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wald tamangur - Peter Donatsch

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Natur<br />

der<br />

<strong>wald</strong><br />

von<br />

<strong>tamangur</strong><br />

Die Natur ist eine große Lehrmeisterin.<br />

Wenn wir auf Bäume,<br />

Tiere, Berge und Bäche hören,<br />

wenn wir sie riechen, fühlen und<br />

betrachten, erkennen wir unsere<br />

tiefe Verbundenheit und sind eins<br />

mit dieser Welt. Hier berichtet einer,<br />

der darum weiß.<br />

von <strong>Peter</strong> <strong>Donatsch</strong><br />

oti 08/05<br />

Tamangur ist heute mein Ziel. Viel ist<br />

schon über den Arven<strong>wald</strong> (durch das Val<br />

S-Charl erreichbar – ein Seitental des Unterengadin,<br />

in der Nähe des Schweizerischen<br />

Nationalparks) geschrieben und<br />

erzählt worden, viel wird heute noch geschrieben<br />

und erzählt.<br />

Der Wald von Tamangur ist berühmt. Durch<br />

die Attribute, die wir Menschen einem Wald<br />

geben, wächst seine Bedeutung. Oder verstellen<br />

diese nicht eher die ungetrübte Sicht<br />

auf ihn? Welchen Unterschied macht es, ob<br />

der Baum, dem ich gegenüberstehe, mit<br />

dem ich mich unterhalte, zu dem ich eine<br />

lebendige, wahrhaftige Beziehung pflege,<br />

zweihundertfünfzig oder dreihundertfünfzig<br />

oder achthundert Jahre alt ist? Ob sein<br />

Stamm einen Meter oder vier Meter dick<br />

ist? Reicht der Wald, sein pures Sein, alleine<br />

nicht?<br />

IM DIFFUSEN LICHT<br />

Unterhalb der Alp Praditschöl steht eine<br />

Holzbank. Hier sitze ich eine gute Stunde<br />

lang und blicke staunend hinüber zum<br />

„Arven<strong>wald</strong> von Tamangur“ an der gegenüber<br />

liegenden Berglehne. Auf den ersten<br />

Blick scheint der Baumbestand kompakt,<br />

insbesondere im diffusen Licht, das an diesem<br />

Morgen schummert, weil die Sonne<br />

hinter dicken Wolken steckt. Wenn ich genauer<br />

hinschaue, erkenne ich Gruppen von<br />

Bäumen, und diese scheinen keineswegs<br />

zufällig zusammengesetzt. Einige Bäume<br />

stehen näher beisammen, andere halten<br />

größeren Abstand. Es gibt ganz dicht gedrängt<br />

wachsende Bäume, ja solche, die<br />

sich berühren oder sogar in innigem Kontakt<br />

verschmelzen. Und es gibt Einzelgänger.<br />

Und alle Varianten dazwischen. Jeder<br />

Einzelne in diesem Kollektiv ist ein<br />

Individuum, ein Individualist, klar erkennbar<br />

als solcher. Ebenso erkennbar ist ihr<br />

Zusammengehören, ihr Zusammenstehen.<br />

DIE WÜRDE DER EXISTENZ<br />

Je länger ich einfach bin und nichts tue,<br />

desto mehr vermag ich den Wald wahrzunehmen.<br />

So wie ein geliebter Mensch seine<br />

Arme ausbreitet, seine Brust darbietet<br />

und sein Herz öffnet, wenn man sich nach<br />

langer Abwesenheit endlich wieder einmal<br />

sieht, so stehen diese Bäume da. Jetzt kann<br />

ich die Augen auch schließen, und der Wald<br />

steht noch immer da.<br />

Allen Bäumen, ungeachtet ihres Alters, ihrer<br />

Größe, ihrer Form oder ihres physischen<br />

Zustandes, ist große Ruhe und Würde gemeinsam.<br />

Ich kann diese Ruhe körperlich<br />

fühlen. Wie eine sanfte, aber intensive<br />

Welle flutet sie mir entgegen und schlägt<br />

über mir zusammen. Die gesamte Umgebung<br />

ist eingehüllt in die unausweichliche<br />

Präsenz dieser Bäume, die schon seit Hunderten<br />

von Jahren hier stehen, wie schon<br />

ihre Vorfahren und deren Vorfahren. Sie<br />

durchmessen diese Zeiträume weit weniger<br />

aufwendig als wir Menschen, tausend<br />

Jahre sind für sie in zwei Generationen erlebbar,<br />

wo der Mensch über zehn benötigt.<br />

AUF FELS UND ERDE STEHEND<br />

Große Gelassenheit steht im Raum. Es ist<br />

die Gelassenheit jener, die wissen. „Beredtes<br />

Schweigen“ kommt mir in den Sinn, wenn<br />

ich den Zustand der Bäume umschreiben<br />

will. Ähnlich wie eine Herde Wildtiere,<br />

scheu und neugierig zugleich, stehen sie<br />

31


Natur<br />

da, beäugen alles, was um sie her geschieht.<br />

Teilnahmslos, aber nicht unbeteiligt. Ihre<br />

Wurzeln stehen auf Fels und Erde, fest, aber<br />

nicht unverrückbar. Wer gibt ihnen Garantie,<br />

dass nie eine Lawine ihre Existenz beenden<br />

wird? Wer versichert ihnen, dass keine<br />

Kälte und kein Feuer, kein Sturm und<br />

kein Schneedruck sie je behelligen werden?<br />

Sie tun, was sie tun. Ihre Äste ragen ins<br />

grenzenlose Unbekannte des Universums.<br />

Ihr Lied handelt von der Existenz, und<br />

wenn ich sehr still bin und sehr genau zuhöre,<br />

vernehme ich die Töne aus dem Resonanzkörper<br />

eines omnipräsenten, universalen<br />

Musikinstruments. Es sind kraftvolle,<br />

tiefe und beruhigende Klänge, die aus<br />

dem Wald zu mir herüberwehen.<br />

TIER ODER GEIST?<br />

Ein kleiner Absatz im Gelände, dick mit<br />

braunen Nadeln bedeckt, direkt unter den<br />

bis fast auf den Boden herabhängenden Ästen<br />

einer großen Arve, lädt mich zum Sitzen<br />

ein. Der Platz ruft mich wie ein bequemes<br />

Sofa, an dem man nicht vorbeigehen<br />

kann, ohne kurz Platz zu nehmen. Ich bin<br />

32<br />

schon einige Schritte weitergegangen, doch<br />

das Sofa will, dass ich mich setze. Also gut.<br />

Da taucht von links ein Rehbock auf.<br />

Gemächlich äsend, ab und zu um sich blickend,<br />

wandert er wenige Meter neben mir<br />

vorbei. Mehrfach schauen wir uns in die<br />

Augen. Dann rupft er wieder ruhig am<br />

feuchten Gras und verschwindet nach zwei<br />

Minuten zwischen den Bäumen zu meiner<br />

Rechten. „War das jetzt ein Tier oder ein<br />

Geist?“, frage ich mich, nachdem das Tier<br />

sich im Grün der Bäume aufgelöst hat.<br />

Im Weltbild der Kelten erscheinen Geister,<br />

Gestalten aus der Anderswelt, als Rehbock<br />

oder Hirsch. Sie nannten ihn „Abhach“.<br />

John Matthews schreibt („Keltischer Schamanismus“):<br />

„Abhach galt schon immer als<br />

Zauberwesen, das den Menschen ins Jenseits<br />

bringen konnte, und ist häufig in<br />

Wirklichkeit eine schöne Frau, die nach<br />

Belieben die Gestalt des Tieres annehmen<br />

kann ... So versinnbildlichen Rehbock oder<br />

Hirsch die Reise zu den heiligen Bergen<br />

oder ins Feenreich, das Sich-Verwandeln<br />

(Wahrnehmung der Welt von verschiedenen<br />

Standpunkten aus) und die Tier-<br />

Eigenschaften der Anmut, Schnelligkeit und<br />

scharfen Witterung.“<br />

Gerne würde ich wissen, in welches Jenseits<br />

mich der Rehbock bringen würde, folgte<br />

ich ihm. Andererseits verbietet mir ein<br />

Gefühl dieser Welt, dem Tier nachzustellen,<br />

es zu verfolgen. Doch ich will ihm seine<br />

Ruhe gönnen. Ich mag es ja schließlich<br />

auch nicht, wenn man mir auf Schritt und<br />

Tritt nachläuft ... So belasse ich es bei drei<br />

Fotos, setze mich noch einmal hin und<br />

träume.<br />

„Der Wald erfüllt drei Funktionen: Schützen,<br />

Nützen und Erholung bieten“, habe ich<br />

auf einer großen Plastikplane gelesen, die<br />

an die Stämme einer großen Holzbeige im<br />

Tal genagelt war. Was sich nicht rentiert,<br />

hat keinen Sinn. Einen Sinn aus sich heraus<br />

gibt es nicht. Entweder der Wald<br />

schützt (den Menschen) vor Lawinen und<br />

Erosion. Oder er nützt (dem Menschen) in<br />

Form von Bau- und Brennholz. Oder er bietet<br />

(dem Menschen) einen Erholungsraum.<br />

Wie auch immer, der Mensch ist das Maß<br />

aller Dinge. Er hat im Wald das Sagen. Und<br />

das Sägen.<br />

oti 08/05


Natur<br />

Die Bilder stammen aus dem Buchprojekt „Wäldern begegnen“ von <strong>Peter</strong> <strong>Donatsch</strong><br />

oti 08/05<br />

WAS SAGT DER WALD?<br />

Die Bäume machen uns etwas vor, ohne<br />

uns etwas vorzumachen. Sie leben, sie sterben.<br />

Ich bin tief beeindruckt von ihrer<br />

Weisheit. Sie berührt meine Zellen, sie verändert,<br />

ohne dass ich sagen kann, was genau<br />

geschieht. Von rechts erscheint wieder<br />

der Rehbock und zieht ruhig äsend, ab und<br />

zu mich anblickend, an mir vorbei. Wieder<br />

wechseln wir einige Blicke. Und wieder verschwindet<br />

das Tier nach einiger Zeit, wie<br />

zuvor zwischen den Stämmen.<br />

Was geschieht? Ich reibe meine Augen.<br />

Neben mir gurgelt ein kleines Rinnsal im<br />

hohen Gras. Auf einer leuchtenden Arnika–<br />

blume sitzt ein Falter mit ausgebreiteten<br />

Flügeln, als ob er genüsslich ein Bad nehmen<br />

würde in der Farbenpracht und<br />

Zartheit der Blüte. Ein Windhauch lässt die<br />

dürren Äste der Arve vor mir knarren,<br />

durch die frischen Nadeln rauscht er vielsagend<br />

davon. Der Rehbock ist verschwunden,<br />

nur noch die Erinnerung daran fasert<br />

in der Luft, wie ein alterndes, unsichtbares<br />

Spinnennetz, dessen feine Fäden vom Wind<br />

Stück für Stück in alle Himmelsrichtungen<br />

verteilt werden, bis das Netz nicht mehr besteht.<br />

Ein schwacher Sonnenstrahl aus einem<br />

Wolkenloch kennzeichnet die Stelle,<br />

wo das Tier stand und äste. Mittlerweile<br />

zieht der Wolkenvorhang wieder zu.<br />

BAUMGESTALTEN IN MEINEM ZIMMER<br />

Abends liege ich auf meinem Bett im<br />

Schlafzimmer. Mein Kopf ist leer und voll<br />

zugleich, mein Körper müde und erfrischt<br />

vom Bergwind und der Sonne. Vom<br />

Schauen und Hören und Fühlen. Vom<br />

Rucksacktragen, vom Bergauf- und<br />

Bergabsteigen. Langsam, kaum spürbar,<br />

gleite ich vom Wachen ins Schlafen. In dieser<br />

fragilen Zwischenzeit beginnt sich das<br />

Zimmer zu bevölkern. Baumgestalten tauchen<br />

auf. Ihre Präsenz füllt wohlig den<br />

Raum. Einige erkenne ich wieder, von meinem<br />

heutigen Besuch im Wald, andere sind<br />

mir unbekannt. Wie im Wald auch, treten<br />

einige hervor und ich kann sie deutlich sehen;<br />

andere halten sich im Hintergrund.<br />

Leise wispern die Nadeln der Arven in einem<br />

Wind, den ich wahrnehme, aber weder<br />

höre noch fühle. Die Bäume sprechen<br />

untereinander. Was sie sagen, kann ich<br />

nicht verstehen. Manchmal wechseln einzelne<br />

von ihnen ihren Standort. Alles geschieht<br />

in einer sehr angenehmen Würde<br />

und Langsamkeit. Ihre Kraft hüllt mich ein.<br />

Gleichzeitig bin ich im Bett. Ich staune, dass<br />

die Begegnung mit dem Tamangur<strong>wald</strong> in<br />

meinem Traum so stark weiterlebt. In dieser<br />

Nacht schlafe ich tief und am anderen<br />

Morgen bin ich erholt und frisch. An die<br />

Präsenz der Bäume in meinem Zimmer<br />

kann ich mich genauso gut erinnern wie<br />

an meinen Besuch im „God Tamangur“ am<br />

Tag zuvor.<br />

MEINE AUGEN HABEN SICH VERÄNDERT.<br />

Sie haben mich berührt, diese Baumgestalten,<br />

ich spüre sie wie alte Freunde und<br />

höre ihren Ruf. Meine Augen hätten sich<br />

seither verändert, sagen meine Freunde. Ab<br />

und zu habe er einen Waldblick, voll von<br />

der Magie dieser alten Arven.<br />

<strong>Peter</strong> <strong>Donatsch</strong> ist Autor und Fotograf und hat<br />

der Natur beinahe sein ganzes Schaffen gewidmet.<br />

www.peterdonatsch.ch «<br />

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