipersonenspiel'; M. Taylor, Anar<strong>ch</strong>y and Cooperation (1976), S. 92 f. – Ergebnisse<br />
zum N-person supergame.<br />
118 Dazu oben S. 191 ff. (moralis<strong>ch</strong>er Gehalt <strong>der</strong> Theorie Gauthiers).<br />
119 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 164. Dazu oben S. 247, Fn. 608. Ähnli<strong>ch</strong><br />
J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 143 ff. (146).<br />
120 Dazu oben S. 318 (universeller Geltungsberei<strong>ch</strong> bei unmittelbarer Begründung).<br />
334
1. Die Merkmale des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />
Wenn aus <strong>der</strong> Diskurstheorie die Bedingungen von gere<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgenden Verfahren<br />
entwickelt werden sollen, so muß zunä<strong>ch</strong>st gefragt werden, wel<strong>ch</strong>e Funktion<br />
sol<strong>ch</strong>en Verfahren im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat zukommt. Der Begriff des<br />
demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates – wie <strong>der</strong> Demokratiebegriff allgemein – ist dabei<br />
ähnli<strong>ch</strong> umstritten wie <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 121 . Der kleinste gemeinsame<br />
Nenner ist von Lincoln in <strong>der</strong> 'Gettysburg Address' formuliert worden. Dana<strong>ch</strong> ist die<br />
Demokratie eine Herrs<strong>ch</strong>aft des Volkes, dur<strong>ch</strong> das Volk und für das Volk (»government<br />
of the people, by the people, and for the people«) 122 . In Anlehnung an die deuts<strong>ch</strong>e<br />
Verfassungsjudikatur läßt si<strong>ch</strong> weiter konkretisieren, daß es si<strong>ch</strong> um einen Staat mit<br />
freiheitli<strong>ch</strong>er demokratis<strong>ch</strong>er Grundordnung handeln muß, d.h. um »eine Ordnung<br />
..., die unter Auss<strong>ch</strong>luß jegli<strong>ch</strong>er Gewalt- und Willkürherrs<strong>ch</strong>aft eine re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>e<br />
Herrs<strong>ch</strong>aftsordnung auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Selbstbestimmung des Volkes na<strong>ch</strong> dem<br />
Willen <strong>der</strong> jeweiligen Mehrheit und <strong>der</strong> Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit darstellt« 123 . Freiheits-<br />
und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te, Re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>keit und Volkssouveränität eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
parlamentaris<strong>ch</strong>er Gesetzgebung na<strong>ch</strong> dem Mehrheitsprinzip sind damit die<br />
Grundparameter <strong>der</strong> institutionalisierten Ordnung, <strong>der</strong>en Verfahren im folgenden<br />
untersu<strong>ch</strong>t werden sollen.<br />
2. Das relative Primat des <strong>Prozedurale</strong>n<br />
In demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaaten kann von einem 'relativen Primat des <strong>Prozedurale</strong>n'<br />
gespro<strong>ch</strong>en werden 124 . Mit dem 'Primat des <strong>Prozedurale</strong>n' ist gemeint, daß<br />
in einer Situation <strong>der</strong> inhaltli<strong>ch</strong>en Unbestimmtheit die gere<strong>ch</strong>te Ents<strong>ch</strong>eidung nur<br />
dur<strong>ch</strong> regelhaftes Verfahren gefunden werden kann. Von einem 'relativen' Primat<br />
muß man deshalb spre<strong>ch</strong>en, weil si<strong>ch</strong> die Verfahrensergebnisse innerhalb <strong>der</strong> Vorgaben<br />
zu halten haben, die dur<strong>ch</strong> unmittelbar begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gesetzt<br />
sind 125 . Das am Mehrheitserfor<strong>der</strong>nis orientierte Gesetzgebungsverfahren ist<br />
ein Beispiel dafür. Aber au<strong>ch</strong> im Geri<strong>ch</strong>ts- und Verwaltungsverfahren sind prozedurale<br />
Garantien immer dann geboten, wenn inhaltli<strong>ch</strong>e Gewißheit ni<strong>ch</strong>t herzustellen<br />
121 Vgl. G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren in <strong>der</strong> Demokratie<br />
(1997), S. 23 f. – Unmögli<strong>ch</strong>keit einer allgemeinen und umfassenden Begriffsbestimmung <strong>der</strong> Demokratie.<br />
Zu den Differenzen <strong>der</strong> Demokratiebegriffe bei S<strong>ch</strong>umpeter, Barber, Gould und Dahl siehe<br />
T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 143 ff. Für eine kurze Übersi<strong>ch</strong>t zu den Begriffen<br />
partizipatoris<strong>ch</strong>er, liberaler und repräsentativer Demokratie siehe A. Cortina, Diskursethik<br />
und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 240 ff. Zur Abgrenzung des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />
vom demokratis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsstaat und vom formellen Re<strong>ch</strong>tsstaat R. Alexy, Die Institutionalisierung<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat (1998), S. 258 ff.<br />
m.w.N.<br />
122 Rede vom 19. November 1863, Text in: A. Rock, Dokumente <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Demokratie<br />
(1947), S. 166.<br />
123 BVerfGE 2, 1 (12 f.) – SRP; bestätigt in BVerfGE 5, 85 (140) – KPD. Zur Analyse <strong>der</strong> Judikatur<br />
C. Gusy, Die 'freiheitli<strong>ch</strong>e demokratis<strong>ch</strong>e Grundordnung' in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
(1980), S. 279 ff.<br />
124 Ähnli<strong>ch</strong> R. Pits<strong>ch</strong>as, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren (1990), S. 401 ff., 429<br />
ff. m.w.N.; A. Cortina, Diskursethik und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 238 f.; T. Vesting,<br />
<strong>Prozedurale</strong>s Rundfunkre<strong>ch</strong>t (1997), S. 94 ff.<br />
125 Vgl. oben S. 216 (prozedurale und substantielle Verfassungsregeln).<br />
335
ist. Für die Garantie eines wirksamen Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes und für die Mitwirkungsbefugnisse<br />
bei inhaltli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidungen über risikorei<strong>ch</strong>e Großprojekte läßt si<strong>ch</strong> das<br />
beispielhaft mit <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsjudikatur belegen 126 . Allgemein gilt, daß<br />
ni<strong>ch</strong>t nur Gesetzgebung und Regierung Verfahren unterliegen, son<strong>der</strong>n daß au<strong>ch</strong> die<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung in geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verfahrensordnungen eingebunden ist. Selbst im<br />
(weitgehend) privatautonom gestalteten Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft bilden si<strong>ch</strong> Verfahren<br />
na<strong>ch</strong> Marktme<strong>ch</strong>anismen heraus. Als reale Verfahren kommen dabei, selbst bei einer<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Konzeption des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates, ni<strong>ch</strong>t nur<br />
(kantis<strong>ch</strong>e) Diskurse, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> (hobbesianis<strong>ch</strong>e) Verhandlungen und selbst das<br />
Mittel <strong>der</strong> autoritativen Ents<strong>ch</strong>eidung in Betra<strong>ch</strong>t 127 . Diese Verfahrenshülle, die si<strong>ch</strong><br />
um die unbestimmten Inhalte aller Ents<strong>ch</strong>eidungsberei<strong>ch</strong>e legt, wirkt im demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaat als Garant von Ri<strong>ch</strong>tigkeit und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Die zentrale Bedeutung des Verfahrens folgt aus <strong>der</strong> Kontingenz <strong>der</strong> Inhalte, d.h.<br />
aus <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Demokratie, die soziale Ordnung na<strong>ch</strong> dem jeweiligen Mehrheitswillen<br />
weitgehend flexibel umzugestalten 128 . Dieser Inhaltsoffenheit entspri<strong>ch</strong>t<br />
es, wenn die Diskurstheorie von einem ni<strong>ch</strong>tteleologis<strong>ch</strong>en Charakter <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
ausgeht 129 . Sie enthält damit eine implizite Absage an aristotelis<strong>ch</strong>e Konzeptionen<br />
von Staat und Gesells<strong>ch</strong>aft – eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aller Spielarten des Kommunitarismus.<br />
Die ni<strong>ch</strong>tteleologis<strong>ch</strong>e Konzeption demokratis<strong>ch</strong>er Verfassungsstaaten ist beson<strong>der</strong>s<br />
im Gegensatz zu inhaltli<strong>ch</strong>en Festlegungen des osteuropäis<strong>ch</strong>en Sozialismus<br />
deutli<strong>ch</strong> hervorgetreten 130 . Wenn demokratis<strong>ch</strong>e Verfassungsstaaten unter an<strong>der</strong>em<br />
dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net sind, daß in ihnen – abgesehen von den unmittelbar begründeten<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen 131 – eine 'Wahrheit' <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tigen Sozialordnung im<br />
Sinne einer dauerhaft unverrückbaren Endgültigkeit ni<strong>ch</strong>t behauptet wird, dann tritt<br />
126 Vgl. die Judikatur zu Grundre<strong>ch</strong>ten als Verfahrensgarantien: BVerfGE 49, 220 (225) - Zwangsversteigerung:<br />
»Die Geri<strong>ch</strong>te haben bei <strong>der</strong> Gestaltung des Verfahrens die Bedeutung des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts<br />
für das Zwangsversteigerungsverfahren ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>end berücksi<strong>ch</strong>tigt. ... Unmittelbar<br />
aus Art. 14 GG folgt die Pfli<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Geri<strong>ch</strong>te, bei Eingriffen in dieses Grundre<strong>ch</strong>t einen tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
wirksamen Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz zu gewähren.« BVerfGE 53, 30 (65) - Mülheim-Kärli<strong>ch</strong>: »[Es] ist<br />
von <strong>der</strong> gefestigten Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts auszugehen, daß Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
weitgehend au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist«.<br />
127 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 337 (einige reale Verfahren).<br />
128 Vgl. J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 146 sowie J. Habermas, Faktizität und Geltung<br />
(1994), S. 662: »Worauf gründet die Legitimität von Regeln, die do<strong>ch</strong> vom politis<strong>ch</strong>en Gesetzgeber<br />
je<strong>der</strong>zeit geän<strong>der</strong>t werden können? ... Darauf gibt die Diskurstheorie eine einfa<strong>ch</strong>e, auf den<br />
ersten Blick unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e Antwort: das demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren ermögli<strong>ch</strong>t das freie Flottieren<br />
von Themen und Beiträgen, Informationen und Gründen, si<strong>ch</strong>ert <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Willensbildung<br />
einen diskursiven Charakter und begründet damit die fallibilistis<strong>ch</strong>e Vermutung, daß<br />
verfahrensgere<strong>ch</strong>t zustandegekommene Resultate mehr o<strong>der</strong> weniger vernünftig sind.«<br />
129 R. Alexy, Basic Rights and Democracy in Jürgen Habermas´ Procedural Paradigm of the Law<br />
(1994), S. 230; zustimmend, jedenfalls in bezug auf den ni<strong>ch</strong>tteleologis<strong>ch</strong>en Charakter <strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft,<br />
wohl K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen und intersubjektive<br />
Rationalität (1996), S. 409 f. Vgl. aber dessen Kritik an <strong>der</strong> Diskurstheorie: <strong>der</strong>s.,<br />
Postmo<strong>der</strong>ne Re<strong>ch</strong>tstheorie (1992), S. 95.<br />
130 Vgl. etwa das deutli<strong>ch</strong>e Fazit in <strong>der</strong> Abre<strong>ch</strong>nung mit dem Sozialismus bei A. Zsidai, Systemwandel<br />
und Beseitigung von Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten (1995), S. 506: »Die formelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>er<br />
Provenienz bedeutet gerade das Auss<strong>ch</strong>ließen je<strong>der</strong> materiellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>spostulate und Konzeptionen.«<br />
(Hervorhebung bei Zsidai).<br />
131 Dazu oben S. 317 ff. (unmittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
336
damit eine Situation <strong>der</strong> inhaltli<strong>ch</strong>en Unbestimmtheit ein, aus <strong>der</strong> heraus nur no<strong>ch</strong><br />
Verfahren legitime Ents<strong>ch</strong>eidungsgrundlagen bieten können. Auf diese Weise ist das<br />
relative Primat des <strong>Prozedurale</strong>n mit <strong>der</strong> Grundents<strong>ch</strong>eidung gegen einen Wissensabsolutismus<br />
verbunden. Weil die 'ri<strong>ch</strong>tige' soziale Ordnung ni<strong>ch</strong>t unmittelbar inhaltli<strong>ch</strong><br />
erkannt werden kann, bleiben nur Verfahren, um Ents<strong>ch</strong>eidungen über diese<br />
Ordnung zu treffen. Das hat au<strong>ch</strong> Folgen für den Charakter <strong>der</strong> Institutionen in einer<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung. Der Staat, seine Organe und Funktionsträger, sind ni<strong>ch</strong>t selbst<br />
Ziele im Sinne eines Ordnungsideals, son<strong>der</strong>n bloße Mittel zur Ermögli<strong>ch</strong>ung von<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren 132 .<br />
3. Zu einigen realen Verfahren: Diskurs, Abstimmung, Verhandlung, Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
Unabhängig von <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung gibt es in allen Sozialordnungen<br />
ein Spektrum realer Verfahren, die als Mittel prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung<br />
anerkannt sind. Das sind keinesfalls nur Diskurse 133 . Das eigennützige<br />
Verhalten von Marktteilnehmern bestimmt die privatautonome Re<strong>ch</strong>tserzeugung,<br />
wie sie dur<strong>ch</strong> vertragli<strong>ch</strong>e Bindung im Rahmen <strong>der</strong> Gesetze von Markt und<br />
Wettbewerb stattfindet. Die von egoistis<strong>ch</strong>er Nutzenmaximierung getragene Verhandlung,<br />
die zu sol<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>tsetzung führt, ist kein Diskurs und wird denno<strong>ch</strong> als<br />
Verfahren zur Erzeugung gere<strong>ch</strong>ter Ergebnisse anerkannt 134 . Au<strong>ch</strong> die Abstimmung<br />
im Parlament und bei Wahlen ist eine Mehrheitsents<strong>ch</strong>eidung und kein Konsens im<br />
Sinne <strong>der</strong> Diskurstheorie. Selbst die s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Dezisionsgewalt, die einer Regierung<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Gesetze bleibt, kann als gere<strong>ch</strong>tigkeitserzeugende Verfahrensregel<br />
angesehen werden, obwohl die Ents<strong>ch</strong>eidung <strong>der</strong> Regierung mit Diskursivität – jedenfalls<br />
unmittelbar – ni<strong>ch</strong>ts zu tun hat.<br />
Im folgenden werden nur die Anfor<strong>der</strong>ungen untersu<strong>ch</strong>t, die an die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Verfahren vom Verfahrenstyp des realen Diskurses gestellt werden. Das ist nur<br />
s<strong>ch</strong>einbar eine gewi<strong>ch</strong>tige Bes<strong>ch</strong>ränkung auf einen Teil <strong>der</strong> anerkannten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungsverfahren.<br />
Denn tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> besteht bei allen Verfahren eine re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Einhegung. Der privatautonom ges<strong>ch</strong>lossene Vertrag genießt nur solange Anerkennung,<br />
wie er si<strong>ch</strong> an die zwingenden Bestimmungen des Vertragsre<strong>ch</strong>ts hält, etwa<br />
das Wu<strong>ch</strong>erverbot 135 ; die Wahl von Abgeordneten ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> (verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en)<br />
Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätzen und den Re<strong>ch</strong>tsnormen <strong>der</strong> Wahlordnung; die<br />
Abstimmung im Parlament unterliegt (verfassungs-)re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> fixierten Mehrheitsregeln.<br />
Wenn, wie im folgenden, die Verfahren des Re<strong>ch</strong>ts als reale Diskurse angese-<br />
132 Vgl. zu diesem Charakterwe<strong>ch</strong>sel K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen<br />
und intersubjektive Rationalität (1996), S. 410: »azentris<strong>ch</strong>er Charakter komplexer<br />
Ordnungsbildung«. Zu Verfahren als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgaranten für bena<strong>ch</strong>teiligte Min<strong>der</strong>heiten<br />
vgl. T.W. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 196 ff.<br />
133 Vgl. B. Barry, Political Argument (1965), S. 84 ff., <strong>der</strong> außer Diskurs, Verhandlung, Abstimmung<br />
(eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Personalabstimmungen, d.h. Wahlen) und autoritativer Ents<strong>ch</strong>eidung no<strong>ch</strong> den<br />
S<strong>ch</strong>lagabtaus<strong>ch</strong> (combat), das Los (<strong>ch</strong>ance) und den Wettkampf (contest) nennt.<br />
134 R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 114; C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva<br />
im deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t (1993), S. 44 ff., 48 (»Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgewähr des Vertragsme<strong>ch</strong>anismus«),<br />
50 und 58 (»Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit«).<br />
135 C.-W. Canaris, Die Bedeutung <strong>der</strong> iustitia distributiva im deuts<strong>ch</strong>en Vertragsre<strong>ch</strong>t (1993), S. 51 ff.<br />
337
hen werden, dann wird dadur<strong>ch</strong> zumindest mittelbar die Gesamtheit <strong>der</strong> Verfahren<br />
in einem demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat erfaßt. Insoweit kann von <strong>der</strong> Diskurstheorie<br />
als Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates gespro<strong>ch</strong>en werden<br />
136 .<br />
4. Zu den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfunktionen realer Verfahren<br />
Innerhalb einer Verfassungsordnung können reale Verfahren ni<strong>ch</strong>t mehr die Funktion<br />
reiner prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> haben 137 . Ihnen ist bereits ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen<br />
dur<strong>ch</strong> die unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen vorgegeben. Verfahren<br />
im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat haben häufig nur no<strong>ch</strong> eine heuristis<strong>ch</strong>e<br />
Funktion, indem sie zur Realisierung <strong>der</strong> s<strong>ch</strong>on verfahrensextern als gere<strong>ch</strong>t begründeten<br />
Ergebnisse beitragen 138 . Das gilt für die Verfahren <strong>der</strong> vollkommenen und unvollkommenen<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Für beide Verfahrensarten lassen si<strong>ch</strong><br />
Beispiele im Re<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>weisen 139 . Do<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Verfahren sollen im folgenden nur<br />
am Rande interessieren.<br />
Sehr viel wi<strong>ch</strong>tiger sind Verfahren <strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>.<br />
Ihnen kommt teilweise Definitionswirkung für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses zu.<br />
Vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en definieren sol<strong>ch</strong>e Verfahren prima facie gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse<br />
und leisten dadur<strong>ch</strong> einen eigenen Beitrag zur Begründung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des<br />
Re<strong>ch</strong>ts, d.h. <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t. Insoweit kann von einer '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>swahlfunktion'<br />
gespro<strong>ch</strong>en werden 140 . Die Begründungskomponente dieser Funktion<br />
läßt si<strong>ch</strong> am Beispiel des parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebungsprozesses verdeutli<strong>ch</strong>en.<br />
Der parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgeber hat im Rahmen <strong>der</strong> verfassungsmäßigen Grenzen<br />
die Wahl zwis<strong>ch</strong>en unendli<strong>ch</strong> vielen Gestaltungsmögli<strong>ch</strong>keiten. Ents<strong>ch</strong>eidet er si<strong>ch</strong><br />
im Gesetzgebungsverfahren für eine dieser Mögli<strong>ch</strong>keiten, so ist sie prima facie gere<strong>ch</strong>t,<br />
weil er sie dur<strong>ch</strong> das Verfahren als gere<strong>ch</strong>t definiert, es sei denn, sie verstößt<br />
ausnahmsweise gegen die materiellen S<strong>ch</strong>ranken, die au<strong>ch</strong> dem Gesetzgeber im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Verfassungsordnung gezogen sind.<br />
Warum kann diese <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdefinitionswirkung eintreten? Voraussetzung<br />
für jede Form prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind die drei Fairneßelemente, d.h. Hintergrundfairneß<br />
(background fairness), Anwendungsfairneß (procedural fairness) und Prozedurfairneß<br />
(fairness of the procedure) 141 . Hintergrundfairneß besteht etwa darin, daß<br />
alle Mitglie<strong>der</strong> des Parlaments die glei<strong>ch</strong>e Stimme haben. Anwendungsfairneß verlangt<br />
die korrekte Einhaltung aller wesentli<strong>ch</strong>en Verfahrensregeln, also etwa die fehlerfreie<br />
Stimmenauszählung. Am anspru<strong>ch</strong>svollsten ist, wie immer, die Prozedurfairneß.<br />
Hier muß begründet werden, warum die parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung<br />
ein faires (prozedural gere<strong>ch</strong>tes) Verfahren ist. Formale Gründe können beispiels-<br />
136 Dazu oben S. 247, Fn. 608.<br />
137 Vgl. oben S. 127 (reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
138 Vgl. A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 20 – zum 'heuristis<strong>ch</strong>en Wert'<br />
<strong>der</strong> prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>; R. Dreier, Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1991), S. 107 ff. –<br />
zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung in realen Verfahren.<br />
139 Dazu oben S. 125 (Formen dienen<strong>der</strong> Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
140 Dazu oben S. 128 (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
141 Dazu oben S. 121 ff. (Begriff <strong>der</strong> Fairneß).<br />
338
weise in <strong>der</strong> demokratis<strong>ch</strong>en Legitimationskette gesehen werden, weil nur sol<strong>ch</strong>e<br />
Gesetze bes<strong>ch</strong>lossen werden, für die si<strong>ch</strong> die Mehrheit <strong>der</strong> selbst wie<strong>der</strong>um mit<br />
Mehrheit gewählten Parlamentsmitglie<strong>der</strong> ents<strong>ch</strong>eidet 142 . Wi<strong>ch</strong>tiger ers<strong>ch</strong>einen hingegen<br />
die prozeduralen Gründe dafür, daß parlamentaris<strong>ch</strong> verabs<strong>ch</strong>iedete Gesetze<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit garantieren 143 . Daß wesentli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen in einer Demokratie unmittelbar<br />
dur<strong>ch</strong> Parlamentsgesetze bestimmt sein müssen (Parlamentsvorbehalt, Wesentli<strong>ch</strong>keitstheorie),<br />
liegt weniger an dem Rang, den das Parlament als Autor <strong>der</strong><br />
Gesetzgebung dank seiner demokratis<strong>ch</strong>en Legitimation unter den Staatsorganen<br />
einnimmt (formale Begründung), son<strong>der</strong>n ist »vor allem in den beson<strong>der</strong>en Rationalitätsgarantien<br />
des parlamentaris<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidungsprozesses« begründet – in »Diskursivität<br />
und Öffentli<strong>ch</strong>keit« (prozedurale Begründung) 144 . Sieht man das Gesetzgebungsverfahren<br />
als realen Diskurs an, so ist es fair (prozedural gere<strong>ch</strong>t), weil es eine<br />
unter den realen Umständen angemessene Annäherung an die regulative Idee des<br />
idealen Diskurses bildet 145 .<br />
Die Einzelheiten einer sol<strong>ch</strong>en Begründung können an dieser Stelle no<strong>ch</strong> offen<br />
bleiben 146 . Mit <strong>der</strong> Überlegung ist aber <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Begründung deutli<strong>ch</strong> geworden.<br />
Es geht darum zu zeigen, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t mittelbar begründet werden<br />
kann, indem man begründet, wel<strong>ch</strong>e prozeduralen Anfor<strong>der</strong>ungen an reale Diskurse<br />
zu stellen sind, damit <strong>der</strong>en Ergebnisse kraft quasi-reiner prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als gere<strong>ch</strong>t angesehen werden müssen.<br />
II.<br />
Zur Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts<br />
1. Die Son<strong>der</strong>fallthese (R. Alexy)<br />
Mit Alexy kann <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>e Diskurs als Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses angesehen werden (Son<strong>der</strong>fallthese) 147 . Um in einem prozeduralen Stu-<br />
142 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 363: »Wahlergebnisse sind die Lizenz für eine<br />
Übernahme <strong>der</strong> Regierungsma<strong>ch</strong>t«.<br />
143 Zur Unters<strong>ch</strong>eidung J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 363 ff. Zur Kritik einer Blickverengung<br />
auf das Mehrheitsprinzip etwa J. Dewey, The Public and its Problems (1927), S. 365:<br />
»Majority rule, just as majority rule, is as foolish as its critics <strong>ch</strong>arge it with being. ... The essential<br />
need ... is the improvement of the methods and conditions of debate, discussion and persuasion.«<br />
144 B.-O. Bryde, Geheimgesetzgebung (1998), S. 116, 120. Vgl. J. Dewey, The Public and its Problems<br />
(1927), S. 365: »The strongest point to be made in behalf of even su<strong>ch</strong> rudimentary political forms<br />
as democracy has already attained, popular voting, majority rule and so on, is that to some extent<br />
they involve a consultation and discussion whi<strong>ch</strong> uncover social needs and troubles.«<br />
145 Vgl. dazu oben S. 221 (T Dr ). Vgl. J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 149 ff. – Mehrheitsprinzip<br />
und Min<strong>der</strong>heitens<strong>ch</strong>utz als angemessene Annäherung an Diskursideale.<br />
146 Dazu vor allem unten S. 347 (Diskursivität <strong>der</strong> Politik). Zur Ideenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des kommunikativen<br />
Prozesses als eines Verfahrens zur »Entbergung« des gemeinsamen Interesses aus <strong>der</strong> Vielfalt partikulärer<br />
Egoismen vgl. H. Dreier, Demokratis<strong>ch</strong>e Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille<br />
(1988), S. 461 ff. – »Repräsentation als Veredelungsprozeß«. Ausdrückli<strong>ch</strong> bereits J. Madison,<br />
Fe<strong>der</strong>alist No. 10 (1787), S. 62: »[T]o refine and enlarge the public views, by passing them through<br />
the medium of a <strong>ch</strong>osen body of citizens, whose ... love of justice, will be least likely to sacrifice it<br />
to temporary or partial consi<strong>der</strong>ations.«<br />
147 R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1978), S. 261 ff.; dazu oben S. 255 (Begründung<br />
von Re<strong>ch</strong>tsnormen) und S. 302, Fn. 209 (Kritik).<br />
339
fenmodell legitimierbarer Ordnung zusätzli<strong>ch</strong>e diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Begründung zu<br />
entfalten, kann es sinnvoll sein, vers<strong>ch</strong>iedene reale juristis<strong>ch</strong>e Diskurse zu unters<strong>ch</strong>eiden:<br />
die Verfahren <strong>der</strong> Verfassunggebung und Verfassungsän<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> parlamentaris<strong>ch</strong>en<br />
Gesetzgebung, <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung und das Verwaltungsverfahren.<br />
Vom juristis<strong>ch</strong>en Diskurs als Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses muß<br />
in all diesen Fällen gespro<strong>ch</strong>en werden, weil juristis<strong>ch</strong>e Diskurse im Gegensatz zu<br />
allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskursen Bes<strong>ch</strong>ränkungen unterliegen. Juristis<strong>ch</strong>e Diskurse<br />
sind keine handlungsentlasteten Diskurse 148 , son<strong>der</strong>n dienen <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit in einem<br />
materialen Ents<strong>ch</strong>eidungsrahmen 149 und unter formalen Ents<strong>ch</strong>eidungsbedingungen,<br />
die von Sa<strong>ch</strong>zwängen geprägt und dadur<strong>ch</strong> den Diskursidealen <strong>der</strong> unbegrenzten<br />
Zeit und Beteiligung abträgli<strong>ch</strong> sind (Zeitnot, Finanznot, Personalnot, Bedürfnis<br />
na<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit u.v.m.). Trotzdem bleiben sie als reale Diskurse identifizierbar,<br />
denn sie sind ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierte Begründungsverfahren, folgen also <strong>der</strong> regulativen<br />
Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen 150 .<br />
2. Die Verfassungsnormsetzung als realer Diskurs<br />
a) Die materielle Verfassungsordnung<br />
Demokratis<strong>ch</strong>e Verfassungsstaaten müssen keine ges<strong>ch</strong>riebene Verfassung haben,<br />
do<strong>ch</strong> sie verfügen als Teil ihrer Staatli<strong>ch</strong>keit jedenfalls über eine materielle Verfassungsordnung<br />
im Sinne von Fundamentalnormen <strong>der</strong> Staatsorganisation (leges fundamentales).<br />
Bei <strong>der</strong> Begründung dieser Verfassungsordnung wird die Souveränität<br />
des Volkes als verfassunggebende Gewalt (pouvoir constituant) wirksam, die si<strong>ch</strong> von<br />
allen an<strong>der</strong>en, erst mit dem Gründungsakt ges<strong>ch</strong>affenen Staatsgewalten (pouvoirs<br />
constitués) unters<strong>ch</strong>eidet 151 . Verfassungsnormen entstehen dur<strong>ch</strong> Verfassunggebung<br />
o<strong>der</strong> Verfassungsän<strong>der</strong>ung. Das Verfahren <strong>der</strong> Verfassunggebung o<strong>der</strong> -neugebung<br />
(Totalrevision) besteht regelmäßig in <strong>der</strong> Verabs<strong>ch</strong>iedung dur<strong>ch</strong> eine unmittelbar<br />
vom Volk gewählte Nationalversammlung o<strong>der</strong> in einem Referendum über den Verfassungsentwurf<br />
eines Verfassungskonvents. Die Verfassungsän<strong>der</strong>ung, die ni<strong>ch</strong>t<br />
Totalrevision ist, erfolgt regelmäßig dur<strong>ch</strong> einen verfassungsän<strong>der</strong>nden Gesetzgeber<br />
(pouvoir constituant constitué) in einem beson<strong>der</strong>en Verfahren, das die ers<strong>ch</strong>werte Abän<strong>der</strong>barkeit<br />
<strong>der</strong> Verfassungsnormen begründet 152 . In jedem Fall – bei Begründung<br />
148 Dazu oben S. 220 (handlungsentlasteter Diskurs).<br />
149 Ein Ents<strong>ch</strong>eidungsrahmen folgt selbst für Verfassungsdiskurse aus dem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen,<br />
<strong>der</strong> dur<strong>ch</strong> unmittelbar begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen vorgegeben ist; siehe oben S. 317 ff.<br />
(unmittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen).<br />
150 Vgl. J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 149 ff. sowie oben S. 218 (D Dr ), 221 (T Dr ).<br />
151 Vgl. zu diesen staatstheoretis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>lüsselbegriffen E.J. Sieyes, Was ist <strong>der</strong> Dritte Stand? (1789),<br />
Kapitel V (Unveräußerli<strong>ch</strong>keit des Verfassunggebungsre<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Nation); dazu E. Zweig, Die Lehre<br />
vom Pouvoir Constituant (1909), S. 116 ff. (137); aus jüngerer Zeit E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende<br />
Gewalt des Volkes (1986), S. 11 ff.; H. Dreier, Präambel (1996), Rn. 49 m.w.N. Die<br />
Bedeutung dieses Unters<strong>ch</strong>iedes für die Legitimation des positiven Re<strong>ch</strong>ts betonend H. Hofmann,<br />
Legitimität und Re<strong>ch</strong>tsgeltung (1977), S. 60 ff.<br />
152 Zum Charakteristikum <strong>der</strong> ers<strong>ch</strong>werten Abän<strong>der</strong>barkeit, das vielfa<strong>ch</strong>, aber ni<strong>ch</strong>t ausnahmslos in<br />
einem qualifizierten Mehrheitserfor<strong>der</strong>nis besteht, vgl. H. Dreier, Artikel 79 II GG (1998), Rn. 7 f.<br />
(re<strong>ch</strong>tsverglei<strong>ch</strong>ende Bezüge), Rn. 11 (ers<strong>ch</strong>werte Abän<strong>der</strong>barkeit) m.w.N.<br />
340
wie bei Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> (materiellen) Verfassungsordnung – handelt es si<strong>ch</strong> um ein<br />
Normsetzungsverfahren, bei dem Normen mit grundlegen<strong>der</strong>er Bedeutung, meist<br />
sogar mit einem formal höheren Rang (Vorrang <strong>der</strong> Verfassung) als bei einfa<strong>ch</strong>er Gesetzgebung,<br />
verabs<strong>ch</strong>iedet werden.<br />
b) Die Verfassunggebung als realer Diskurs<br />
Versteht man die Verfassunggebung als realen Diskurs, so ist sie <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit verpfli<strong>ch</strong>tet<br />
153 . Das legt sie bereits dur<strong>ch</strong> diejenigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen fest, die diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
o<strong>der</strong> diskursiv notwendig sind (Grundre<strong>ch</strong>te auf Glei<strong>ch</strong>heit, optimierte<br />
Freiheiten und Demokratie) 154 . Die Tätigkeit einer verfassunggebenden Nationalversammlung<br />
o<strong>der</strong> eines Verfassungskonvents ma<strong>ch</strong>t es wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>er<br />
(wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er), daß Verfassungsnormen kodifiziert werden, die diesen<br />
notwendigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen genügen (System größtmögli<strong>ch</strong>er Freiheiten,<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatz, demokratis<strong>ch</strong>e Institutionen und Verfahren). Soweit diese <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
dank <strong>der</strong> Verfahrensweise als Re<strong>ch</strong>t institutionalisiert werden können,<br />
ist die Verfassunggebung ein Verfahren unvollkommener prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
155 .<br />
Vor allem aber benötigt das Verfahren <strong>der</strong> Verfassunggebung die Definitionswirkung<br />
<strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Nur sie kann begründen, daß die<br />
Wahl zwis<strong>ch</strong>en unendli<strong>ch</strong> vielen mögli<strong>ch</strong>en Verfassungsgestaltungen zu einem gere<strong>ch</strong>ten<br />
Ergebnis geführt hat. Dazu muß <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Verfassunggebung selbst als<br />
faires Verfahren begründet sein (Prozedurfairneß). Sieht man die Verfassunggebung<br />
als realen Diskurs, so müssen alle Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllt sein, die eine den Umständen<br />
na<strong>ch</strong> angemessene Annäherung an die regulative Idee eines Diskurses unter<br />
idealen Bedingungen ermögli<strong>ch</strong>en 156 . Das kann beispielhaft am Prozeß <strong>der</strong> Verfassunggebung<br />
in Südafrika gezeigt werden. Dort wurde zunä<strong>ch</strong>st eine Interimsverfassung<br />
angenommen, was den Zeitdruck für die Verabs<strong>ch</strong>iedung einer endgültigen<br />
Verfassung min<strong>der</strong>te und die Informiertheit <strong>der</strong> Beteiligten för<strong>der</strong>te (Diskursideale<br />
<strong>der</strong> vollkommenen Informiertheit und unbegrenzten Zeit 157 ). Außerdem wurden<br />
Mehrheitsents<strong>ch</strong>eidungen zurückgestellt, um für die Berücksi<strong>ch</strong>tigung regionaler<br />
und sozialer (hier: rassis<strong>ch</strong> und ethnis<strong>ch</strong> getrennter) Min<strong>der</strong>heiten breiteren Raum zu<br />
lassen (Diskursideal <strong>der</strong> vollkommenen Zwanglosigkeit). Zur wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Be-<br />
153 Vgl. oben S. 250 (T R ).<br />
154 Dazu oben S. 328 ff. (diskursiv notwendige Freiheiten).<br />
155 Dazu oben S. 126 (unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). No<strong>ch</strong> weitergehend (reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt (1957), S. 36: »Darum gibt es nur<br />
eine legitime Art <strong>der</strong> Verfassunggebung, nämli<strong>ch</strong> die <strong>der</strong> Verfassungsgesetzgebung dur<strong>ch</strong> eine<br />
frei und allgemein gewählte Nationalversammlung. Damit wird das Verfahren zum einzigen Kriterium<br />
<strong>der</strong> Legitimität des Verfassungsgesetzes.« (Hervorhebung bei Henke). Vgl. zur Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit,<br />
wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Si<strong>ch</strong>erheit, mit <strong>der</strong> Volkssouveränität zu gere<strong>ch</strong>ten Ergebnissen führt,<br />
aus <strong>der</strong> U.S.-amerikanis<strong>ch</strong>en Verfassungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te: J. Madison, Fe<strong>der</strong>alist No. 51 (1788), S. 352 f.:<br />
»In the extended republic of the United States, and among the great variety of interests, parties<br />
and sects whi<strong>ch</strong> it embraces, a coalition of the majority of the whole society could seldom take<br />
place on any other principles than those of justice and the general good«.<br />
156 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
157 Vgl. dazu R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 113 sowie oben S. 218 (D Di ).<br />
341
gleitung fand eine umfangrei<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Verfassungsverglei<strong>ch</strong>ung statt (Diskursideal<br />
<strong>der</strong> vollkommenen Informiertheit). Zusätzli<strong>ch</strong> wurde die Verfassunggebung<br />
erstmalig dur<strong>ch</strong> einen öffentli<strong>ch</strong>en Mitwirkungsprozeß begleitet (Diskursideale <strong>der</strong><br />
unbegrenzten Teilnehmers<strong>ch</strong>aft und vollkommenen Zwanglosigkeit). Es wurde also<br />
alles getan, was na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen war, um eine weitgehende Annäherungen<br />
an einen Diskurs unter idealen Bedingungen zu errei<strong>ch</strong>en. Im Ergebnis<br />
sind die Normen <strong>der</strong> resultierenden Verfassung – notwendige, wie die Abs<strong>ch</strong>affung<br />
des Apartheidsregimes, ebenso wie optionale, etwa die eigentumsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Bestimmungen,<br />
die Konkretisierung <strong>der</strong> Freiheitsre<strong>ch</strong>te und die demokratis<strong>ch</strong>en Institutionen<br />
– gere<strong>ch</strong>t, weil sie si<strong>ch</strong> erstens dank <strong>der</strong> Verfahrensweise im <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen<br />
<strong>der</strong> vorpositiven Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ts- und Demokratiegebote halten (unvollkommene<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) und sie zweitens innerhalb dieses Rahmens<br />
dur<strong>ch</strong> ein na<strong>ch</strong> den Umständen als fair begründetes Verfahren (den realen Verfassungsdiskurs)<br />
unter den mögli<strong>ch</strong>en Gestaltungsformen ausgewählt wurden (quasireine<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
Der praktis<strong>ch</strong>e Wert <strong>der</strong> Diskurstheorie als Theorie <strong>der</strong> Verfassunggebung zeigt<br />
si<strong>ch</strong> dort, wo sie als Grundlage für Kritik herangezogen werden kann. Bezogen auf<br />
China wurde bereits darauf hingewiesen, daß eine weitgehende Eins<strong>ch</strong>ränkung von<br />
Privateigentum im Rahmen <strong>der</strong> unmittelbaren Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
no<strong>ch</strong> keinen Grund bietet, die Sozialordnung insoweit als ungere<strong>ch</strong>t zu qualifizieren.<br />
Bei <strong>der</strong> mittelbaren Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen ergeben si<strong>ch</strong> nunmehr<br />
weitergehende Ansätze für Kritik. Die Eigentumsregelungen einer Verfassungsordnung<br />
sind genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn es mögli<strong>ch</strong> ist, daß sie Ergebnis eines<br />
realen Verfassungsdiskurses sein könnten. Wenn dagegen gezeigt werden kann, daß<br />
<strong>der</strong> konkrete Verfassunggebungsprozeß ni<strong>ch</strong>t in einem realen Diskurs bestand, weil<br />
er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen, an <strong>der</strong> regulativen Idee<br />
eines Diskurses unter idealen Bedingungen orientiert hat 158 , und wenn außerdem Indizien<br />
dafür vorliegen, daß die sozialistis<strong>ch</strong>e Eigentumsordnung unter den Bedingungen<br />
eines realen Diskurses keine Bestätigung hätte finden können, dann sind<br />
dies gültige Gründe gegen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> real existierenden Verfassungsordnung<br />
Chinas 159 .<br />
c) Die Verfassungsän<strong>der</strong>ung als realer Diskurs<br />
Versteht man die Verfassungsän<strong>der</strong>ung als realen Diskurs, so bleibt au<strong>ch</strong> sie inhaltli<strong>ch</strong><br />
auf alle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen festgelegt, die unmittelbar als diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
und diskursiv notwendig begründet werden können (Grundre<strong>ch</strong>te auf Glei<strong>ch</strong>heit,<br />
optimierte Freiheiten und Demokratie) 160 . Prozedural betra<strong>ch</strong>tet ist die Tätigkeit des<br />
verfassungsän<strong>der</strong>nden Gesetzgebers (glei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> des Verfassunggebers) ein Verfahren,<br />
in dem unvollkommene und quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
werden. Au<strong>ch</strong> beim Verfassungsän<strong>der</strong>ungsverfahren müssen alle Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
158 Dazu oben S. 218 (D Dr ).<br />
159 Vgl. die frühe Legitimitätskritik im vorrevolutionären Frankrei<strong>ch</strong>: E.J. Sieyes, Was ist <strong>der</strong> Dritte<br />
Stand? (1789), Kapitel II (Illegitimität mangels Beteiligung des 'Dritten Standes') und V (Verfassunggebungsre<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> 'Nation'; Nationalversammlung als Repräsentationsorgan).<br />
160 Dazu oben S. 328 ff. (diskursiv notwendige Freiheiten).<br />
342
erfüllt sein, die eine den Umständen na<strong>ch</strong> angemessene Annäherung an die regulative<br />
Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen ermögli<strong>ch</strong>en 161 . Die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
selbst entspre<strong>ch</strong>en, je na<strong>ch</strong> Ausgestaltung des Verfahrens (Referendum, Gesetzgebung),<br />
denen <strong>der</strong> Verfassunggebung o<strong>der</strong> denen <strong>der</strong> parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebung<br />
162 , regelmäßig verstärkt um qualifizierte Mehrheitserfor<strong>der</strong>nisse o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Ers<strong>ch</strong>wernisse, die eine den Umständen na<strong>ch</strong> – d.h. unter Berücksi<strong>ch</strong>tigung <strong>der</strong> grundlegenden<br />
Bedeutung bzw. des formal höheren Ranges <strong>der</strong> Verfassungsnorm – angemessene<br />
Annäherung an das Diskursideal <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung dur<strong>ch</strong> Konsens bewirken.<br />
d) Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Ewigkeitsklauseln<br />
Dur<strong>ch</strong> die diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Analyse können au<strong>ch</strong> bei demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaaten,<br />
die im wesentli<strong>ch</strong>en als gere<strong>ch</strong>t anzusehen sind, Kritikpotentiale aufgedeckt<br />
werden. Dazu sei das Kriterium <strong>der</strong> optimalen diskursiven Kontrolle betra<strong>ch</strong>tet.<br />
Für die unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen (notwendige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen)<br />
läuft es leer, weil insoweit das notwendige Ergebnis jedes Diskurses<br />
bereits feststeht. Im übrigen beurteilen si<strong>ch</strong> die Anfor<strong>der</strong>ungen an die 'Optimalität'<br />
einer diskursiven Kontrolle dana<strong>ch</strong>, was na<strong>ch</strong> den Umständen als angemessene Annäherung<br />
an die Bedingungen eines idealen Diskurses anzusehen ist 163 . Inhaltli<strong>ch</strong>e<br />
Aussagen hierzu lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t allgemein treffen. Aber jedenfalls folgt aus dem<br />
Kriterium <strong>der</strong> optimalen diskursiven Kontrolle, daß bestimmte Verfassungsnormen<br />
überhaupt revisibel bleiben müssen. Es gilt <strong>der</strong> Satz: Verfassungsnormen, die ni<strong>ch</strong>t<br />
zu den unmittelbar begründbaren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gehören (optionale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen),<br />
müssen innerhalb <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung einer diskursiven Kontrolle unterliegen<br />
164 . Eine diskursive Kontrolle besteht, wenn Verfassungsnormen weiterhin<br />
<strong>der</strong> Verfügungsbefugnis <strong>der</strong> Betroffenen unterstehen, also einzeln geän<strong>der</strong>t (Einzelrevision)<br />
o<strong>der</strong> im Rahmen einer Überprüfung <strong>der</strong> gesamten Verfassung verworfen<br />
werden können (Totalrevision). Damit lassen si<strong>ch</strong> verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Gestaltungsformen<br />
kritisieren, in denen sowohl die Einzel- als au<strong>ch</strong> die Totalrevision von<br />
optionalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen dur<strong>ch</strong> faktis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> normative Ewigkeitsklauseln<br />
für alle Zukunft verhin<strong>der</strong>t wird (entren<strong>ch</strong>ment).<br />
In <strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Vereinigten Staaten von Amerika ist beispielsweise das<br />
Re<strong>ch</strong>t zum Waffentragen (right to bear arms 165 ) dur<strong>ch</strong> die Än<strong>der</strong>ungsmodalitäten <strong>der</strong><br />
Verfassung (amendments) <strong>der</strong>art versteinert, daß die Bestimmung einer faktis<strong>ch</strong>en<br />
161 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
162 Dazu unten S. 345 (parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung als realer Diskurs).<br />
163 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
164 Dazu oben S. 220 (realer Diskurs als diskursive Kontrolle). Nur eine diskursive Kontrolle 'innerhalb<br />
<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung' ist den Umständen na<strong>ch</strong> angemessen. Daß Verfassungsnormen je<strong>der</strong>zeit<br />
dur<strong>ch</strong> revolutionäre Akte, also 'außerhalb <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsordnung', beseitigt werden können, ist trivial,<br />
hat aber mit <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ordnung selbst, um die es hier allein geht (dazu<br />
oben S. 78 – S<strong>ch</strong>werpunktthese), ni<strong>ch</strong>ts zu tun.<br />
165 Amendment II (1791) <strong>der</strong> U.S.-Verf.: »... the right of the people to keep and bear Arms, shall not be<br />
infringed.«<br />
343
Ewigkeitsgarantie unterliegt 166 . Dabei gibt es zwei Auslegungsmögli<strong>ch</strong>keiten für die<br />
Norm. Sieht man sie als Prinzip an, dann wäre sie mit an<strong>der</strong>en Grundre<strong>ch</strong>ten in jedem<br />
Einzelfall abzuwägen; die diskursive Kontrolle wäre dadur<strong>ch</strong> gewahrt. Gilt sie<br />
indes als Regel mit wenigen feststehenden Ausnahmen, so läge darin eine Konkretisierung<br />
des relativen Gewi<strong>ch</strong>ts von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten, die einer diskursiven Kontrolle<br />
faktis<strong>ch</strong> entzogen wäre. Eine Interpretation des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts als abwägungsbedürftiges<br />
Prinzip ist deshalb gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong> geboten.<br />
Au<strong>ch</strong> anhand <strong>der</strong> Verfassung <strong>der</strong> Bundesrepublik Deuts<strong>ch</strong>land läßt si<strong>ch</strong> Ähnli<strong>ch</strong>es<br />
zeigen. Von <strong>der</strong> grundgesetzli<strong>ch</strong>en Ewigkeitsgarantie (Art. 79 III i.V.m. Art. 1<br />
und 20 GG) sind ni<strong>ch</strong>t nur die Verfassungskonkretisierungen notwendiger <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
(Grundre<strong>ch</strong>te auf Glei<strong>ch</strong>heit, optimierte Freiheit und Demokratie), son<strong>der</strong>n<br />
au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Verfassungsprinzipien erfaßt, die zu den optionalen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
zählen (Bundesstaatli<strong>ch</strong>keit, Staatsform <strong>der</strong> Republik) und folgli<strong>ch</strong> einer diskursiven<br />
Kontrolle unterliegen müssen 167 . Diese Kontrolle besteht nur, wenn man<br />
annimmt, daß si<strong>ch</strong> (jedenfalls über eine zulässige Verfassungsän<strong>der</strong>ung) die verfassunggebende<br />
Gewalt aktivieren ließe, um auf diesem Wege die ni<strong>ch</strong>t diskurstheoretis<strong>ch</strong><br />
o<strong>der</strong> diskursiv notwendigen Normen zu än<strong>der</strong>n. Ginge das ni<strong>ch</strong>t, enthielte<br />
die normative Ordnung des Grundgesetzes insoweit eine ungere<strong>ch</strong>te Bes<strong>ch</strong>ränkung<br />
<strong>der</strong> Volkssouveränität. Eine Auslegung, die zumindest eine Totalrevision zuläßt<br />
(Art. 146 GG) und dadur<strong>ch</strong> die öffentli<strong>ch</strong>e Diskussion über Revisionen des Fö<strong>der</strong>alismus<br />
und Republikanismus ni<strong>ch</strong>t von vornherein als Aufruf zur Revolution diskreditiert,<br />
ist deshalb gere<strong>ch</strong>tigkeitstheoretis<strong>ch</strong> geboten 168 .<br />
e) Ergebnisse<br />
Die Beispiele zeigen, daß si<strong>ch</strong> Kriterien für 'ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t' aus Si<strong>ch</strong>t einer Diskurstheorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> allein daraus ableiten lassen, daß Verfassunggebung und<br />
Verfassungsän<strong>der</strong>ung als reale Diskurse verstanden werden.<br />
166 Zur faktis<strong>ch</strong>en Sperrwirkung am Beispiel <strong>der</strong> ers<strong>ch</strong>werten Än<strong>der</strong>ungsmodalitäten in Art. V, letzter<br />
Halbsatz U.S.-Verf. (»[N]o State, without its Consent, shall be deprived of its equal Suffrage in<br />
the Senate.«) vgl. B. Ackerman, We The People (1991), S. 15 mit Fn. 21: »This effort to entren<strong>ch</strong> Fe<strong>der</strong>alism<br />
caused all sorts of trouble in the aftermath of the Civil War.« Zu einer ni<strong>ch</strong>t bloß faktis<strong>ch</strong>en,<br />
son<strong>der</strong>n normativen Unabän<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keitsklausel vgl. ebd., S. 15 – Die Bestimmung des Artikels<br />
V, I Sec. 9 (1) <strong>der</strong> U.S.-Verfassung vom 17.9.1787 (»Provided that no Amendment whi<strong>ch</strong> may<br />
be made prior to the Year One thousand eight hundred and eight shall in any Manner affect the<br />
first and fourth Clauses in the Ninth Section of the first Article«; »The Migration or Importation of<br />
Su<strong>ch</strong> Persons as any of the States now existing shall think proper to admit, shall not be prohibited<br />
by the Congress prior to the Year one thousand eight hundred and eight, but a Tax or duty may<br />
be imposed on su<strong>ch</strong> Importation, not exceeding ten dollars for ea<strong>ch</strong> Person.«) habe die explizite<br />
Unabän<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> Sklaverei vor dem Jahr 1808 geregelt. Allerdings wäre eine sol<strong>ch</strong>e Festlegung<br />
na<strong>ch</strong> Ackermans Konzept <strong>der</strong> 'dualen Demokratie' als gere<strong>ch</strong>t einzustufen; vgl. oben S. 258<br />
(dualistis<strong>ch</strong>e Demokratie bei Ackerman).<br />
167 Kritis<strong>ch</strong> zur Einbeziehung H. Dreier, Grenzen demokratis<strong>ch</strong>er Freiheit im Verfassungsstaat (1994),<br />
S. 747 ff. – Problematik <strong>der</strong> Unantastbarkeitsgarantie.<br />
168 Vgl. B. Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwis<strong>ch</strong>en Legalität und Legitimität (1997),<br />
S. 185 ff. – Legalität einer künftigen Verfassungsneus<strong>ch</strong>öpfung; ebd., S. 253 – die legale Aufhebung<br />
des deuts<strong>ch</strong>en Fö<strong>der</strong>alismus sei im Rahmen des Art. 146 mögli<strong>ch</strong>.<br />
344
3. Die parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung als realer Diskurs<br />
So, wie das Verfahren <strong>der</strong> Verfassunggebung innerhalb eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmens<br />
aus unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen angewendet wird, so verhält<br />
si<strong>ch</strong> die parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung innerhalb des konkreteren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmens<br />
<strong>der</strong> Verfassung 169 . Einerseits steigt dur<strong>ch</strong> ein öffentli<strong>ch</strong>es parlamentaris<strong>ch</strong>es<br />
Verfahren die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit, daß nur sol<strong>ch</strong>e Gesetze verabs<strong>ch</strong>iedet werden, die<br />
mit <strong>der</strong> Verfassung vereinbar sind (unvollkommen prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). An<strong>der</strong>erseits<br />
expliziert die parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
170 , indem sie unter unendli<strong>ch</strong> vielen verfassungsgemäßen Konkretisierungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
eine definitive Wahl trifft 171 .<br />
Im Parlamentarismus gelten »Mindestvorgaben für einen rationalen Gesetzgebungsprozeß«<br />
172 , die eine Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses innerhalb <strong>der</strong> verfassungskräftig<br />
gesetzten Grenzen si<strong>ch</strong>erstellen sollen. Sol<strong>ch</strong>e Anwendungsbedingungen und<br />
Verfahrensregeln des Gesetzgebungsverfahrens sind, ohne daß das hier im einzelnen<br />
gezeigt werden müßte, den Umständen na<strong>ch</strong> angemessene Annäherungen an die regulative<br />
Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen 173 . Die resultierenden Gesetze<br />
sind prima facie genau dann gere<strong>ch</strong>t, wenn sie unter sol<strong>ch</strong>en Bedingungen zustandegekommen<br />
sind 174 . Die Ungere<strong>ch</strong>tigkeit eines Gesetzes kann man ni<strong>ch</strong>t damit<br />
begründen, daß eine an<strong>der</strong>e Regelung 'sinnvoller' gewesen wäre, son<strong>der</strong>n nur no<strong>ch</strong><br />
damit, daß entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> materielle Rahmen des gere<strong>ch</strong>ten Legislativberei<strong>ch</strong>s verlassen<br />
(z.B. dur<strong>ch</strong> Verletzung von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten) o<strong>der</strong> eine wesentli<strong>ch</strong>e Verfahrensregel<br />
des parlamentaris<strong>ch</strong>en Prozesses ni<strong>ch</strong>t eingehalten wurde. Gerade mit Blick auf<br />
diese zweite Wi<strong>der</strong>legungsmögli<strong>ch</strong>keit ist es aus Si<strong>ch</strong>t prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
problematis<strong>ch</strong>, wenn eine Verfassungsjudikatur bei Verfahrensfehlern nur<br />
einges<strong>ch</strong>ränkt die Konsequenz zieht, daß die resultierenden Gesetze ni<strong>ch</strong>tig sind 175 .<br />
Das gilt jedenfalls für sol<strong>ch</strong>e Verfahrensfehler, die die Diskursivität und Öffent-<br />
169 Vgl. J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff. – Stufen zunehmen<strong>der</strong> Konkretisierung.<br />
170 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 31, S. 195 ff. (201); dazu oben S. 128 (quasi-reine prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
171 Vgl. M. Böhm, Der Normmens<strong>ch</strong> (1996), S. 180 ff. (181) – zwei unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Verfahrensfunktionen:<br />
Verfahren »im Dienste« (z.B. prozeduraler Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz) und »anstelle« einer Konkretisierung<br />
des materiellen Re<strong>ch</strong>ts (z.B. prozedurale Grenzwertfindung).<br />
172 B.-O. Bryde, Geheimgesetzgebung (1998), S. 116.<br />
173 Vgl. oben S. 221 (T Dr ); J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 161: »Parlamente sind<br />
<strong>der</strong> Idee na<strong>ch</strong> in den gegenwärtigen Demokratien Diskursforen par excellence.« Skeptis<strong>ch</strong>er<br />
H. S<strong>ch</strong>ulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentaris<strong>ch</strong>er Gesetzgebung (1988), S. 252 – partieller<br />
Diskurs<strong>ch</strong>arakter des Gesetzgebungsverfahrens, S. 399 – an diskursive Diskussion sei unter Zeitdruck<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr zu denken.<br />
174 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1994), S. 662: »[D]as demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren ... begründet<br />
... die fallibilistis<strong>ch</strong>e Vermutung, daß verfahrensgere<strong>ch</strong>t zustandegekommene Resultate ... vernünftig<br />
sind.«<br />
175 So in <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsre<strong>ch</strong>tsjudikatur das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t, das die Ni<strong>ch</strong>tigkeitsfolge<br />
bei Verfahrensfehlern bes<strong>ch</strong>ränkt: BVerfGE 34, 9 (25) – Besoldungsvereinheitli<strong>ch</strong>ung;<br />
91, 148 (175) – Umlaufverfahren: »Während bei inhaltli<strong>ch</strong>en Fehlern die Ni<strong>ch</strong>tigkeit die regelmäßige<br />
Folge des Verfassungsverstoßes bildet, führt ein Verfahrensfehler nur dann zur Ni<strong>ch</strong>tigkei[t]<br />
<strong>der</strong> Norm, wenn er evident ist. Das gebietet die Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit.« Kritis<strong>ch</strong> dazu<br />
B.-O. Bryde, Geheimgesetzgebung (1998), S. 119 f.; aus politikwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong><br />
H.-J. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren (1997), S. 345 ff., 381 ff.<br />
345
li<strong>ch</strong>keit des parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebungsverfahrens beeinträ<strong>ch</strong>tigen, indem sie<br />
Verfahrensstationen o<strong>der</strong> Mitwirkungsre<strong>ch</strong>te entfallen lassen 176 .<br />
Die eigentli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgarantien des Gesetzgebungsverfahrens liegen allerdings<br />
ni<strong>ch</strong>t innerhalb <strong>der</strong> Institution 'Parlament', son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> diskursiven Kontrolle<br />
dur<strong>ch</strong> eine kritis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit 177 . Darauf wird im Rahmen <strong>der</strong> deliberativen<br />
Politik zurückzukommen sein 178 .<br />
4. Die Verwaltungs- und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren als reale Diskurse<br />
Die Regeln des Verwaltungsverfahrens erhöhen bei Ents<strong>ch</strong>eidungen <strong>der</strong> gebundenen<br />
Verwaltung die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit <strong>der</strong> korrekten Re<strong>ch</strong>tsanwendung (unvollkommen<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 179 ) und legen im Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ermessensverwaltung die Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln fest, unter denen eine Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
prima facie gere<strong>ch</strong>t ist (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Bei den Geri<strong>ch</strong>tsverfahren<br />
steht <strong>der</strong> erste Aspekt (korrekte Re<strong>ch</strong>tsanwendung, unvollkommen prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>)<br />
im Vor<strong>der</strong>grund. Jedenfalls im Rahmen einer anerkannten ri<strong>ch</strong>terre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsfortbildung tritt aber ein gewisser Spielraum des Ri<strong>ch</strong>ters hinzu 180 . Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in diesem Berei<strong>ch</strong> wird wie<strong>der</strong>um dur<strong>ch</strong> Anwendungsbedingungen und<br />
Verfahrensregeln si<strong>ch</strong>ergestellt, die vor allem die Unparteili<strong>ch</strong>keit des Ri<strong>ch</strong>ters garantieren<br />
sollen (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Der Ri<strong>ch</strong>ter wird dur<strong>ch</strong> das<br />
Konzept <strong>der</strong> Unparteili<strong>ch</strong>keit zu einem Garanten <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit (Diskursideal <strong>der</strong><br />
Fähigkeit und Bereits<strong>ch</strong>aft zum Rollentaus<strong>ch</strong> 181 ). Seine Verfahrensposition führt unter<br />
an<strong>der</strong>em dazu, daß er als Repräsentant für das ganze System von Re<strong>ch</strong>ten im<br />
Re<strong>ch</strong>tsstreit auftritt, so wie es idealiter von den als Urheber des Re<strong>ch</strong>ts geltenden Bügern<br />
im Einzelfall interpretiert würde 182 . Regeln über die Tatsa<strong>ch</strong>enermittlung nä-<br />
176 B.-O. Bryde, Geheimgesetzgebung (1998), S. 120.<br />
177 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 369: »Die deliberative Politik gewinnt ihre legitimierende<br />
Kraft aus <strong>der</strong> diskursiven Struktur einer Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegrative<br />
Funktion nur dank <strong>der</strong> Erwartung einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen<br />
kann. Deshalb bildet das diskursive Niveau <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Debatten die wi<strong>ch</strong>tigste Variable.«<br />
(Hervorhebung bei Habermas).<br />
178 Dazu unten S. 353 ff. (deliberative Politik).<br />
179 Vgl. F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren (1998), Rn. 586 ff. – Relativierung <strong>der</strong> Fehlerfolgen<br />
wegen <strong>der</strong> dienenden Funktion des Verfahrens. Zur dienenden Rolle des Verfahrens au<strong>ch</strong><br />
J. Pietzcker, Das Verwaltungsverfahren zwis<strong>ch</strong>en Verwaltungseffizienz und Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzauftrag<br />
(1983), S. 222; R. Pits<strong>ch</strong>as, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren (1990), S. 160 ff.<br />
– relative Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgewähr.<br />
180 Die re<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong>en Details sind häufig umstritten. Vgl. etwa die lange Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
über die Theorie <strong>der</strong> Punktstrafe, na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> einzelnen Tats<strong>ch</strong>uld eine bestimmte<br />
(gere<strong>ch</strong>te) Strafgröße entspri<strong>ch</strong>t: R. v. Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen (1910),<br />
S. 57 ff., 259; E. S<strong>ch</strong>midt, Probleme staatli<strong>ch</strong>en Strafens in <strong>der</strong> Gegenwart (1946), S. 209; E. Dreher,<br />
Über die gere<strong>ch</strong>te Strafe (1947), S. 56 ff. (62 ff.); W. Fris<strong>ch</strong>, Revisionsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Probleme <strong>der</strong> Strafzumessung<br />
(1971), S. 67 ff. (84 ff.); H.-J. Bruns, Über Strafrahmen (1978), S. 162 ff.; <strong>der</strong>s., Der »Bestimmtheitsgrad«<br />
<strong>der</strong> Punktstrafe im Strafzumessungsre<strong>ch</strong>t (1979), S. 291 f.; <strong>der</strong>s., Das Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong><br />
Strafzumessung (1985), S. 63 ff., 105 ff.<br />
181 Vgl. R. Alexy, Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie (1989), S. 113; dazu oben S. 218 (D Di ).<br />
182 K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen und intersubjektive<br />
Rationalität (1996), S. 407.<br />
346
hern das Verfahren so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen, dem Diskursideal<br />
<strong>der</strong> vollkommenen empiris<strong>ch</strong>en Informiertheit an 183 . Au<strong>ch</strong> die Auslegung hat den<br />
Charakter eines Diskurses 184 . An <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung des Geri<strong>ch</strong>tsverfahrens<br />
än<strong>der</strong>t au<strong>ch</strong> die strategis<strong>ch</strong>e Interaktion <strong>der</strong> Parteien ni<strong>ch</strong>ts, da si<strong>ch</strong> <strong>der</strong>en Aktivität<br />
gegenseitig kompensiert und letztli<strong>ch</strong> im Interesse einer ri<strong>ch</strong>tigen Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
vom Verfahren instrumentalisiert wird.<br />
Gerade für das Strafverfahren gibt es eine Reihe ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgen<strong>der</strong> Verfahrensregeln,<br />
die häufig sogar in den Rang von Verfassungsnormen gehoben werden.<br />
Sie alle haben entwe<strong>der</strong> unmittelbar das Ziel, im Strafverfahren si<strong>ch</strong>erzustellen, daß<br />
nur s<strong>ch</strong>uldige Straftäter verurteilt werden (Uns<strong>ch</strong>uldsvermutung, Verbot <strong>der</strong> Doppelbestrafung,<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf Verteidigung), o<strong>der</strong> sie wirken im Verfahren auf die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses hin, indem sie <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit dienen (Analogieverbot,<br />
nulla poena sine lege-Grundsatz). Generell gilt, daß die Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit als ein<br />
Kriterium für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit angesehen werden muß und zu dem hier verfolgten<br />
weiten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff keinen Gegensatz bildet 185 . S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gibt es no<strong>ch</strong> Regeln,<br />
die die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Verfahrens selbst betreffen (Beweisverwertungsverbote,<br />
Zeugnisverweigerungsre<strong>ch</strong>te).<br />
5. Ergebnisse<br />
Juristis<strong>ch</strong>e Verfahren lassen si<strong>ch</strong> sinnvoll als reale Diskurse begreifen. Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln können dann so formuliert werden, daß sie <strong>der</strong><br />
regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen folgen. Eine Diskurstheorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ermögli<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> eine weitergehende, konkretisierende<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung jenseits <strong>der</strong> unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen'). Sie wird so zu einer Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaates.<br />
III. Zur Diskursivität <strong>der</strong> Politik<br />
1. Zum Begriff <strong>der</strong> Politik<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Politik ist umstritten 186 und findet si<strong>ch</strong>, statt selbst definiert zu werden,<br />
meist nur als Gegenbegriff zu an<strong>der</strong>en, etwa 'Wirts<strong>ch</strong>aft', 'Moral' o<strong>der</strong> 'Re<strong>ch</strong>t' 187 .<br />
Unter den bisherigen Ansätzen zu einer Begriffsbestimmung definiert S<strong>ch</strong>umpeter als<br />
'Politik' »die Methode, die ein Volk verwendet, um zu Ents<strong>ch</strong>eidungen zu gelan-<br />
183 Vgl. oben S. 218 (T Dr ).<br />
184 So ausdrückli<strong>ch</strong> BVerfGE 82, 30 (38 f.): »Die Auslegung insbeson<strong>der</strong>e des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts hat<br />
den Charakter eines Diskurses, in dem au<strong>ch</strong> bei methodis<strong>ch</strong> einwandfreier Arbeit ni<strong>ch</strong>t absolut<br />
ri<strong>ch</strong>tige, unter Fa<strong>ch</strong>kundigen ni<strong>ch</strong>t bezweifelbare Aussagen dargeboten werden, son<strong>der</strong>n Gründe<br />
geltend gema<strong>ch</strong>t, an<strong>der</strong>e Gründe dagegengestellt werden und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die besseren Gründe<br />
den Auss<strong>ch</strong>lag geben sollen.«<br />
185 Vgl. demgegenüber oben S. 63 (engere <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe, insbeson<strong>der</strong>e bei Radbru<strong>ch</strong>).<br />
186 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1966), S. 13 mit Na<strong>ch</strong>weisen zur älteren Literatur.<br />
187 C. S<strong>ch</strong>mitt, Der Begriff des Politis<strong>ch</strong>en (1932), S. 7, 53 ff.<br />
347
gen.« 188 Weinberger hat jüngst allgemeiner formuliert: »Politik ist sozial relevantes<br />
Handeln.« 189 Hier kann und muß <strong>der</strong> Begriffsstreit über diese und an<strong>der</strong>e, kompliziertere<br />
Definitionen 190 ni<strong>ch</strong>t geführt werden. Statt dessen sollen ledigli<strong>ch</strong> die unumstrittenen<br />
Gehalte <strong>der</strong> Politik auf ihren strategis<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Charakter<br />
hin untersu<strong>ch</strong>t werden, um ans<strong>ch</strong>ließend die These zu begründen, daß die Konzeption<br />
deliberativer Politik, wie Habermas sie entwickelt hat, an Plausibilität gewinnen<br />
kann, wenn man sie als eine Theorie <strong>der</strong> realen Diskurse in <strong>der</strong> Politik formuliert<br />
und insofern die Son<strong>der</strong>fallthese vom Re<strong>ch</strong>t auf die ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Politik<br />
ausdehnt.<br />
a) Der strategis<strong>ch</strong>e Charakter <strong>der</strong> Politik<br />
Politik ist in erster Linie strategis<strong>ch</strong> 191 . Als 'strategis<strong>ch</strong>' bezei<strong>ch</strong>net man jedes Handeln,<br />
mit dem ein Handeln<strong>der</strong> ein Ziel verfolgt und dabei die Ents<strong>ch</strong>eidungen mindestens<br />
eines weiteren zielgeri<strong>ch</strong>tet Handelnden in das Erfolgskalkül einbezieht 192 .<br />
In <strong>der</strong> Politik wollen die Beteiligten individuelle o<strong>der</strong> kollektive Ziele verwirkli<strong>ch</strong>en.<br />
Sie vereinigen si<strong>ch</strong> dazu auf <strong>der</strong> Grundlage von Wahlplattformen o<strong>der</strong> Programmen,<br />
gehen Allianzen ein, bilden Koalitionen, bekämpfen politis<strong>ch</strong>e Gegner; dies alles sind<br />
strategis<strong>ch</strong>e Handlungsweisen.<br />
Das strategis<strong>ch</strong>e Politikverständnis spiegelt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> im Parteibegriff wi<strong>der</strong>.<br />
Während im klassis<strong>ch</strong>en Verständnis die Partei no<strong>ch</strong> eine Mens<strong>ch</strong>engruppe war, <strong>der</strong>en<br />
Mitglie<strong>der</strong> aufgrund eines gemeinsam als ri<strong>ch</strong>tig erkannten Prinzips das Gemeinwohl<br />
fö<strong>der</strong>n wollen, also ni<strong>ch</strong>t allein eigennützige Gruppenziele verfolgen, legt die<br />
neuere Politikwissens<strong>ch</strong>aft das strategis<strong>ch</strong>e Interesse hinter dem Parteihandeln offen:<br />
»Eine Partei ist eine Gruppe, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> willens sind, im Konkurrenzkampf<br />
um die politis<strong>ch</strong>e Ma<strong>ch</strong>t in Übereinstimmung miteinan<strong>der</strong> zu handeln.« 193 No<strong>ch</strong> früher<br />
als beim Parteibegriff findet si<strong>ch</strong> dieses strategis<strong>ch</strong>e Verständnis von Politik im<br />
188 J.A. S<strong>ch</strong>umpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), S. 386.<br />
189 O. Weinberger, Zur Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1995), S. 164.<br />
190 Mehrdimensional (national/international, instrumentell/als Selbstzweck) etwa die Begriffsbestimmung<br />
bei M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. II, S. 822: »'Politik' würde für uns<br />
also heißen: Streben na<strong>ch</strong> Ma<strong>ch</strong>tanteil o<strong>der</strong> na<strong>ch</strong> Beeinflussung <strong>der</strong> Ma<strong>ch</strong>tverteilung, sei es zwis<strong>ch</strong>en<br />
Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwis<strong>ch</strong>en den Mens<strong>ch</strong>engruppen, die er ums<strong>ch</strong>ließt.<br />
... Wer Politik treibt, erstrebt Ma<strong>ch</strong>t: Ma<strong>ch</strong>t entwe<strong>der</strong> als Mittel im Dienst an<strong>der</strong>er Ziele – idealer<br />
o<strong>der</strong> egoistis<strong>ch</strong>er –, o<strong>der</strong> Ma<strong>ch</strong>t 'um ihrer selbst willen': um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu<br />
genießen.«<br />
191 Um diese Feststellung zu treffen, muß man keineswegs so weit gehen wie Carl S<strong>ch</strong>mitt, <strong>der</strong> von einer<br />
»allem politis<strong>ch</strong>en Verhalten immanenten Freund-Feindunters<strong>ch</strong>eidung« spri<strong>ch</strong>t und dann<br />
postuliert: »zum Begriff des Feindes gehört die im Berei<strong>ch</strong> des Realen liegende Eventualität eines<br />
Kampfes«, um ans<strong>ch</strong>ließend den Krieg als normales Mittel <strong>der</strong> Politik und Charakteristikum des<br />
Staates anzusehen: C. S<strong>ch</strong>mitt, Der Begriff des Politis<strong>ch</strong>en (1932), S. 19 ff., 33 f. Beispielhaft für ein<br />
rein strategis<strong>ch</strong>es Politikverständnis ist dessen These (S. 25): »Das Politis<strong>ch</strong>e liegt ... in <strong>der</strong> klaren<br />
Erkenntnis <strong>der</strong> eigenen ... Situation und in <strong>der</strong> Aufgabe, Freund und Feind ri<strong>ch</strong>tig zu unters<strong>ch</strong>eiden.«<br />
Zur Kritik ausführli<strong>ch</strong> H. S<strong>ch</strong>ulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentaris<strong>ch</strong>er Gesetzgebung<br />
(1988), S. 376 m.w.N.<br />
192 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (1981), S. 127; dazu oben S. 232 (arguing<br />
vs. bargaining).<br />
193 J.A. S<strong>ch</strong>umpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), S. 449 f.<br />
348
Parallelbegriff <strong>der</strong> Fraktion verkörpert 194 . Die 'mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Natur in <strong>der</strong> Politik' begründet<br />
die latente Gefahr, daß die öffentli<strong>ch</strong>e Meinung ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> rationale Kritik,<br />
son<strong>der</strong>n dur<strong>ch</strong> Gruppen bestimmt wird, die Privatinteressen verfolgen 195 . Überhaupt<br />
kann das Ergebnis des politis<strong>ch</strong>en Prozesses, die öffentli<strong>ch</strong>e Meinung, dur<strong>ch</strong>aus<br />
zu Stimmungsbil<strong>der</strong>n führen, die irrationales Handeln tragen, etwa die Ä<strong>ch</strong>tung<br />
religiöser Dissidenten o<strong>der</strong> die Hexenverfolgung 196 .<br />
b) Der ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Charakter <strong>der</strong> Politik<br />
»Der gesamte politis<strong>ch</strong>e Tageskampf stellt si<strong>ch</strong> als eine endlose Diskussion über<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dar.« 197 Man muß ni<strong>ch</strong>t so weit gehen wie Radbru<strong>ch</strong> und kann do<strong>ch</strong><br />
einen ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Charakter <strong>der</strong> Politik überall dort aufzeigen, wo argumentiert<br />
wird 198 . Als Situationen politis<strong>ch</strong>er Argumentation können mit Weinberger mindestens<br />
die Erstellung politis<strong>ch</strong>er Programme, die Überzeugung von Wählern und<br />
die Begegnung mit An<strong>der</strong>sdenkenden angeführt werden 199 . Hier seien nur die ersten<br />
beiden Beispiele verfolgt, weil das dritte bezügli<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung von strategis<strong>ch</strong>en<br />
und ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Gehalten zumindest ambivalent ist. Bei Programmerstellung<br />
und Wählerüberzeugung gilt indes, daß sie dur<strong>ch</strong> politis<strong>ch</strong>e Argumentation<br />
bei relativer Unbestimmtheit <strong>der</strong> Ziele gekennzei<strong>ch</strong>net und ni<strong>ch</strong>t wie politis<strong>ch</strong>e Propaganda<br />
ergebnisorientiert auf die Bewirkung bestimmter Überzeugungen geri<strong>ch</strong>tet<br />
ist 200 . Zwar ist au<strong>ch</strong> die Überzeugung wi<strong>ch</strong>tig, gewissermaßen als Instrument <strong>der</strong><br />
Meinungs- und Willensbildung. Do<strong>ch</strong> ein Politikverständnis, das si<strong>ch</strong> allein auf den<br />
strategis<strong>ch</strong>en Gehalt <strong>der</strong> Politik bes<strong>ch</strong>ränkt 201 , ist unvollständig. Das zeigt si<strong>ch</strong> beispielsweise,<br />
wenn eine Partei öffentli<strong>ch</strong> als 'Partei <strong>der</strong> Besserverdienenden' auftritt.<br />
Sie gibt damit den Anspru<strong>ch</strong> auf, Ziele zu vertreten, die ri<strong>ch</strong>tig für alle sind. Was ist<br />
daran fals<strong>ch</strong>? Warum muß mit dem Auftreten einer Partei immer <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> verbunden<br />
sein, universelle Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu verfolgen? Wäre die Partei keine Partei, son<strong>der</strong>n<br />
eine Lobbygruppe, etwa <strong>der</strong> Berufsverband <strong>der</strong> Apotheker, dann würde niemand<br />
Kritik daran üben, wenn si<strong>ch</strong> die Ziele <strong>der</strong> Vereinigung auf die Dur<strong>ch</strong>setzung<br />
194 Vgl. J. Madison, Fe<strong>der</strong>alist No. 10 (1787), S. 57: »By a faction I un<strong>der</strong>stand a number of citizens,<br />
whether amounting to a majority or minority of the whole, who are united and actuated by some<br />
common impulse of passion, or of interest, adverse to the rights of other citizens, or to the permanent<br />
and aggregate interests of the community.«<br />
195 So die ni<strong>ch</strong>tidealistis<strong>ch</strong>e Politikanalyse bei J.A. S<strong>ch</strong>umpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie<br />
(1942), S. 417 f.<br />
196 Beispiele bei J.A. S<strong>ch</strong>umpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), S. 381 ff.<br />
197 G. Radbru<strong>ch</strong>, Re<strong>ch</strong>tsphilosophie (1973), S. 165.<br />
198 Vgl. O. Weinberger, Zur Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1995), S. 165 f. – Die dort angeführten<br />
Beispiele (Perelmans universelles Auditorium, Habermas' Diskurstheorie, Gadamers Hermeneutik)<br />
betreffen allesamt ein argumentierendes Verstehen.<br />
199 O. Weinberger, Zur Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1995), S. 173.<br />
200 O. Weinberger, Zur Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1995), S. 175; allerdings im Ergebnis<br />
an<strong>der</strong>s als hier: ebd., S. 181 – die politis<strong>ch</strong>e Argumentationstheorie liege »an <strong>der</strong> Grenze« zwis<strong>ch</strong>en<br />
Begründungstheorie und <strong>der</strong> Pragmatik interpersonalen Überzeugens. Vgl. au<strong>ch</strong> J.S. Fishkin,<br />
The Voice of the People (1995), S. 154 f. – Übergang von <strong>der</strong> Partei- zur Massenzeitung.<br />
201 So offenbar H. S<strong>ch</strong>ulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentaris<strong>ch</strong>er Gesetzgebung (1988), S. 246<br />
ff., 300 – Entgegensetzung von Politik und Diskurs; an<strong>der</strong>erseits aber <strong>der</strong>s., ebd., S. 378: Gesetze<br />
als »rationale Domestizierung« von Politik.<br />
349
von Apothekerinteressen bes<strong>ch</strong>ränkten. Do<strong>ch</strong> eine Partei ist keine s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Interessenvertretung,<br />
son<strong>der</strong>n beanspru<strong>ch</strong>t die Mitwirkung an <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsetzung. Re<strong>ch</strong>t<br />
aber verlangt na<strong>ch</strong> universeller Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Deshalb kann <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>e Diskurs als<br />
Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses angesehen werden 202 . Man kann<br />
folgli<strong>ch</strong> sagen, daß <strong>der</strong> Anspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts, ri<strong>ch</strong>tig und damit gere<strong>ch</strong>t zu sein 203 ,<br />
Vorwirkungen au<strong>ch</strong> in bestimmten Berei<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Politik haben muß. Deshalb darf<br />
si<strong>ch</strong> Politik ni<strong>ch</strong>t in strategis<strong>ch</strong>em Handeln ers<strong>ch</strong>öpfen, etwa dadur<strong>ch</strong>, daß sie auf eine<br />
bloß emotive Wirkung reklamehafter Wie<strong>der</strong>holungen setzt, Begründungen auf<br />
Täus<strong>ch</strong>ung aufbaut und öffentli<strong>ch</strong> Gründe anführt, die si<strong>ch</strong> von den wirkli<strong>ch</strong>en<br />
Gründen wesentli<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eiden 204 . Erst die ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Begründung, in <strong>der</strong><br />
kritis<strong>ch</strong>e Reflexionen zur Geltung kommen, vervollständigt das politis<strong>ch</strong>e Handeln<br />
zur politis<strong>ch</strong>en Argumentation 205 . Dieser Befund wird gestützt dur<strong>ch</strong> die These, daß<br />
rationalistis<strong>ch</strong>e, nur an Klugheitserwägungen orientierte Staatsbürger »unter einer<br />
empiristis<strong>ch</strong>en Selbstbes<strong>ch</strong>reibung ihrer Praktiken keine hinrei<strong>ch</strong>enden Gründe für<br />
die Einhaltung demokratis<strong>ch</strong>er Spielregeln« haben könnten 206 .<br />
2. Eine erweiterte Son<strong>der</strong>fallthese (S RP )<br />
Diejenige Politik, die auf Re<strong>ch</strong>tsetzung bezogen ist, kann 'Re<strong>ch</strong>tspolitik' genannt werden<br />
207 . Re<strong>ch</strong>tspolitik in diesem weiten Sinne ist ein Platzhalter für ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e<br />
Politik. Dadur<strong>ch</strong> soll deutli<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t werden, daß politis<strong>ch</strong>es Handeln jedenfalls<br />
dann als ri<strong>ch</strong>tig begründet werden muß, wenn das Ziel dieses Handelns in <strong>der</strong> Setzung<br />
von Re<strong>ch</strong>t besteht. Der Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns kann man si<strong>ch</strong> allein im Diskurs<br />
vergewissern 208 . Demgemäß kann eine Erweiterung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese formuliert<br />
werden:<br />
S RP :<br />
Der re<strong>ch</strong>tspolitis<strong>ch</strong>e Diskurs ist neben dem juristis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurs ein weiterer Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses.<br />
Die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln eines realen re<strong>ch</strong>tspolitis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses müssen folgli<strong>ch</strong> so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen, <strong>der</strong> regulativen<br />
Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen angegli<strong>ch</strong>en werden 209 .<br />
Dieser weitgehenden Folgerung ist entgegengehalten worden, daß es eine 'diskursphilosophis<strong>ch</strong>e<br />
Täus<strong>ch</strong>ung' sei, wenn man annähme, kollektive Diskurse könnten<br />
Rationalität begründen 210 . Die außerrationalen Elemente, etwa das Charisma von<br />
202 Dazu oben S. 339 (Son<strong>der</strong>fallthese, Alexy).<br />
203 Vgl. oben S. 37 (notwendiger Anspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
204 O. Weinberger, Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 152.<br />
205 O. Weinberger, Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 154.<br />
206 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 358.<br />
207 Dazu soglei<strong>ch</strong> S. 353 ff. (deliberative Politik und Re<strong>ch</strong>tspolitik).<br />
208 Dazu oben S. 250 (T R ).<br />
209 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
210 O. Weinberger, Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 155; ähnli<strong>ch</strong> bereits<br />
A. Kaufmann, <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1989), S. 18: »Selbsttäus<strong>ch</strong>ung«.<br />
350
politis<strong>ch</strong>en Führern und Meinungsbildnern, seien so einflußrei<strong>ch</strong>, daß die politis<strong>ch</strong>en<br />
Überzeugungen ni<strong>ch</strong>t mehr als Ergebnis vernunftmäßiger Argumentation angesehen<br />
werden könnten 211 . Das mag als Analyse <strong>der</strong> realen Umstände zutreffen. Do<strong>ch</strong><br />
selbst wenn man <strong>der</strong>artige Einflüsse in vollem Umfang zugesteht, än<strong>der</strong>t das ni<strong>ch</strong>ts<br />
an <strong>der</strong> Orientierung <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspolitik am idealen Diskurs – eine Orientierung, die<br />
unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist, wenn argumentiert wird. Um si<strong>ch</strong> von dieser Orientierung ganz<br />
zu lösen, müßte Politik auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf argumentationslose Handlungsweisen reduziert<br />
werden – etwa auf Verhandlungen unter dem Aspekt <strong>der</strong> individuellen o<strong>der</strong><br />
partikulären Nutzenmaximierung, auf Gewalt, Aufmärs<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> Sportfeste. Das<br />
aber ist bei <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspolitik erkennbar ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Fall; sie su<strong>ch</strong>t Legitimation in <strong>der</strong><br />
Argumentation und muß si<strong>ch</strong> deshalb an <strong>der</strong> regulativen Idee eines idealen Diskurses<br />
orientieren. Nur dadur<strong>ch</strong>, daß die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln<br />
realer Diskurse – so unvollkommen das im Einzelfall au<strong>ch</strong> sein mag – si<strong>ch</strong> Diskursidealen<br />
annähern, kann die Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> Ergebnisse wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>er werden<br />
(unvollkommen prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>) o<strong>der</strong> innerhalb eines materiellen Rahmens als<br />
definitiv gelten (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
3. Der Wahlkampf als realer Diskurs<br />
Neben dem parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebungsprozeß muß na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> erweiterten<br />
Son<strong>der</strong>fallthese 212 au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wahlkampf als realer Diskurs verstanden werden, denn<br />
diese beiden Berei<strong>ch</strong>e bilden zusammen den Kern <strong>der</strong> 'Re<strong>ch</strong>tspolitik', <strong>der</strong> von Habermas<br />
als 'legislative Politik' bezei<strong>ch</strong>net wird 213 .<br />
Wahlen, also Abstimmungen über Personalents<strong>ch</strong>eidungen, ri<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> im demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaat na<strong>ch</strong> den Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätzen 214 . Sind diese eingehalten,<br />
so ist die Wahlents<strong>ch</strong>eidung qua definitionem gere<strong>ch</strong>t – jedenfalls prima facie,<br />
denn es könnte si<strong>ch</strong> ausnahmsweise herausstellen, daß eine 'gewählte' Person unwählbar<br />
war, die Wahlents<strong>ch</strong>eidung si<strong>ch</strong> also inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im zulässigen Berei<strong>ch</strong><br />
bewegte. Abgesehen von sol<strong>ch</strong>en Fehlermögli<strong>ch</strong>keiten kann niemand die Wahl mit<br />
dem Argument für unri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>t erklären, daß die Wahlbere<strong>ch</strong>tigten<br />
'fals<strong>ch</strong>' gewählt hätten. Der Wahlakt ist das einzige Kriterium für die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Ergebnisses (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
Der Wahlakt selbst, also die Abstimmung an <strong>der</strong> Urne, ist kein realer Diskurs. Ein<br />
realer Diskurs und Teil <strong>der</strong> deliberativen Politik ist aber die Wahl in einem weiteren<br />
Sinne, also die Veranstaltung 'Wahlkampf'. Insoweit besteht dasselbe Verhältnis wie<br />
zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Abstimmung im Parlament (Mehrheitsents<strong>ch</strong>eidung; kein realer Diskurs)<br />
und dem Verfahren <strong>der</strong> parlamentaris<strong>ch</strong>en Gesetzgebung insgesamt (realer<br />
Diskurs). Der Wahlkampf ist ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert. Das zeigt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on daran, daß<br />
211 O. Weinberger, Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation (1994), S. 155.<br />
212 Dazu oben S. 350 (S RP ).<br />
213 'Re<strong>ch</strong>tspolitik' findet außerdem unter Re<strong>ch</strong>tsdogmatikern statt, wenn etwa formale Qualitäten<br />
o<strong>der</strong> die systematis<strong>ch</strong>e Konsistenz von Gesetzen untersu<strong>ch</strong>t werden. Sol<strong>ch</strong>e Berei<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspolitik<br />
werden hier ni<strong>ch</strong>t weiter untersu<strong>ch</strong>t. Sie unterliegen als juristis<strong>ch</strong>e Diskurse ohne weiteres<br />
<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>fallthese.<br />
214 Zur unmittelbaren Begründung <strong>der</strong> Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätze als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen siehe oben<br />
S. 330 (Begründung <strong>der</strong> Demokratie).<br />
351
<strong>der</strong> Punkt, auf den <strong>der</strong> Wahlkampf zuläuft, also <strong>der</strong> Wahlakt selbst, unter den elligiblen<br />
Kandidaten eine Ents<strong>ch</strong>eidung trifft, die als definitiv ri<strong>ch</strong>tig gilt. Dem steht au<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t entgegen, daß die Akteure dieses 'Kampfes' strategis<strong>ch</strong> agieren. Mit dem strategis<strong>ch</strong>en<br />
Element verhält es si<strong>ch</strong> wie bei den Parteien eines Geri<strong>ch</strong>tsverfahrens.<br />
Au<strong>ch</strong> sie verfolgen ihre Ziele strategis<strong>ch</strong>, ohne daß deshalb das Geri<strong>ch</strong>tsverfahren<br />
seinen Charakter als realer Diskurs verlöre 215 . Die Parteien und Akteure müssen si<strong>ch</strong><br />
in <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Mittel dem Verfahrens<strong>ch</strong>arakter des realen Diskurses unterordnen,<br />
werden also nur mit sol<strong>ch</strong>en Gründen gehört, die an <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit, ni<strong>ch</strong>t bloß am<br />
Interesse orientiert sind 216 . Im Geri<strong>ch</strong>tsverfahren sorgt dafür <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>ter, im Wahlkampf<br />
ist diese Aufgabe <strong>der</strong> Wählers<strong>ch</strong>aft zugewiesen. Das Funktionieren dieser<br />
Wä<strong>ch</strong>terrolle <strong>der</strong> Wahlbürger ist allerdings ein sehr voraussetzungsvolles Element<br />
des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates. Garant für Ri<strong>ch</strong>tigkeit können Wähler nur<br />
sein, wenn das Vertrauen, das in die Vernünftigkeit ihrer Ents<strong>ch</strong>eidungen gesetzt<br />
wird, bere<strong>ch</strong>tigt ist. Dazu gehören ni<strong>ch</strong>t bloß umfassende Mögli<strong>ch</strong>keiten <strong>der</strong> Information,<br />
Meinungsbildung und Willensäußerung 217 , son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wille einer<br />
breiten Mehrheit, von diesen Mögli<strong>ch</strong>keiten in politis<strong>ch</strong>en Fragen tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> Gebrau<strong>ch</strong><br />
zu ma<strong>ch</strong>en, also die effektive Partizipation. Nur mit einem Mindestmaß an demokratis<strong>ch</strong>er<br />
Erziehung dürfte es gelingen, diese Voraussetzungen zu s<strong>ch</strong>affen und<br />
aufre<strong>ch</strong>tzuerhalten 218 , was glei<strong>ch</strong>zeitig zu dem Dilemma führt, daß in einem freiheitli<strong>ch</strong>en<br />
Staat die Voraussetzungen sol<strong>ch</strong>er Staatli<strong>ch</strong>keit ni<strong>ch</strong>t zu erzwingen sind 219 .<br />
Glei<strong>ch</strong>wohl gilt: Ohne Partizipation einer breiten Mehrheit ist <strong>der</strong> Typus des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaates ni<strong>ch</strong>t lebensfähig. Man kann deshalb sagen, daß diese<br />
Partizipation mit zu den Anwendungsbedingungen des realen Diskurses 'Wahlkampf'<br />
sowie <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Politik überhaupt gehört.<br />
Versteht man den Wahlkampf als realen Diskurs, so müssen au<strong>ch</strong> die übrigen<br />
Bedingungen, unter denen Wahlkampf betrieben wird, so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen<br />
angemessen, <strong>der</strong> regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen<br />
angegli<strong>ch</strong>en werden 220 . Dem Diskursideal <strong>der</strong> vollkommenen Informiertheit<br />
dient es beispielsweise, wenn die Wahlkampftätigkeit von Parteien o<strong>der</strong> sogar die<br />
Parteien insgesamt aus dem staatli<strong>ch</strong>en Haushalt unterstützt werden 221 . Für die unbegrenzte<br />
Teilnahme ist vor allem ein glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigter Zugang zu den Medien nö-<br />
215 Zu dieser Parallele zwis<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>er Partei und Prozeßpartei M. Kriele, Einführung in die<br />
Staatslehre (1994), S. 243 f.<br />
216 Vgl. oben S. 346 (Verwaltungs- und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren als reale Diskurse).<br />
217 J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 205 ff.<br />
218 Ausführli<strong>ch</strong> zu den diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründeten Anwendungsbedingungen des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfahrens J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1993), S. 192 ff. Vgl. au<strong>ch</strong> F. Kübler,<br />
Der 'Markt <strong>der</strong> Meinungen' (1989), S. 117 ff. – zum amerikanis<strong>ch</strong>en Konzept eines demokratiefunktionalen<br />
'marketplace of ideas'.<br />
219 E.-W. Böckenförde, Entstehung des Staates als Vorgang <strong>der</strong> Säkularisierung (1976), S. 60. Zur Unerzwingbarkeit<br />
einer »Staatssittenlehre« etwa H. Dreier, Staatli<strong>ch</strong>e Legitimität, Grundgesetz und<br />
neue soziale Bewegung (1987), S. 173 m.w.N. Zum Freiheits<strong>ch</strong>arakter des Partizipationsverzi<strong>ch</strong>ts<br />
J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 152 f. – private vs. politis<strong>ch</strong>e Autonomie.<br />
220 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />
221 So etwa im deuts<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t; vgl. M. Morlok, Artikel 21 GG (1998), Rn. 43 ff. m.w.N. (Zulässigkeit<br />
und Gebotenheit staatli<strong>ch</strong>er Parteienfinanzierung).<br />
352
tig 222 . Dem kann das Medienre<strong>ch</strong>t beispielsweise dadur<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>nung tragen, daß es<br />
den Parteien kostenlose Rundfunksendezeiten für Wahlwerbung einräumt 223 . Eine<br />
ungere<strong>ch</strong>te Teilnahmeverzerrung entsteht hingegen, wenn (wie jahrelang in Taiwan)<br />
sämtli<strong>ch</strong>e Fernsehsen<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Regierungspartei kontrolliert sind. An <strong>der</strong> gebotenen<br />
Annäherung an das Diskursideal, wie sie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen wäre,<br />
fehlt es in sol<strong>ch</strong>en Fällen.<br />
4. Die deliberative Politik<br />
a) Die 'legislative Politik' (J. Habermas)<br />
Mit dem Gedanken <strong>der</strong> 'deliberativen Politik' als Verfahrensbegriff <strong>der</strong> Demokratie<br />
rückt Habermas »aus dem breiten Spektrum politis<strong>ch</strong>er Prozesse den Auss<strong>ch</strong>nitt <strong>der</strong><br />
legislativen Politik ins Blickfeld« 224 , also genau denjenigen ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Politikgehalt,<br />
<strong>der</strong> im weiteren Sinne als 'Re<strong>ch</strong>tspolitik' bezei<strong>ch</strong>net werden kann 225 . Bei Cohen,<br />
von dessen Idee einer 'deliberative democracy' Habermas ausgeht 226 , kommt <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Deliberation die Funktion quasi-reiner prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu 227 .<br />
Dazu muß die Prozedurfairneß <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Deliberation gezeigt werden 228 .<br />
Ni<strong>ch</strong>ts läge näher, als die Fairneß dadur<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>erzustellen, daß man verlangt, die<br />
Re<strong>ch</strong>tspolitik müsse als realer Diskurs ausgestaltet sein 229 . Habermas zieht aber nirgends<br />
die Konsequenz, daß es si<strong>ch</strong> bei <strong>der</strong> ins Blickfeld gerückten 'legislativen Politik'<br />
um einen realen Diskurs handeln muß 230 . Vielmehr besteht er darauf, daß immer<br />
das strategis<strong>ch</strong>e Element <strong>der</strong> Verhandlung mits<strong>ch</strong>wingt 231 . Dadur<strong>ch</strong> wird das Span-<br />
222 Vgl. L.H. Tribe, American Constitutional Law (1988), S. 786: »Especially when the wealthy have<br />
more access to the most potent media of communication than the poor, how sure can we be that<br />
'free trade in ideas' is likely to generate truth?«<br />
223 So im deuts<strong>ch</strong>en Medienre<strong>ch</strong>t (z.B. § 24 II Rundfunkstaatsvertrag), das bei öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Rundfunkanstalten kostenlose und bei privaten Sen<strong>der</strong>n selbstkostenpfli<strong>ch</strong>tige Wahlwerbung für<br />
Parteien gebietet, wobei die staatli<strong>ch</strong>e Leistung na<strong>ch</strong> dem Prinzip <strong>der</strong> abgestuften Chancenglei<strong>ch</strong>heit<br />
verteilt wird, um dem unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Rückhalt <strong>der</strong> Parteien in <strong>der</strong> Bürgers<strong>ch</strong>aft Re<strong>ch</strong>nung zu<br />
tragen; vgl. M. Morlok, Artikel 21 GG (1998), Rn. 95; <strong>der</strong>s., Artikel 38 GG (1998), Rn. 97, 108; jeweils<br />
m.w.N.<br />
224 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349.<br />
225 Vgl. oben S. 350 (S RP ).<br />
226 Dazu oben S. 242 (Habermas' deliberative Politik).<br />
227 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 21: »Citizens in su<strong>ch</strong> an or<strong>der</strong> [deliberative<br />
democracy] ... regard their basic institutions as legitimate as far as they establish the framework<br />
for free public deliberation ... [by] an ideal deliberative procedure« (Hervorhebung bei Cohen).<br />
Vgl. oben S. 127 ff. (Formen definitoris<strong>ch</strong>er Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit).<br />
228 Vgl. oben S. 341 ff. (Verfassunggebung als realer Diskurs).<br />
229 G.-P. Calliess, <strong>Prozedurale</strong>s Re<strong>ch</strong>t (1999), 106 ff. (110, 121 f.).<br />
230 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349 ff. Ähnli<strong>ch</strong> für die Transzendentalpragmatik<br />
Apels: A. Cortina, Diskursethik und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 249, 254.<br />
231 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 349: »Aus dem Blickwinkel <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
habe i<strong>ch</strong> diese [deliberative Politik] als einen Prozeß bes<strong>ch</strong>rieben, <strong>der</strong> ... Verhandlungen eins<strong>ch</strong>ließt.«<br />
Ebd., S. 388 f.: »Das Herzstück deliberativer Politik besteht nämli<strong>ch</strong> aus einem Netzwerk<br />
von Diskursen und Verhandlungen«. Ebd., S. 391: »Wir würden den diskursiven Charakter<br />
<strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Meinungs- und Willensbildung mißverstehen, wenn wir glaubten, den idealen<br />
353
nungsverhältnis betont, das zwis<strong>ch</strong>en Politik und Re<strong>ch</strong>t besteht. Im folgenden soll<br />
demgegenüber gezeigt werden, daß si<strong>ch</strong> die Aussagen, die Habermas unter dem Begriff<br />
<strong>der</strong> 'deliberativen Politik' zusammenfaßt, inhaltli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> und argumentatoris<strong>ch</strong><br />
klarer treffen lassen, wenn man von <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspolitik als Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen<br />
praktis<strong>ch</strong>en Diskurses ausgeht 232 . Für die Begründung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des<br />
Re<strong>ch</strong>ts kommt es ni<strong>ch</strong>t darauf an, wel<strong>ch</strong>e strategis<strong>ch</strong>en Motive die politis<strong>ch</strong>en Akteure<br />
verfolgen, son<strong>der</strong>n allein darauf, die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln<br />
zu formulieren, die eine ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspolitik mögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en.<br />
b) Die 'Re<strong>ch</strong>tspolitik' als realer Diskurs<br />
Versteht man die Re<strong>ch</strong>tspolitik als realen Diskurs, so müssen die Rahmenbedingungen,<br />
unter denen Re<strong>ch</strong>tspolitik betrieben wird, so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen,<br />
<strong>der</strong> regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen angegli<strong>ch</strong>en<br />
werden 233 . Genau das wird bei Habermas mit dem Konzept <strong>der</strong> 'deliberativen<br />
Politik' eingelöst. Seine For<strong>der</strong>ungen lassen si<strong>ch</strong> als Annäherungen an Diskursideale<br />
begreifen. Wenn Massenmedien re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Kontrolle unterliegen sollen, damit sie<br />
als 'Mandatar eines aufgeklärten Publikums' die öffentli<strong>ch</strong>en Meinungen einer verstärkten<br />
Kritik und einem Legitimationszwang aussetzen 234 , so dient das den Diskursidealen<br />
<strong>der</strong> unbegrenzten Informiertheit und Teilnehmers<strong>ch</strong>aft sowie <strong>der</strong> Vorurteilsfreiheit.<br />
Die Vorstellung, daß ausrei<strong>ch</strong>ende Ressourcen <strong>der</strong> Lebenswelt vorhanden<br />
sein müssen, um trotz Administrations- und Medienma<strong>ch</strong>t für eine spontane öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Kommunikation und die ungezwungene Artikulation gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Interessen<br />
zu sorgen 235 , orientiert si<strong>ch</strong> am Diskursideal <strong>der</strong> vollkommenen Zwanglosigkeit<br />
<strong>der</strong> Kommunikation. Und die Garantie eines glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten Zugangs zur<br />
gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> relevanten Meinungsäußerung au<strong>ch</strong> für diejenigen, die stark abwei<strong>ch</strong>ende<br />
Ansi<strong>ch</strong>ten vertreten 236 , dient dem Diskursideal <strong>der</strong> unbegrenzten Teilnehmers<strong>ch</strong>aft.<br />
Habermas betont selbst, daß »das diskursive Niveau beoba<strong>ch</strong>tbarer politis<strong>ch</strong>er<br />
Kommunikation ein Maßstab für die Wirksamkeit einer ... prozeduralisierten<br />
Vernunft ist« 237 – letztli<strong>ch</strong> also <strong>der</strong> Zusammenhang, <strong>der</strong> hier als Theorem über den<br />
realen Diskurs formuliert wurde 238 .<br />
Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen zu einem Modell reiner kommunikativer<br />
Vergesells<strong>ch</strong>aftung hypostasieren zu dürfen.«<br />
232 Dazu oben S. 350 (S RP ).<br />
233 Vgl. oben S. 221 (T Dr ). Konkrete Folgerungen etwa bei J.P. Müller, Demokratis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
(1993), S. 192 ff. (198 f.), 201 ff. – Eindämmung <strong>der</strong> »Asymmetrie« bei realer Kommunikation.<br />
234 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 455 ff. (455, 457).<br />
235 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 466.<br />
236 Vgl. dazu die Eins<strong>ch</strong>ätzung bei O. Weinberger, Über die Kultur <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Argumentation<br />
(1994), S. 158: Von einem sol<strong>ch</strong>en 'diskursiven Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t' seien selbst die westli<strong>ch</strong>en Demokratien<br />
no<strong>ch</strong> weit entfernt.<br />
237 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 414 f.<br />
238 Dazu oben S. 221 (T Dr ).<br />
354
c) Zur Wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>keit als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgebot<br />
Eine Folge des Habermass<strong>ch</strong>en Modells <strong>der</strong> deliberativen Politik liegt in <strong>der</strong> »festen<br />
Verknüpfung von Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit und Beteiligung an <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Öffentli<strong>ch</strong>keit«<br />
239 . Das bedeutet zwar ni<strong>ch</strong>t, daß eine aktive wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>e Politik im<br />
Sinne einer dauernden Steigerung von Sozialleistungen gefor<strong>der</strong>t wäre. Auf einen<br />
<strong>der</strong>artigen Sozialaktivismus legt die deliberative Politik keine Regierung fest. Do<strong>ch</strong><br />
gewinnt die Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit einen auf ihre Funktionalität für die politis<strong>ch</strong>e Teilhabe<br />
gestützten Charakter. Die Würdebindung des Existenzminimums erweist si<strong>ch</strong><br />
demgegenüber als weniger bedeutsam, weil die Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit dasselbe und<br />
no<strong>ch</strong> mehr verlangt: ni<strong>ch</strong>t nur eine Minimalunterstützung zum Überleben, son<strong>der</strong>n<br />
au<strong>ch</strong> eine relativ zu den tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Lebensbedingungen in einem Staat angemessene<br />
Güterausstattung, die die Teilnahme am politis<strong>ch</strong>en Leben ermögli<strong>ch</strong>t. Wenn nämli<strong>ch</strong><br />
Re<strong>ch</strong>tspolitik als realer Diskurs gestaltet sein muß und wenn weiter ein realer<br />
Diskurs am Ideal <strong>der</strong> vollständigen, zwangsfreien Teilnahme aller Betroffenen orientiert<br />
ist, dann muß au<strong>ch</strong>, soweit das na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen ist, die Güterbasis<br />
dafür ges<strong>ch</strong>affen werden, daß Bürger ni<strong>ch</strong>t nur überleben, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> effektiv<br />
partizipieren können.<br />
d) Die 'deliberative Abstimmung' (J.S. Fishkin)<br />
Begreift man ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Politik als realen Diskurs, so liegt es nahe, die Defizite,<br />
die aus Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Diskurstheorie an den bestehenden politis<strong>ch</strong>en Verfahren festgestellt<br />
werden müssen, ni<strong>ch</strong>t nur dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>utz (öffentli<strong>ch</strong>e Meinung, Zivilgesells<strong>ch</strong>aft)<br />
und Regulierung (Massenmedien) bestehen<strong>der</strong> Instrumente zu min<strong>der</strong>n 240 , son<strong>der</strong>n<br />
au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Einführung neuer Verfahren, die ein höheres 'diskursives Niveau'<br />
verspre<strong>ch</strong>en 241 . Abgesehen von klassis<strong>ch</strong>en direktdemokratis<strong>ch</strong>en Verfahren, wie sie<br />
vor allem in <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>weiz verwirkli<strong>ch</strong>t sind, und einer ganzen Reihe von experimentellen<br />
Verfahren (Teleabstimmungen, Wahlanhörungen, Stadttreffen u.v.m. 242 ) kann<br />
als ein bereits gut etabliertes Beispiel das (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>s- 243 )Verfahren <strong>der</strong> 'deliberativen<br />
Abstimmung' (deliberative opinion poll model) von Fishkin angesehen werden 244 –<br />
eine Umfrage, die ni<strong>ch</strong>t die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Meinung <strong>der</strong> Bevölkerung erfassen soll, son-<br />
239 So die Analyse von K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen<br />
und intersubjektive Rationalität (1996), S. 413.<br />
240 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 455 ff. (455, 457). Vgl. oben S. 242 ff. (deliberative<br />
Politik und Regulierung <strong>der</strong> Massenmedien).<br />
241 Vgl. oben S. 242 ff. (diskursives Niveau im Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik).<br />
242 Na<strong>ch</strong> dem meist nordamerikanis<strong>ch</strong>en Ursprung: televote, election hearing, town meeting. Vgl.<br />
J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 95 ff. m.w.N. sowie <strong>der</strong>s., The Voice of the People<br />
(1995), S. 134 ff. – zur langen nordamerikanis<strong>ch</strong>en Tradition <strong>der</strong> Stadttreffen, bei denen einfa<strong>ch</strong>e<br />
Bürger ohne politis<strong>ch</strong>e Ämter zur Spra<strong>ch</strong>e kommen, ursprüngli<strong>ch</strong> in öffentli<strong>ch</strong>en Versammlungen,<br />
später zunehmend in Fernsehübertragungen.<br />
243 Zur Einordnung <strong>der</strong> deliberativen Abstimmung als eines realen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverfahrens siehe<br />
J.S. Fishkin, Dialogue of Justice (1992), S. 1 ff. ('self-reflective society'), 41 ff. (Kriterien für eine akzeptable<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie), 201 ff. (deliberative Abstimmung als legitimes Verfahren).<br />
244 J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 81 ff.; <strong>der</strong>s., The Voice of the People (1995),<br />
S. 161 ff. – deliberative poll. Konkrete Verfahren wurden bisher, soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, nur in Großbritannien<br />
und in den U.S.A. dur<strong>ch</strong>geführt.<br />
355
<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en potentielle Meinung, wie sie im Falle umfassen<strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>aufklärung und<br />
Beratung gebildet würde (consi<strong>der</strong>ed judgments of the public) 245 . Dabei wird eine repräsentative<br />
Bevölkerungsgruppe von etwa dreihun<strong>der</strong>t bis se<strong>ch</strong>shun<strong>der</strong>t Personen zusammengestellt<br />
und bezahlt, um an einem zentralen Ort zusammenzukommen.<br />
Na<strong>ch</strong> einer Eingangsabstimmung (baseline survey) über die zu ents<strong>ch</strong>eidende Sa<strong>ch</strong>frage<br />
wird die Gruppe mehrere Tage von unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Experten mögli<strong>ch</strong>st ausgewogen<br />
informiert. Dana<strong>ch</strong> führt sie Diskussionen in Kleingruppen und befragt Politiker<br />
mit unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ansi<strong>ch</strong>ten zur Sa<strong>ch</strong>frage. Erst na<strong>ch</strong> Abs<strong>ch</strong>luß dieses extensiven<br />
und intensiven Informationsprozesses erfolgt die eigentli<strong>ch</strong>e Abstimmung<br />
(deliberative poll). In den bisher real dur<strong>ch</strong>geführten Verfahren gab es jeweils signifikante<br />
Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung vor und na<strong>ch</strong> dem Informationsprozeß<br />
246 . Da die vollkommene Informiertheit zu den Diskursidealen zu re<strong>ch</strong>nen ist,<br />
muß das 'diskursive Niveau' <strong>der</strong> deliberativen Abstimmung gegenüber <strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>tdeliberativen<br />
Eingangsabstimmung als höher und die Ents<strong>ch</strong>eidung deshalb als besser<br />
begründet angesehen werden 247 . Deliberative Abstimmungen sind damit ein mögli<strong>ch</strong>er<br />
Beitrag zur prozedural erzeugten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t.<br />
5. Ergebnisse<br />
Ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Politik kann sinnvoll als realer Diskurs zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
verstanden werden. Dadur<strong>ch</strong> werden die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln,<br />
die Habermas für sein Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik formuliert hat,<br />
unmittelbar als Gebote rekonstruierbar, die Diskursideale näherungsweise verwirkli<strong>ch</strong>en.<br />
Der S<strong>ch</strong>utz öffentli<strong>ch</strong>er Meinungsbildung und zivilgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Assoziation<br />
sowie die Regulierung von Massenmedien müssen dann dem Umstand Re<strong>ch</strong>nung<br />
tragen, daß diese politis<strong>ch</strong>en Instrumente für die Erzeugung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts<br />
als Verfahren prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> konstitutiv sind 248 . Vereinfa<strong>ch</strong>t ausgedrückt:<br />
Ohne einen wirksamen S<strong>ch</strong>utz politis<strong>ch</strong>er Diskurse vor strategis<strong>ch</strong>en Interessen<br />
ist die Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts jedenfalls ni<strong>ch</strong>t optimal mögli<strong>ch</strong>. Neue Verfahren,<br />
wie etwa die 'deliberative Abstimmung', können einen prozeduralen Beitrag<br />
zu diesem Optimierungsprozeß leisten.<br />
245 Zu dieser Zielsetzung des Verfahrens und zu <strong>der</strong> Funktion, öffentli<strong>ch</strong>e Meinung ni<strong>ch</strong>t zu bes<strong>ch</strong>reiben<br />
o<strong>der</strong> vorherzusagen, son<strong>der</strong>n eine potentielle Meinung »präskriptiv« zu »empfehlen«:<br />
J.S. Fishkin, The Voice of the People (1995), S. 162.<br />
246 Beispielsweise sank in einer deliberativen Abstimmung über Strafre<strong>ch</strong>tspolitik und Strafvollzug<br />
in Großbritannien die Rate <strong>der</strong> Befürworter von s<strong>ch</strong>ärfen Strafen mit <strong>der</strong>en Informiertheit um ein<br />
Vielfa<strong>ch</strong>es <strong>der</strong> Signifikanzgrenze (von 57% auf 38% bei 1%-Signifikanz); J.S. Fishkin, The Voice of<br />
the People (1995), S. 177 ff.<br />
247 Vgl. J.S. Fishkin, The Voice of the People (1995), S. 161 – Zitate <strong>der</strong> Teilnehmenden; <strong>der</strong>s., Dialogue<br />
of Justice (1992), S. 200 f. – informiertere Wahl von Präsidents<strong>ch</strong>aftskandidaten.<br />
248 Im Ergebnis no<strong>ch</strong> weitergehend G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren<br />
in <strong>der</strong> Demokratie (1997), S. 84: »Politis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen sind in <strong>der</strong> Demokratie nur unter<br />
<strong>der</strong> Bedingung eines vorherigen Diskurses legitimiert.« Gemeint ist ein 'öffentli<strong>ch</strong>er Diskurs';<br />
vgl. ebd., S. 68 ff.<br />
356
IV. Zur Wirts<strong>ch</strong>aft<br />
1. Die Wirts<strong>ch</strong>aft als Kontrapunkt zu Diskursen<br />
Im Gegensatz zu Re<strong>ch</strong>t und Politik hat <strong>der</strong> dritte große Sozialberei<strong>ch</strong>, die Wirts<strong>ch</strong>aft,<br />
keinerlei Diskurs<strong>ch</strong>arakter, son<strong>der</strong>n ist geradezu das Gegenteil eines Diskurses. Bei<br />
Marktents<strong>ch</strong>eidungen geht es den Akteuren ni<strong>ch</strong>t darum, was für alle gut o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig<br />
wäre, son<strong>der</strong>n allein um ihre eigenen Interessen. Sie werden ni<strong>ch</strong>t als Wohltäter<br />
o<strong>der</strong> Staatsbürger tätig, son<strong>der</strong>n als egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer. Es geht ni<strong>ch</strong>t um<br />
Konsense, son<strong>der</strong>n um situative Kompromisse. Das Mittel <strong>der</strong> Interaktion ist ni<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Diskurs, son<strong>der</strong>n die Verhandlung 249 .<br />
Markt, Verhandlung und Vertrag bilden glei<strong>ch</strong>wohl zusammen ein Verfahrensmodell,<br />
dem man die Funktion <strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zuordnen<br />
kann. Was immer als Verhandlungsergebnis im Vertrag bes<strong>ch</strong>lossen wird, gilt<br />
als ri<strong>ch</strong>tig und gere<strong>ch</strong>t, wenn ni<strong>ch</strong>t ausnahmsweise eine Verletzung re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Rahmenbedingungen<br />
vorliegt. Aber die 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit', von <strong>der</strong> hier die Rede ist, entspri<strong>ch</strong>t<br />
ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong>jenigen, an <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> ein (re<strong>ch</strong>tspolitis<strong>ch</strong>er) Diskurs orientiert: Der<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Rahmen reduziert si<strong>ch</strong> innerhalb <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft zu einem Faktor des klugen<br />
Kalküls 250 . Die Wirts<strong>ch</strong>aft s<strong>ch</strong>ließt ni<strong>ch</strong>t alle pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gründe ein, son<strong>der</strong>n bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> allein auf pragmatis<strong>ch</strong>e; sie strebt na<strong>ch</strong><br />
effizienter Erzielung von Kooperationsgewinnen 251 .<br />
Au<strong>ch</strong> für das ni<strong>ch</strong>tdiskursive Verfahrensmodell <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft lassen si<strong>ch</strong> Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln formulieren, bei <strong>der</strong>en Ni<strong>ch</strong>teinhaltung<br />
die Ergebnisse des Marktes ungere<strong>ch</strong>t werden. Diese Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln werden in <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aftstheorie unter <strong>der</strong> Übers<strong>ch</strong>rift<br />
des Marktversagens (market failure) diskutiert 252 . Eine Theorie des Marktversagens ist<br />
hier ni<strong>ch</strong>t zu entwickeln, do<strong>ch</strong> sei darauf hingewiesen, daß es grundsätzli<strong>ch</strong> zwei Lösungswege<br />
für sol<strong>ch</strong>e Fälle gibt. Entwe<strong>der</strong> das Marktversagen (z.B. Monopolbildung,<br />
Dumping) wird dur<strong>ch</strong> eine Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Rahmenbedingungen<br />
des Marktes beseitigt (z.B. Fusionskontrolle, Kartellverbot), o<strong>der</strong> <strong>der</strong> problematis<strong>ch</strong>e<br />
Gegenstand (z.B. öffentli<strong>ch</strong>e Güter) wird (als ultima ratio 253 ) ganz aus dem Marktmodell<br />
herausgenommen 254 .<br />
249 Vgl. oben S. 232 (arguing vs. bargaining).<br />
250 Ähnli<strong>ch</strong> bereits M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 181: »Wenn nun trotzdem<br />
Wirts<strong>ch</strong>afts- und Re<strong>ch</strong>tsordnung in hö<strong>ch</strong>st intimen Beziehungen zueinan<strong>der</strong> stehen, so ist eben<br />
diese letztere dabei ni<strong>ch</strong>t in juristis<strong>ch</strong>em, son<strong>der</strong>n in soziologis<strong>ch</strong>em Sinne verstanden: als empiris<strong>ch</strong>e<br />
Geltung. Der Sinn des Wortes 'Re<strong>ch</strong>tsordnung' än<strong>der</strong>t si<strong>ch</strong> dann völlig. Sie bedeutet dann<br />
ni<strong>ch</strong>t einen Kosmos logis<strong>ch</strong> als 'ri<strong>ch</strong>tig' ers<strong>ch</strong>ließbarer Normen, son<strong>der</strong>n einen Komplex von faktis<strong>ch</strong>en<br />
Bestimmungsgründen realen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handelns.« (Hervorhebung bei Weber).<br />
251 Vgl. oben S. 169 (T RC ).<br />
252 R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 271 ff., 367 ff. mit Kritik am Begriff.<br />
253 Vgl. R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 367 f. – »incentives« statt »regulation«.<br />
254 Vgl. oben S. 276 (Beitragsdilemma bei öffentli<strong>ch</strong>en Gütern).<br />
357
2. Das Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft<br />
Ni<strong>ch</strong>t zur Abwendung des Marktversagens, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> zur Si<strong>ch</strong>erung <strong>der</strong> ganz<br />
normalen Rahmenbedingungen eines funktionierenden Marktes (Betrugsverbot<br />
u.v.m.) ist Re<strong>ch</strong>t nötig. Die Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts 255 impliziert eine Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung,<br />
in <strong>der</strong> außer pragmatis<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> ethis<strong>ch</strong>e und moralis<strong>ch</strong>e Gründe eine<br />
Rolle spielen können. Pragmatis<strong>ch</strong>e Gründe sind beispielsweise auss<strong>ch</strong>laggebend,<br />
wenn man um <strong>der</strong> Effizienzorientierung willen ein Kartellre<strong>ch</strong>t einführt. Dagegen<br />
handelt es si<strong>ch</strong> um ethis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>e Gründe, wenn Verbrau<strong>ch</strong>ers<strong>ch</strong>utz- o<strong>der</strong><br />
Arbeitnehmers<strong>ch</strong>utzgesetze verabs<strong>ch</strong>iedet werden. Damit zeigt si<strong>ch</strong>, daß, obwohl<br />
die Wirts<strong>ch</strong>aft selbst ni<strong>ch</strong>t diskursiv ist, die Verfahren zum Re<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft den<br />
ganz normalen Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln unterliegen, wie sie<br />
für Re<strong>ch</strong>t im allgemeinen gefor<strong>der</strong>t sind (juristis<strong>ch</strong>e Diskurse in Legislative, Exekutive<br />
und Judikative 256 ).<br />
V. Ergebnisse<br />
Im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat unterliegen Ents<strong>ch</strong>eidungen über die soziale<br />
Ordnung dem relativen Primat des <strong>Prozedurale</strong>n. Damit verlagert si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
auf die Anfor<strong>der</strong>ungen, die an Verfahren gestellt werden müssen.<br />
Die Verfahren müssen so gestaltet sein, daß sie entwe<strong>der</strong> die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit<br />
erhöhen, ein s<strong>ch</strong>on als gere<strong>ch</strong>t begründetes Ergebnis real umzusetzen (unvollkommen<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>), o<strong>der</strong> sie müssen si<strong>ch</strong>erstellen, daß jedes Ergebnis,<br />
solange es innerhalb materieller <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorgaben liegt, als definitiv gere<strong>ch</strong>t<br />
angesehen werden kann (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Indem die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründet werden, kann die Diskurstheorie zur Basistheorie<br />
des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates werden. Für die vers<strong>ch</strong>iedenen Verfahren<br />
im Re<strong>ch</strong>t (Verfassunggebung, parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung, Verwaltungsund<br />
Geri<strong>ch</strong>tsverfahren) gelingt dies, indem die Verfahren als reale Diskurse betra<strong>ch</strong>tet<br />
werden. Innerhalb <strong>der</strong> Politik kann diese Betra<strong>ch</strong>tungsweise auf die Re<strong>ch</strong>tspolitik<br />
ausgedehnt werden und dabei neben dem 'ri<strong>ch</strong>tigen' Wahlkampf vor allem Habermas<br />
Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik mit diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen begleiten.<br />
Im Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft bleibt die Leistung <strong>der</strong> Diskurstheorie indes auf die Metaebene<br />
des Wirts<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>ts bes<strong>ch</strong>ränkt.<br />
E. Zur Erweiterbarkeitsthese in <strong>der</strong> Diskurstheorie <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
Die Erweiterbarkeitsthese besagt, daß es ein zulässiges methodis<strong>ch</strong>es Vorgehen ist,<br />
wenn gegenwärtige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien si<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st auf eine vereinfa<strong>ch</strong>te Si<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Dinge konzentrieren und nur na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter aktuell in einem einzelnen<br />
Nationalstaat lebenden Mens<strong>ch</strong>en unbestimmten Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ts fragen, um allenfalls<br />
in einem zweiten S<strong>ch</strong>ritt die gefundenen Ergebnisse auf Fragen na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ge-<br />
255 Dazu oben S. 339 ff. (Diskursivität des Re<strong>ch</strong>ts).<br />
256 Dazu oben S. 345 ff. (Gesetzgebung, Verwaltung und Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung als reale Diskurse).<br />
358
e<strong>ch</strong>tigkeit gegenüber <strong>der</strong> Natur (Tiere, Pflanzen, unbelebte Entitäten), gegenüber<br />
künftigen Generationen, an<strong>der</strong>en Staaten o<strong>der</strong> unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern zu erweitern<br />
257 . Im Li<strong>ch</strong>te dieser These soll abs<strong>ch</strong>ließend in Grundzügen beleu<strong>ch</strong>tet werden,<br />
auf wel<strong>ch</strong>em Weg eine Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> au<strong>ch</strong> hier Maßstäbe entwikkeln<br />
könnte.<br />
I. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur bezei<strong>ch</strong>net mehr als die Umwelts<strong>ch</strong>utzprobleme<br />
<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>en; sie fragt na<strong>ch</strong> einer Überwindung des Anthropozentrismus.<br />
Hier ist die Diskurstheorie vor das Problem gestellt, daß Diskurse nur unter Mens<strong>ch</strong>en<br />
geführt werden können 258 . Bei diesem Verfahren <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
sind Tiere und Pflanzen (Biozentrismus) o<strong>der</strong> unbelebte Entitäten (Holismus) von<br />
vornherein keine taugli<strong>ch</strong>en Teilnehmer. Damit stellt si<strong>ch</strong> die Erweiterbarkeit no<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>wieriger dar, als bei <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition, die auf Interessen<br />
abstellen, und deshalb für ein (wie au<strong>ch</strong> immer konkretisiertes) Nutzenkalkül<br />
immerhin auf objektive Lebens- o<strong>der</strong> Bestandsinteressen von Tieren, Pflanzen o<strong>der</strong> sogar<br />
unbelebten Entitäten zurückgreifen könnten.<br />
Die Erweiterbarkeitsproblematik hat eine Parallele in <strong>der</strong> ökologis<strong>ch</strong>en Ethik.<br />
Dort wird diskutiert, ob Naturentitäten überhaupt eigene Re<strong>ch</strong>te haben können, o<strong>der</strong><br />
ob es notwendig nur um (einseitige) mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>ten gegenüber <strong>der</strong> Natur gehen<br />
müsse. Eine mögli<strong>ch</strong>e Antwort lautet, daß jedenfalls für die Zwecke des positiven<br />
Re<strong>ch</strong>ts eine Zuweisung von 'Re<strong>ch</strong>ten' zu Naturentitäten genauso mögli<strong>ch</strong> ist, wie sie<br />
bei juristis<strong>ch</strong>en Personen ges<strong>ch</strong>ieht. Für die Naturentität wird dadur<strong>ch</strong> eine mens<strong>ch</strong>enähnli<strong>ch</strong>e<br />
Persönli<strong>ch</strong>keit fingiert, um sie in den vollen Genuß <strong>der</strong> instrumentellen<br />
Kraft eines 'Re<strong>ch</strong>tes' (claim right) kommen zu lassen. Über juristis<strong>ch</strong>e Vertreter<br />
kann ein sol<strong>ch</strong>es 'Re<strong>ch</strong>t' dann geltend gema<strong>ch</strong>t werden 259 .<br />
Die Gedanken einer Personenfiktion und <strong>der</strong> Vertretungsmögli<strong>ch</strong>keit lassen si<strong>ch</strong><br />
zumindest für reale Diskurse fru<strong>ch</strong>tbar ma<strong>ch</strong>en. Bestimmte Diskursideale, etwa das<br />
<strong>der</strong> unbegrenzten Teilnehmers<strong>ch</strong>aft, könnten dadur<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> für Naturentitäten näherungsweise<br />
verwirkli<strong>ch</strong>t werden. Entlang dieser Entwicklungslinien wäre es beispielsweise<br />
denkbar, diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen an Verwaltungsverfahren<br />
zu entwickeln, na<strong>ch</strong> denen einem Baum, bevor er gefällt wird, mögli<strong>ch</strong>st vollständige<br />
Informationen zugeleitet und eine Mögli<strong>ch</strong>keit zur Stellungnahme eingeräumt werden<br />
muß. Die Erweiterung <strong>der</strong> Diskurstheorie auf Fragen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber<br />
<strong>der</strong> Natur ist folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t völlig ausges<strong>ch</strong>lossen.<br />
257 Dazu oben S. 114 ff. (Erweiterbarkeitsthese).<br />
258 So au<strong>ch</strong> J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 219 ff.; W. Kuhlmann, Anthropozentrismus<br />
(1989), S. 131 ff., beide m.w.N. Vgl. G. Skirbekk, Ethical Gradualism and Discourse Ethics<br />
(1993), S. 297 ff., 306 ff. – Zusammenhänge zwis<strong>ch</strong>en moral agent, moral subject und moral discussant.<br />
259 Vgl. zu dieser ni<strong>ch</strong>tanthropozentris<strong>ch</strong>en Lösungsmögli<strong>ch</strong>keit innerhalb eines na<strong>ch</strong> wie vor anthropozentris<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsverständnisses S. Emmenegger/A. Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er, Taking Nature's Rights Seriously<br />
(1994), S. 572 ff., 586 ff.<br />
359
II.<br />
Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber zukünftigen Generationen<br />
Eine Berücksi<strong>ch</strong>tigung zukünftiger Generationen ist in ähnli<strong>ch</strong>er Weise mögli<strong>ch</strong> wie<br />
bei <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur. Ohnehin gehören die Anliegen zukünftiger<br />
Generationen zu den Gegenständen, die dur<strong>ch</strong> aktuell lebende Vorfahren in<br />
Diskurse eingebra<strong>ch</strong>t werden. Darüber hinaus könnte dur<strong>ch</strong> den Gedanken <strong>der</strong><br />
Stellvertretung ein Diskurs fiktiv in die Zukunft verlängert werden.<br />
III. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft<br />
Die Chancen auf einen gesi<strong>ch</strong>erten Weltfrieden und damit au<strong>ch</strong> auf eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft dürften glei<strong>ch</strong>ermaßen davon abhängen, ob ein Weltre<strong>ch</strong>t<br />
begründet und effektiv dur<strong>ch</strong>gesetzt werden kann. Das ist aus denselben<br />
Gründen geboten wie die Institutionalisierung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen innerhalb<br />
<strong>der</strong> einzelnen Staatsordnung 260 .<br />
Im übrigen gelten die unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen im internationalen<br />
Maßstab genauso wie für den Einzelstaat. Die Grundre<strong>ch</strong>te auf Glei<strong>ch</strong>heit,<br />
optimierte Freiheiten und Demokratie sind universell begründet.<br />
Die mittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen hängt davon ab, ob man<br />
die Interaktion in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft als Diskurs begreifen kann. Dagegen<br />
spri<strong>ch</strong>t vor allem, daß die zwis<strong>ch</strong>enstaatli<strong>ch</strong>e Beziehung häufig als 'Naturzustand'<br />
angesehen wird, in dem nur strategis<strong>ch</strong>es Handeln zählt 261 . An<strong>der</strong>erseits bietet die<br />
Etablierung einer effektiv dur<strong>ch</strong>setzbaren Völkerre<strong>ch</strong>tsordnung Anlaß, die Verfahren<br />
wie die Re<strong>ch</strong>tsverfahren im innerstaatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t zu behandeln, also als reale Diskurse,<br />
die an Ri<strong>ch</strong>tigkeit orientiert sein müssen und für die si<strong>ch</strong> deshalb diskurstheoretis<strong>ch</strong>e<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen formulieren lassen. Dadur<strong>ch</strong> würde die Diskurstheorie zu<br />
einer Basistheorie <strong>der</strong> Völkerre<strong>ch</strong>tsordnung.<br />
Bei <strong>der</strong> Formulierung diskurstheoretis<strong>ch</strong>er Anfor<strong>der</strong>ungen an einen völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Diskurs ist allerdings zu bea<strong>ch</strong>ten, daß es immer um eine Annäherung an Diskursideale<br />
geht, wie sie 'na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen' ist 262 . Die Umstände sind<br />
im internationalen Maßstab indes an<strong>der</strong>e als auf nationaler Ebene. So könnte es si<strong>ch</strong><br />
beispielsweise als unangemessen erweisen, wenn gefor<strong>der</strong>t wird, im Interesse einer<br />
mögli<strong>ch</strong>st unbegrenzten Teilnehmers<strong>ch</strong>aft au<strong>ch</strong> die Vertreter <strong>der</strong> kleinsten Staaten an<br />
je<strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung über Einzelfragen <strong>der</strong> Völkerre<strong>ch</strong>tsordnung zu beteiligen.<br />
Do<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint es, ohne daß dies hier vertieft werden könnte, mögli<strong>ch</strong>, wenigstens<br />
für die Verfahren <strong>der</strong> internationalen Organisationen (UNO, WTO u.v.m.) Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
zu formulieren, die au<strong>ch</strong> dort eine mittelbare Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
im Völkerre<strong>ch</strong>t bewirken.<br />
260 Dazu oben S. 333 (Institutionalisierung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
261 Vgl. den Kontext <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Aussage 'homo homini lupus' bei T. Hobbes, Vom Bürger<br />
(1642), Widmung: »Nun sind si<strong>ch</strong>er beide Sätze wahr: Der Mens<strong>ch</strong> ist ein Gott für den Mens<strong>ch</strong>en,<br />
und: Der Mens<strong>ch</strong> ist ein Wolf für den Mens<strong>ch</strong>en; jener, wenn man die Bürger untereinan<strong>der</strong>, dieser,<br />
wenn man die Staaten untereinan<strong>der</strong> verglei<strong>ch</strong>t.«<br />
262 Dazu oben S. 221 (T Dr ).<br />
360
IV. Zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern<br />
Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern ist das spezifis<strong>ch</strong>e Anliegen des Feminismus.<br />
Dabei gehen die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en feministis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tungen (Liberalfeminismus,<br />
Relationalfeminismus, Radikalfeminismus u.v.m.) von vers<strong>ch</strong>iedenen Diskriminierungsthesen<br />
aus 263 . Diese lassen si<strong>ch</strong> sowohl <strong>der</strong> unmittelbaren wie <strong>der</strong><br />
mittelbaren Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen zuordnen und in eine Diskurstheorie<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> einbinden 264 . In <strong>der</strong> unmittelbaren Begründung geht es<br />
dabei um die Konkretisierung des Grundre<strong>ch</strong>ts auf Glei<strong>ch</strong>heit. Insoweit genügt die<br />
Klarstellung, daß das Glei<strong>ch</strong>heitsgebot au<strong>ch</strong> und vor allem eine Glei<strong>ch</strong>heit unter den<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern eins<strong>ch</strong>ließen muß.<br />
S<strong>ch</strong>wieriger stellt si<strong>ch</strong> das feministis<strong>ch</strong>e Anliegen bei <strong>der</strong> mittelbaren Begründung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen dar. Hier können, je na<strong>ch</strong>dem, wel<strong>ch</strong>e Diskriminierungsthese<br />
im realen Diskurs berücksi<strong>ch</strong>tigt werden soll, zusätzli<strong>ch</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an Verfahren begründet werden. Es ist ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen, daß selbst Quotenregelungen<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründet werden könnten, wenn sie allein eine den Umständen<br />
na<strong>ch</strong> angemessene Annäherung an die Diskursideale <strong>der</strong> unbegrenzten<br />
Teilnehmers<strong>ch</strong>aft und vollkommenen Zwangsfreiheit zu si<strong>ch</strong>ern vermögen. Dabei<br />
kann es ges<strong>ch</strong>ehen, daß unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e feministis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> zu diskurstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen mit ganz vers<strong>ch</strong>iedener Stoßri<strong>ch</strong>tung führen, etwa <strong>der</strong> Liberalfeminismus<br />
im Sinne einer verstärkten Teilnehmers<strong>ch</strong>aft, <strong>der</strong> Radikalfeminismus mit<br />
dem Ziel größerer Zwangsfreiheit und <strong>der</strong> Relationalfeminismus gemäß dem Anliegen<br />
größtmögli<strong>ch</strong>er Vorurteilsfreiheit 265 .<br />
263 Dazu H. Pauer-Stu<strong>der</strong>, Ethik und Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terdifferenz (1996), S. 87 ff.; vgl. S. Emmenegger, Feministis<strong>ch</strong>e<br />
Kritik des Vertragsre<strong>ch</strong>ts (1999), S. 5 ff. – Entwicklungslinien <strong>der</strong> feministis<strong>ch</strong>en Jurisprudenz.<br />
264 Zu einem Versu<strong>ch</strong>, in kritis<strong>ch</strong>er Distanz zu Habermas dessen Diskurstheorie in Ri<strong>ch</strong>tung auf einen<br />
interaktiven, relationalen Universalismus weiterzuentwickeln, vgl. S. Benhabib, Der verallgemeinerte<br />
und <strong>der</strong> konkrete An<strong>der</strong>e (1989), S. 454 ff. Hierzu und zu an<strong>der</strong>en »Ans<strong>ch</strong>lußmögli<strong>ch</strong>keiten«<br />
des Feminismus an diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Ansätze S. Lang, Feministis<strong>ch</strong>e (Diskurs-)Ethik?<br />
(1990), S. 80 ff.<br />
265 Vgl. S. Emmenegger, Feministis<strong>ch</strong>e Kritik des Vertragsre<strong>ch</strong>ts (1999), S. 27 ff. – unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tskritik einzelner feministis<strong>ch</strong>er Ansätze.<br />
361
V. Ergebnisse<br />
Eine Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie sie hier in Grundzügen skizziert wurde,<br />
läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> jenseits <strong>der</strong> Themenkreise, die zum Mindestgehalt einer politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zählen, zu einer umfassenden Theorie ausbauen. Die hier vorgestellte<br />
anthropozentris<strong>ch</strong>e, generationsbes<strong>ch</strong>ränkte, staatsbezogene und ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terblinde<br />
Theorie ist für Erweiterungen offen, ohne daß an den Grundzügen <strong>der</strong> Begründung<br />
na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> etwas geän<strong>der</strong>t werden müßte.<br />
362
S<strong>ch</strong>luß:<br />
Die Untersu<strong>ch</strong>ungsergebnisse im Überblick<br />
Die Leitfrage dieser Untersu<strong>ch</strong>ung: 'Wie kann Re<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>t sein?' ist im Ergebnis damit<br />
zu beantworten, daß zu einer prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung und -erzeugung<br />
keine Alternative besteht. In einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> können<br />
sowohl universelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen begründet, als au<strong>ch</strong> diejenigen Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln bestimmt werden, die in den realen Diskursen<br />
des Re<strong>ch</strong>ts und <strong>der</strong> Politik gere<strong>ch</strong>te Re<strong>ch</strong>tsnormen erzeugen und si<strong>ch</strong>ern. Der<br />
Weg dazu ließ si<strong>ch</strong> hier nur in Grundzügen skizzieren. Wenn die Arbeit dabei zeigen<br />
konnte, daß au<strong>ch</strong> aus juristis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t in den prozeduralen <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ein vielverspre<strong>ch</strong>endes Begründungsmodell für 'ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t' zu finden ist,<br />
dann hat sie ihr wi<strong>ch</strong>tigstes Ziel errei<strong>ch</strong>t.<br />
I. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Moral und Re<strong>ch</strong>t<br />
1. Der tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und regelmäßig festzustellende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbezug des positiven<br />
Re<strong>ch</strong>ts ist ni<strong>ch</strong>t bloß kontingent, son<strong>der</strong>n beruht auf einem inhaltsoffenen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>,<br />
dessen Erhebung notwendig mit <strong>der</strong> Qualifizierung als 'Re<strong>ch</strong>t' einhergeht.<br />
Sowohl in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tstheorie als au<strong>ch</strong> in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsdogmatik läßt si<strong>ch</strong> eine<br />
spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen entwickeln, aus <strong>der</strong> die<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie in einem neuen Li<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>einen. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
wird dadur<strong>ch</strong> zu einem Untersu<strong>ch</strong>ungsgegenstand <strong>der</strong> Jurisprudenz. Aus juristis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t muß si<strong>ch</strong> eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie bemühen, die philosophis<strong>ch</strong>e Ebene<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung mit <strong>der</strong> dogmatis<strong>ch</strong>en Ebene <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung<br />
zu verbinden.<br />
II.<br />
Begriff und Klassifizierung prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
2. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist Teil <strong>der</strong> Moral. Die notwendigen Elemente des <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffs<br />
treten deutli<strong>ch</strong> hervor, wenn man ihn zunä<strong>ch</strong>st unabhängig vom Begriff<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm definiert. Dann zeigt si<strong>ch</strong>, daß das <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikat<br />
dur<strong>ch</strong> Handlungs-, Sozial-, Ri<strong>ch</strong>tigkeits-, Sollens- und Glei<strong>ch</strong>heitsbezug geprägt ist.<br />
Im Begriff <strong>der</strong> Norm und in ihrem pragmatis<strong>ch</strong>en Gehalt sind hingegen die meisten<br />
dieser Elemente bereits enthalten, so daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen vereinfa<strong>ch</strong>t als Normen<br />
über sozialbezogene Handlungsweisen begriffen werden können. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
stellt si<strong>ch</strong> dann als Inbegriff <strong>der</strong> Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen dar. Die Behauptung<br />
<strong>der</strong> Geltung kann si<strong>ch</strong> auf die Begründung o<strong>der</strong> Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
stützen. Damit ist ein <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff gefunden, <strong>der</strong> sowohl für<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungs- als au<strong>ch</strong> für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien als<br />
Grundlage geeignet ist.<br />
3. Unter den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien sind diejenigen beson<strong>der</strong>s bedeutsam, die<br />
si<strong>ch</strong> mit politis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> befassen (S<strong>ch</strong>werpunktthese). Sie werden gemeinhin<br />
na<strong>ch</strong> dem Darstellungsmittel klassifiziert (Vertrag, Beoba<strong>ch</strong>ter, Diskurs). Eine<br />
363
sol<strong>ch</strong>e Einteilung ist allein wenig aussagekräftig, weil praktis<strong>ch</strong> je<strong>der</strong> Inhalt im Gewand<br />
einer Vertragstheorie präsentiert werden kann (Indifferenzeinwand). Dagegen<br />
vermag die Klassifizierung na<strong>ch</strong> Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie die<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Konzeptionen <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, die von den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
jeweils verfolgt werden, besser zu betonen. Sowohl die Formen des<br />
Vernunftgebrau<strong>ch</strong>s (pragmatis<strong>ch</strong>, ethis<strong>ch</strong>, moralis<strong>ch</strong>) als au<strong>ch</strong> die in den <strong>Theorien</strong><br />
verwendeten Darstellungsmittel (Vertrag, Beoba<strong>ch</strong>ter, Diskurs) sind demgegenüber<br />
untergeordnete Unters<strong>ch</strong>eidungskriterien.<br />
4. Trotz des sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Anwendungsberei<strong>ch</strong>s, den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> behandeln (Mikro-, Meso-, Makrotheorien), bleiben sie verglei<strong>ch</strong>bar<br />
(Skalierbarkeitsthese). Eine vollständige Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
muß mindestens die fünf Themenkreise 'Begründungsmodell', 'Institutionalisierung',<br />
'Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te', 'Demokratie' und 'Güterverteilung' behandeln (Mindestgehaltsthese).<br />
Als beson<strong>der</strong>e, ni<strong>ch</strong>t zum Mindestkanon gehörige Themenkreise können<br />
die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur, in <strong>der</strong> Völkergemeins<strong>ch</strong>aft, gegenüber<br />
zukünftigen Generationen und unter den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern gelten. In <strong>der</strong> Regel läßt si<strong>ch</strong><br />
eine unvollständige Theorie ohne Argumentationsbru<strong>ch</strong> vervollständigen (Ergänzbarkeitsthese)<br />
und verliert ihre Gültigkeit ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong>, daß sie na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> auf die<br />
beson<strong>der</strong>en Themenkreise ausgedehnt wird (Erweiterbarkeitsthese).<br />
5. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die För<strong>der</strong>ung von Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit dur<strong>ch</strong><br />
Verfahren. Sie tritt abs<strong>ch</strong>ließend in vier Formen auf. Nur die reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
läßt eine Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu, die ohne verfahrensexterne<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skriterien und ohne einen übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen auskommt.<br />
Die quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bedarf dagegen immer eines<br />
übergeordneten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmens. Die beiden 'dienenden' Formen, die unvollkommene<br />
und die vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, eignen si<strong>ch</strong> allein ni<strong>ch</strong>t<br />
zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung, son<strong>der</strong>n sind auf verfahrensexterne Kriterien angewiesen.<br />
6. <strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im engeren Sinne sind nur sol<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Theorien</strong>, die zur Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf Verfahren zurückgreifen. Es<br />
handelt si<strong>ch</strong> dabei um genau diejenigen <strong>Theorien</strong>, die <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie zuzure<strong>ch</strong>nen sind. Für diese<br />
<strong>Theorien</strong> ist kennzei<strong>ch</strong>nend, daß sie materiale Annahmen so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> wie mögli<strong>ch</strong><br />
halten und die prozeduralen Begründungselemente so stark wie mögli<strong>ch</strong> ausbauen.<br />
Als prozedurale <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im weiteren Sinne kann man au<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien<br />
verstehen; <strong>der</strong>en Verfahren bleiben aber auf verfahrensexterne<br />
Kriterien zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung angewiesen.<br />
III. Einige <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
7. Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition verbindet eine grundlegende<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis. Ihr Credo ist, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t begründet<br />
werden kann. Soweit die <strong>Theorien</strong> auf Verfahren setzen, um Ents<strong>ch</strong>eidungen über<br />
Handlungsweisen herbeizuführen, wird diesen Verfahren keine gere<strong>ch</strong>tigkeitsbegründende<br />
Wirkung zugeordnet; diese sind vielmehr bloß Mittel zur Errei<strong>ch</strong>ung<br />
eines ni<strong>ch</strong>tprozedural bestimmten Zwecks.<br />
364
8. Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition halten eine bestimmte Konzeption<br />
des guten Lebens für allgemeinverbindli<strong>ch</strong>; <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beurteilt si<strong>ch</strong> in Abhängigkeit<br />
von dem als wertvoll erkannten 'Guten'. Die materiellen Konzeptionen<br />
des Guten in Naturre<strong>ch</strong>tslehren und im Kommunitarismus stimmen mit <strong>der</strong> formellen<br />
Konzeption des Guten im Utilitarismus darin überein, daß ihre Ziele selbst ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr dur<strong>ch</strong> Verfahren überprüft, son<strong>der</strong>n nur no<strong>ch</strong> gesetzt werden. Insoweit kann<br />
man von einem partiellen Begründungsverzi<strong>ch</strong>t spre<strong>ch</strong>en. Bei Naturre<strong>ch</strong>tslehren<br />
wird <strong>der</strong> materielle Begründungsmaßstab für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ('göttli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'),<br />
beim Utilitarismus das formelle <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip ('größtes Glück <strong>der</strong><br />
größten Zahl') und beim Kommunitarismus die Bindung an eine kollektive Konzeption<br />
des Guten ('Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft') ni<strong>ch</strong>t mehr hinterfragt. Insoweit sind die<br />
<strong>Theorien</strong> nur bekenntnis-, ni<strong>ch</strong>t erkenntnisfähig.<br />
9. Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition sind explizit – o<strong>der</strong> bei älteren<br />
Sozialvertragstheorien implizit – <strong>Theorien</strong> des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens (rational<br />
<strong>ch</strong>oice theories, decision theories). Als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien beurteilen sie die Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
einer Handlungsweise allein mit individueller Nutzenmaximierung. Trotz des<br />
gemeinsamen methodis<strong>ch</strong>en Ausgangspunktes begründen diese <strong>Theorien</strong> sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Ergebnisse als gere<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ungere<strong>ch</strong>t, je na<strong>ch</strong>dem, wel<strong>ch</strong>es Nutzenkalkül<br />
bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung zugrundegelegt wird.<br />
10. Die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition fragen na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit eines<br />
Handelns für alle Betroffenen. Sie kommen in den Darstellungsformen <strong>der</strong> Sozialvertrags-,<br />
Beoba<strong>ch</strong>ter- und Diskurstheorien vor. Trotz vielfa<strong>ch</strong>er Ähnli<strong>ch</strong>keiten im<br />
Ergebnis unters<strong>ch</strong>eiden sie si<strong>ch</strong> grundlegend in <strong>der</strong> Methodik <strong>der</strong> Begründung.<br />
IV. Analyse und Kritik von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
11. Gegen den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskeptizismus <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en 'Antitheorien'<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> spri<strong>ch</strong>t erstens, daß sie die Rationalitätspotentiale prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t realisieren (Inadäquatheitsargument), und zweitens, daß sie zur<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit sozialer Ordnung Aussagen treffen, die Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Handelns aber<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig für positiv ni<strong>ch</strong>t begründbar erklären (Inakzeptabilitätsargument).<br />
12. Abgesehen vom Utilitarismus, dessen Nutzenmaximierungsideal formal definiert<br />
ist, sind alle <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en Grundposition einem Bekenntnis zu<br />
materiellen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen verpfli<strong>ch</strong>tet, das sie selbst ni<strong>ch</strong>t positiv begründen<br />
können. Ihre Konzeption des Guten liegt in einem Traditionalismus o<strong>der</strong> in<br />
einer religiösen o<strong>der</strong> sonst materialen Wertvorstellung, die zwar einem Wandel unterworfen<br />
sein kann, aber letztli<strong>ch</strong> immer einen unbegründeten Rest enthält. Mit<br />
dieser Begründungsabstinenz verhält es si<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong> wie bei den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition: Sie ist angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> prozeduralen Begründungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
inadäquat und angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> sozialen Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
inakzeptabel. Das bloße Bekenntnis zu einer kollektiven Konzeption des Guten,<br />
sei es material (Naturre<strong>ch</strong>tslehren, Kommunitarismus) o<strong>der</strong> formal (Utilitarismus),<br />
kann die For<strong>der</strong>ung na<strong>ch</strong> einer Begründung ri<strong>ch</strong>tigen Re<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>t befriedigen.<br />
13. Im Hinblick auf das strategis<strong>ch</strong>e Handeln unter egoistis<strong>ch</strong>en Nutzenmaximierern,<br />
das bei den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition den<br />
Ausgangspunkt bildet, verfügt die Spieltheorie über einen gegenüber älteren Sozial-<br />
365
vertragsmodellen genaueren Begründungsansatz. Die Spieltheorie kann aber ni<strong>ch</strong>t<br />
die normativen Argumente liefern, die zu einer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung no<strong>ch</strong> fehlen.<br />
Die si<strong>ch</strong> we<strong>ch</strong>selseitig wi<strong>der</strong>spre<strong>ch</strong>enden Ansätze <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien<br />
zeigen, daß ein universelles Nutzenkalkül ni<strong>ch</strong>t bestimmbar ist. Dieses Defizit läßt<br />
si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> überbrücken, daß – gewissermaßen dur<strong>ch</strong> die Hintertür –<br />
moralis<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen <strong>der</strong> Nutzenmaximierung eingeführt werden, denn damit<br />
verliert die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ihren Charakter als Ents<strong>ch</strong>eidungstheorie. Die<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition stellen si<strong>ch</strong> also insgesamt<br />
als prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien dar, <strong>der</strong>en konkrete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
mit so gewi<strong>ch</strong>tigen Unwägbarkeiten belastet ist und zu so inadäquaten<br />
Sozialmodellen führt, daß die <strong>Theorien</strong> im Ergebnis ni<strong>ch</strong>t überzeugen können.<br />
14. Au<strong>ch</strong> die <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition bieten nur teilweise eine<br />
hinrei<strong>ch</strong>ende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien und<br />
Standpunkttheorien begegnen s<strong>ch</strong>on im methodis<strong>ch</strong>en Ansatz dur<strong>ch</strong>greifenden Bedenken;<br />
sie können den Verda<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> konstruktiven Beliebigkeit ihrer moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gehalte ni<strong>ch</strong>t ausräumen. Diskurstheorien verspre<strong>ch</strong>en am ehesten, eine befriedigende<br />
Antwort auf die Frage na<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Re<strong>ch</strong>t geben zu können.<br />
V. Grundzüge einer Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
15. <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen lassen si<strong>ch</strong> unmittelbar begründen, indem man ihre<br />
diskurstheoretis<strong>ch</strong>e o<strong>der</strong> diskursive Notwendigkeit zeigt; sie lassen si<strong>ch</strong> mittelbar<br />
begründen, indem man die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln definiert,<br />
unter denen reale Diskurse gere<strong>ch</strong>te Ergebnisse hervorbringen. Es bietet si<strong>ch</strong><br />
an, diese Begründungsformen zu einer kombinierten Begründungsstrategie zu verbinden.<br />
16. Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Demokratie lassen si<strong>ch</strong> weitgehend unmittelbar begründen,<br />
also ohne Rückgriff auf konkrete Diskurse. Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Präsuppositionsanalyse,<br />
erweitert um s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e empiris<strong>ch</strong>e Prämissen, kann dabei zeigen, daß<br />
die Grundsätze <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität, <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Meinungsäußerungsfreiheit,<br />
<strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit im Diskurs und <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung<br />
bei je<strong>der</strong> Kommunikation über <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> notwendig vorausgesetzt<br />
werden müssen (diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit). Sie sind damit aber<br />
ni<strong>ch</strong>t ausnahmslos, son<strong>der</strong>n nur 'im Prinzip' objektiv anerkannt, haben also no<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t den Status vorpositiver Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te. Mit Hilfe des hypothetis<strong>ch</strong>en idealen<br />
Diskurses – einem Verfahren <strong>der</strong> reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> – lassen si<strong>ch</strong> darüber<br />
hinaus einzelne <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien begründen (diskursive Notwendigkeit).<br />
Dazu gehören ein umfassendes System öffentli<strong>ch</strong>er und privater Freiheiten,<br />
<strong>der</strong> allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz, das Gebot <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit und ein Grundre<strong>ch</strong>t<br />
auf Demokratie. Die spezifis<strong>ch</strong>e Abwägung <strong>der</strong> Freiheitsre<strong>ch</strong>te untereinan<strong>der</strong>,<br />
die Begründung einer Eigentumsordnung und die konkrete Institutionalisierung eines<br />
demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates folgen hingegen ni<strong>ch</strong>t aus einem idealen Diskurs.<br />
Die unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen müssen in <strong>der</strong> Form zwingenden<br />
Re<strong>ch</strong>ts institutionalisiert werden, weil nur die Institutionalisierung von Normen,<br />
ihre Bewehrung mit staatli<strong>ch</strong>em Zwang, die Normdur<strong>ch</strong>setzung und damit die<br />
Realisierung von Kooperationsgewinnen in <strong>der</strong> Gemeins<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong>ern kann.<br />
366
17. Juristis<strong>ch</strong>e Verfahren lassen si<strong>ch</strong> sinnvoll als reale Diskurse begreifen. Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln können dann so formuliert werden,<br />
daß sie <strong>der</strong> regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen folgen. Eine<br />
Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ermögli<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> eine weitergehende, konkretisierende<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung jenseits <strong>der</strong> unmittelbar begründeten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>srahmen'). Sie wird so zu einer Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaates.<br />
18. Ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Politik kann sinnvoll als realer Diskurs zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
verstanden werden. Dadur<strong>ch</strong> werden die Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln, die Habermas für sein Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik formuliert<br />
hat, unmittelbar als Gebote rekonstruierbar, die Diskursideale näherungsweise<br />
verwirkli<strong>ch</strong>en. Der S<strong>ch</strong>utz öffentli<strong>ch</strong>er Meinungsbildung und zivilgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er<br />
Assoziation sowie die Regulierung von Massenmedien müssen dann<br />
dem Umstand Re<strong>ch</strong>nung tragen, daß diese politis<strong>ch</strong>en Instrumente für die Erzeugung<br />
gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts als Verfahren prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> konstitutiv sind.<br />
Vereinfa<strong>ch</strong>t ausgedrückt: Ohne einen wirksamen S<strong>ch</strong>utz politis<strong>ch</strong>er Diskurse vor<br />
strategis<strong>ch</strong>en Interessen ist die Begründung gere<strong>ch</strong>ten Re<strong>ch</strong>ts jedenfalls ni<strong>ch</strong>t optimal<br />
mögli<strong>ch</strong>. Neue Verfahren, wie etwa die 'deliberative Abstimmung', können einen<br />
prozeduralen Beitrag zu diesem Optimierungsprozeß leisten.<br />
19. Im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat unterliegen Ents<strong>ch</strong>eidungen über die soziale<br />
Ordnung dem relativen Primat des <strong>Prozedurale</strong>n. Damit verlagert si<strong>ch</strong> die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
auf die Anfor<strong>der</strong>ungen, die an Verfahren gestellt werden<br />
müssen. Die Verfahren müssen so gestaltet sein, daß sie entwe<strong>der</strong> die Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit<br />
erhöhen, ein s<strong>ch</strong>on als gere<strong>ch</strong>t begründetes Ergebnis real umzusetzen (unvollkommen<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>), o<strong>der</strong> sie müssen si<strong>ch</strong>erstellen, daß jedes Ergebnis,<br />
solange es innerhalb materieller <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorgaben liegt, als definitiv<br />
gere<strong>ch</strong>t angesehen werden kann (quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>). Indem die<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen diskurstheoretis<strong>ch</strong> begründet werden, kann die Diskurstheorie zur<br />
Basistheorie des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates werden. Für die vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Verfahren im Re<strong>ch</strong>t (Verfassunggebung, parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung, Verwaltungs-<br />
und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren) gelingt dies, indem die Verfahren als reale Diskurse<br />
betra<strong>ch</strong>tet werden. Innerhalb <strong>der</strong> Politik kann diese Betra<strong>ch</strong>tungsweise auf die<br />
Re<strong>ch</strong>tspolitik ausgedehnt werden und dabei neben dem 'ri<strong>ch</strong>tigen' Wahlkampf vor<br />
allem Habermas Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik mit diskurstheoretis<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
begleiten. Im Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft bleibt die Leistung <strong>der</strong> Diskurstheorie<br />
indes auf die Metaebene des Wirts<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>ts bes<strong>ch</strong>ränkt.<br />
20. Eine Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, wie sie hier in Grundzügen skizziert<br />
wurde, läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> jenseits <strong>der</strong> Themenkreise, die zum Mindestgehalt einer politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie zählen, zu einer umfassenden Theorie ausbauen. Die<br />
hier vorgestellte anthropozentris<strong>ch</strong>e, generationsbes<strong>ch</strong>ränkte, staatsbezogene und<br />
ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terblinde Theorie ist für Erweiterungen offen, ohne daß an den Grundzügen<br />
<strong>der</strong> Begründung na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> etwas geän<strong>der</strong>t werden müßte.<br />
367
368
Anhang:<br />
Definitionen, Theoreme und Prinzipien<br />
A: Es ist wüns<strong>ch</strong>enswert, daß Mens<strong>ch</strong>en ihr Verhalten nur na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> freien<br />
Annahme von Prinzipien ri<strong>ch</strong>ten, die sie, na<strong>ch</strong> genügen<strong>der</strong> Reflexion und<br />
Beratung, als gültig beurteilen. (Ninos 'Grundnorm des moralis<strong>ch</strong>en Diskurses',<br />
Alexys 'Autonomieprinzip', S. 251)<br />
D: Ri<strong>ch</strong>tig und damit gültig sind genau die Normen, die in einem idealen<br />
Diskurs von jedem als ri<strong>ch</strong>tig beurteilt werden würden. (Alexys 'Diskursprinzip',<br />
S. 231)<br />
D 1 :<br />
D 1A :<br />
D 1D :<br />
D 1G :<br />
D 1K :<br />
D 1N :<br />
D 1P :<br />
D 1RC :<br />
D 2 :<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns in bezug<br />
auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in<br />
handlungsbezogener Definition, S. 50)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im axiologis<strong>ch</strong>en Sinn ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Werthaftigkeit<br />
eines Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in axiologis<strong>ch</strong>er Definition, S. 55)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im deontologis<strong>ch</strong>en Sinn ist die Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit<br />
eines Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit.<br />
('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in deontologis<strong>ch</strong>er Definition, S. 55)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne des Prinzips minimax relativer Konzession ist die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen<br />
Handelns, auf das si<strong>ch</strong> egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer einigen würden,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> gegenseitig die mindestens erfor<strong>der</strong>li<strong>ch</strong>en relativen Zugeständnisse<br />
ma<strong>ch</strong>ten. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' bei Gauthier, S. 191)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> mit kantis<strong>ch</strong>er Grundposition ist die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen<br />
Handelns, auf das si<strong>ch</strong> alle in einer Situation <strong>der</strong> Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit<br />
einigen (würden). ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in kantis<strong>ch</strong>en <strong>Theorien</strong>, S. 199)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
in normbezogener Definition, S. 75)<br />
Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die Geltung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen als<br />
Re<strong>ch</strong>tsnormen. ('Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in normbezogener Definition,<br />
S. 78)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens ist die<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit desjenigen sozial- und glei<strong>ch</strong>heitsbezogenen<br />
Handelns, auf das si<strong>ch</strong> egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer einigen (würden).<br />
('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens, S. 170)<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über das Anführen von Gründen<br />
für o<strong>der</strong> gegen die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. (Definition <strong>der</strong> '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie',<br />
S. 76)<br />
369
D 2 ':<br />
D 2N :<br />
D 3 :<br />
D 3 ':<br />
D 3a :<br />
D 3b :<br />
D 3c :<br />
D 3d :<br />
D 4 :<br />
D 4 ':<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über das Anführen von<br />
Gründen für o<strong>der</strong> gegen die Behauptung <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit<br />
einer Handlungsweise in bezug auf an<strong>der</strong>e unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong><br />
Glei<strong>ch</strong>heit. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie' in handlungsbezogener Definition,<br />
S. 77)<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie ist eine Theorie über die Geltung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie' in normbezogener Definition,<br />
S. 77)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
die dur<strong>ch</strong> Verfahren errei<strong>ch</strong>t wird (Verfahrensgere<strong>ch</strong>tigkeit). (Definition<br />
<strong>der</strong> 'prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 119)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
die unter den Anwendungsbedingungen eines als gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>nd<br />
begründeten Verfahrens dur<strong>ch</strong> die korrekte Einhaltung <strong>der</strong> Verfahrensregeln<br />
errei<strong>ch</strong>t wird. ('<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' in verfahrensqualifizieren<strong>der</strong><br />
Definition, S. 121)<br />
Vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (perfect procedural justice) ist diejenige<br />
prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> ein Verfahren mit Si<strong>ch</strong>erheit eine<br />
angemessene Annäherung an ein verfahrensunabhängig als gere<strong>ch</strong>t begründetes<br />
Ergebnis bewirkt. (Definition <strong>der</strong> 'vollkommenen prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 125)<br />
Unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (imperfect procedural justice)<br />
ist diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> ein Verfahren ni<strong>ch</strong>t mit Si<strong>ch</strong>erheit<br />
eine angemessene Annäherung an ein verfahrensunabhängig als<br />
gere<strong>ch</strong>t begründetes Ergebnis bewirkt. (Definition <strong>der</strong> 'unvollkommenen<br />
prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 126)<br />
Reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (pure procedural justice) ist diejenige prozedurale<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> ein Verfahren mit Si<strong>ch</strong>erheit ein gere<strong>ch</strong>tes<br />
Ergebnis bewirkt, wobei es kein verfahrensunabhängiges Kriterium für<br />
die Beurteilung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit gibt (Definitionswirkung).<br />
(Definition <strong>der</strong> 'reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 127)<br />
Quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (quasi-pure procedural justice) ist<br />
diejenige prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> ein Verfahren ni<strong>ch</strong>t mit Si<strong>ch</strong>erheit<br />
ein gere<strong>ch</strong>tes Ergebnis bewirkt, wobei es kein verfahrensunabhängiges<br />
Kriterium für die Beurteilung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit gibt.<br />
(Definition <strong>der</strong> 'quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 128)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>, die die Behauptung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> mit Verfahren begründen. (Definition <strong>der</strong> 'prozeduralen<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie', S. 132)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>, die die Behauptung<br />
<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Handelns in bezug auf an<strong>der</strong>e<br />
unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit mit Verfahren begründen. ('<strong>Prozedurale</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie' in handlungsbezogener Definition, S. 133)<br />
370
D 4E :<br />
D 4K :<br />
D 4N :<br />
D 4RC :<br />
D Di :<br />
D Dr :<br />
D F :<br />
D F ':<br />
D H :<br />
D M :<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien sind <strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen<br />
die reale Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dadur<strong>ch</strong> geför<strong>der</strong>t wird, daß man<br />
ein als gere<strong>ch</strong>t begründetes Verfahren, dessen Anwendungsbedingungen<br />
vorliegen, korrekt dur<strong>ch</strong>führt. (Definition <strong>der</strong> 'prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorie',<br />
S. 133)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition sind sol<strong>ch</strong>e, na<strong>ch</strong><br />
denen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis<br />
einer autonomiewahrenden Prozedur P sein kann. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien'<br />
<strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition, S. 199)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> sind <strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen eine<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis einer<br />
bestimmten Prozedur P sein kann. ('<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie' in<br />
normbezogener Definition, S. 132)<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sind <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien,<br />
na<strong>ch</strong> denen eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm N genau dann ri<strong>ch</strong>tig ist,<br />
wenn sie das Ergebnis einer Prozedur P des rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens sein<br />
kann. ('<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien' als <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens,<br />
S. 170)<br />
Ein idealer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs ist ein Diskurs, bei dem »unter den Bedingungen<br />
unbegrenzter Zeit, unbegrenzter Teilnehmers<strong>ch</strong>aft und vollkommener<br />
Zwanglosigkeit im Wege <strong>der</strong> Herstellung vollkommener<br />
spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-begriffli<strong>ch</strong>er Klarheit, vollkommener empiris<strong>ch</strong>er Informiertheit,<br />
vollkommener Fähigkeit und Bereits<strong>ch</strong>aft zum Rollentaus<strong>ch</strong> und<br />
vollkommener Vorurteilsfreiheit die Antwort auf eine praktis<strong>ch</strong>e Frage<br />
gesu<strong>ch</strong>t wird.« (Alexys Definition des 'idealen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses',<br />
S. 219)<br />
Ein realer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs ist ein Diskurs, bei dem unter Bedingungen,<br />
die so weit, wie es na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen ist, denen des<br />
idealen Diskurses angenähert sind, mindestens aber den Verzi<strong>ch</strong>t aller Beteiligten<br />
auf die absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ausübung von Zwang dur<strong>ch</strong> Gewalt und<br />
Drohung beinhalten, die Antwort auf eine praktis<strong>ch</strong>e Frage gesu<strong>ch</strong>t wird.<br />
(Definition des 'realen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses', S. 219)<br />
Fairneß ist <strong>der</strong> Inbegriff <strong>der</strong> Verfahrensri<strong>ch</strong>tigkeit bei sol<strong>ch</strong>en Prozeduren<br />
und ihrer Dur<strong>ch</strong>führung (Prozeß), die selbst ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientiert sind.<br />
(Definition <strong>der</strong> 'Fairneß', S. 122)<br />
Fairneß ist genau das, was in <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Ergebnisses ausma<strong>ch</strong>t. (Synonymität von 'Fairneß'<br />
und 'prozeduraler <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>', S. 123)<br />
Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle mögli<strong>ch</strong>erweise<br />
Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.«<br />
(Habermas 'Diskursprinzip', S. 240)<br />
Materiale (substantielle) <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> ist die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> eines Ergebnisses<br />
(Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit). (Definition <strong>der</strong> 'materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>',<br />
S. 119)<br />
371
D N :<br />
D NG :<br />
D P :<br />
D R :<br />
Eine Norm ist die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en Operators (Gebot, Verbot,<br />
Erlaubnis) mit einer Handlungsweise. (Definition <strong>der</strong> 'Norm', S. 71)<br />
Eine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm ist die Verbindung eines deontis<strong>ch</strong>en Operators<br />
(Gebot, Verbot, Erlaubnis) mit einer sozialbezogenen Handlungsweise.<br />
(Definition <strong>der</strong> '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm', S. 73)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> sind <strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen eine Aussage genau<br />
dann wahr o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur<br />
sein kann. (Definition <strong>der</strong> 'prozeduralen Theorie', S. 132)<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Theorien</strong> praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit sind <strong>Theorien</strong>, na<strong>ch</strong> denen<br />
eine normative Aussage N genau dann ri<strong>ch</strong>tig ist, wenn sie das Ergebnis<br />
einer bestimmten Prozedur P sein kann. (Definition <strong>der</strong> 'prozeduralen<br />
Theorie praktis<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tigkeit' in Anlehnung an Alexy, S. 132)<br />
E: Erstens muß es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben <strong>der</strong><br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gattung als <strong>der</strong> realen Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong>erzustellen,<br />
zweitens darum, in <strong>der</strong> realen die ideale Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Das erste Ziel ist die notwendige Bedingung<br />
des zweiten Ziels; und das zweite Ziel gibt dem ersten seinen<br />
Sinn, – den Sinn, <strong>der</strong> mit jedem Argument s<strong>ch</strong>on antizipiert ist. (Apels 'Ergänzungsprinzip',<br />
S. 236)<br />
N 1 :<br />
N 1 ':<br />
N 2 :<br />
Jede Person hat das glei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t auf das umfangrei<strong>ch</strong>ste Gesamtsystem<br />
glei<strong>ch</strong>er Grundfreiheiten, das mit einem entspre<strong>ch</strong>enden Freiheitssystem<br />
für alle vereinbar ist. (Rawls 'Erstes <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip', S. 203)<br />
Jede Person hat einen glei<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> auf ein vollständig angemessenes<br />
System glei<strong>ch</strong>er Grundre<strong>ch</strong>te und Freiheiten, das mit dem<br />
glei<strong>ch</strong>en System für alle verträgli<strong>ch</strong> ist; und in diesem System muß den<br />
glei<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>en Freiheiten, und nur diesen Freiheiten, ihr fairer Wert<br />
garantiert werden. (Rawls 'Erstes <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip' in <strong>der</strong> Neuformulierung,<br />
S. 210)<br />
Soziale und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>heiten müssen so bes<strong>ch</strong>affen sein, daß<br />
sie sowohl<br />
N 2 ':<br />
(a) den am wenigsten Begünstigten zum größten Vorteil gerei<strong>ch</strong>en, vereinbar<br />
mit dem gere<strong>ch</strong>ten Spargrundsatz, als au<strong>ch</strong><br />
(b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen unter den Bedingungen<br />
fairer Chancenglei<strong>ch</strong>heit offenstehen. (Rawls 'Zweites <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip',<br />
S. 203)<br />
Soziale und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Unglei<strong>ch</strong>heiten müssen zwei Bedingungen erfüllen:<br />
(a) erstens müssen sie mit Positionen und Ämtern verbunden sein, die unter<br />
den Bedingungen fairer Chancenglei<strong>ch</strong>heit allen offen stehen;<br />
(b) und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Gesells<strong>ch</strong>aft zum größten Vorteil gerei<strong>ch</strong>en. (Rawls 'Zweites <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzip'<br />
in <strong>der</strong> Neuformulierung, S. 210)<br />
372
N D :<br />
N E :<br />
N F :<br />
N G :<br />
N M :<br />
N oD :<br />
N S :<br />
R F :<br />
Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie: Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t auf die optimale diskursive<br />
Kontrolle <strong>der</strong> sozialen Ordnung in Form eines demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates.<br />
(S. 330)<br />
Grundsatz <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Existenzbere<strong>ch</strong>tigung: Im Prinzip haben<br />
Mens<strong>ch</strong>en ein Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit. (S. 324)<br />
Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten: Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t auf das größtmögli<strong>ch</strong>e<br />
Maß glei<strong>ch</strong>er subjektiver Handlungsfreiheiten. (S. 327)<br />
Grundsatz <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit: Bezügli<strong>ch</strong> dieser Grundsätze sind alle Mens<strong>ch</strong>en<br />
im Prinzip glei<strong>ch</strong>. (S. 324)<br />
Grundsatz <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Meinungsfreiheit: Im Prinzip haben Mens<strong>ch</strong>en<br />
das Re<strong>ch</strong>t, ihre Meinung in politis<strong>ch</strong>en Angelegenheiten zu äußern.<br />
(S. 324)<br />
Kein soziales Gut X sollte ungea<strong>ch</strong>tet seiner Bedeutung an Männer und<br />
Frauen, die im Besitz eines an<strong>der</strong>en Gutes Y sind, einzig und allein deshalb<br />
verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen.« (Walzers 'offenes Distributionsprinzip',<br />
S. 166)<br />
Grundsatz <strong>der</strong> anthropozentris<strong>ch</strong>en Souveränität: Im Prinzip haben Mens<strong>ch</strong>en<br />
das Re<strong>ch</strong>t, die Regeln <strong>der</strong> sie betreffenden sozialen Ordnung zu bestimmen.<br />
(S. 324)<br />
Je<strong>der</strong> hat das Re<strong>ch</strong>t, frei zu beurteilen, was geboten und was gut ist, und<br />
entspre<strong>ch</strong>end zu handeln.« (Alexys 'allgemeines Freiheitsre<strong>ch</strong>t', S. 253)<br />
S: Der juristis<strong>ch</strong>e Diskurs ist ein Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en<br />
Diskurses.« (Alexys 'Son<strong>der</strong>fallthese', S. 255)<br />
S RP :<br />
Der re<strong>ch</strong>tspolitis<strong>ch</strong>e Diskurs ist neben dem juristis<strong>ch</strong>en Diskurs ein<br />
weiterer Son<strong>der</strong>fall des allgemeinen praktis<strong>ch</strong>en Diskurses. (Erweiterte<br />
Son<strong>der</strong>fallthese, S. 350)<br />
T Dr : Die Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln eines realen<br />
Diskurses müssen so weit, wie na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen, <strong>der</strong><br />
regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen angegli<strong>ch</strong>en<br />
werden. (Theorem über den realen Diskurs, S. 221)<br />
T K :<br />
T Ko :<br />
T L :<br />
Die Handlung X einer Person P ist genau dann ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie si<strong>ch</strong> für<br />
alle als ri<strong>ch</strong>tig erweist. (Theorem über das Universalitäts-Axiom <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en<br />
Grundposition, S. 198)<br />
Im Diskurs begründet ist eine Behauptung genau dann, wenn sie von allen<br />
Diskursteilnehmern als ri<strong>ch</strong>tig beurteilt wird (Konsens). (Theorem<br />
über den Konsens, S. 230)<br />
Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung [im starken Sinne] aufstellt<br />
und keine Begründung [unter Anerkennung von Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung,<br />
Zwanglosigkeit und Universalität] gibt, nimmt ni<strong>ch</strong>t an <strong>der</strong> allgemeinsten<br />
Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en teil.« (Alexys empiris<strong>ch</strong>e Prämisse über die<br />
Teilnahme an <strong>der</strong> allgemeinsten Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en, S. 248)<br />
373
T N :<br />
T R :<br />
T R ':<br />
T RC :<br />
T S :<br />
Eine Handlung ist ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie die beiden universellen Prinzipien <strong>der</strong><br />
Unparteili<strong>ch</strong>keit und <strong>der</strong> vernünftigen Parteili<strong>ch</strong>keit so zum Ausglei<strong>ch</strong><br />
bringt, daß niemand einwenden kann, seine Interessen seien ni<strong>ch</strong>t mit hinrei<strong>ch</strong>endem<br />
Gewi<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt o<strong>der</strong> es würden übermäßige Opfer<br />
von ihm verlangt. (Nagel-Kriterium, S. 214)<br />
Der Ri<strong>ch</strong>tigkeit – verstanden als universelle Ri<strong>ch</strong>tigkeit für alle unter Eins<strong>ch</strong>luß<br />
sämtli<strong>ch</strong>er pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gründe –<br />
kann man si<strong>ch</strong> nur in Diskursen vergewissern. (Theorem <strong>der</strong> Diskurstheorie<br />
als Theorie <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>tigkeit, S. 250)<br />
Man kann si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit nur im Diskurs vergewissern. (Kurzform<br />
von T R , S. 250)<br />
Die Handlung X einer Person P ist genau dann ri<strong>ch</strong>tig, wenn sie si<strong>ch</strong> bei<br />
Abwägung aller Vor- und Na<strong>ch</strong>teile für P als die vorteilhafteste darstellt.<br />
(Theorem über das Eigennutz-Axiom <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en Grundposition,<br />
S. 169)<br />
Eine Handlung ist fals<strong>ch</strong>, wenn ihre Ausführung unter den Umständen<br />
von jedem Regelsystem zur Verhaltensregelung verboten würde, das niemand<br />
vernünftigerweise als Grundlage einer informierten, unerzwungenen,<br />
allgemeinen Vereinbarung zurückweisen könnte. (Scanlon-<br />
Kriterium, S. 211)<br />
U: Jede gültige Norm muß <strong>der</strong> Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen,<br />
die si<strong>ch</strong> aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung<br />
<strong>der</strong> Interessen jedes einzelnen voraussi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ergeben, von allen Betroffenen<br />
zwanglos akzeptiert werden können.« (Habermas 'Universalisierungsprinzip',<br />
S. 239)<br />
U h :<br />
U h ':<br />
Handle nur na<strong>ch</strong> einer Maxime, von <strong>der</strong> du, aufgrund realer Verständigung<br />
mit den Betroffenen bzw. ihren Anwälten o<strong>der</strong> – ersatzweise – aufgrund<br />
eines entspre<strong>ch</strong>enden Gedankenexperiments, unterstellen kannst,<br />
daß die Folgen und Nebenwirkungen, die si<strong>ch</strong> aus ihrer allgemeinen Befolgung<br />
für die Befriedigung <strong>der</strong> Interessen jedes einzelnen Betroffenen<br />
voraussi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ergeben, in einem realen Diskurs von allen Betroffenen<br />
zwanglos akzeptiert werden können.« (Apels 'Universalisierungsprinzip',<br />
S. 235)<br />
Handle (stets) so, als ob du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
wärest! (Apels 'Universalisierungsprinzip' in <strong>der</strong> Neuformulierung<br />
von Pieper, S. 236)<br />
374
Literaturverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Aarnio, Aulis: Zur Legitimation des Re<strong>ch</strong>ts. Ein begriffli<strong>ch</strong>er Überblick, in: Re<strong>ch</strong>tstheorie<br />
20 (1989), S. 143-151.<br />
– /Alexy, Robert/Peczenik, Aleksan<strong>der</strong>: Grundlagen <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation,<br />
in: W. Krawietz/R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristis<strong>ch</strong>er Argumentation<br />
(1983), S. 9-87.<br />
A<strong>ch</strong>terberg, Norbert/Krawietz, Werner (Hrsg.): Legitimation des mo<strong>der</strong>nen Staates,<br />
ARSP Beiheft 15, Wiesbaden 1981.<br />
Ackerman, Bruce: Social Justice in the Liberal State, New Haven/London 1980.<br />
– We The People, Band 1: Foundations, Cambridge/London 1991.<br />
Albert, Hans: Die Wissens<strong>ch</strong>aft und die Fehlbarkeit <strong>der</strong> Vernunft, Tübingen 1982.<br />
– Traktat über die kritis<strong>ch</strong>e Vernunft, 5. Aufl. Tübingen 1991.<br />
Alexy, Robert: Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation. Die Theorie des rationalen<br />
Diskurses als Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Begründung, Frankfurt a.M. 1978.<br />
– Die Idee einer prozeduralen Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation, Vortrag,<br />
gehalten 1979 in Helsinki, Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung 1981; zitiert mit dem Jahr des<br />
Vortrags na<strong>ch</strong> dem Neuabdruck in: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995),<br />
S. 94-108.<br />
– Theorie <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>te, Baden-Baden 1985.<br />
– Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft, in: Re<strong>ch</strong>tstheorie 18 (1987), S. 405-419.<br />
– Juristis<strong>ch</strong>e Begründung, System und Kohärenz, in: O. Behrends/M. Dießelhorst/R.<br />
Dreier (Hrsg.), Re<strong>ch</strong>tsdogmatik und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft (1989),<br />
S. 95-107.<br />
– Probleme <strong>der</strong> Diskurstheorie, zitiert mit dem Jahr <strong>der</strong> Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung<br />
(1989) na<strong>ch</strong> dem Neuabdruck in: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995), S. 109-<br />
126.<br />
– /Dreier, Ralf: The Concept of Jurisprudence, in: Ratio Juris 3 (1990), S. 1-13.<br />
– Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses<br />
als Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Begründung, unverän<strong>der</strong>te 2. Aufl. mit Na<strong>ch</strong>wort:<br />
Antwort auf einige Kritiker, Frankfurt a.M. 1991.<br />
– Idee und Struktur eines vernünftigen Re<strong>ch</strong>tssystems, in: <strong>der</strong>s./R. Dreier/U.<br />
Neumann (Hrsg.), Re<strong>ch</strong>ts- und Sozialphilosophie in Deuts<strong>ch</strong>land heute<br />
(1991), S. 30-44.<br />
– /Dreier, Ralf/Neumann, Ulf (Hrsg.): Re<strong>ch</strong>ts- und Sozialphilosophie in Deuts<strong>ch</strong>land<br />
heute. Beiträge zur Standortbestimmung, ARSP Beiheft 44, Stuttgart<br />
1991.<br />
– Begriff und Geltung des Re<strong>ch</strong>ts, Freiburg i.Br./Mün<strong>ch</strong>en 1992.<br />
– Eine diskurstheoretis<strong>ch</strong>e Konzeption <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft, in: <strong>der</strong>s./R.<br />
Dreier (Hrsg.), Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft (1993), S. 11-29.<br />
– /Dreier, Ralf (Hrsg.): Re<strong>ch</strong>tssystem und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft, ARSP Beiheft 51,<br />
Stuttgart 1993.<br />
375
– Mauers<strong>ch</strong>ützen. Zum Verhältnis von Re<strong>ch</strong>t, Moral und Strafbarkeit, Vortrag<br />
vom 17. April 1993 vor <strong>der</strong> Joa<strong>ch</strong>im-Jungius-Gesells<strong>ch</strong>aft <strong>der</strong> Wissens<strong>ch</strong>aften,<br />
Göttingen 1993.<br />
– Normbegründung und Normanwendung, Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung in: Re<strong>ch</strong>tsnorm<br />
und Re<strong>ch</strong>tswirkli<strong>ch</strong>keit, Fests<strong>ch</strong>rift für Werner Krawietz, hrsgg. v.<br />
A. Aarnio/S.L. Paulson/O. Weinberger/G.H. v. Wright/D. Wyduckel (1993);<br />
zitiert mit dem Jahr <strong>der</strong> Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung na<strong>ch</strong> dem Neuabdruck in: <strong>der</strong>s.,<br />
Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995), S. 52-70.<br />
– Basic Rights and Democracy in Jürgen Habermas´ Procedural Paradigm of the<br />
Law, in: Ratio Juris 7 (1994), S. 227-238.<br />
– Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te, in: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995),<br />
S. 127-164.<br />
– Vorwort, in: <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs (1995), S. 7-10.<br />
– Re<strong>ch</strong>t, Vernunft, Diskurs. Studien zur Re<strong>ch</strong>tsphilosophie, Frankfurt a.M. 1995.<br />
– Grundgesetz und Diskurstheorie, in: W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des<br />
Grundgesetzes (1996), S. 343-360.<br />
– Discourse Theory and Human Rights, in: Ratio Juris 9 (1996), S. 209-235.<br />
– John Rawls' Theorie <strong>der</strong> Grundfreiheiten, in: W. Hins<strong>ch</strong> (Hrsg.), Zur Idee des<br />
politis<strong>ch</strong>en Liberalismus (1997), S. 263-303.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Ri<strong>ch</strong>tigkeit, zitiert na<strong>ch</strong> dem dem bisher unveröffentli<strong>ch</strong>ten<br />
deuts<strong>ch</strong>en Original mit <strong>der</strong> Jahreszahl und den Seitenzahlen <strong>der</strong> italienis<strong>ch</strong>en<br />
Erstveröffentli<strong>ch</strong>ung in: Ragion pratica 9 (1997), S. 103-113.<br />
– Law and Correctness, in: Freeman 51 (1998), S. 205-221.<br />
– Die Institutionalisierung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat,<br />
in: S. Gosepath/G. Lohmann (Hrsg.), Philosophie <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(1998), S. 244-264.<br />
Allen, Sir Carleton K.: Aspects of Justice, London 1958.<br />
Apel, Karl-Otto: Transformation <strong>der</strong> Philosophie, Band 1: Spra<strong>ch</strong>analytik, Semiotik,<br />
Hermeneutik, Band 2: Das Apriori <strong>der</strong> Kommunikationsgemeins<strong>ch</strong>aft, Frankfurt<br />
a.M. 1973.<br />
– Kann <strong>der</strong> postkantis<strong>ch</strong>e Standpunkt <strong>der</strong> Moralität no<strong>ch</strong> einmal in substantielle<br />
Sittli<strong>ch</strong>keit 'aufgehoben' werden? Das ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tsbezogene Anwendungsproblem<br />
<strong>der</strong> Diskursethik zwis<strong>ch</strong>en Utopie und Regression, in: W. Kuhlmann<br />
(Hrsg.), Moralität und Sittli<strong>ch</strong>keit (1986), S. 217-264.<br />
– Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur<br />
postkonventionellen Moral, Frankfurt a.M. 1988.<br />
– Diskursethik vor <strong>der</strong> Problematik von Re<strong>ch</strong>t und Politik: Können die Rationalitätsdifferenzen<br />
zwis<strong>ch</strong>en Moralität, Re<strong>ch</strong>t und Politik selbst no<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die<br />
Diskursethik normativ-rational gere<strong>ch</strong>tfertigt werden?, in: <strong>der</strong>s./M. Kettner,<br />
Anwendung <strong>der</strong> Diskursethik (1992), S. 29-61.<br />
– /Kettner, Matthias (Hrsg.): Zur Anwendung <strong>der</strong> Diskursethik in Politik, Re<strong>ch</strong>t<br />
und Wissens<strong>ch</strong>aft, Frankfurt a.M. 1992.<br />
– Die Vernunftfunktion <strong>der</strong> kommunikativen Rationalität. Zum Verhältnis von<br />
konsensual-kommunikativer Rationalität, strategis<strong>ch</strong>er Rationalität und Systemrationalität,<br />
in: <strong>der</strong>s./M. Kettner, Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten<br />
(1996), S. 17-41.<br />
376
– /Kettner, Matthias (Hrsg.): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten,<br />
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Thomas von Aquin: Summa Theologica, II. Bu<strong>ch</strong>, II. Teil, Fragen 57-79: Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
zitiert 'ST, II-II' mit Frage, Artikel und Abs<strong>ch</strong>nitt (Behauptung,<br />
Korpus <strong>der</strong> Antwort, Nr. <strong>der</strong> Antwort) na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Übersetzung in: 1.) Die Deuts<strong>ch</strong>e<br />
Thomas-Ausgabe, hrsgg. v. <strong>der</strong> Albertus-Magnus-Akademie Walberberg<br />
bei Köln, übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deuts<strong>ch</strong>lands und Österrei<strong>ch</strong>s,<br />
Band 18, Heidelberg/Mün<strong>ch</strong>en u.a. 1953; sowie 2.) Thomas von Aquin,<br />
Re<strong>ch</strong>t und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Na<strong>ch</strong>folgefassung von Band 18 <strong>der</strong> Deuts<strong>ch</strong>en Thomasausgabe,<br />
hrsgg. v. Arthur F. Utz, übers. v. Josef F. Groner, Bonn 1987;<br />
Übersetzung bei inhaltli<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>ieden jeweils gekennzei<strong>ch</strong>net, sonst<br />
na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Neuübersetzung.<br />
Timm, Birte: Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen und Meinungsäußerungen. Eine verglei<strong>ch</strong>ende<br />
Darstellung des deuts<strong>ch</strong>en und US-amerikanis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Haftung für<br />
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406
Sa<strong>ch</strong>register<br />
Apartheid 24, 323, 325 f., 342<br />
Arbeitstheorie des Eigentums 85 f., 329<br />
Autonomie 29, 78, 84 f., 95, 138, 198 f., 201<br />
f., 213, 217, 240 f., 246, 250 ff., 300 ff.,<br />
311, 314 ff., 321 f., 324<br />
Bargaining power 172 ff., 197, 214, 232,<br />
280, 283, 288<br />
Circumstances of justice 79 f., 202<br />
Comprehensive doctrines 206, 208<br />
Consi<strong>der</strong>ed moral judgments 200, 208<br />
Deliberative Politik 242 ff., 353 ff.<br />
Demokratie 24, 34, 41, 117 f., 146, 167,<br />
195, 217, 240, 242 f., 247, 252, 254, 256,<br />
265, 282, 297, 299 ff., 305 f., 308 ff., 315<br />
ff., 327, 330 ff., 335 f., 339, 341 ff., 344<br />
– deliberative Demokratie 242 ff., 353 f.<br />
– demokratis<strong>ch</strong>er Verfassungsstaat 36,<br />
89, 196, 247, 254, 256, 260, 315, 330, 332,<br />
334 ff., 338, 340, 343, 347, 351 f., 358<br />
– dualistis<strong>ch</strong>e Demokratie 258 ff.<br />
Deontis<strong>ch</strong>e Modalitäten 71, 73<br />
Dia<strong>ch</strong>roner Freiheitstaus<strong>ch</strong> 194<br />
Diskurs<br />
– allgemeinste Lebensform des Mens<strong>ch</strong>en<br />
248 f.<br />
– Anwendungsdiskurs 222<br />
– arguing vs. bargaining 232, 303<br />
– Begründungspfli<strong>ch</strong>t 227 f.<br />
– conversational constraints 258<br />
– Definitionen des Diskurses 218 ff.<br />
– diskursive Kontrolle 220 f., 330 f.<br />
– Diskursprinzip 231, 240, 295 ff.<br />
– Diskursregeln 222 ff., 225 ff., 247 ff.<br />
– genuine Diskursteilnahme 253, 302 ff.,<br />
321 f.<br />
– Glei<strong>ch</strong>heit im Diskurs 224<br />
– handlungsentlasteter Diskurs 220, 224<br />
– idealer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs 219, 221<br />
– innerer Diskurs 219<br />
– Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit 249 f.<br />
– Konsens 230<br />
– Konvergenzbeweis 221, 290, 293<br />
– Letztbegründung als Variante 229 f.,<br />
233 f., 262 ff., 295<br />
– ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>es Handeln 232<br />
– performativer Selbstwi<strong>der</strong>spru<strong>ch</strong> 225<br />
f., 234<br />
– potentielle Unendli<strong>ch</strong>keit 220<br />
– Präsuppositionsanalyse 233 ff., 306,<br />
311, 322 f., 325, 332<br />
– realer praktis<strong>ch</strong>er Diskurs 219 ff.<br />
– regulative Idee 221<br />
– Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> 291 ff.<br />
– Spre<strong>ch</strong>akte 225 f., 239, 250, 311<br />
– transzendentales Argument 225 ff.<br />
– Universalisierungsprinzip 235 ff., 239<br />
– Zwangsfreiheit 224<br />
Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 97 ff.,<br />
101 f., 135 ff., 217 ff., 290 ff., 309 ff.<br />
– anthropozentris<strong>ch</strong>es Souveränitätsmodell<br />
322<br />
– deliberative Politik 353 ff.<br />
– Demokratie 330 f.<br />
– Eigentum 329<br />
– Erweiterbarkeitsthese 358 ff.<br />
– erweiterte Son<strong>der</strong>fallthese 350 f.<br />
– Ewigkeitsklauseln 343 f.<br />
– Falsifizierbarkeit 325 f., 332<br />
– Freiheitsre<strong>ch</strong>te 328 f.<br />
– Gebot <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit 327<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfunktionen realer Verfahren<br />
338 f.<br />
– Grundre<strong>ch</strong>t auf Demokratie 330 f.<br />
– Grundre<strong>ch</strong>t auf optimierte Freiheiten<br />
327 f.<br />
– Grundsatz <strong>der</strong> Glei<strong>ch</strong>heit 323 f.<br />
– Güterordnung 330<br />
– Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te 317 ff.<br />
– minimale Volkssouveränität 323<br />
– optionale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen 342 ff.<br />
– parlamentaris<strong>ch</strong>e Gesetzgebung 345 f.<br />
– Politik 347 ff.<br />
– politis<strong>ch</strong>e Meinungsfreiheit 323 f.<br />
– Re<strong>ch</strong>t 339 ff.<br />
407
– relatives Primat des <strong>Prozedurale</strong>n 335<br />
ff.<br />
– Verfassungsnormsetzung 340 ff.<br />
– Verwaltungs- und Geri<strong>ch</strong>tsverfahren<br />
346 f.<br />
– Vielfalt realer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverfahren<br />
337 f.<br />
– Wahlkampf 351 ff.<br />
– Willkürverbot 327<br />
– Wirts<strong>ch</strong>aft 357 f.<br />
– Wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>keit 355<br />
Divergenzthese 97 f.<br />
Drohspiel 175 ff., 191, 274, 279 ff.<br />
Egoismus 92<br />
Eigennutz 154, 156, 168 f., 196, 198, 278<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien 138, 167 ff.<br />
Enumerationsthese 124 f.<br />
Ergänzbarkeitsthese 113 f., 118<br />
Erweiterbarkeitsthese 114 ff., 118, 358 ff.<br />
Ethis<strong>ch</strong>es Minimum 30, 141<br />
Fairneß 47, 60, 121 ff.<br />
– Definitionen 122 f.<br />
– Fairneßelemente 121 ff.<br />
– Ri<strong>ch</strong>tigkeitsorientierung 122<br />
– spieltheoretis<strong>ch</strong>e Fairneß 271 f.<br />
– prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 123<br />
Feministis<strong>ch</strong>e Theorie 114, 166, 361<br />
Freestanding view 200, 207 f., 215, 287<br />
Gefangenendilemma 169, 276<br />
Genozid 24, 122, 325 f.<br />
Geordnete Anar<strong>ch</strong>ie 177 f.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 45 ff.<br />
– aequitas 63<br />
– aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 56<br />
ff.<br />
– ausglei<strong>ch</strong>ende <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 57<br />
– axiologis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 54 f., 66 f.,<br />
94, 140<br />
– Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 45 ff.<br />
– binär kodiertes Prädikat 54, 67, 124<br />
– Definitionsverweigerung 47 f., 73 f.<br />
– deontologis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 54 f., 67<br />
– Einzelfallgere<strong>ch</strong>tigkeit 60, 63 f.<br />
– enger <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 63 ff.<br />
– equity 63 f.<br />
– formale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 46, 62 f.<br />
– Gegenstände <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 48 ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sanspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts 37<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgefühl 120<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen 72 ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien in Re<strong>ch</strong>tsform<br />
241 f.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn 120<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis 82 f., 105, 143 ff.,<br />
265 ff.<br />
– Gesetzesgehorsam 57, 67 f.<br />
– Glei<strong>ch</strong>heitsbezug 56 ff.<br />
– Gottesgere<strong>ch</strong>tigkeit 68<br />
– handlungsbezogene Definition 50 f.<br />
– holistis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 68 f.<br />
– idealistis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 66<br />
– iustitia commutativa 57<br />
– iustitia distributiva 57<br />
– iustitia particularis 57<br />
– iustitia restitutiva 57<br />
– iustitia universalis 46, 57, 69<br />
– iustitia vindicativa 57<br />
– juristis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 64 f.<br />
– graduelles Prädikat 54, 67, 124<br />
– künstli<strong>ch</strong>e Tugend 79<br />
– lokale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 110, 164<br />
– natürli<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 193 f.<br />
– normalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
59 f., 66<br />
– normbezogene Definition 75 f.<br />
– Normen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 71 ff.<br />
– outcome justice 58<br />
– Pfli<strong>ch</strong>tigkeit 52 ff.<br />
– politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 23 f., 78 f.<br />
– Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbezug 51 f., 61, 65 f.<br />
– Sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeit 60<br />
– Sollensbezug 52 ff.<br />
– Sozialbezug 55 f.<br />
– soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 34, 47, 58<br />
– spezifis<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Perspektive 38 ff.<br />
– staatli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsordnung 78 f., 116<br />
– substantive justice 58<br />
– Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit 62<br />
– tugendzentrierter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />
66 ff.<br />
– Ungere<strong>ch</strong>tigkeit 69 f.<br />
– Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit 57 ff.<br />
408
– weiter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff 48, 51, 60<br />
ff.<br />
– Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit 69<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen<br />
– Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm 71 ff.<br />
– Begründung 74 f., 77<br />
– Erzeugung 75<br />
– formale Normen 74<br />
– materiale Normen 74<br />
– pragmatis<strong>ch</strong>er Gehalt 74 f.<br />
– prozedurale Normen 74<br />
– zwei Prinzipien <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 203,<br />
209 f.<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien 76 ff.<br />
– siehe au<strong>ch</strong> 'Diskurstheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />
sowie '<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien'<br />
– analytis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> 87 f.<br />
– Antitheorien 23, 137 f., 145, 261, 265,<br />
267<br />
– Argumentationstheorien 136<br />
– Autopoiesis 150 f.<br />
– Begründungslücke 297 ff.<br />
– Beoba<strong>ch</strong>tertheorien 97, 100 f., 211 ff.<br />
– Darstellungsmittel 97 ff.<br />
– Definition <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie 76<br />
f.<br />
– deontologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> 106 f.<br />
– Divergenzthese 97 f.<br />
– empiris<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> 87 f., 104 f., 119 f.<br />
– Ergänzbarkeitsthese 113 f., 118<br />
– Erweiterbarkeitsthese 114 ff., 118, 358<br />
ff.<br />
– formale <strong>Theorien</strong> 154 ff.<br />
– Gegenstand <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> 107 ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorien<br />
41, 76 ff., 88 f., 113<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien 41,<br />
76, 88 f., 129, 131, 133 f.<br />
– heuristis<strong>ch</strong>er Wert 88<br />
– Indifferenzeinwand 102 f., 118<br />
– Inkommensurabilitätsthese 108 ff.<br />
– Klassifizierung 80 ff.<br />
– Kohärenz 143, 223<br />
– Kommunitarismus 157 ff.<br />
– Konsequentialismus 153, 269<br />
– Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren 148 ff.<br />
– Makrotheorien 110, 113<br />
– materiale und prozedurale <strong>Theorien</strong><br />
139 ff.<br />
– Mesotheorien 110<br />
– Mikrotheorien 110, 113<br />
– Mindestgehaltsthese 117 f., 309 f.<br />
– Naturre<strong>ch</strong>tstheorien 89 ff., 136<br />
– normative <strong>Theorien</strong> 87 f.<br />
– Ordoliberalismus 146 ff., 151<br />
– Postmo<strong>der</strong>ne 150 ff.<br />
– rational <strong>ch</strong>oice theories 93, 167 ff.<br />
– Rationalitätskonzept 97 ff.<br />
– re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>er Relativismus 145 f.<br />
– Skalierbarkeitsthese 111 ff., 118, 233,<br />
270 f.<br />
– soziale Systeme 148 ff.<br />
– Sozialpsy<strong>ch</strong>ologie 87, 110<br />
– Sozialvertragstheorien 97 ff., 135 ff.,<br />
199 ff., 284 ff.<br />
– spontane soziale Ordnung 146 f.<br />
– Standpunkttheorien 100 f., 211 ff., 287<br />
ff.<br />
– Systemtheorien 135, 148 ff., 151<br />
– teleologis<strong>ch</strong>e <strong>Theorien</strong> 106 f., 140<br />
– <strong>Theorien</strong> des Guten 105 f.<br />
– <strong>Theorien</strong> des Re<strong>ch</strong>ten 105 f.<br />
– <strong>Theorien</strong> mittlerer Rei<strong>ch</strong>weite 42<br />
– Typen legitimer Herrs<strong>ch</strong>aft 103 ff.<br />
– Verglei<strong>ch</strong>barkeit <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> 108 ff.<br />
– Vernunftre<strong>ch</strong>tstheorien 89 ff., 136<br />
– Vollständigkeit von <strong>Theorien</strong> 113 ff.<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terverhältnis 114, 166, 361<br />
Gesetzgebung 22, 36, 128, 141, 205, 221,<br />
259, 335 f., 338 ff., 343, 345 f., 351, 358<br />
Glei<strong>ch</strong>heit 254 f.<br />
Glücksspiel 127 f.<br />
Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie<br />
81 ff.<br />
– aristotelis<strong>ch</strong>e Grundposition 83, 152 ff.,<br />
267 ff.<br />
– hobbesianis<strong>ch</strong>e Grundposition 83, 93,<br />
99, 167 ff., 270 ff.<br />
– kantis<strong>ch</strong>e Grundposition 83, 198 ff.,<br />
284 ff.<br />
– lockeanis<strong>ch</strong>e Grundposition 85 ff.<br />
409
– nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>e Grundposition 82 f.,<br />
105, 143 ff., 261 ff.<br />
– S<strong>ch</strong>ema <strong>der</strong> Grundpositionen 85<br />
Handlungsrationalität 28<br />
Herrs<strong>ch</strong>aft 103<br />
Indifferenzeinwand 102 f., 118<br />
Inkommensurabilitätsthese 108 ff.<br />
Interesse an Ri<strong>ch</strong>tigkeit 249 f.<br />
Kaldor-Hicks-Kriterium 273<br />
Kommunitarismus 139, 157 ff., 268 f.<br />
– anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus 163<br />
– epistemologis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus<br />
159 ff.<br />
– lokaler Kommunitarismus 164 ff.<br />
– multikultureller Kommunitarismus<br />
163 f.<br />
– neoaristotelis<strong>ch</strong>er Kommunitarismus<br />
161 ff.<br />
Konsens 24, 29, 100 f., 142, 149, 162, 198,<br />
205 ff., 212, 216, 220 f., 230 f., 233,<br />
237 f., 252, 254, 267, 286 f., 291 f., 294,<br />
302 ff., 312, 315 f., 321 f., 325 ff., 332,<br />
337, 343, 357<br />
Konsequentialismus 153, 269<br />
Konzeption des Guten 94 f., 152 ff., 202,<br />
267 f.<br />
Künftige Generationen 56, 114, 195, 360<br />
Lebensform 239, 248 f., 264, 320, 324, 326<br />
Legitimation dur<strong>ch</strong> Verfahren 148 ff.<br />
Letztbegründung 229 f., 233 f., 262 ff., 295<br />
Lexical or<strong>der</strong> 203, 210<br />
Lockes<strong>ch</strong>e Provisio 86, 185 ff., 191 f.<br />
Lotterie 173<br />
Marketplace of ideas 112<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te 117, 161, 196, 216 f., 253,<br />
256, 282, 296, 299, 306, 317 ff.<br />
Metaphysik 42<br />
Mindestgehaltsthese 117 f., 309 f.<br />
Minimalstaat 183 ff.<br />
Minimax relative Konzession 189 ff.<br />
Moral 27 ff., 52 f.<br />
– 'geronnene Moral' 35, 40<br />
– Individualmoral 55, 68<br />
– konfligierende Normen 68<br />
– moral agent 56, 114<br />
– moral constraints 95<br />
– moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong> 95 f.<br />
– supererogatoris<strong>ch</strong>e Moral 53<br />
– Verhältnis zur <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 27 ff., 52<br />
f., 61, 95 f.<br />
Mün<strong>ch</strong>hausen-Trilemma 261 ff.<br />
Nagel-Kriterium 213<br />
Natur 56<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> gegenüber <strong>der</strong> Natur<br />
359<br />
– natürli<strong>ch</strong>e Güterverteilung 178<br />
– Naturzustand 171 f., 193<br />
Naturalistis<strong>ch</strong>er Fehls<strong>ch</strong>luß 261 f.<br />
Naturre<strong>ch</strong>t 30 ff., 66 f., 89 ff.<br />
– anthropologis<strong>ch</strong>es Naturre<strong>ch</strong>t 90<br />
– kosmologis<strong>ch</strong>es Naturre<strong>ch</strong>t 90<br />
– minimum content of natural law 141<br />
– ontologis<strong>ch</strong>es Naturre<strong>ch</strong>t 91, 153 f.<br />
– rationalistis<strong>ch</strong>es Naturre<strong>ch</strong>t 91<br />
Negativer Taus<strong>ch</strong> 193<br />
Norm<br />
– Bedeutung 71 f.<br />
– Begriff <strong>der</strong> Norm 71 f.<br />
– Erzeugung 75<br />
– Geltung 72, 74 f.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snorm 71 ff.<br />
– Moralnorm 74 f.<br />
– Re<strong>ch</strong>tsnorm 75, 96<br />
– Verhaltensnorm 96<br />
Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt 173, 176 ff., 187 f.,<br />
191, 197, 274, 279<br />
Nihilismus 143 f.<br />
Nutzenmaximierung 83, 85, 93, 138, 140,<br />
142, 153 ff., 168 ff., 179 f., 182, 185 f.,<br />
191 f., 196, 198, 232, 247, 249, 269, 276,<br />
279, 281, 284, 311, 313, 337, 351, 357<br />
Ökonomis<strong>ch</strong>es Verhaltensmodell 168<br />
Optimierung relativer Nutzenfaktoren<br />
171 ff.<br />
Ordinary language 59<br />
Ordoliberalismus 146 ff., 151<br />
Original position 99, 180 f., 200 f., 205<br />
Overlapping consensus 200, 206 ff.<br />
Pareto-Optimalität 171 f., 196, 273 f.<br />
Politik<br />
– Begriff 347 f.<br />
– ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>er Charakter 349 f.<br />
410
– strategis<strong>ch</strong>er Charakter 348 f.<br />
Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 23 f., 78 f.<br />
Praecepta iuris 45 f.<br />
Präsuppositionsanalyse 233 ff., 306, 311,<br />
322 f., 325, 332<br />
Praktis<strong>ch</strong>e Vernunft 27 ff., 81<br />
– dialogis<strong>ch</strong>e Konzeption 289<br />
– monologis<strong>ch</strong>e Konzeption 289<br />
Primary social goods 201<br />
Primat des Guten 105<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 118 ff.<br />
– siehe au<strong>ch</strong> Fairneß<br />
– Definition 119<br />
– definitoris<strong>ch</strong>e Formen 125, 127 ff., 130<br />
– dienende Formen 125, 129 f.<br />
– Enumerationsthese 124 f.<br />
– Funktionen 129 ff.<br />
– Gegensatz zur materialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
119<br />
– Glücksspiel 127 f.<br />
– natural justice 118 f.<br />
– prima facie gere<strong>ch</strong>t 129<br />
– quasi-reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
128 f., 204 f.<br />
– reine prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 127 f.,<br />
204<br />
– subjektive und objektive Form 118 ff.<br />
– unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
126 f.<br />
– vier Formen 124 ff.<br />
– vollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
125 f.<br />
<strong>Prozedurale</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien 132<br />
ff.<br />
– analytis<strong>ch</strong>er Liberalismus 247 ff., 302<br />
ff.<br />
– Definitionen 132 f.<br />
– diskursive Rekonstruktion des Re<strong>ch</strong>ts<br />
238 ff., 295 ff.<br />
– Diskurstheorien 97 ff., 101 f., 135 ff.,<br />
217 ff., 290 ff.<br />
– Ents<strong>ch</strong>eidungstheorien 138, 167 ff.<br />
– erweiterte Klassifizierung 137 ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Fairneß 199 ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unabweisbarkeit 211<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Unparteili<strong>ch</strong>keit 215<br />
ff.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründungstheorien<br />
133 f.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugungstheorien 133<br />
– hypothetis<strong>ch</strong>es Drohspiel 176 f.<br />
– kantis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien 199<br />
ff., 284 ff.<br />
– Klassifizierung <strong>der</strong> <strong>Theorien</strong> 134 ff.<br />
– libertärer Minimalstaat 183 ff.<br />
– Maximin-Wahl 180 ff.<br />
– Moral dur<strong>ch</strong> Vereinbarung 186 ff.<br />
– neohobbesianis<strong>ch</strong>e Sozialvertragstheorien<br />
138, 180 ff., 279 ff.<br />
– neutraler Dialog 257 ff.<br />
– öffentli<strong>ch</strong>e Wahl 177 ff.<br />
– politis<strong>ch</strong>er Liberalismus 205 ff.<br />
– Primat <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung<br />
133<br />
– public <strong>ch</strong>oice theories 177<br />
– rational <strong>ch</strong>oice theories 93, 173, 138,<br />
173<br />
– realistis<strong>ch</strong>e Verhaltenshypothesen 179<br />
– relevante Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tszustände 175<br />
– Standpunkttheorien 138<br />
– transzendentaler Taus<strong>ch</strong> 193 ff.<br />
– Transzendentalpragmatik 233 ff., 295<br />
– unglei<strong>ch</strong>e Verhandlungsma<strong>ch</strong>t 173 f.<br />
– Universalpragmatik 238 ff.<br />
– unparteiis<strong>ch</strong>er Beoba<strong>ch</strong>ter 212 ff.<br />
– universalistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
138<br />
– Unters<strong>ch</strong>ied zu <strong>Theorien</strong> prozeduraler<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 132<br />
– Verhandlungsführung 174<br />
<strong>Prozedurale</strong>s Re<strong>ch</strong>tsparadigma 245 f.<br />
Radbru<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>e Formel 31<br />
Rational <strong>ch</strong>oice theories 93, 167 ff.<br />
Rationalitätskonzept 97 ff.<br />
Re<strong>ch</strong>t<br />
– analytis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt 29 ff.<br />
– Antinomien <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsidee 64<br />
– Begriff des Re<strong>ch</strong>ts 21, 27, 37 f.<br />
– <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sanspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts 37<br />
– inhaltsoffener Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> 37<br />
– Interpretation 34 f.<br />
411
– Legitimationsbedarf 33 f.<br />
– normativer <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgehalt 31 ff.<br />
– Orientierungsbedarf 34 f.<br />
– Prozedurebene 40<br />
– Re<strong>ch</strong>tsdogmatik 40 f.<br />
– Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten 52 f.<br />
– Re<strong>ch</strong>tspraxis 40<br />
– Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit 64<br />
– Re<strong>ch</strong>tstheorie 38 ff.<br />
– ri<strong>ch</strong>tiges Re<strong>ch</strong>t 32, 60<br />
– Umsetzungsbedarf 35 f.<br />
Re<strong>ch</strong>tspositivismus 30 ff.<br />
Reflective equilibrium 180 f., 200, 208 f.<br />
Relativismus 144<br />
Religion 68 f., 91<br />
Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />
– prozedurales Verständnis 51 f.<br />
– Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong> des Re<strong>ch</strong>ts 37 f.<br />
Ringtaus<strong>ch</strong> 194<br />
Scanlon-Kriterium 211, 216, 288<br />
S<strong>ch</strong>utzvereinigungen 184<br />
S<strong>ch</strong>werpunktthese 78 f., 118<br />
Security level 187<br />
Skalierbarkeitsthese 111 ff., 118, 233, 270<br />
Sklaverei 178, 281, 283, 325<br />
Son<strong>der</strong>fallthese 220, 247, 255 f., 339 ff.,<br />
350 f.<br />
Spieltheorie 25, 170 ff., 270 ff.<br />
Suum cuique 45 ff., 49 f., 65, 67, 74, 91, 141<br />
Totalitarismus 165<br />
Tötungsverbot 72 f.<br />
Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft 157<br />
Transponierbarkeitsthese 48 ff.<br />
Transzendentalpragmatik 233 ff., 295<br />
Trennungsthese 30 f.<br />
Trittbrettfahrer 169, 179, 189, 251, 333 f.<br />
Tugendlehre 49, 67 f.<br />
Tugendpfli<strong>ch</strong>ten 52 f.<br />
Universalität 62, 77, 142, 151, 161, 198,<br />
214, 217, 228 ff., 237, 248, 318 ff., 324<br />
Utilitarismus 29, 92, 96, 138 f., 153 ff.,<br />
174, 269<br />
Veil of ignorance 180, 200 f., 204 f.<br />
Verhandlungsma<strong>ch</strong>t 172 ff., 197, 214, 232,<br />
280, 283, 288<br />
Vernunft 92 ff.<br />
– desengagierte Vernunft 163<br />
– ethis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong> 94 f.<br />
– Klugheitsregel 92<br />
– moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong> 95 f.<br />
– pragmatis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong> 92 ff.<br />
– strategis<strong>ch</strong>es Handeln 93<br />
– vernünftige Parteili<strong>ch</strong>keit 214<br />
Vierstufenmodell 201, 204<br />
Volenti non fit iniuria 98<br />
Wählerparadoxon 277 f.<br />
Wahl 54, 89<br />
Wahrheit 27, 130, 141, 152, 162, 218, 223,<br />
226 ff., 254, 267, 289, 293, 320, 331, 336<br />
Zufall 152, 322<br />
Zweckmäßigkeit 64<br />
412
Personenregister<br />
Aarnio, A. 49, 78, 132, 248<br />
Ackerman, B. 25, 164, 177, 257 ff., 278, 344<br />
Albert, H. 261 ff.<br />
Alexy, R. 21, 26, 28 f., 30 f., 36 ff., 50 f., 55,<br />
57, 71 f., 81 ff., 87, 92, 122, 132, 136 ff.,<br />
143, 157, 193, 198, 209, 217 ff., 239, 247<br />
ff., 258, 262, 290 ff., 299, 302 ff., 310 ff.,<br />
321 ff., 334, 336, 339, 341, 346, 350<br />
Allen, C.K. 46<br />
Apel, K.-O. 81, 98, 138, 152, 215, 220, 222,<br />
224, 226, 233 ff., 263 f., 295, 298, 308,<br />
353<br />
Arens, E. 298 f.<br />
Aristoteles 24, 28, 45 f., 56 ff., 63, 66 f., 69,<br />
83, 85, 90, 95, 152, 158 f., 161<br />
Arneson, R.J. 273<br />
Arrow, K.J. 277 f.<br />
Austin, J.L. 30, 48, 225<br />
Axelrod, R. 276<br />
Ayer, A.J. 144<br />
Baer, S. 115, 166<br />
Baier, K. 100 f., 211, 213<br />
Bakunin, M.A. 117<br />
Ballestrem, K.G. 212<br />
Barry, B. 41 f., 76, 79, 88, 93, 111 ff., 121,<br />
153, 169, 176, 187, 200, 212, 215 ff., 247,<br />
273, 284, 288, 322, 337<br />
Battis, U. 62<br />
Bauer, B. 331<br />
Baus<strong>ch</strong>, T. 217, 235<br />
Beck-Mannagetta, M. 90<br />
Benhabib, S. 22, 115, 361<br />
Bentham, J. 22, 90, 155 f.<br />
Berkemann, J. 121, 123, 125, 130 f.<br />
Berlin, I. 24<br />
Bessette, J.M. 243<br />
Bierhoff, H.W. 64, 110, 119 ff.<br />
Blümel, W. 276<br />
Bodin, J. 90<br />
Böckenförde, E.-W. 340, 352, 36<br />
Böhm, M. 345<br />
Borowski, M. 36<br />
Braithwaite, R.B. 138, 175, 176 f., 179, 188,<br />
197, 274, 280 f.<br />
Brandt, R.B. 102, 154 f.<br />
Braun, E. 226<br />
Brittan, S. 152<br />
Brugger, W. 36, 55, 157 f., 320<br />
Brumlik, M. 115<br />
Brunkhorst, H. 157 ff., 167, 196<br />
Brunner, E. 41, 49, 68, 89 ff., 115, 139, 212,<br />
331<br />
Bruns, H.-J. 346<br />
Bryde, B.-O. 339, 345 f.<br />
Bu<strong>ch</strong>anan, J.M. 22, 25, 86, 106, 117, 138,<br />
175, 177 ff., 183, 188, 191, 197, 274, 280<br />
f., 283<br />
Bu<strong>ch</strong>wald, D. 28, 223<br />
Bydlinski, F. 21, 30, 36, 64, 67, 73, 117, 265,<br />
320, 328<br />
Calliess, G.-P. 75, 88, 353<br />
Canaris, C.-W. 57, 124, 126 f., 337<br />
Chwaszscza, C. 115<br />
Cicero, M.T. 90<br />
Cohen, J. 242 f., 268 f., 353<br />
Coleman, J.L. 170<br />
Collins, P.H. 101<br />
Condorcet 277 f.<br />
Cortina, A. 140, 299, 304, 311, 335, 353<br />
Crowe, M.B. 90<br />
Dahl 335<br />
Deckert, M.R. 22, 46, 136, 140, 285, 291<br />
Del Vec<strong>ch</strong>io, G. 55, 58<br />
Derrida, J. 150<br />
Dewey, J. 159, 339<br />
Dießelhorst, M. 46<br />
Donnelly, J. 318 f.<br />
Dreher, E. 346<br />
Dreier, H. 31, 34 f., 97, 265, 305, 339 f.,<br />
344, 352<br />
Dreier, J. 168<br />
Dreier, R. 21, 22, 23, 30 ff., 38 ff., 45 ff., 76,<br />
86 ff., 133, 136 ff., 145, 148, 150, 224,<br />
264, 266, 285 f., 337 f.<br />
Dürr, D. 42<br />
413
Dürrenmatt, F. 100, 213<br />
Duxbury, N. 128<br />
Dworkin, R. 35 f., 158, 164, 259<br />
Edmundson, W.A. 176<br />
Elster, J. 110<br />
Emmenegger, S. 359, 361<br />
Engis<strong>ch</strong>, K. 32, 46, 63 f.<br />
Englän<strong>der</strong>, A. 30<br />
Esser, J. 36, 150, 222<br />
Fikents<strong>ch</strong>er, W. 60, 73<br />
Finer, S.E. 24<br />
Finnis, J. 89, 91, 139, 141<br />
Fishkin, J. 182, 243, 349, 355 f.<br />
Fisk, M. 55, 77, 158<br />
Foriers, P. 64<br />
Forst, R. 158 f.<br />
Franck, T.M. 115<br />
Frankena, W.K. 52, 60<br />
Frey, B.S. 168<br />
Fris<strong>ch</strong>, W. 346<br />
Fukuyama, F. 24, 319<br />
Gadamer, H.-G. 240, 349<br />
Gauthier, D. 86, 96, 98, 102, 106, 111, 156,<br />
170, 176, 181 f., 186 ff., 193, 197, 232,<br />
275, 280 f., 334<br />
Geiger, T. 35<br />
Gert, B. 51, 141<br />
Gewirth, A. 60, 99<br />
Goerli<strong>ch</strong>, H. 36<br />
Gould, C.C. 108, 335<br />
Gril, P. 218, 249, 262, 291<br />
Grisez, G. 91, 139<br />
Gronke, H. 217<br />
Günther, K. 25, 42, 215, 222, 283, 291, 302<br />
Güth, W. 171<br />
Gusy, C. 335<br />
Gutman, A. 161<br />
Haba, E.P. 39<br />
Habermas, J. 21, 22, 23, 41 f., 52 ff., 71, 92<br />
ff., 113 f., 116, 134 f., 138, 140, 143, 145,<br />
217, 222, 231 ff., 238 ff., 257 f., 262, 266,<br />
291, 294, 295 ff., 302, 307 f., 314 ff., 327,<br />
331, 336, 339, 345 f., 348 ff., 353 ff., 359,<br />
361<br />
Hagen, O. v.d. 276<br />
Hain, K.-E. 140<br />
Hall, E.W. 99 f.<br />
Hamilton, W.D. 276<br />
Hamlin, A. 106<br />
Hardin, G.J. 276, 333<br />
Harding, S. 101<br />
Hare, R.M. 28, 47 f., 58, 100, 102<br />
Harsanyi, J.C. 53, 111, 156, 169, 173, 174,<br />
175, 179, 181 ff., 190, 197, 232, 269, 275,<br />
278<br />
Hart, H.L.A. 24, 30, 34, 58 f., 64 f., 72, 79,<br />
123, 141, 333<br />
Haug, H. 32<br />
Hayek, F.A. 70, 146 ff., 151 ff., 265 f.<br />
Heermann, P.W. 194<br />
Hegel, G.W.F. 22, 86, 94, 157 ff.<br />
Heidegger, M. 240<br />
Heidorn, J. 103 f., 150<br />
Hekman, S. 101, 115<br />
Held, V. 114<br />
Henke, W. 36, 341<br />
Henkel, H. 63<br />
Heun, W. 62 f.<br />
Hilgendorf, E. 222, 262 f.<br />
Hinkmann, J. 319 f.<br />
Hins<strong>ch</strong>, W. 200<br />
Hittinger, R. 89, 91<br />
Hobbes, T. 22, 24, 32, 83, 85 f., 90, 98, 102,<br />
107, 170 ff., 178, 280 f., 360<br />
Höffe, O. 23, 25, 28, 31, 41 f., 48 ff., 61, 69<br />
f., 78, 86, 89 ff., 92, 94 f., 98, 116 f., 149<br />
f., 181, 193 ff., 200, 262, 265, 276, 281 ff.,<br />
284<br />
Hoffmann, R. 22, 132, 299<br />
Hoffmann-Riem, W. 64<br />
Hofmann, H. 33, 340<br />
Homann, K. 99<br />
Honneth, A. 159, 304<br />
Hufen, F. 346<br />
Hume, D. 22, 79 f., 100 f., 147, 178, 202,<br />
212<br />
Huntington, S.P. 24, 319<br />
Huster, S. 36, 42, 56, 58, 60 ff., 64 ff., 129<br />
Jaggar, A.M. 116<br />
Jansen, N. 53 ff., 71, 74, 209, 262 f., 266,<br />
275, 287<br />
Jasay, A. de 333<br />
414
Jellinek, G. 30, 141, 347<br />
Jhering, R. v. 24<br />
Joas, H. 158<br />
Jo<strong>ch</strong>um, G. 243 f., 335, 356<br />
Kagan, S. 53, 100, 106 f., 153<br />
Kant, I. 22, 24, 27 f., 46, 83 ff., 91, 95, 98,<br />
102, 107, 159, 198, 202, 213, 225, 233,<br />
292<br />
Kaufman, C.K. 141<br />
Kaufmann, A. 21, 22, 28 f., 32, 38, 42, 45,<br />
88 f., 90 f., 99 f., 134 ff., 218, 221, 285,<br />
290 f., 293 f., 317, 338, 350<br />
Kaufmann, M. 30<br />
Kearns, T.R. 69, 151<br />
Kelly, F.J. 157<br />
Kelly, J.J. 38<br />
Kelly, J.S. 278<br />
Kelsen, H. 30 ff., 38, 46, 48 ff., 55 f., 71 ff.,<br />
91, 145 f., 152, 264 f.<br />
Kern, L. 23, 42, 134, 232, 276, 278<br />
Kersting, W. 22, 25, 30 f., 46, 48, 58, 97 ff.,<br />
101 f., 140, 157, 193, 196, 242, 283, 285<br />
Kettner, M. 193, 196, 226, 283<br />
Keuth, H. 262, 290<br />
Kir<strong>ch</strong>gässner, G. 28, 138, 169, 276<br />
Kir<strong>ch</strong>hof, P. 36, 56, 62<br />
Kir<strong>ch</strong>ner, C. 168, 177<br />
Kits<strong>ch</strong>elt, H. 22, 140<br />
Klenner, H. 22, 81, 103, 143, 154<br />
Kley, R. 22, 146 ff., 266 f.<br />
Klippel, D. 318<br />
Köhler, M. 286<br />
Koller, P. 22, 31, 41 f., 86, 99, 182, 193, 204,<br />
281, 283 f.<br />
Koriath, H. 252, 290<br />
Kriele, M. 24, 46, 48, 55, 58 f., 130, 318,<br />
326, 352<br />
Kübler, F. 352<br />
Kühnhardt, L. 318 f.<br />
Kuhlmann, W. 263 f., 359<br />
Kuhn, T.S. 245<br />
Kukathas, C. 148, 266<br />
Ladeur, K.-H. 35, 150 ff., 245, 336 f., 346,<br />
355<br />
Lang, S. 361<br />
Lasars, W. 155<br />
Laun, R. v. 346<br />
Lee, D.E. 115<br />
Leibniz, G.W. 30, 46<br />
Leisner, W. 32, 35, 63<br />
Lenoble, J. 245<br />
Levy, B.H. 47<br />
Lightfoot-Klein, H. 319<br />
Lind, E.A. 120<br />
Locke, J. 22, 24, 85 ff., 90, 178, 183, 185,<br />
188, 192, 329<br />
Lucas, J.R. 28, 47, 49, 52 ff., 64 ff., 70, 118,<br />
138, 179 f., 183, 197, 275<br />
Lübbe, G. 25, 99<br />
Luhmann, N. 30, 33, 35, 38, 72, 78, 104,<br />
135, 148 ff., 151 ff., 267<br />
Lyons, D. 152 f., 155<br />
Lyotard, J.-F. 108, 150 f., 243, 262<br />
Ma<strong>ch</strong>iavelli, N. 251<br />
Ma<strong>ch</strong>ura, S. 148 f.<br />
MacIntyre, A.C. 67, 94, 143, 152, 157 ff.,<br />
161 ff., 167<br />
Mackie, J.L. 153<br />
Madison, J. 243, 339, 341, 349<br />
Maihofer, W. 30<br />
Manthe, U. 46, 57<br />
Mason, D.T. 25, 284<br />
Matsuda, M. 114<br />
Maturana, H.R. 151<br />
Maus, I. 295<br />
Mayer-Maly, D. 89<br />
Mayer-Maly, T. 32<br />
McKenzie, R.B. 168, 275<br />
Medina, V. 22, 98, 102, 117, 157<br />
Mengel, H.-J. 345<br />
Mieth, D. 68<br />
Moore, G.E. 42, 155, 262<br />
Morgenstern, O. 25, 173, 181, 270 f.<br />
Morlok, M. 33, 36, 39, 352 f.<br />
Mueller, D.C. 278<br />
Müller, F. 71<br />
Müller, H.-P. 232<br />
Müller, J.P. 37, 220, 302, 334, 336, 339 f.,<br />
345, 352, 354<br />
Müller, L. 154, 301, 319<br />
Munk, A. 275<br />
415
Nagel, T. 25, 53 f., 100 f., 105 f., 138, 158,<br />
212 ff., 215, 288<br />
Nagl-Docekal, H. 115<br />
Narveson, J. 102<br />
Nash, J.F. 172, 173 f., 179, 197, 272, 275<br />
Neumann, J. v. 25, 173, 181, 270 f.<br />
Neumann, U. 126 ff., 130, 219, 302, 317<br />
Nida-Rümelin, J. 99, 107, 140, 275 f., 278,<br />
283<br />
Nietzs<strong>ch</strong>e, F. 78, 82 f., 143 f., 158<br />
Nino, C.S. 100, 231, 251<br />
Nozick, R. 22, 25, 49, 86, 106, 138, 171 f.,<br />
176, 183 ff., 187 f., 191, 193, 196, 259,<br />
286<br />
Nyerere, J.K. 319<br />
Okin, S.M. 114<br />
Olson, M. 333<br />
O'Neill, O. 103, 115<br />
Parfit, D. 115, 153, 155, 276 f.<br />
Pateman, C. 114<br />
Patzig, G. 28, 144, 234, 295<br />
Pauer-Stu<strong>der</strong>, H. 80, 98, 102, 115, 144, 361<br />
Peczenik, A. 132, 248<br />
Perelman, C. 46, 48, 56, 62 ff., 136, 231,<br />
256, 349<br />
Persson, I. 114<br />
Peters, B. 111, 168<br />
Pethig, R. 276<br />
Pettit, P. 106<br />
Pfordten, D. v.d. 27, 33 ff., 38, 74, 135<br />
Pieper, A. 28, 53, 236<br />
Pietzcker, J. 346<br />
Pits<strong>ch</strong>as, R. 335, 346<br />
Pogge, T.W. 115<br />
Popper, K. 147, 261, 264<br />
Posner, R.A. 28, 75, 130, 138, 168, 285, 357<br />
Pre<strong>ch</strong>tl, P. 286<br />
Proudhon, P.J. 117<br />
Puntel, L.B. 291<br />
Radbru<strong>ch</strong>, G. 31 f., 48, 63 ff., 349<br />
Raphael, D.D. 64<br />
Rawls, J. 22, 23, 25, 28, 41 f., 47, 49, 58, 62,<br />
70, 73 f., 77, 79, 86, 91, 96, 98 ff., 102,<br />
105 f., 110 f., 113, 115 f., 120, 124 ff., 134<br />
ff., 155, 158, 164, 180 ff., 190, 199 ff., 205<br />
ff., 216, 259, 284 ff., 299, 331<br />
Reese-S<strong>ch</strong>äfer, W. 107, 150 f., 157, 218, 222,<br />
226, 231, 266<br />
Regan, T. 114<br />
Rennig, C. 120<br />
Renzikowski, J. 30, 33<br />
Res<strong>ch</strong>er, N. 60<br />
Ricœur, P. 64, 150 ff., 155, 286<br />
Rinck 35<br />
Ritterband, C.E. 319<br />
Robbers, G. 36, 46<br />
Rock, A. 335<br />
Roellecke, G. 38<br />
Röhl, K.F. 87, 119 f.<br />
Rorty, R. 150<br />
Rosen, S. 143 f.<br />
Rosenkrantz, C.F. 200<br />
Ross, A. 71, 145, 155<br />
Rümelin, M. 32, 66, 60<br />
Rüthers, B. 60, 69<br />
Sacksofsky, U. 166<br />
Sandel, M.J. 25, 106 f., 158, 159 ff., 167<br />
Sarat, A. 69, 151<br />
Savigny, E. v. 226<br />
Scanlon, T.M. 158, 211, 216, 288<br />
S<strong>ch</strong>aper, J. 150<br />
S<strong>ch</strong>effler, S. 83, 153, 155<br />
S<strong>ch</strong>midt, E. 346<br />
S<strong>ch</strong>midt, T. 275<br />
S<strong>ch</strong>midt, V. 110<br />
S<strong>ch</strong>mitt, C. 347 f.<br />
S<strong>ch</strong>nädelba<strong>ch</strong>, H. 152, 157<br />
S<strong>ch</strong>nepel, P. 200, 205, 209, 286 f.<br />
S<strong>ch</strong>openhauer, A. 82, 144<br />
S<strong>ch</strong>otter, A.R. 278<br />
S<strong>ch</strong>roth, J. 46, 62<br />
S<strong>ch</strong>ulze-Fielitz, H. 345, 348 f.<br />
S<strong>ch</strong>umpeter, J.A. 154, 335, 348 f.<br />
S<strong>ch</strong>uon, K.T. 298<br />
Searle, J.R. 48, 225 ff., 262<br />
Selten, R. 173, 175, 179, 274 f.<br />
Shklar, J.N. 69<br />
Sieckmann, J.-R. 22, 36, 266, 269, 287<br />
Sieyes, E.J. 340, 342<br />
Simon, T. 42, 69 f., 335, 337<br />
Simons, P.M. 89<br />
Sinha, S.P. 256, 319<br />
416
Skirbekk, G. 359<br />
Skubik, D.W. 115<br />
Smith, A. 100, 147, 232<br />
Snook, D. 25, 284<br />
Soltan, K.E. 88<br />
Spaemann, R. 58<br />
Starck, C. 36<br />
Stark, R. 122<br />
Steiner, D. 121<br />
Steinhoff, U. 290<br />
Steinvorth, U. 25, 77, 102, 264<br />
Sterba, J.P. 108 f.<br />
Stern, K. 318 f.<br />
Stevenson, C.L. 144<br />
Stigler, G.J. 177<br />
Stin<strong>ch</strong>combe, A.L. 28<br />
Strangas, J. 262<br />
Stückrath, B. 344<br />
Sturma, D. 53<br />
Sunstein, C. 243<br />
Tammelo, I. 32, 46, 49 f., 57, 59 f., 64<br />
Taylor, C. 157 ff., 163 f., 167<br />
Taylor, M. 25, 163, 333 f.<br />
Tesón, F.R. 115<br />
Tettinger, P.J. 121 f.<br />
Teubner, G. 75, 150 f.<br />
Thomas von Aquin 46, 57, 90 f., 98 f.<br />
Timm, B. 262<br />
Tönnies, S. 167<br />
Trapp, R. 156, 269<br />
Tribe, L. 353<br />
Trude, P. 57 f.<br />
Ts<strong>ch</strong>annen, P. 247, 275, 302, 331<br />
Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er, A. 129, 359<br />
Tugendhat, E. 290<br />
Tullock, G. 168, 177, 275<br />
Tyler, T.R. 120<br />
Ulpian 45 f., 67, 91<br />
Vanberg, V. 25<br />
Van<strong>der</strong>veken, D. 225<br />
Varela, F.J. 151 f.<br />
Vesting, T. 139, 335<br />
Vlastos, G. 47<br />
Waldstein, W. 45, 90<br />
Walter, R. 38, 146<br />
Walzer, M. 25, 110, 116, 158 f., 163, 164 ff.<br />
Weale, A. 285<br />
Weber, M. 39, 103 ff., 229, 236, 348, 357<br />
Weikard, H.-P. 192<br />
Weinberger, O. 28, 71, 290 f., 348 ff., 354<br />
Weinreb, L.L. 46, 89<br />
Weiß, E. 299<br />
Wellbank, H.G. 25, 284<br />
Wels<strong>ch</strong>, W. 60, 151<br />
Welzel, H. 66, 74, 89<br />
Wesner, G. 35 f.<br />
White, S.K. 150<br />
Wieacker, F. 30, 40<br />
Winckelmann, J. 104<br />
Wippler, R. 25<br />
Wittgenstein, L. 59, 248<br />
Young, I.M. 114<br />
Zimmer, G. 150<br />
Zimmermann, E. 298<br />
Zippelius, R. 60, 150, 323<br />
Zoglauer, T. 71<br />
Zsidai, A. 63, 336<br />
Zweig, E. 340<br />
417