ZBJV 2013 - servat.unibe.ch - Universität Bern
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Zeits<strong>ch</strong>rift<br />
des Hernis<strong>ch</strong>en<br />
Juristenvereins<br />
Revue<br />
de Ia societe<br />
des juristes<br />
bernois<br />
149. Jahrgang<br />
Ers<strong>ch</strong>eint<br />
jeden Monat<br />
Oktober<br />
<strong>2013</strong><br />
10 <strong>2013</strong><br />
www.zbjv.<strong>ch</strong><br />
Organ für s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tspflege<br />
und Gesetzgebung<br />
Redaktoren<br />
Prof. Dr. Heinz Hausheer<br />
Prof. Dr. Jörg S<strong>ch</strong>mid<br />
Stämpfli<br />
Verlag AG<br />
<strong>Bern</strong><br />
ft1 Stämpfli Verlag
<strong>ZBJV</strong> ·Band 149 · <strong>2013</strong> 773<br />
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong><br />
Von Proff. WALTER KÄLIN, JÖRG KÜNZLI, ANDREAS<br />
LIENHARD, PIERRE TSCHANNEN, AXEL TSCHENTSCHER,<br />
JumTH WYTTENBACH, <strong>Bern</strong><br />
Die Autoren sind Mitglieder des Departements für öffentli<strong>ch</strong>es<br />
Re<strong>ch</strong>t der Re<strong>ch</strong>tswissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong>. Sie<br />
haben die Bespre<strong>ch</strong>ung der bundesgeri<strong>ch</strong>tliehen Urteile aus den Jahren<br />
2012 und <strong>2013</strong> untereinander aufgeteilt; angestrebt wird eine Konzentration<br />
auf die wi<strong>ch</strong>tigsten Ents<strong>ch</strong>eide, insbesondere zu Grundsatzfragen.<br />
Die Beiträge sind mit den Namen des jeweiligen Autors gekennzei<strong>ch</strong>net.*<br />
Inhaltsübersi<strong>ch</strong>t<br />
I. Grundsätze re<strong>ch</strong>tsstaatliehen Handeins (AXEL TscHENTSCHER)<br />
II.<br />
III.<br />
IV.<br />
Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren (JöRG KÜNZLI)<br />
Re<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit und Willkürverbot (WALTER KÄLIN)<br />
1. Re<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit und Diskriminierungsverbot<br />
1.1 Re<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heitsgebot<br />
1.2 Diskriminierungsverbot<br />
2. Willkürverbot und Wahrung von Treu und Glauben<br />
2.1 Wi II kürverbot<br />
2.2 Gebot von Treu und Glauben<br />
Grundre<strong>ch</strong>te des Persönli<strong>ch</strong>keitss<strong>ch</strong>utzes (AXEL TscHENTSCHER)<br />
I. Anspru<strong>ch</strong> auf Hilfe in Notlagen<br />
2. Persönli<strong>ch</strong>e Freiheit<br />
2.1 Anspru<strong>ch</strong> auf Arbeitsbewilligung<br />
2.2 Bewegungsfreiheit- Fürsorgeris<strong>ch</strong>e Freiheitsentziehung na<strong>ch</strong><br />
verbüsster Jugendstrafe<br />
3. Privatsphäre<br />
3.1 Telefonabhörung von Drittans<strong>ch</strong>lüssen<br />
3.2 Verbotene Arbeitnehmerüberwa<strong>ch</strong>ung<br />
* Für substanzielle Mitarbeit danken wir PETER BIER!, JONAS LAAGER, STEFAN<br />
SCHLEGEL, JOHANNES SOKOLL.
774 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
4. Informationelle Selbstbestimmung<br />
4.1 Vollma<strong>ch</strong>t für Auskünfte bei Sozialhilfebegehren<br />
4.2 Ungelös<strong>ch</strong>tes DNA-Profil<br />
5. Re<strong>ch</strong>t auf Ehe~ Verweigerung bei Altersunters<strong>ch</strong>ied<br />
6. Grunds<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t ~ Montessori gegen S<strong>ch</strong>ulphobie<br />
V. Glaubens- und Gewissensfreiheit (AXEL TscHENTSCHER)<br />
I. S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t<br />
2. Yogaunterri<strong>ch</strong>t<br />
3. Kopftu<strong>ch</strong>verbot für S<strong>ch</strong>ülerinnen (Bürglen)<br />
VI.<br />
Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te (AXEL TSCHENTSCHER)<br />
I. Meinungsfreiheit<br />
1.1 Leitkultur als <br />
1.2 Tierversu<strong>ch</strong>e als «Massenverbre<strong>ch</strong>en>><br />
2. Medienfreiheit<br />
2.1 Gebührenverzi<strong>ch</strong>t beim journalistis<strong>ch</strong>en Zugang zu<br />
öffentli<strong>ch</strong>en Dokumenten<br />
2.2 Geheimhaltungspfli<strong>ch</strong>t der Mediens<strong>ch</strong>affenden<br />
2.3 Ergänzende Botox-Informationen im Internet<br />
2.4 Verhaftung von Pressefotografen<br />
2.5 Verantwortli<strong>ch</strong>keit der Tribune de Geneve für Bioginhalte<br />
2.6 Medienöffentli<strong>ch</strong>keit der Justiz<br />
3. Koalitionsfreiheit ~gewerks<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Betriebszugang<br />
4. Spra<strong>ch</strong>enfreiheit ~ S<strong>ch</strong>ulversu<strong>ch</strong> Rumants<strong>ch</strong> Gris<strong>ch</strong>un<br />
VII.<br />
Eigentumsgarantie und Wirts<strong>ch</strong>aftsfreiheit (ANDREAS LIENHARD)<br />
1. Eigentumsgarantie<br />
1.1 Restwassersanierungen na<strong>ch</strong> Gewässers<strong>ch</strong>utzgesetz<br />
1.2 Sanierungsmassnahmen einer Pensionskasse<br />
1.3 Materielle Enteignung dur<strong>ch</strong> Ni<strong>ch</strong>teinzonung<br />
1.4 Bewirts<strong>ch</strong>aftung von Kundenparkplätzen<br />
1.5 Bes<strong>ch</strong>lagnahme eines Hundes<br />
2. Wirts<strong>ch</strong>aftsfreiheit<br />
2.1 Staatli<strong>ch</strong>e Wirts<strong>ch</strong>aftstätigkeit<br />
2.2 Wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Tätigkeit und Grundre<strong>ch</strong>tsbindung<br />
2.3 Bes<strong>ch</strong>werdelegitimation von Konkurrenten<br />
2.4 Anwältinnen und Anwälte unter dem S<strong>ch</strong>utz der Wirts<strong>ch</strong>aftsfreiheit<br />
2.5 Submission
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 775<br />
VIII. Andere verfassungsmässige Re<strong>ch</strong>te (PIERRE TscHANNEN)<br />
1. Politis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te<br />
l.l Verhältniswahl<br />
1.2 Mehrheitswahl<br />
1.3 Volksinitiative<br />
1.4 Referendum<br />
1.5 Behördli<strong>ch</strong>e Einflussnahme<br />
2. Vorrang des Bundesre<strong>ch</strong>ts<br />
3. Gemeindeautonomie<br />
4. Gewaltenteilung<br />
IX.<br />
Staatsverträge und Konkordate (JÖRG KÜNZLI)<br />
X. Verfahrensgarantien (JUDITH WYTTENBACH)<br />
I. Allgemeine Verfahrensgarantien<br />
l.l Anspru<strong>ch</strong> auf glei<strong>ch</strong>e und gere<strong>ch</strong>te Behandlung<br />
1.2 Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör<br />
2. Garantien in geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Verfahren<br />
3. Garantien beim Freiheitsentzug<br />
I. Grundsätze re<strong>ch</strong>tsstaatliehen Handeins<br />
(AXEL TSCHENTSCHER)<br />
Au<strong>ch</strong> in diesem Beri<strong>ch</strong>tszeitraum bekräftigte das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
wiederum seine Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung, na<strong>ch</strong> der das Verhältnismässigkeitsprinzip<br />
des Artikels 5 BV ni<strong>ch</strong>t als selbständiges verfassungsmässiges<br />
Re<strong>ch</strong>t eingefordert werden könne. 1 Im Rahmen der na<strong>ch</strong>folgenden<br />
Willkürprüfung wurden beide Bes<strong>ch</strong>werden abgewiesen, was einmal<br />
mehr zeigt, wie gering die Erfolgsaussi<strong>ch</strong>ten bei dieser Verfahrenskonstellation<br />
sind.<br />
1 BGer 2C~902/2012 vom 5. Mai <strong>2013</strong> E. 2.1 ~ Bushaltestelle Oberwil;<br />
BGer IC~592/2012 vom 7. März <strong>2013</strong> E. 3.3 ~ Parteients<strong>ch</strong>ädigung na<strong>ch</strong> Wiedererwägung.<br />
Zur bisherigen Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung siehe <strong>ZBJV</strong> 147 (20ll), 749, und <strong>ZBJV</strong> 148<br />
(2012), 679.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 789<br />
Vorabklärung (sog. «Ruling»), so begründet diese Stellungnahme nur<br />
bezügli<strong>ch</strong> der direkten Bundessteuern einen Vertrauenss<strong>ch</strong>utz, ni<strong>ch</strong>t<br />
au<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> der Kantons- und Gemeindesteuern (BGE 138 II 545).<br />
Gelangt die kantonale Steuerverwaltung bezügli<strong>ch</strong> derselben Steuersubjekte<br />
und derselben Veranlagungsperiode zu einer anderen Auffassung,<br />
ist für die Bemessung der Gemeinde- und Kantonssteuern allein<br />
diese massgebend. Die Aufsi<strong>ch</strong>tsfunktion der Eidgenössis<strong>ch</strong>en Steuerverwaltung<br />
bezieht si<strong>ch</strong> nur auf die direkte Bundessteuer, und verbindli<strong>ch</strong><br />
sind ihre Äusserungen für die kantonale Steuerverwaltung selbst<br />
dort ni<strong>ch</strong>t, wo sie im Rahmen des Harmonisierungsre<strong>ch</strong>ts dazu befugt<br />
ist, si<strong>ch</strong> in Verfahren zu Kantons- und Gemeindesteuern vor dem Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
vernehmen zu lassen (E. 2.2).<br />
IV.<br />
Grundre<strong>ch</strong>te des Persönli<strong>ch</strong>keitss<strong>ch</strong>utzes<br />
(ÄXEL TSCHENTSCHER)<br />
1. Anspru<strong>ch</strong> auf Hilfe in Notlagen<br />
Im Fall eines <strong>Bern</strong>er Informatikers, der si<strong>ch</strong> geweigert hatte,<br />
einen Testeinsatz als Parkreiniger zu absolvieren, hielt das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
fest, dass eine zweimonatige Strei<strong>ch</strong>ung der Sozialhilfe zulässig<br />
sei. 3 Das Geri<strong>ch</strong>t betont, au<strong>ch</strong> der Nothilfeanspru<strong>ch</strong> sei ni<strong>ch</strong>t voraussetzungslos<br />
gewährleistet, sondern ausges<strong>ch</strong>lossen, wenn jemand objektiv<br />
in der Lage sei, si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> zurnutbare Arbeit aus eigener Kraft<br />
zu unterhalten, «sol<strong>ch</strong>e Personen stehen ni<strong>ch</strong>t in jener Notsituation, auf<br />
die das Grundre<strong>ch</strong>t auf Hilfe in Notlagen zuges<strong>ch</strong>nitten ist» (E. 3.3).<br />
2. Persönli<strong>ch</strong>e Freiheit<br />
2.1 Anspru<strong>ch</strong> auf Arbeitsbetvilligung<br />
In einem dur<strong>ch</strong> vorsi<strong>ch</strong>tige Formulierungen und Abweisung im<br />
Ergebnis sehr unauffälligen Ents<strong>ch</strong>eid des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts verbirgt si<strong>ch</strong><br />
eine prinzipiell bedeutungsvolle Praxisänderung beim asylre<strong>ch</strong>tliehen<br />
3 BGer 8C_962/2012 vom 29. Juli <strong>2013</strong> - <strong>Bern</strong>er Citypfiege; vorgesehen zur<br />
Publikation.
790 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> ·Band 149 · <strong>2013</strong><br />
Arbeitsverbot (BGE 138 I 246). Ein Asylbewerber aus Banglades<strong>ch</strong> hatte<br />
seit 1995 erfolglos versu<strong>ch</strong>t, die Bereinigung seines Aufenthaltsstatus<br />
zu errei<strong>ch</strong>en. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> begehrte er eine Arbeitsbewilligung, um si<strong>ch</strong><br />
von der Nothilfe lösen zu können. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t bestand zwar<br />
darauf, dass das asylre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Erwerbsverbot (Art. 43 Abs. 2 AsylG)<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong> sei, um die Wegweisung ni<strong>ch</strong>t zu gefährden<br />
(E. 3.2.2). Der S<strong>ch</strong>utz des Privat- und Familienlebens na<strong>ch</strong> Art. 8 EMRK<br />
könne aber in Ausnahmesituationen au<strong>ch</strong> bei einer bloss faktis<strong>ch</strong>en Anwesenheit<br />
ohne irgendwie geartetes Aufenthaltsre<strong>ch</strong>t eine Arbeitserlaubnis<br />
erfordern. Bei einem 13-jährigen Arbeitsverbot sei die freie Gestaltung<br />
der Lebensführung in einem Mass einges<strong>ch</strong>ränkt, die den Sinn und<br />
Zweck der Regelung infrage stelle (E. 3.3.2). Zwar wird das Begehren<br />
des Bes<strong>ch</strong>werdeführers im Ergebnis abgewiesen. Das Geri<strong>ch</strong>t gibt dem<br />
Amt für Migration in Basel-Lands<strong>ch</strong>aft aber den Auftrag, beim nä<strong>ch</strong>sten<br />
S<strong>ch</strong>eitern der Wegweisung eine (vorläufige) Arbeitsmögli<strong>ch</strong>keit und damit<br />
den Ausweg aus der Nothilfeabhängigkeit zu s<strong>ch</strong>affen (E. 3.3.4).<br />
2.2 Bewegungsfreiheit- Fürsorgeris<strong>ch</strong>e Freiheitsentziehung na<strong>ch</strong><br />
verbiisster Jugendstrafe<br />
Das wohl meistkritisierte Urteil des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts im Beri<strong>ch</strong>tszeitraum<br />
fällte die II. zivilre<strong>ch</strong>tliehen Abteilung, indem sie die Fürsorgeris<strong>ch</strong>e<br />
Freiheitsentziehung, die einen psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong> Kranken betraf, guthiess,<br />
der als Jugendli<strong>ch</strong>er eine Prostituierte ermordet hatte (BGE 138<br />
III 593). Als Voraussetzung für eine sol<strong>ch</strong>e Unterbringung sieht Art. 397a<br />
Abs. 1 ZGB vor, dass «die nötige persönli<strong>ch</strong>e Fürsorge» für die betroffene<br />
Person «ni<strong>ch</strong>t anders erwiesen werden kann». Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
argumentiert nun, dass aus dem Fremdgefährdungspotenzial zwangsläufig<br />
ein Fürsorgebedürfnis folge: «Wer die Si<strong>ch</strong>erheit anderer bedroht,<br />
ist persönli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>utzbedürftig», denn zum S<strong>ch</strong>utzauftrag gehöre au<strong>ch</strong>,<br />
«eine kranke bzw. verwirrte Person davon abzuhalten, eine s<strong>ch</strong>were<br />
Straftat zu begehen» (E. 5.2). Zudem gestattete das Geri<strong>ch</strong>t ausnahmsweise<br />
die Einweisung in eine Straf- statt in eine Therapieanstalt, weil<br />
«die wesentli<strong>ch</strong>en Bedürfnisse» au<strong>ch</strong> dort befriedigt werden könnten<br />
(E. 8.1). Im Ergebnis hat das Bundesgeri<strong>ch</strong>t mit diesem Ents<strong>ch</strong>eid eine<br />
Fürsorgeris<strong>ch</strong>e Freiheitsentziehung wegen Fremdgefährdung zugelassen,<br />
wie sie im Gesetz ni<strong>ch</strong>t vorgesehen ist. Kombiniert mit der Unterbringung<br />
in der Jugendstrafanstalt wirkt si<strong>ch</strong> diese für den Betroffenen wie<br />
eine unbefristete Fortsetzung der Jugendstrafe contra legem aus.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 791<br />
3. Privatsphäre<br />
3.1 Telefonabhörung von Drittans<strong>ch</strong>lüssen<br />
Auf eine Bes<strong>ch</strong>werde der Staatsanwalts<strong>ch</strong>aft hin hat das<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>t die Abhörung von Drittans<strong>ch</strong>lüssen in Grenzen für zulässig<br />
erklärt (BGE 138 IV 232). Das Zwangsmassnahmengeri<strong>ch</strong>t hatte<br />
es abgelehnt, im Rahmen der Strafverfolgung wegen Raubdelikten<br />
den Telefonans<strong>ch</strong>luss der Freundin eines Verdä<strong>ch</strong>tigen abhören zu<br />
lassen, die selbst ni<strong>ch</strong>t unter Tatverda<strong>ch</strong>t stand. Das Gesetz sieht die<br />
Telefonüberwa<strong>ch</strong>ung bei Drittpersonen vor, wenn der Bes<strong>ch</strong>uldigte den<br />
Ans<strong>ch</strong>luss benutzt (Art. 270 lit. b Ziff. 1 StPO). Strittig war nun, ob<br />
diese Benutzung wie die eines eigenen Ans<strong>ch</strong>lusses erfolgen müsse<br />
(ausgehender Anruf) oder ob es genüge, wenn der Bes<strong>ch</strong>uldigte mit<br />
hoher Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit diesen Ans<strong>ch</strong>luss anrufe (eingehender Anruf,<br />
E. 2.2). Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t hält die weitere Interpretation für ri<strong>ch</strong>tig<br />
und grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt, verlangt aber im Sinne eines milderen<br />
Mittels zur verfassungskonformen Anwendung, dass die Überwa<strong>ch</strong>ung<br />
des Drittans<strong>ch</strong>lusses abzubre<strong>ch</strong>en sei, sobald feststehe, von wel<strong>ch</strong>em<br />
Ans<strong>ch</strong>luss aus der Verdä<strong>ch</strong>tige die Gesprä<strong>ch</strong>e führt (E. 6.3).<br />
3.2 Verbotene Arbeitnehmerüberwa<strong>ch</strong>ung<br />
Mit einem gegen den Arbeitnehmer eingesetzten Spionageprogramm,<br />
das ohne seine Kenntnis über drei Monate dessen Computer<br />
überwa<strong>ch</strong>te, hat eine Tessiner Zivils<strong>ch</strong>utzorganisation in grundre<strong>ch</strong>tswidriger<br />
Weise Beweismittel erlangt, wel<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t verwertet werden<br />
dürfen, weshalb die fristlose Kündigung ni<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>tfertigt war. 4 Die<br />
mit dem Programm erstellten Bilds<strong>ch</strong>irmfotos (Screenshots) offenbarten<br />
dem Arbeitgeber unter anderem streng vertrauli<strong>ch</strong>e Tagebu<strong>ch</strong>texte,<br />
Familienkommunikationen, E-Banking-Vorgänge, private E-Mail-Inhalte<br />
und Inhalte, die dem als Stadtrat (Exekutive) tätigen Mitarbeiter unter<br />
Amtsgeheimnis anvertraut worden waren (E. 5.5.3). Damit waren der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Privatlebens (Art. 13 Abs. 1 BV) sowie, wegen der<br />
Aufzei<strong>ch</strong>nung, das informationeile Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t (Art. 13<br />
Abs. 2 BV) berührt, wobei allerdings im privaten Arbeitsverhältnis die<br />
Grundre<strong>ch</strong>te im Wege der mittelbaren Drittwirkung (Art. 35 Abs. 3 BV)<br />
über die zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Generalklausel zur Geltung zu bringen waren.<br />
4 BGer SC_ 44812012 vom 17. Januar <strong>2013</strong>- Tessiner Arbeitsplatztrojaner.
792 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
Von einer zurnutbaren Eins<strong>ch</strong>ränkung des Arbeitnehmers bei bestehendem<br />
Verda<strong>ch</strong>t konnte s<strong>ch</strong>on deshalb keine Rede sein, weil mildere Mittel<br />
(Webseitensperren, Kontrolle von E-Mail-Randdaten) anstelle der<br />
direkten Inhaltskontrolle hätten eingesetzt werden können (E. 5.5.4).<br />
4. Informationelle Selbstbestimmung<br />
4.1 Vollma<strong>ch</strong>t für Auskünfte bei Sozialhilfebegehren<br />
In einer abstrakten Normenkontrolle zur Novellierung des kantonalbemis<strong>ch</strong>en<br />
Sozialhilfegesetzes (SHG) hatte das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
über mehrere Grundsatzfragen der informationeilen Selbstbestimmung<br />
zu ents<strong>ch</strong>eiden und musste dabei teilweise zum Mittel der<br />
verfassungskonformen Auslegung greifen (BGE 138 I 331).<br />
Die bes<strong>ch</strong>werdeführenden sozialpolitis<strong>ch</strong>en Organisationen hatten<br />
zunä<strong>ch</strong>st gerügt, dass die existenznottvendige Nothilfe von einer<br />
nur unfreiwillig erteilten Vollma<strong>ch</strong>t zur Informationsbes<strong>ch</strong>affung<br />
abhängig gema<strong>ch</strong>t würde (E. 7.1). Das Geri<strong>ch</strong>t gestand zwar zu, dass<br />
die Sozialbehörden neu bereits bei Gesu<strong>ch</strong>seimei<strong>ch</strong>ung auf der Gewährung<br />
einer Vollma<strong>ch</strong>t zur Informationseinholung bestehen müssen<br />
(Art. 8b Abs. 3 SHG), vertrat aber die Interpretation, dass eine Weigerung<br />
ledigli<strong>ch</strong> zur Kürzung des Anspru<strong>ch</strong>s auf ni<strong>ch</strong>t weniger als<br />
den absoluten Existenzbedarf führen dürfe (E. 7.3).<br />
Kritisiert wurde weiter, dass statt einer auf den Zweck der<br />
Sozialhilfedaten bes<strong>ch</strong>ränkten Vollma<strong>ch</strong>t eine Generalvollma<strong>ch</strong>t zur<br />
Auskunfterteilung dur<strong>ch</strong> zahlrei<strong>ch</strong>e Organe und Personen verlangt<br />
würde (Behörden, sonstige Erfüller staatli<strong>ch</strong>er Aufgaben, Angehörige<br />
der Hausgemeins<strong>ch</strong>aft, Unterstützungspfti<strong>ch</strong>tige, Arbeitgeber, Vermieter;<br />
Art. 8c Abs. 1 SHG). Hierzu räumt das Geri<strong>ch</strong>t zwar ein, dass<br />
im Gegensatz zu den Regelungen anderer Kantone in <strong>Bern</strong> eine ausdrückli<strong>ch</strong>e<br />
Zweckbindung für die Vollma<strong>ch</strong>t fehle, do<strong>ch</strong> ergebe si<strong>ch</strong><br />
diese Bes<strong>ch</strong>ränkung interpretatoris<strong>ch</strong> aus der Systematik des Abklärungsprozederes<br />
(E. 7.4.2.3 und 7.4.3).<br />
Was die Freiwilligkeit der Vollma<strong>ch</strong>terteilung angeht, so betont<br />
das Geri<strong>ch</strong>t zunä<strong>ch</strong>st, dass diese in der Tat zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen<br />
gehöre (E. 7.4.1). Der blasse Umstand, dass eine Verweigerung<br />
mit na<strong>ch</strong>teiligen Folgen verknüpft sei, beseitige aber die Freiwilligkeit<br />
der Erklärung ni<strong>ch</strong>t. Vielmehr fehle es daran - wie im
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 793<br />
Datens<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>t allgemein - nur in sol<strong>ch</strong>en Fällen, in denen der<br />
Na<strong>ch</strong>teil sa<strong>ch</strong>fremd oder unverhältnismässig sei (E. 7.4.1). Letztli<strong>ch</strong><br />
bedeutet dies, dass die Autonomie des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers so lange<br />
als gewahrt gilt, wie er vertretbaren Abwägungen und ni<strong>ch</strong>t unbedingtem<br />
Zwang ausgesetzt ist. Au<strong>ch</strong> insoweit zeigt si<strong>ch</strong>, dass an der Grenze<br />
der Existenznot (Art. 12 BV) ni<strong>ch</strong>t mehr von einer freiwilligen<br />
Vollma<strong>ch</strong>terteilung die Rede sein kann.<br />
Mit zwei Bemerkungen spri<strong>ch</strong>t das Bundesgeri<strong>ch</strong>t Fragen an, die<br />
grundre<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong> bisher no<strong>ch</strong> weitgehend ungeklärt sind. Zum<br />
einen wird behauptet, die privatautonome Vollma<strong>ch</strong>t ersetze die gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Ermä<strong>ch</strong>tigung (E. 7.4.2.2); zum anderen wird die Einwilligung in<br />
die Datenerfassung als Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t eingestuft (E. 6.1). Beides<br />
hängt eng zusammen. Indem der Gesu<strong>ch</strong>steller beim Sozialhilfebegehren<br />
eine Vollma<strong>ch</strong>t zur Informationserfassung erteilt, verzi<strong>ch</strong>tet er tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
auf die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Abwehr gegenüber dieser staatli<strong>ch</strong>en<br />
Handlung. Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t bedeutet, dass der Zwangs<strong>ch</strong>arakter der<br />
Beeinträ<strong>ch</strong>tigung entfällt, man also jedenfalls ni<strong>ch</strong>t mehr von einem<br />
spre<strong>ch</strong>en kann, denn dieser setzt s<strong>ch</strong>on begriffli<strong>ch</strong> voraus,<br />
dass der Staat «mit Zwang», d. h. gegen den Willen des Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigten,<br />
handelt. Weil das informationeHe Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t<br />
gerade die Ents<strong>ch</strong>eidungsfreiheit s<strong>ch</strong>ützt, liegt hier sogar ein tatbestandsauss<strong>ch</strong>liessendes<br />
Einverständnis des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers vor: Die<br />
Datenerfassung für die Sozialhilfe entspri<strong>ch</strong>t seinem Willen über die<br />
Verwendung der persönli<strong>ch</strong>en Daten, sodass die informationeHe Selbstbestimmung<br />
gerade verwirkli<strong>ch</strong>t, ni<strong>ch</strong>t beeinträ<strong>ch</strong>tigt wird. Mit anderen<br />
Worten: Wer in die Datenerfassung einwilligt, beseitigt bereits die Betroffenheit<br />
des sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s. Insoweit hat das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
jedenfalls teilweise re<strong>ch</strong>t mit der Aussage, dass die Vollma<strong>ch</strong>t<br />
eine gesetzli<strong>ch</strong>e Ermä<strong>ch</strong>tigung ersetze. Denn wenn es s<strong>ch</strong>on an der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sbeeinträ<strong>ch</strong>tigung fehlt, jedenfalls aber am Eingriffs<strong>ch</strong>arakter,<br />
dann kommt es gar ni<strong>ch</strong>t mehr zur Prüfung der gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Grundlage na<strong>ch</strong> Art. 36 Abs. 1 BV. Allerdings bedarf es einer Eins<strong>ch</strong>ränkung.<br />
Entbehrli<strong>ch</strong> wird nämli<strong>ch</strong> nur die Grundlage für die Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
von Eingriffen, ni<strong>ch</strong>t hingegen die Grundlage für die Einwilligungsregelung<br />
selbst. Dass der Gesetzgeber im SHG wie au<strong>ch</strong> sonst<br />
überall im Datens<strong>ch</strong>utz die Einwilligung explizit in das Gesetz aufnehmen<br />
muss, folgt s<strong>ch</strong>on aus dem allgemeinen Legalitätsprinzip des Art. 5<br />
Abs. 1 BV. Die Verwaltung dürfte ohne Grundlage im Gesetz au<strong>ch</strong> mit<br />
dem Willen der Betroffenen gar ni<strong>ch</strong>t tätig werden.
794 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
4.2 Ungelös<strong>ch</strong>tes DNA-Profil<br />
Wird ein DNA-Profil trotzfälliger Lös<strong>ch</strong>ung ni<strong>ch</strong>t verni<strong>ch</strong>tet, sondern<br />
stattdessen in einem späteren Strafverfahren verwendet, so ist dies<br />
na<strong>ch</strong> Auffassung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts ein gere<strong>ch</strong>tfertigter Eingriff in die<br />
informationeile Selbstbestimmung, wenn wegen hinrei<strong>ch</strong>enden Tatverda<strong>ch</strong>ts<br />
ohnehin ein neues DNA-Profil hätte erstellt werden können. 5 Die<br />
umgehende Lös<strong>ch</strong>ung des DNA-Profils war na<strong>ch</strong> der 2001 no<strong>ch</strong> geltenden<br />
Zür<strong>ch</strong>er Verordnung über DNA-Analysen vorgesehen und hätte na<strong>ch</strong><br />
dem damaligen Freispru<strong>ch</strong> der Bes<strong>ch</strong>werdeführerin erfolgen müssen<br />
(E. 1.2), was jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ah. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t sah in der späteren<br />
Verwertung keinen Verstoss gegen Art. 141 StPO, wohl aber eine<br />
Beeinträ<strong>ch</strong>tigung der informationeilen Selbstbestimmung, weil die Daten<br />
zum Verwertungszeitpunkt gar ni<strong>ch</strong>t mehr hätten existieren dürfen<br />
(E. 1.3.2). Der Abglei<strong>ch</strong> mit den aktuellen Tatortspuren (Folgeheweis)<br />
sei abertrotzre<strong>ch</strong>tswidrigem Primärbeweis (altem DNA-Profil) verwertbar,<br />
wenn er au<strong>ch</strong> ohne diesen in glei<strong>ch</strong>er Weise erhoben worden wäre.<br />
Weil die Staatsanwalts<strong>ch</strong>aft die Profildaten angefordert hatte, s<strong>ch</strong>loss<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t, dass die Bes<strong>ch</strong>werdeführerin bereits hinrei<strong>ch</strong>end<br />
tatverdä<strong>ch</strong>tig war. Darum habe «ohne weiteres» ein neues DNA-Profil<br />
erstellt werden können (E. 1.4.2). Unter sol<strong>ch</strong>en Umständen dürfe der<br />
Folgebeweistrotz re<strong>ch</strong>tswidrigem DNA-Profil verwertet werden.<br />
5. Re<strong>ch</strong>t auf Ehe - Verweigerung bei Altersunters<strong>ch</strong>ied<br />
Es gehört zu den ganz seltenen Konstellationen, dass die Ehes<strong>ch</strong>liessung<br />
unter Hinweis auf den Altersunters<strong>ch</strong>ied verweigert und dies vom<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>t gutgeheissen wird. S<strong>ch</strong>on im ersten Jahresband der bundesgeri<strong>ch</strong>tliehen<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungssammlung (1875) findet si<strong>ch</strong> die erfolgrei<strong>ch</strong>e<br />
Bes<strong>ch</strong>werde des 27-jährigen Solothurners Kamber, dem die Regierung<br />
die Ehebewilligung verweigert hatte, weil die Frau mit 40 Jahren<br />
zu alt sei, was «keineswegs zur Förderung des Hausfriedens beitragen<br />
dürfte» (BGE 1, 92- Kantonale Ehehindernisse). Im Beri<strong>ch</strong>tszeitraum<br />
sah si<strong>ch</strong> das Bundesgeri<strong>ch</strong>t nun aber gezwungen, die mit dem Altersunters<strong>ch</strong>ied<br />
begründete Abweisung eines Heiratsgesu<strong>ch</strong>s gutzuheissen. 6<br />
5 BGer 68_299/2012 vom 20. September 2012- Ungelös<strong>ch</strong>tes DNA-Profil.<br />
6 BGer 5A_901!2012 vom 23. Januar <strong>2013</strong>- Altersunters<strong>ch</strong>ied.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 795<br />
Eine 35-jährige Cabaret-Tänzerin aus Marokko hatte vor dem definitiven<br />
Auslaufen ihrer Aufenthaltsbewilligung die Heirat mit einem 41 Jahre<br />
älteren S<strong>ch</strong>weizer begehrt. Das Waadtländer Zivilstandsamt verweigerte<br />
das Eintreten, weil die Brautleute «offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> keine Lebensgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
begründen, sondern die Bestimmungen über Zulassung und Aufenthalt<br />
von Ausländerinnen und Ausländern umgehen» wollten (Art. 97a<br />
Abs. 1 ZGB). Dies wurde nun von den Heiratswilligen als altersbezogenes<br />
Eheverbot angesehen. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t würdigte diese Rüge mit<br />
dem Hinweis, dass es si<strong>ch</strong> in der Tat um einen s<strong>ch</strong>werwiegenden Eingriff<br />
handle (E. 3.1), hier aber neben dem Altersunters<strong>ch</strong>ied no<strong>ch</strong> andere Indizien<br />
für ein ni<strong>ch</strong>t ernst gemeintes Heiratsersu<strong>ch</strong>en bestünden, sodass<br />
die Weigerung der Behörden im konkreten Fall gere<strong>ch</strong>tfertigt sei.<br />
6. Grunds<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t- Montessori gegen S<strong>ch</strong>ulphobie<br />
Die Kostenübernahme für eine Montessori-Privats<strong>ch</strong>ule lehnte<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t im Fall eines li-jährigen Mäd<strong>ch</strong>ens mit mehtjähriger<br />
S<strong>ch</strong>ulphobie ab? Obglei<strong>ch</strong> die von zwei Wohnortkantonen na<strong>ch</strong>einander<br />
angebotenen Massnahmen allesamt fru<strong>ch</strong>tlos blieben und<br />
das Kind erst in der Privats<strong>ch</strong>ule seine Angst überwinden konnte, blieb<br />
das Geri<strong>ch</strong>t bei der bisherigen Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung, dass der verfassungsmässige<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf unentgeltli<strong>ch</strong>en Grunds<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t keinen<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf die geeignetste S<strong>ch</strong>ulung eines Kindes bilde (E. 2.1).<br />
V. Glaubens- und Gewissensfreiheit (AXEL TSCHENTSCHER)<br />
1. S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t<br />
Einmal mehr sah si<strong>ch</strong> das Bundesgeri<strong>ch</strong>t veranlasst, seine 2008<br />
vorgenommene Praxisänderung zum obligatoris<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t<br />
für Kinder aus Familien mit strenger muslimis<strong>ch</strong>er Glaubensri<strong>ch</strong>tung<br />
zu bekräftigen. 8 Der grundsätzli<strong>ch</strong>e Vorrang der s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en<br />
7 BGer 2C_528/2012 vom 2. November 2012- S<strong>ch</strong>ulphobie S<strong>ch</strong>wyz.<br />
8 BGer 2C_1079/2012 vom 11. April 2012- S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t Aargau. Zum<br />
Leitents<strong>ch</strong>eid BGE 135 I 79 - S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t S<strong>ch</strong>affhausen siehe <strong>ZBJV</strong> 145<br />
(2009), 748 f.
796 Waller Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
Pfli<strong>ch</strong>ten vor den religiösen Geboten einzelner Bevölkerungsteile<br />
(E. 3.3) bildete wiederum den Kern der Begründung, ergänzt um Hinweise<br />
auf die mögli<strong>ch</strong>e Ganzkörperbadekleidung (sog. Burkini) und<br />
die getrennten Umkleidekabinen (E. 3.4). Von früheren Fällen wi<strong>ch</strong><br />
die neue Konstellation insoweit ab, als es einerseits (eingriffsmildernd)<br />
um getrenntges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t ging, andererseits<br />
der bes<strong>ch</strong>werdeführende Vater (eingriffsers<strong>ch</strong>werend) geltend ma<strong>ch</strong>te,<br />
dass seine 14-jährige To<strong>ch</strong>ter bereits die Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsreife erlangt habe,<br />
dur<strong>ch</strong> privaten S<strong>ch</strong>wimmunterri<strong>ch</strong>t für muslimis<strong>ch</strong>e Mäd<strong>ch</strong>en gar ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr ertrinkensgefährdet sei, der Unterri<strong>ch</strong>t von einem Mann erteilt<br />
werde, das Hallenbad von aussen einsehbar sei und das obligatoris<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>uls<strong>ch</strong>wimmen ohnehin nur etwa alle fünf Wo<strong>ch</strong>en stattfinde. Für<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t änderte dies ni<strong>ch</strong>ts an der Ents<strong>ch</strong>eidung, dass im<br />
Interesse der Integration ein Anspru<strong>ch</strong> auf Dispens abzulehnen sei.<br />
2. Yogaunterri<strong>ch</strong>t<br />
Ohne Erfolg blieb im Ergebnis au<strong>ch</strong> das Dispensgesu<strong>ch</strong> <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er<br />
Eltern, die ihren Sohn von Yogaübungen in einem Zür<strong>ch</strong>er Kindergarten<br />
frei halten wollten. 9 Die Eltern verstanden die Übungen, die<br />
einen kleinen Teil der Tagesroutine ausma<strong>ch</strong>ten, ni<strong>ch</strong>t als blass säkulare<br />
Entspannung, sondern als ein Bekenntnis zu östli<strong>ch</strong>en Religionen,<br />
das sie für si<strong>ch</strong> und ihren Sohn ablehnten. Während die Vorinstanz<br />
ungea<strong>ch</strong>tet der Ansi<strong>ch</strong>ten der Eltern von einem ni<strong>ch</strong>t religiösen Handeln<br />
ausserhalb des grundre<strong>ch</strong>tliehen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s ausgegangen war, blieb<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> hier seiner Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung treu, na<strong>ch</strong> der es<br />
ni<strong>ch</strong>t Sa<strong>ch</strong>e des Staates sei, über den religiösen Charakter eines Handeins<br />
zu ents<strong>ch</strong>eiden. Vielmehr komme es auf das Selbstverständnis<br />
der Grundre<strong>ch</strong>tsträger an (E. 4.2). 10 Wie s<strong>ch</strong>on beim Singen <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er<br />
Weihna<strong>ch</strong>tslieder 11 führe das aber keinesfalls zu einem Dispensations-<br />
9 BGer 2C_897/2012 vom 14. Februar 2012- Yoga im Kindergarten.<br />
10 Grundlegend dazu MARTIN MoRLOK, Selbstverständnis als Re<strong>ch</strong>tskriterium,<br />
Tübingen 1993, 49 ff., 78 ff.; in der S<strong>ch</strong>weiz PETER KARLEN, Das Grundre<strong>ch</strong>t der<br />
Religionsfreiheit in der S<strong>ch</strong>weiz, Züri<strong>ch</strong> 1988, 203 ff. (allerdings zurückhaltend als<br />
«Hilfsmittel der Interpretation>>); WALTER KXLIN, Grundre<strong>ch</strong>te im Kulturkonflikt.<br />
Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit in der Einwanderungsgesells<strong>ch</strong>aft, <strong>Bern</strong> 2000, 112 f. (Selbstverständnis<br />
als primäres Kriterium).<br />
11 BGer 2C_724/2011 vom 11. April 2012- Kir<strong>ch</strong>e der Karmeliter.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 797<br />
anspru<strong>ch</strong>, sondern sei vielmehr hinzunehmen, solange das Handeln<br />
ni<strong>ch</strong>t als bekenntnishafter Akt ers<strong>ch</strong>eint (E. 4.3.1). Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
re<strong>ch</strong>tfertigt den Eingriff damit, dass es um das öffentli<strong>ch</strong>e Interesse an<br />
dem (gesetzli<strong>ch</strong> vorgesehenen) pädagogis<strong>ch</strong>en Gestaltungsspielraum<br />
und die soziale Integration aller Kinder in einer Gruppe gehe (E. 4.3.2).<br />
Solange die motoris<strong>ch</strong>en Übungen ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> religionsspezifis<strong>ch</strong>e Ausdrucksformen<br />
wie Gesänge oder Räu<strong>ch</strong>erstäb<strong>ch</strong>en begleitet würden, sei<br />
den Bes<strong>ch</strong>werdeführern der Eingriff zuzumuten.<br />
3. Kopftu<strong>ch</strong>verbot für S<strong>ch</strong>ülerinnen (Bürglen)<br />
Ob die Religionsfreiheit ein Kopftu<strong>ch</strong>verbot für S<strong>ch</strong>ülerinnen<br />
im Ergebnis als unverhältnismässig auss<strong>ch</strong>liesst, konnte das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
in seinem Ents<strong>ch</strong>eid zur Volkss<strong>ch</strong>ulgemeinde Bürglen offenlassen.'2<br />
Jedenfalls bildet ein sol<strong>ch</strong>es Verbot für religiös motivierte<br />
Kopftu<strong>ch</strong>trägerinnen einen Eingriff in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Glaubensfreiheit.<br />
Darum genügt es ni<strong>ch</strong>t, wenn es ohne formellgesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Grundlage allein in der S<strong>ch</strong>ulordnung einer Gemeinde vorgesehen<br />
wird. So hatte es vorinstanzlieh bereits das Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t des<br />
Kantons Thurgau gesehen, wohingegen die Gemeinde Bürglen auf<br />
ihrer Regelungsautonomie beharren wollte.<br />
VI. Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te (AXEL TSCHENTSCHER)<br />
1. Meinungsfreiheit<br />
1.1 Leitkultur als «verbaler Rassismus»<br />
Einmal mehr anerkannte das Bundesgeri<strong>ch</strong>t im Ehrens<strong>ch</strong>utz<br />
eine wirksame Grenze der freien Meinungsäusserung (BGE 138 III<br />
641). Dem Präsidenten der Jungen SVP Thurgau, Benjamin Kaspar,<br />
war im Internet von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus<br />
(GRA) der Vorwurf des «verbalen Rassismus» gema<strong>ch</strong>t worden. Das<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>t qualifizierte diese Bezei<strong>ch</strong>nung als gemis<strong>ch</strong>tes Werturteil,<br />
in dem Sa<strong>ch</strong>behauptungskern und Wertung zusammentreffen.<br />
12 BGer 2C_794/2012 vom 11. Juli <strong>2013</strong> - Kopftu<strong>ch</strong>verbot Bürglen.
798 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> ·Band 149 · <strong>2013</strong><br />
In der Rede zum Minarettverbot hatte der Präsident der Jungen SVP<br />
zwar eine «S<strong>ch</strong>weizer Leitkultur» gegenüber dem «Fremden» eingefordert.<br />
Darin sah das Geri<strong>ch</strong>t allerdings keine paus<strong>ch</strong>ale Gerings<strong>ch</strong>ätzung<br />
von Muslimen, sodass der Sa<strong>ch</strong>behauptungskern als fals<strong>ch</strong> anzusehen<br />
sei. Obglei<strong>ch</strong> das Bundesgeri<strong>ch</strong>t betont, dass der wertende<br />
Gehalt unter Umständen au<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong>e Sa<strong>ch</strong>behauptungselemente mit<br />
zu s<strong>ch</strong>ützen vermag (E. 4.1.3), sah es in diesem Fall die Grenze des<br />
Vertretbaren bereits als übers<strong>ch</strong>ritten an.<br />
An dem Ents<strong>ch</strong>eid ist von GrusEP NAY mit Re<strong>ch</strong>t kritisiert worden,<br />
dass er die Grenze zwis<strong>ch</strong>en Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptung und Werturteil<br />
fals<strong>ch</strong> zieht. 13 Ein Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittsadressat würde angesi<strong>ch</strong>ts der hinlängli<strong>ch</strong><br />
bekannten Definitionss<strong>ch</strong>wierigkeiten 14 gar ni<strong>ch</strong>t erwarten,<br />
dass in der Behauptung eines «verbalen Rassismus» ein beweisbarer<br />
Kern stecken könnte. Vielmehr handelt es si<strong>ch</strong> erkennbar insgesamt<br />
um ein negatives Werturteil im politis<strong>ch</strong>en Meinungskampf, für dessen<br />
Äusserung in einer freiheitli<strong>ch</strong>en Demokratie der grösstmögli<strong>ch</strong>e<br />
Freiraum gewährt werden muss. Würde man die jetzige Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts no<strong>ch</strong> einen kleinen S<strong>ch</strong>ritt weitertreiben<br />
und einen sol<strong>ch</strong>en Freiraum konsequent verneinen, dann wäre wohl<br />
zukünftig in allen verglei<strong>ch</strong>baren Fällen entweder die Strafbarkeit<br />
wegen Rassendiskriminierung (Art. 261 bis StGB) 15 oder umgekehrt<br />
die Ehrverletzung wegen unbere<strong>ch</strong>tigten Rassismusvorwurfs zu konstatieren<br />
- wahrli<strong>ch</strong> keine kommunikationsfördernde Re<strong>ch</strong>tslage.<br />
1.2 Tierversu<strong>ch</strong>e als «Massenverbre<strong>ch</strong>en»<br />
Während die li. zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Abteilung in dem soeben erwähnten<br />
Ents<strong>ch</strong>eid den Ehrens<strong>ch</strong>utz zulasten der Meinungsfreiheit<br />
stärkte, gab die strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Abteilung selbst überspitzter Kritik in<br />
der demokratis<strong>ch</strong>en Öffentli<strong>ch</strong>keit Raum und hob eine Verurteilung<br />
13 GrusEP NAY, Ents<strong>ch</strong>eidbespre<strong>ch</strong>ung zu BGer 5A_82/2012, in: AJP 2012,<br />
1809-1812 (1811 f.). Zu anderen kritis<strong>ch</strong>en Aspekten siehe REGJNA AEBI-MÜLLER,<br />
Anmerkungen, in: medialex 2012, 206-210 (209 f.).<br />
14 Dazu ausführli<strong>ch</strong> TAREK NAGUIB, Wenn der Antirassismus staatli<strong>ch</strong> sanktioniert<br />
wird. Urteil
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 799<br />
wegen Verleumdung auf. 16 Der Präsident des Vereins gegen Tierfabriken<br />
S<strong>ch</strong>weiz (VgT), Erwin Kessler, hatte der Novartis AG und au<strong>ch</strong><br />
persönli<strong>ch</strong> dessen ehemaligem Verwaltungsratspräsidenten und CEO,<br />
Daniel Vasella, vorgeworfen, mit Tierversu<strong>ch</strong>en an «Massenverbre<strong>ch</strong>en»<br />
s<strong>ch</strong>uld zu sein. Bundesgeri<strong>ch</strong>t und Vorinstanzen gehen ohne<br />
Weiteres davon aus, dass mit dieser Bezi<strong>ch</strong>tigung ein Werturteil und<br />
ni<strong>ch</strong>t etwa eine juristis<strong>ch</strong>e Sa<strong>ch</strong>aussage in Rede steht (E. 3.6.1). Angesi<strong>ch</strong>ts<br />
der hinlängli<strong>ch</strong> bekannten Zuspitzungen in den Publikationen<br />
des VgT und bei ausdrückli<strong>ch</strong>er Anerkennung des Bedürfnisses na<strong>ch</strong><br />
einer kontroversen Diskussion über Tierversu<strong>ch</strong>e war der Freispru<strong>ch</strong><br />
vom Vorwurf der Verleumdung zulässig (E. 3.6.3).<br />
2. Medienfreiheit<br />
Aussergewöhnli<strong>ch</strong> aktiv hat das Bundesgeri<strong>ch</strong>t m diesem<br />
Beri<strong>ch</strong>tsjahr zur Medienfreiheit judiziert:<br />
2.1 Gebührenverzi<strong>ch</strong>t beim journalistis<strong>ch</strong>en Zugang<br />
zu öffentli<strong>ch</strong>en Dokumenten<br />
Von grösster praktis<strong>ch</strong>er Bedeutung dürfte der zur Publikation<br />
vorgesehene Ents<strong>ch</strong>eid des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts sein, na<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>em<br />
Mediens<strong>ch</strong>affende zwar keinen direkt dur<strong>ch</strong>setzbaren Anspru<strong>ch</strong> auf<br />
Gebührenbefreiung haben, die Ausstrahlungswirkung der Medienfreiheit<br />
aber einen Gebührenverzi<strong>ch</strong>t im Einzelfall gebieten kann (Art. 35<br />
Abs. 1 und 2 BV)P Dem Redaktor einer Konsumentenzeits<strong>ch</strong>rift war<br />
ein teilweise ges<strong>ch</strong>wärzter Projektberi<strong>ch</strong>t zur Marktüberwa<strong>ch</strong>ung von<br />
Energieetiketten mit einer Gebührenre<strong>ch</strong>nung über 250 Franken zugestellt<br />
worden. Während das Bundesverwaltungsgeri<strong>ch</strong>t einen Gebührenverzi<strong>ch</strong>t<br />
ni<strong>ch</strong>t als gere<strong>ch</strong>tfertigt ansah, weil es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um<br />
eine Informationsbes<strong>ch</strong>affung von existenzieller Bedeutung handle,<br />
war das Bundesgeri<strong>ch</strong>t grosszügiger. Die Medien seien unabhängig<br />
von der Bedeutung der einzelnen Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e zur seriösen Wahrnehmung<br />
ihrer Funktion auf amtli<strong>ch</strong>e Dokumente angewiesen, sodass<br />
16 BGer 6B_ 412/2012 vom 25. April <strong>2013</strong>-
800 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> ·Band 149 · <strong>2013</strong><br />
si<strong>ch</strong> kumulierende Gebühren als tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zugangsbes<strong>ch</strong>ränkung<br />
auswirken könnten (E. 4.3). Zwar bleibe den Behörden no<strong>ch</strong> ein Ermessensspielraum<br />
hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Gebührenansatzes oder -verzi<strong>ch</strong>ts,<br />
do<strong>ch</strong> sei bei geringem Aufwand jedenfalls von einem besonders günstigen<br />
Gebührenansatz für Mediens<strong>ch</strong>affende auszugehen (E. 4.4). Im<br />
Ergebnis bedeutet dies, dass Journalisten zukünftig au<strong>ch</strong> ohne gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Grundlage direkt gestützt auf die Medienfreiheit einen besonders<br />
günstigen Zugang zu öffentli<strong>ch</strong>en Dokumenten beanspru<strong>ch</strong>en können.<br />
2.2 Geheimhaltungspfli<strong>ch</strong>t der Mediens<strong>ch</strong>affenden<br />
Die ersatzlose Strei<strong>ch</strong>ung des Straftatbestandes über «Veröffentli<strong>ch</strong>ung<br />
amtli<strong>ch</strong>er geheimer Verhandlungen» (Art. 293 StGB) regte das<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>t in dem Urteil an, mit dem es die Bestrafung eines Zeitungsjournalisten<br />
bestätigte. 18 Dieser hatte wörtli<strong>ch</strong> aus dem geheimen<br />
Protokoll einer Parlamentskommission zitiert. Der Straftatbestand<br />
enthält zwar eine Geringfügigkeitsklausel (Absehen von Strafe, «wenn<br />
das an die Öffentli<strong>ch</strong>keit gebra<strong>ch</strong>te Geheimnis von geringer Bedeutung<br />
ist»). Der Journalist hatte si<strong>ch</strong> aber weder auf diese Geringfügigkeit<br />
berufen no<strong>ch</strong> den aussergesetzli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigungsgrund der Wahrung<br />
bere<strong>ch</strong>tigter Interessen geltend gema<strong>ch</strong>t (E. 2.5), sondern vielmehr<br />
unter Berufung auf den Fall Stoll 19 darauf bestanden, dass die<br />
Medienfreiheit dem Staat nur ganz ausnahmsweise gestatte, eine Geheimhaltung<br />
von der Presse zu verlangen. Die Vorinstanz hatte gegenüber<br />
diesem Anliegen spitzfindig zwis<strong>ch</strong>en dem (gewi<strong>ch</strong>tigen) Interesse<br />
der Öffentli<strong>ch</strong>keit an Information und dem (geringen) Interesse<br />
am genauen Wortlaut unters<strong>ch</strong>ieden (E. 1.4). Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t stützte<br />
diese Abwägungsdifferenzierung im Ergebnis und betonte, dass<br />
entgegen der Ansi<strong>ch</strong>t des Bes<strong>ch</strong>werdeführers au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem EGMR<br />
Ents<strong>ch</strong>eid zum Fall Stoll ein formeller Geheimnisbegriff für Art. 293<br />
StGB zugrunde zu legen sei, weshalb ein Interesse der Öffentli<strong>ch</strong>keit<br />
die Vertretbarkeit der Geheimhaltungserklärung gar ni<strong>ch</strong>t berühren<br />
könne (E. 2.1). Veröffentli<strong>ch</strong>ungen aus vertrauli<strong>ch</strong>en Kommissionssitzungen<br />
erfüllen also immer den Straftatbestand, und die Medienfreiheit<br />
werde erst auf der Ebene der Re<strong>ch</strong>tfertigungsgründe relevant.<br />
18 BGer 6B_186/2012 vom 11. Januar <strong>2013</strong>, E. 2.4- .<br />
19 BGE 126 IV 236- Journalistis<strong>ch</strong>er Quellens<strong>ch</strong>utz; dazu EGMR 69698/01 vom<br />
10. Dezember 2007 - Stoll v. Switzerland.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und 20!3 801<br />
Implizit deutet das Bundesgeri<strong>ch</strong>t an, dass diese gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Konstruktion verfassungswidrig sein könnte. Unter Hinweis auf<br />
Art. 190 BV erwägt es die verfassungskonforme Auslegung der Strafnorm.<br />
Dem Geri<strong>ch</strong>t sei es aber verwehrt, den Anwendungsberei<strong>ch</strong> «für<br />
Mediens<strong>ch</strong>affende beispielsweise auf Veröffentli<strong>ch</strong>ungen zu bes<strong>ch</strong>ränken,<br />
die geeignet sind, die staatli<strong>ch</strong>en Interessen erhebli<strong>ch</strong> zu beeinträ<strong>ch</strong>tigen<br />
oder das Funktionieren der staatli<strong>ch</strong>en Organe empfindli<strong>ch</strong><br />
zu stören» (E. 2.4). Das wäre laut Bundesgeri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t mehr eins<strong>ch</strong>ränkende<br />
Auslegung, sondern Re<strong>ch</strong>tsetzung.<br />
Ri<strong>ch</strong>tig ist daran, dass dem Bundesgeri<strong>ch</strong>t mangels umfassender<br />
Normverwerfungskompetenz eine verfassungskonforme Korrektur<br />
von Bundesgesetzen ni<strong>ch</strong>t zusteht. 2 0 Das Geri<strong>ch</strong>t darf aber sehr wohl<br />
eine verfassungskonforme Auslegung bis zur Grenze des Wortlauts<br />
vornehmen, könnte also die Tatbestandsbegriffe «geheim» (Art. 293<br />
Abs. I StOB) und «Geheimnis» (Abs. 3) in materieller Lesart auf die<br />
notwendigerweise in einer Demokratie geheimhaltungsbedürftigen<br />
Inhalte bes<strong>ch</strong>ränken. 21 Zwar meint das Bundesgeri<strong>ch</strong>t, au<strong>ch</strong> ein materieller<br />
Geheimnisbegriffhätte zum glei<strong>ch</strong>en Ergebnis geführt (E. 3).<br />
Das dürfte aber unzutreffend sein, denn abstrakte Überlegungen zur<br />
Vertrauli<strong>ch</strong>keit der Kommissionsarbeit (E. 3.1) sind bei einem materiellen<br />
Geheimnisbegriff ni<strong>ch</strong>t unmittelbar relevant. Die blasse zusätzli<strong>ch</strong>e<br />
Belastung des konfliktbeladenen Verhältnisses zwis<strong>ch</strong>en<br />
Bundesrätin und Bundesanwalt (E. 3.4) ist allein ni<strong>ch</strong>t gewi<strong>ch</strong>tig genug,<br />
um ein mediales Publikationsverbot inhaltli<strong>ch</strong> zu tragen. Die<br />
Bedeutung und damit der materielle Geheimnis<strong>ch</strong>arakter sind bei<br />
sol<strong>ch</strong>en atmosphäris<strong>ch</strong>en Fragen weit geringer als bei der diplomatis<strong>ch</strong>en<br />
Vertrauli<strong>ch</strong>keit, die im FallStoll auf dem Spiel stand. 22 Unter<br />
diesen Umständen muss bezweifelt werden, dass die Verurteilung des<br />
Journalisten «in einer demokratis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft notwendig» im<br />
Sinne von Art. 10 Ziff. 2 EMRK ist, wie das Bundesgeri<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>liessend<br />
knapp behauptet (E. 3.6).<br />
20 SUSAN EMMENEGGER/AXEL TSCHENTSCHER, <strong>Bern</strong>er Kommentar, N. 260 ff.<br />
(271) zu Art. 1 ZGB m.w.N.<br />
21 Vgl. EGMR 69698/01 vom 10. Dezember 2007- Stall v. Switzer1and, wo bei<br />
Nr. 129 der Vorrang der materiellen Betra<strong>ch</strong>tung («content>>) vor der formellen Betra<strong>ch</strong>tung<br />
(
802 Waller Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
2.3 Ergänzende Botox-InformationeH im Internet<br />
Einmal mehr war der Verein gegen Tierfabriken S<strong>ch</strong>weiz (VgT)<br />
vor Bundesgeri<strong>ch</strong>t erfolgrei<strong>ch</strong>. 23 Das S<strong>ch</strong>weizer Fernsehen hatte in einer<br />
Sondersendung über medizinis<strong>ch</strong>e und kosmetis<strong>ch</strong>e Anwendungen des<br />
Nervengifts beri<strong>ch</strong>tet, ohne auf die mit dessen Produktion<br />
verbundenen Tierversu<strong>ch</strong>e hinzuweisen. Die Unabhängige Bes<strong>ch</strong>werdeinstanz<br />
stellte eine Verletzung des Sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeitsgebots fest, was<br />
dur<strong>ch</strong> das Bundesgeri<strong>ch</strong>t bestätigt wurde (E. 2.2.5). Die weitrei<strong>ch</strong>ende<br />
Bedeutung des Ents<strong>ch</strong>eids besteht darin, dass das Bundesgeri<strong>ch</strong>t zwei<br />
grundsätzli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigungsversu<strong>ch</strong>e des Fernsehens ni<strong>ch</strong>t hat gelten<br />
lassen: Weder die ergänzende kritis<strong>ch</strong>e Information in einer anderen<br />
Sendung no<strong>ch</strong> die Ergänzung auf den Internetseiten des Fernsehsenders<br />
genügen zur Herstellung der journalistis<strong>ch</strong>en Vollständigkeit.<br />
2.4 Verhaftung von Pressefotografen<br />
Die wertsetzende Bedeutung der Medienfreiheit in der gesamten<br />
Re<strong>ch</strong>tsordnung (Art. 35 Abs. 1 BV) wird in dem Ents<strong>ch</strong>eid des<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>ts deutli<strong>ch</strong>, der einem Pressefotografen die weitere<br />
Strafuntersu<strong>ch</strong>ung gegen zwei Zür<strong>ch</strong>er Stadtpolizisten zugesteht. 24<br />
Der Fotograf war beim Polizeieinsatz zur Beendigung der Besetzung<br />
des Hardturmstadions verhaftet und dabei verletzt worden. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
hält fest, dass die Medienfreiheit ein enges Verständnis des<br />
Tatbestandes «Hinderung einer Amtshandlung» (Art. 286 StGB) erfordere<br />
(E. 2.2.1). Es dürfe darum keine Verfahrenseinstellung einfa<strong>ch</strong><br />
mit dem weiten Ermessen der Polizeibehörden begründet werden,<br />
solange Zweifel darüber blieben, ob die Festnahme und die damit<br />
verbundene Gewaltanwendung re<strong>ch</strong>tmässig gewesen seien (E. 2.4).<br />
2. 5 Verantwortli<strong>ch</strong>keit der Tribune de Geneve für Blaginhalte<br />
Wer Dritten im Internet eine Plattform für Blogs anbietet, ist ni<strong>ch</strong>t<br />
vollständig von der Verantwortli<strong>ch</strong>keit für die medialen Inhalte befreit.<br />
Mit diesem Ergebnis stützte das Bundesgeri<strong>ch</strong>t eine Verurteilung der<br />
Tribune de Geneve zur Zahlung von Anwaltskosten. 25 Zwar sei für An-<br />
23 BGer 2C_l246/2012 vom 12. April<strong>2013</strong>- Botox-Sondersendung.<br />
24 BGer 1B_534/2012 vom 7. Juni <strong>2013</strong>- Räumung Hardturmstadion.<br />
25 BGer 5A_792/2011 vom 14. Januar <strong>2013</strong> - Blogbetrieb Tribune de Geneve.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 803<br />
sprü<strong>ch</strong>eauf S<strong>ch</strong>adenersatz und Genugtuung ein eigenes Vers<strong>ch</strong>ulden des<br />
Blogbetreibers nötig, do<strong>ch</strong> für die Anwaltskosten für die Dur<strong>ch</strong>setzung<br />
von Beseitigungs- und Feststellungsansprü<strong>ch</strong>en muss der Lös<strong>ch</strong>ungspfti<strong>ch</strong>tige,<br />
hier also die Zeitung als Blogbetreiberin und damit objektiv<br />
Mitwirkende an der Persönli<strong>ch</strong>keitsverletzung (E. 6.2), vers<strong>ch</strong>uldeusunabhängig<br />
haften. Ein Haftungsprivileg für Internetaubieter (host provider),<br />
wie es in der EU dur<strong>ch</strong> die E-Commerce-Ri<strong>ch</strong>tlinie begründet<br />
wurde, besteht im s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t bisher ni<strong>ch</strong>t. Au<strong>ch</strong> eine entspre<strong>ch</strong>ende<br />
Auslegung des Zivilre<strong>ch</strong>ts lehnt das Bundesgeri<strong>ch</strong>t ab und<br />
appelliert an den Gesetzgeber, den Missstand zu beheben (E. 6.3).<br />
Die problematis<strong>ch</strong>en Konsequenzen dieser Re<strong>ch</strong>tslage sind offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>:<br />
Biogaubieter in der S<strong>ch</strong>weiz müssen zur Vermeidung<br />
ihrer Haftung s<strong>ch</strong>on im Vorfeld die bei ihnen publizierten Inhalte<br />
kontrollieren, also letztli<strong>ch</strong> eine private Vorzensur betreiben. Weil<br />
eine vollständige Inhaltskontrolle angesi<strong>ch</strong>ts des Blagvolumens faktis<strong>ch</strong><br />
unmögli<strong>ch</strong> ist, wird es zudem einen Trend zur diskriminierenden<br />
Kontrolle geben, der gerade die kontroverseren Biogautoren trifft.<br />
Beide Aspekte, systematis<strong>ch</strong>e Vorzensur und inhaltsbezogene Diskriminierung,<br />
wären den staatli<strong>ch</strong>en Behörden aus gutem Grund verboten.<br />
Es kann ni<strong>ch</strong>t im Sinne der Medienfreiheit sein, den privaten<br />
Betreibern sol<strong>ch</strong>e Handlungsweisen im Ergebnis aufzudrängen.<br />
2.6 Medienöffentli<strong>ch</strong>keit der Justiz<br />
Um die Öffentli<strong>ch</strong>keit der Justiz (Art. 30 Abs. 3 BV) speziell<br />
für Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>en von Journalisten ging es in dem Urteil, mit dem das<br />
Bundesgeri<strong>ch</strong>t den Anspru<strong>ch</strong> auf Bekanntma<strong>ch</strong>ung des Spru<strong>ch</strong>körpers<br />
für ein besonders umstrittenes Urteil festhielt. 26 Die Asylrekurskommission<br />
hatte in einem Grundsatzents<strong>ch</strong>eid vom Dezember 2005 die<br />
Verfolgung wegen Desertion als Flu<strong>ch</strong>tgrund für Asylsu<strong>ch</strong>ende aus<br />
Eritrea anerkannt. Im Jahr 2012 wollten Journalisten der «Weltwo<strong>ch</strong>e»<br />
die persönli<strong>ch</strong>e Verantwortli<strong>ch</strong>keit der Ri<strong>ch</strong>ter re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>ieren, was der<br />
Generalsekretär des Bundesverwaltungsgeri<strong>ch</strong>ts unter Hinweis auf<br />
das Ar<strong>ch</strong>ivierungsreglement ablehnte. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t hielt zunä<strong>ch</strong>st<br />
fest, dass die Kenntnisnahme von Urteilen von der (anspru<strong>ch</strong>svolleren)<br />
Einsi<strong>ch</strong>t in die Prozessakten unters<strong>ch</strong>ieden werden müsse<br />
26 BGer 1C_390/2012 vom 26. März <strong>2013</strong>- Spru<strong>ch</strong>körper Eritreaents<strong>ch</strong>eid, zur<br />
Publikation vorgesehen.
804 Walter Kälin et al. <strong>ZBJV</strong> · Band 149 · <strong>2013</strong><br />
(E. 3.5). Zwar sei au<strong>ch</strong> der Kenntnisnahmeanspru<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t absolut,<br />
do<strong>ch</strong> die kritis<strong>ch</strong>e Kontrolle der Justiz dur<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>tsgemeins<strong>ch</strong>aft<br />
werde massgebli<strong>ch</strong> beeinträ<strong>ch</strong>tigt, wenn die beteiligten Geri<strong>ch</strong>tspersonen<br />
unbekannt blieben (E. 3.6). Ein S<strong>ch</strong>utz des Vertrauens der Ri<strong>ch</strong>ter<br />
auf die Anonymität ihrer Tätigkeit na<strong>ch</strong> damaliger Praxis lehnte<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t unter Hinweis auf den s<strong>ch</strong>on damals geltenden<br />
Verfassungsgrundsatz der Justizöffentli<strong>ch</strong>keit ab (Art. 30 Abs. 3 BV).<br />
S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> betonte das Geri<strong>ch</strong>t die Kontrollfunktion der Medien, um<br />
den Anspru<strong>ch</strong> auf Kenntnisnahme au<strong>ch</strong> ohne besonders s<strong>ch</strong>utzwürdige<br />
Informationsinteressen zu bejahen (E. 3.6 a. E.). Im Ergebnis muss<br />
das Bundesverwaltungsgeri<strong>ch</strong>t die Namen der Ri<strong>ch</strong>ter bekannt geben.<br />
Um die Medienöffentli<strong>ch</strong>keit als Teil der Justizöffentli<strong>ch</strong>keit<br />
ging es ausserdem in dem Urteil über die Einstellung der Strafverfolgungsuntersu<strong>ch</strong>ungen<br />
gegen Fifa-Funktionäre.27 Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />
betont hier seine bisherige Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung, na<strong>ch</strong> der die Medien als<br />
Bindeglied zwis<strong>ch</strong>en Justiz und Bevölkerung wirken, 28 sodass sie das<br />
Interesse der Öffentli<strong>ch</strong>keit für ihr Auskunftsbegehren über die Einstellungsverfügungen<br />
geltend ma<strong>ch</strong>en können (E. 4.3).<br />
3. Koalitionsfreiheit- gewerks<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Betriebszugang<br />
Zur Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV) ents<strong>ch</strong>ied das Bundesgeri<strong>ch</strong>t,<br />
dass aus ihr ausserhalb legitimer Streiksituationen ni<strong>ch</strong>t automatis<strong>ch</strong><br />
ein Anspru<strong>ch</strong> auf Zugang zum Betriebsgelände folge. 29 Zwar führe das<br />
Grundre<strong>ch</strong>t zu einer mittelbaren Drittwirkung bei der Auslegung des<br />
Privatre<strong>ch</strong>ts (E. 1.3.2). Do<strong>ch</strong> sei die Eins<strong>ch</strong>ränkung des Hausre<strong>ch</strong>ts des<br />
Hotelbesitzers keine zwingende interpretatoris<strong>ch</strong>e Folge der Koalitionsfreiheit<br />
(E. 1.3.4). Au<strong>ch</strong> als Wahrnehmung bere<strong>ch</strong>tigter Interessen könne<br />
die Verteilung von Flugblättern auf dem Betriebsgelände ni<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
werden (E. 2). Im Ergebnis bestätigt das Geri<strong>ch</strong>t darum die<br />
gegen die Gewerks<strong>ch</strong>aftsmitarbeiter ergangenen Verurteilungen wegen<br />
Hausfriedensbru<strong>ch</strong>s. Das Geri<strong>ch</strong>t hat damit eine bisher umstrittene Fra-<br />
27 BGer IB_68/2012 vom 3. Juli 2012- Fifa-Korruptionsverfahren.<br />
28 E. 3.1 unter Hinweis aufBGE 137 I 16- Akteneinsi<strong>ch</strong>t Nef; siehe dazu JUDITH<br />
WYTTENRACH, Verfahrensgarantien, in: ZR.JV 14R (2012) 744-757 (752 f.).<br />
29 BGer 6B_758/2011 vom 24. September 2012- Genfer Hotelprotest.
Die staatsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts in den Jahren 2012 und <strong>2013</strong> 805<br />
ge im Sinne eines Primats der Grundre<strong>ch</strong>te auf Eigentum, Wohnung<br />
und Privatsphäre gegenüber der Koalitionsfreiheit ents<strong>ch</strong>ieden. 30<br />
4. Spra<strong>ch</strong>enfreiheit - S<strong>ch</strong>ulversu<strong>ch</strong> Rumants<strong>ch</strong> Gris<strong>ch</strong>un<br />
In einem Ents<strong>ch</strong>eid zur Spra<strong>ch</strong>enfreiheit (Art. 18 BV) verwehrte<br />
das Bundesgeri<strong>ch</strong>t den bes<strong>ch</strong>werdeführenden Eltern aus der Surselva<br />
und dem Münstertal einen We<strong>ch</strong>sel der S<strong>ch</strong>ulspra<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Beginn<br />
der I. Primars<strong>ch</strong>ulklasse. 31 Die Kantonsregierung hatte 2007 den<br />
Primars<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t mit der Einheitsspra<strong>ch</strong>e Rumants<strong>ch</strong> Gris<strong>ch</strong>un<br />
als S<strong>ch</strong>ulversu<strong>ch</strong> bewilligt. Na<strong>ch</strong>dem in mehreren kommunalen Volksinitiativen<br />
die Rückkehr zum lokalen Idiom verlangt worden war,<br />
bes<strong>ch</strong>loss die Kantonsregierung, dass ein sol<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>we<strong>ch</strong>sel zur<br />
S<strong>ch</strong>onung der S<strong>ch</strong>üler grundsätzli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t während der obligatoris<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>ulzeit erfolgen dürfe. Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t stützte diesen Bes<strong>ch</strong>luss<br />
unter anderem mit dem Argument, es sei der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Spra<strong>ch</strong>enfreiheit<br />
(Art. 18 BV) gar ni<strong>ch</strong>t berührt, weil die Form des Rätoromanis<strong>ch</strong>en<br />
weder in der Bundesverfassung no<strong>ch</strong> in der Kantonsverfassung<br />
definiert sei. Eine derart formalistis<strong>ch</strong> enge Konkretisierung<br />
des grundre<strong>ch</strong>tliehen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s wirkt künstli<strong>ch</strong>, ist do<strong>ch</strong> das<br />
Verständnis, was eine eigenständige Spra<strong>ch</strong>e ausma<strong>ch</strong>t, gemeinhin<br />
na<strong>ch</strong> der Wahrnehmung in der Spra<strong>ch</strong>gruppe selbst zu ents<strong>ch</strong>eiden. 32<br />
Diese empfindet, wie die Volksinitiativen derjüngeren Vergangenheit<br />
beweisen, die Kunstspra<strong>ch</strong>e als fremd und will sie mit Ausnahme<br />
einiger Mittelbündner Gemeinden als S<strong>ch</strong>ulspra<strong>ch</strong>e wieder abs<strong>ch</strong>affen.<br />
Erkennt man das lokale Idiom als eigenständige Spra<strong>ch</strong>e im Sinne des<br />
Art. 18 BV an, so kann das Gewi<strong>ch</strong>t der geltend gema<strong>ch</strong>ten Kantonsinteressen<br />
(pädagogis<strong>ch</strong>er Umstellungss<strong>ch</strong>utz und Praktikabilität<br />
im S<strong>ch</strong>ulbetrieb) wohl allein ni<strong>ch</strong>t genügen, um eine absolute Sperrwirkung<br />
für die gesamte S<strong>ch</strong>ulzeit zu re<strong>ch</strong>tfertigen, die bei den jetzigen<br />
Zweitklässlern immerhin weitere a<strong>ch</strong>t S<strong>ch</strong>uljahre ausma<strong>ch</strong>en wird.<br />
30 Vgl. MICHEL HoTTELl ER, Bespre<strong>ch</strong>ung von BGer 6B_758/20ll, in: AJP <strong>2013</strong>,<br />
450-457 (455 f.).<br />
31 BGer 2C_806/2012, 2C_807/2012 vom 12. Juli <strong>2013</strong>- S<strong>ch</strong>ulversu<strong>ch</strong> Rumants<strong>ch</strong><br />
Gris<strong>ch</strong>un.<br />
32 Zum Selbstverständnis als Re<strong>ch</strong>tskriterium siehe oben V.2 mit Fn. 10.