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Musterstrecke GEO | Stand1.05.06 - Peter Donatsch

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<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Von Stephanie Riedi (TEXT) und Daniel Ammann (FOTOS)<br />

Das Heil zu<br />

Würenlos<br />

Einige Menschen verehren sie wie eine Heilige, Tausende kommen nach Würenlos,<br />

um sich in Leben und Werk dieser geheimnisvollen Frau zu vertiefen: Viereinhalb<br />

Jahrzehnte nach ihrem Tod entfaltet der Geist der Heilerin und Künstlerin<br />

Emma Kunz ungemindert seine Wirkung. Schenkt den einen Trost, fordert<br />

bei anderen Widerspruch heraus. Und bringt manch einem handfesten Profit<br />

IMPRESSUM Geo Schauplatz Schweiz VERLAG UND ANZEIGEN Gruner und Jahr (Schweiz) AG, Andreas Baur, Telefon +41 44 269 70 70, guj.schweiz@guj.de<br />

REDAKTION geo.schweiz@geo.de, Paul Imhof (Text; paulimhof@bluewin.ch), Andri Pol (Bild; apol@bluewin.ch); LAYOUT nimmrichter cda, Zürich DRUCK Kuncke Druck<br />

Diese Augen! An einer Fassade im »Emma Kunz Zentrum« ob Würenlos prangt ein Porträt<br />

der Namensgeberin, das die 1892 Geborene im Alter von circa 20 Jahren zeigt<br />

03|2009 <strong>GEO</strong> 1


Im Innern der Grotte auf dem alten Steinbruchareal. Hier hat sich einst<br />

Emma Kunz »mit heilender Energie« aufgeladen. Jahr für Jahr besuchen<br />

gut 20 000 Menschen den Ort, weil sie dieselbe Kraft spüren möchten<br />

2 <strong>GEO</strong> 03|2009 03|2009 <strong>GEO</strong> 3


<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Die 81-jährige Elisabeth Wolfensberger hat sich einst als Gemeinderätin<br />

in Waldstatt erfolgreich für die Einrichtung des »Emma Kunz<br />

Lehrpfades« eingesetzt. In dem Appenzeller Dorf hat die Heilerin<br />

ihre letzten Lebensjahre verbracht<br />

Kraftorte fordern ihre Besucher.<br />

Auch in Würenlos.<br />

Der ausgeschilderte Pfad<br />

zum „Emma Kunz Zentrum“, für<br />

manche eines der stärksten Energiefelder<br />

der Schweiz, führt vom<br />

Bahnhof her zunächst sanft bergauf.<br />

Sobald der Hügelfuß des ehemaligen<br />

Römersteinbruches erreicht<br />

ist, wird's ruppiger für die<br />

ungeübte Oberschenkelmuskulatur.<br />

Eine Viertelstunde später die<br />

Erlösung: Eine gelbe Fassade blitzt<br />

zwischen Bäumen und Blätterwerk<br />

auf. Noch eine Biegung und ich<br />

stehe vor einem Haus, an dem ein<br />

gigantisches Porträt prangt: Emma<br />

Kunz im Alter von circa 20 Jahren.<br />

Diese Augen! Äonen scheinen<br />

sich darin zu spiegeln. Ein paar<br />

Meter vorgelagert die kleinliche<br />

Realität: Ein Schild, dessen Aufschrift<br />

Hunden und Rauchern den<br />

Zugang zum Gelände untersagt.<br />

Die magische Wirkung auf<br />

dem Areal des Steinbruches wird<br />

einer Grotte zugeschrieben. Diese<br />

bildet das Herz des Emma Kunz<br />

Zentrums, das Anton C. Meier,<br />

Abkömmling der Besitzerfamilie,<br />

1986 gegründet hat.<br />

Die legendäre Heilpraktikerin<br />

aus dem aargauischen Brittnau<br />

soll regelmäßig hierhergekommen<br />

sein, „um sich mit heilender<br />

Energie aufzuladen“, wie auf einer<br />

Tafel in vier Sprachen erklärt<br />

wird. Auf Kunz' Rat hin wurde die<br />

ursprünglich kleine Höhle in den<br />

Berg hinein erweitert. Heute suchen<br />

Jahr für Jahr rund 20 000<br />

Menschen die in Stein gehauene<br />

„Kathedrale“ auf. Sei es, um in der<br />

Grotte zu meditieren und sich<br />

seelisch zu regenerieren. Sei es,<br />

um im „Emma Kunz Museum“ einer<br />

der unerhörtesten Frauen der<br />

Schweiz nachzuspüren.<br />

»Wunder gibt es<br />

nicht«, erklärte<br />

jene Frau, die nach<br />

Meinung ihrer<br />

Anhänger so viele<br />

Wunder getan<br />

haben soll<br />

Emma Kunz, geboren 1892 in<br />

Brittnau AG, gestorben 1963 in<br />

Waldstatt AR, war eine gefragte<br />

Heilerin, Pendlerin, Seherin. Sie<br />

wurde aber auch als Quacksalberin<br />

und Hexe geschmäht.<br />

Von Kindheit an galt Emma als<br />

wunderlich. Sie schien stets zu<br />

wissen, wer im Dorf demnächst<br />

das Zeitliche segnen würde. Sie<br />

sprach mit unsichtbaren Wesen<br />

und bereicherte ihre Schulhefte<br />

mit merkwürdigen geometrischen<br />

Konstrukten. Im Nachhinein<br />

offenbart sich darin bereits<br />

der Weg, den Emma Kunz einschlagen<br />

würde:<br />

Dank Flüsterpropaganda etablierte<br />

sie sich als Naturheilkundige,<br />

ganzheitliche Forscherin<br />

und Zeichnerin, was ihr bald<br />

schon heftige Kritik seitens Medizinern,<br />

Geistlichen und Neidern<br />

einbrachte. Sie durfte nicht frei<br />

praktizieren, geschweige denn einen<br />

Rappen dafür kassieren. Patienten<br />

steckten ihr etwas zu oder<br />

entlohnten sie mit Naturalien.<br />

Inzwischen ist die Bedeutung<br />

dieser ungewöhnlichen Frau unbestritten.<br />

Mehr noch: Ihr holistisches<br />

Wissen und Wirken verleihen<br />

ihr den Nimbus einer<br />

Lichtgestalt. Wäre Emma Kunz<br />

römisch-katholisch getauft worden,<br />

hätte sie gute Chancen, als<br />

zweite Schweizerin heiliggesprochen<br />

zu werden. Ähnlich wie die<br />

Ordensfrau Maria Bernarda Bütler<br />

(1848−1924), ebenfalls aus dem<br />

Aargau und im vergangenen Oktober<br />

in den Olymp der Wundertätigen<br />

aufgenommen, hinterließ<br />

Emma Kunz ein Werk, das bis dato<br />

rational nicht zu fassen ist –<br />

samt verbrieften Heilungen. Aber:<br />

„Wunder gibt es nicht“, pflegte die<br />

Protestantin stets zu postulieren.<br />

Denn alles sei Gesetzmäßigkeit.<br />

Es stelle sich bloß die Frage, ob<br />

wir damit umgehen könnten.<br />

Dieses Zitat verwendet Anton<br />

C. Meier häufig in Vorträgen und<br />

Seminaren. So auch an diesem<br />

Samstagnachmittag. Gewandt postiert<br />

sich der agile 72-Jährige vor<br />

der Zuhörerschaft. Die Hände hält<br />

er unter dem Bund des bernsteinfarbenen<br />

Wildlederblousons verschränkt,<br />

den Kopf mit dem schulterlangen,<br />

nach hinten gefönten<br />

silbergrauen Haar leicht geneigt.<br />

Sobald er zu sprechen beginnt,<br />

schweift sein Blick ins Nirgendwo.<br />

Ein Grandseigneur der Andacht<br />

Im Alter von fünf Jahren war<br />

Meier an Kinderlähmung erkrankt;<br />

Mediziner prognostizierten<br />

ihm ein Leben im Rollstuhl,<br />

Emma Kunz heilte ihn. Seit Langem<br />

tritt Meier nun als Nachlassverwalter<br />

seiner Retterin auf. 1991<br />

eröffnete er, unterstützt von Bund<br />

und Kanton, das Emma Kunz Museum,<br />

einen Steinwurf von der<br />

Grotte entfernt.<br />

Nach der theoretischen Einführung<br />

versammeln sich drei<br />

Dutzend Seminarteilnehmer vor<br />

4 <strong>GEO</strong> 03|2009<br />

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<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

dem efeuumrankten, verschlossenen<br />

Tor. Letzte Regieanweisungen<br />

folgen: etwa die, nicht<br />

länger als 30 Minuten zu verweilen<br />

– der starken Energie wegen.<br />

Bei Unwohlsein umkehren. Keine<br />

Steine als Souvenirs mitnehmen.<br />

Dann geht es im Gänsemarsch<br />

Richtung Kraftort. Ehrfurcht<br />

macht sich breit. Barfuß sei die<br />

Energie besser zu spüren, flüstert<br />

jemand. Trotz Frösteltemperaturen<br />

streifen ein paar Jünger Schuhe<br />

und Strümpfe ab.<br />

ner Interpretation der Kunz-Botschaft<br />

zu folgen, boykottiert er.<br />

Und läuft ihm etwas zuwider, prozessiert<br />

er. Jüngstes Beispiel: Thomas<br />

Hirschhorn.<br />

Meier verklagte den Künstler<br />

gleich zwei Mal – strafrechtlich<br />

und zivilrechtlich. Hirschhorn<br />

hatte einige Faksimiles von Kunz-<br />

Zeichnungen in einer Installation<br />

verwendet – „ohne Einwilligung<br />

des Urheberrechtinhabers“, so<br />

der Kläger. Meier forderte eine<br />

Entschädigung von „mindestens<br />

44 600 Franken“. Das Gericht entschied<br />

gegen ihn. Hirschhorn, ein<br />

Bewunderer von Emma Kunz,<br />

konstatiert: „Ich lasse mich nicht<br />

mundtot machen, sondern nehme<br />

die Freiheit des Künstlers wahr.“<br />

Solche Querelen werfen Schatten<br />

auf die Gedenkstätte in<br />

Würenlos. Zumal Emma Kunz sel-<br />

Im »Klösterli« bei Brittnau hat Emma Kunz mit zwei Schwestern einige Jahre gelebt. Heute<br />

wohnt dort ihr Neffe Otto Kunz. Er malt gern im ehemaligen Studio seiner Tante<br />

Punkto Marketing hätte Emma<br />

Kunz sich keinen besseren Manager<br />

wünschen können: Anton C.<br />

Meier hütet ihr Vermächtnis, als<br />

sei dieses sein Privatbesitz. So<br />

ließ er den Namen Emma Kunz<br />

international schützen. Journalisten,<br />

die nicht gewillt sind, seiber<br />

Zeit ihres Lebens von Missgunst<br />

verfolgt wurde. Hätte sie<br />

gewollt, dass ihr Bild der Nachwelt<br />

durch Gebote und Verbote<br />

vorgeschrieben wird? Das Muster<br />

scheint sich durch die Ikonisierung<br />

fortzusetzen. Der stille Friede<br />

im sonnengelben Gebäudekomplex<br />

inmitten eines Naturparadieses<br />

entpuppt sich als<br />

trügerisch.<br />

Über Dekaden gehörte das<br />

Steinbruchareal der Familie Meier.<br />

Bis Anfang der 1970er Jahre wurde<br />

hier Muschelkalk zu Bauzwecken<br />

abgetragen. Die Nationalbank und<br />

der Geiserbrunnen am Zürcher<br />

Bürkliplatz bestehen aus Meier-<br />

Material. Im Jahr 1999 geriet die<br />

Steinwerke Meier AG in finanzielle<br />

Not. Das Emma Kunz Zentrum<br />

stand kurz vor dem Aus. Dank dem<br />

Würenloser Gemeinderat respektive<br />

einem Rahmenkredit von 2,5<br />

Millionen Franken konnte das Fiasko<br />

abgewehrt werden. Gerüchten<br />

zufolge wollten Sekten, unter<br />

anderem jene von Uriella, das Gelände<br />

ersteigern. „Ein Horrorszenario“,<br />

konstatierte Gemeindeammann<br />

Verena Zehnder.<br />

Düstere Aussichten auch für<br />

manche Anhänger der alternativen<br />

Medizin, weil der Nachschub<br />

des Gesteinspulvers „Aion<br />

A“ in Frage gestellt gewesen wäre.<br />

Emma Kunz entdeckte die heilende<br />

Energie des Gesteins 1942<br />

mithilfe ihres Pendels, als sie den<br />

Patienten Anton C. Meier besuchte.<br />

Um den Muschelkalk des<br />

Römersteinbruches therapeutisch<br />

nutzen zu können, empfahl sie<br />

Vater Meier, Brocken davon zu<br />

pulverisieren. Aufgrund der wun-<br />

apple<br />

6 <strong>GEO</strong> 03|2009


<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

dersamen Wirkung nannte sie<br />

das Mehl Aion A, aus dem Griechischen<br />

für „Ewigkeit“.<br />

Professor Dr. Hans-Dieter<br />

Hentschel von der medizinischen<br />

Fakultät der Universität München<br />

wendet das Pulver seit 1983 in der<br />

Kurklinik Winnerhof am Tegernsee<br />

an. Das Heilmehl ist in Apotheken<br />

und Drogerien erhältlich.<br />

Für den Vertrieb hat Anton Meier<br />

1985 die Emma Kunz Heilprodukte<br />

AG gegründet.<br />

Ein weiteres Verdienst des<br />

selbst ernannten Vermächtnisverwalters<br />

ist die Verankerung des<br />

Namens Emma Kunz auf dem internationalen<br />

Kunstmarkt.<br />

Zwar lag es nie im Bestreben<br />

der Heilerin, künstlerisch tätig zu<br />

sein: Ihre Arbeiten bezeichnete<br />

sie als Forschung. Aber Meier gelang<br />

es, die Bilder in Museen und<br />

Galerien zu platzieren, zum ersten<br />

Mal 1973 im Kunstmuseum<br />

Aarau. Mittlerweile hat er die<br />

Sammlung in 40 Ländern präsentiert.<br />

1993 schmückte die „Tafel<br />

Nr. 095“ gar eine Sonderbriefmarke<br />

der Schweizer Post. An der Expo.02<br />

zierten einige Bilder von<br />

Emma Kunz den Bankenpavillon<br />

in Biel. Der Ausstellungsmacher<br />

Harald Szeemann beschrieb das<br />

Werk als „Prophezeiungen jenseits<br />

der von Menschen geschaffenen<br />

Konflikte wie Intuition und<br />

Wissenschaft, Subjektivität und<br />

Objektivität sowie allen anderen<br />

Polaritäten“.<br />

Gut 70 ihrer Bleistift-, Farbstiftund<br />

Ölkreidebilder sind im Emma<br />

Kunz Zentrum permanent<br />

ausgestellt. Eine berührende, verstörende<br />

Schau. Intellektuell ist<br />

ihr Schaffen schwerlich zu begreifen.<br />

Aber es entspinnt sich ein<br />

Dialog zwischen Bild und Betrachter:<br />

manchmal erbauend, manchmal<br />

erschütternd.<br />

Emma Kunz spürte mit ihrem<br />

Pendel universellen Mustern aufgrund<br />

existenzieller Fragen nach.<br />

Daraus resultierten streng geometrische<br />

Formen und Figuren,<br />

die sie auf Millimeterpapier fixierte.<br />

Entschlüsselt wurde das<br />

Werk bislang nicht. Dennoch oder<br />

gerade deshalb bemerkte der<br />

kürzlich verstorbene französische<br />

Philosoph Hubert Larcher anlässlich<br />

einer Retrospektive im Pariser<br />

„Musée d'Art Moderne“:<br />

„Menschen wie Emma Kunz gibt<br />

es bestenfalls alle 500 Jahre, und<br />

dann haben wir nicht das Glück,<br />

ein Zeugnis, wie das von ihr hinterlassene<br />

Werk, überliefert zu<br />

erhalten.“<br />

Fest steht: Die rätselhaften Bilder<br />

stammen von einer Schöpferin,<br />

deren Wesen selber ein Rätsel<br />

ist. Auf die Frage, wie Emma Kunz<br />

als Frau gewirkt habe, meint der<br />

Zeitzeuge <strong>Peter</strong> Burri aus Gockhausen<br />

ZH: „Sie hatte weder<br />

Charme noch Sexappeal.“<br />

Der heute 73-Jährige lernte<br />

Emma Kunz im Alter von acht<br />

Jahren kennen. „Ich litt an einer<br />

schweren Vergiftung, nachdem<br />

ich eine ganze Schachtel Jod-Schokoladetäfelchen<br />

genascht hatte.“<br />

Als die Ärzte dem Buben nicht<br />

weiterhelfen konnten, riet ein<br />

Freund der Familie, Emma Kunz<br />

in Brittnau zu konsultieren. Deren<br />

Behandlung war erfolgreich.<br />

Burri fühlt sich Emma Kunz bis<br />

heute verbunden, sagt jedoch:<br />

„Ihre absolute Konzentration bei<br />

»Sie hatte weder<br />

Charme noch<br />

Sexappeal«, sagt<br />

ein Zeitgenosse.<br />

Sie faszinierte<br />

durch ihr rätselhaftes<br />

Wesen<br />

der Arbeit machte es schwer, sie<br />

näher kennen zu lernen.“<br />

Eigentlich habe er sich als Kind<br />

auch immer etwas vor der strengen,<br />

geheimnisvollen Frau gefürchtet.<br />

Aber ihre seelenvollen<br />

Augen vergesse er nie. „Und auch<br />

nicht, dass Emma Kunz mich geheilt<br />

hat. Allerdings durften wir<br />

damals nicht darüber sprechen.<br />

Das war absolut tabu.“<br />

Tatsächlich war Emma Kunz<br />

Persona non grata in ihrem Heimatort<br />

und ähnlich ergeht es heutigen<br />

Besuchern von Brittnau.<br />

Selbst der Himmel gibt sich an<br />

diesem Novembermontag zugeknöpft.<br />

Tiefe Wolken hängen über<br />

dem Wiggertal. Die nieselnassen<br />

Straßen sind wie leer gefegt, kein<br />

erleuchtetes Gasthausschild weit<br />

und breit. Nur das einsame Gebimmel<br />

einer Geißenglocke vermag<br />

die Trostlosigkeit ein bisschen<br />

zu mildern.<br />

Über dem Dorf erhebt sich<br />

der Scheurberg. Dort oben soll<br />

einst das Elternhaus von Emma<br />

Kunz gestanden haben. Dort oben<br />

sind sie und ihre neun Geschwister<br />

in die Armut hineingeboren<br />

worden. Vater Kunz verdiente wenig<br />

als Handweber und im Zuge<br />

der Industrialisierung bald gar<br />

nichts mehr. Als auch der Schnaps<br />

das Elend nicht mehr wegzuspülen<br />

vermochte, legte er sich den<br />

<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Niklaus Kappler sucht in seinem Schlafzimmer die richtigen Stellen,<br />

um die beiden Bilder seiner Gotte Emma zu platzieren<br />

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<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Emma Kunz spürte mit ihrem Pendel universellen Mustern nach. Daraus ergaben sich auf dem Zeichenpapier streng<br />

geometrische Formen und Figuren. Nun sind ihre Bilder Wertanlagen<br />

Strick um den Hals. „Es gab viele<br />

Selbstmorde damals in Brittnau“,<br />

schreiben Yvon Mutzner und <strong>Peter</strong><br />

<strong>Donatsch</strong> im biografischen<br />

Roman „Emma“*. „Im Wirtshaus,<br />

wenn der Alkohol die Schwere<br />

lichtete, spottete man über die<br />

‚Brittnauer Krawatte‘.“<br />

Mutzner und <strong>Donatsch</strong> schildern<br />

anschaulich und faktenreich<br />

die Plackerei der leidgeprüften<br />

Familie mit einer Protagonistin,<br />

die unbeirrt ihren Weg ging. Als<br />

19-Jährige riss Emma Kunz aus,<br />

um ihrem Geliebten, dem abenteuerlustigen<br />

Brittnauer Pfarrerssohn,<br />

nach Amerika zu folgen.<br />

Doch schon ein Jahr später kam<br />

die verlorene Tochter wieder<br />

heim. Über ihren Aufenthalt in<br />

den USA hat Emma Kunz nie gesprochen.<br />

Im Dorf wurde sie seit<br />

ihrer Rückkehr verächtlich „Philadelphia“<br />

genannt.<br />

Kurz darauf zog sie mit ihrer<br />

Mutter und den beiden Schwestern<br />

Hulda und Mina an die Zofingerstrasse<br />

um, in ein Haus etwas<br />

außerhalb des Dorfkerns. Die<br />

Einheimischen giftelten bald über<br />

das „Klösterli“.<br />

Das Klösterli ist eine Zuflucht<br />

geblieben. Heute lebt Emmas Neffe<br />

dort, Otto Kunz, ehemals Fachlehrer.<br />

Der 83-Jährige ist Brittnaus<br />

Sonne an diesem düsteren Tag.<br />

Mit einem Lächeln im Gesicht, das<br />

eine Menge Leben offenbart, heißt<br />

er mich willkommen.<br />

Auf dem weiß gedeckten Stubentisch<br />

steht geblümtes Porzellan<br />

samt Kaffeekanne. „Ein Schnäpschen<br />

gefällig?“, fragt der Hausherr,<br />

ganz alte Schule. Und beginnt zu<br />

erzählen: von Emma, ihrem Nachlass<br />

und dem Rechtsstreit, den er<br />

verloren hat. „Aber was soll's“, sagt<br />

er. „Herr Meier hatte das Geld, um<br />

Emmas Bilder bekannt zu machen.“<br />

Bloß die Art und Weise, wie der<br />

einstige Galerist ihn übertölpelt<br />

habe, mache ihm zu schaffen. „Dafür<br />

schäme ich mich.“<br />

Wie kommt's? Nach dem Tod<br />

der Kunz-Schwestern verstaubte<br />

Emmas Nachlass auf dem Estrich.<br />

Anton C. Meier erfuhr davon und<br />

erwarb ihn für einen symbolischen<br />

Betrag. Als er Jahre später<br />

ein paar Bilder für mehrere Tausend<br />

Franken verkaufte und andere<br />

als Sonderdruck in Auftrag<br />

gab, ließ Otto Kunz sich von<br />

einem Journalisten überreden,<br />

Meier via ProLitteris, die Urheberrechtsgesellschaft,<br />

zu verklagen.<br />

Das Handelsgericht des Kantons<br />

Aargau entschied jedoch<br />

gegen ihn: Da kein Testament existiere,<br />

sei Otto Kunz bloß Legatsempfänger.<br />

Meier verklagte darauf<br />

ProLitteris auf einen Schadenersatz<br />

von 4,6 Millionen Franken.<br />

Die Gesetzesvertreter schmetterten<br />

die Klage ab.<br />

Für Otto Kunz ist die leidige Sache<br />

damit abgehakt. Er steht auf,<br />

entschuldigt sich. Nach geraumer<br />

Zeit kehrt er mit einem Paket zurück,<br />

das er irgendwo im verwinkelten<br />

Haus sicher verwahrt.<br />

Sorgfältig schält er zwei Rollen<br />

aus einem Stück bordeauxfarbener<br />

Seide: „Ein paar Andenken<br />

sind mir geblieben.“ Großformatige,<br />

angejahrte Papierbögen liegen<br />

auf dem Tisch. Ich traue mich<br />

kaum, sie zu berühren. An den<br />

Ecken erinnern Löcher von Reißzwecken<br />

an die ursprüngliche Bedeutung:<br />

Emma Kunz pflegte ihre<br />

Werke in Schichten an die Wände<br />

des Arbeitszimmers zu pinnen.<br />

Im Obergeschoss des Hauses<br />

befindet sich das Studio. Hier also<br />

stand Emma Kunz, über den Tisch<br />

gebeugt, und befragte ihr Pendel.<br />

Setzte Punkt für Punkt, zog Strich<br />

für Strich. Stundenlang. Manchmal<br />

dauerte es Tag und Nacht, bis<br />

ein Bild vollendet war.<br />

„Obwohl Emma meine Tante<br />

war“, erzählt Otto Kunz beim<br />

zweiten Kaffee, „hatte ich nicht<br />

viel Kontakt mit ihr.“ Man habe<br />

ihn gewarnt, „pass auf, sie ist eine<br />

Hexe!“. Er mochte sie trotzdem.<br />

Und er bewunderte sie. Emma,<br />

die nur die Primarschule besuchen<br />

konnte, erklärte ihm bei<br />

einem der wenigen Besuche Niels<br />

Bohrs Gedanken zum Energiesatz.<br />

Prophetie? Otto jedenfalls ließ<br />

sich später zum Physik- und Chemielehrer<br />

ausbilden. „Irgendwie<br />

nahmen wir sie zu wenig ernst“,<br />

sagt er. Auch bereue er, dass er sie<br />

nie in Waldstatt besucht habe.<br />

„Aber Familientreffen waren damals<br />

nicht üblich. Für Reisen fehlten<br />

Zeit und Geld.“<br />

Als der Druck für Emma Kunz<br />

in Brittnau zu groß wurde – die<br />

Ärzteschaft machte mobil gegen<br />

sie –, zog sie Ende der 1940er Jahre<br />

nach Lungern OW. Zwei Jahre<br />

später wurde sie erneut vertrieben.<br />

Freunde rieten ihr darauf, ins<br />

Appenzellerland überzusiedeln.<br />

Dort konnten Heilkundige frei<br />

praktizieren. 1951 kam Emma<br />

Kunz nach Waldstatt.<br />

Ein verträumter Fleck zwischen<br />

Herisau und Urnäsch, inmitten<br />

sanft geschwungener Hügel,<br />

an denen vereinzelt trutzig<br />

wirkende Schindelhäuser kleben.<br />

Die Dorfarchitektur ist eher<br />

schlicht in Waldstatt, geprägt von<br />

der Hauptstraße, die nach Schönengrund<br />

führt.<br />

Hier erinnert seit Mai 2008 ein<br />

Lehrpfad mit vier Stationen an<br />

Emma Kunz. Elisabeth Wolfensberger,<br />

einstige Nachbarin der<br />

Zuzügerin, übernimmt das Spurensuchkommando.<br />

Eine würdige Führerin: Die<br />

Frau zählt 81 Jahre, war die erste<br />

»Am Ende hat<br />

sich Emma einsam<br />

gefühlt«,<br />

erzählt ihr Göttibub.<br />

»Sie war<br />

ihrer Zeit weit<br />

voraus«<br />

Vertreterin ihres Geschlechts im<br />

Gemeinderat und hatte als solche<br />

wie Emma Kunz mit allerlei Unbill<br />

zu kämpfen. Nachdem die<br />

Schweiz 1971 das Frauenstimmrecht<br />

eingeführt hatte, sollten<br />

weitere 18 Jahre vergehen, bis<br />

auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden<br />

Frauen politisch mitmischen<br />

durften. „An Kantonsratsitzungen<br />

wurde ich nicht<br />

begrüßt, und man sah geflissentlich<br />

über mich hinweg“, erinnert<br />

sich Elisabeth Wolfensberger.<br />

Schon als Gemeinderätin setzte<br />

sie sich für eine Emma-Kunz-Gedenkstätte<br />

ein. „Engeren Kontakt<br />

hatten wir beide nicht“, erzählt<br />

sie. Emma Kunz habe zurückgezogen<br />

gelebt. „Im Dorf sah man<br />

sie nie. Ihre Einkäufe erledigten<br />

die Nachbarskinder.“<br />

Autos mit fremden Nummernschildern,<br />

die vor dem Haus der<br />

„alten Jungfer“ parkten, schürten<br />

den Klatsch. Recherchen Einheimischer<br />

ergaben, dass der Finanzchef<br />

des Fürsten von Liechtenstein<br />

sich regelmäßig von Emma<br />

Kunz beraten ließ. Ebenso konsultierten<br />

Politiker, Professoren<br />

und Pharmavertreter – beispielsweise<br />

Abgesandte von Roche – die<br />

Heilpraktikerin, um neu entwickelte<br />

Medikamente von ihr<br />

auspendeln zu lassen.<br />

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<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Das Grab in Brittnau ist aufgehoben worden, der schlichte Stein steht unter einer<br />

Tanne und erinnert an die einst geächtete Mitbürgerin<br />

Ihre damalige Klause bildet<br />

die zweite Station auf dem Lehrpfad.<br />

Ein Panoramafenster auf der<br />

Rückseite des Hauses gewährte<br />

Emma Kunz Aussicht auf den Säntis,<br />

ihren „kraftspendenden“ Berg.<br />

Der Garten muss eine Augenweide<br />

gewesen sein. „Täglich sah ich<br />

Emma Kunz im weißen Kittel jäten<br />

oder säen“, erzählt Elisabeth<br />

Wolfensberger.<br />

Obwohl der Lehrpfad letztlich<br />

nur zustande kam, weil man den<br />

Gästen des neu erbauten Reka-Feriendorfs<br />

bei Urnäsch eine Attraktion<br />

bieten wollte, zeigen sich die<br />

Initianten rührend umtriebig. In<br />

der Drogerie wird das Heilpulver<br />

Aion A samt Schriften angepriesen.<br />

Die Bäckerei offeriert Emma-<br />

Kunz-Getreidestängel, die in ihrer<br />

Spröde der Schweigerin zur Ehre<br />

gereichen. Im Restaurant „Löwen“<br />

liegen Bildbände über Emma Kunz<br />

auf. Der kredenzte Tee auf Ringelblumenbasis,<br />

ebenfalls eine Hommage<br />

an die Heilerin, ist allerdings<br />

ein Auslaufmodell. „Herr Meier<br />

hat Einspruch erhoben“, erklärt<br />

die Wirtin Trix Tanner.<br />

Alltägliches aus dem Leben der<br />

Emma Kunz ist in Waldstatt freilich<br />

wenig zu erfahren. Mehr<br />

weiß Niklaus Kappler, 53, Patenkind<br />

von Emma Kunz. Er besuchte<br />

seine Gotte regelmäßig im Appenzellerland.<br />

Aufgewachsen im<br />

Toggenburg, war es für ihn ein<br />

Katzensprung nach Waldstatt.<br />

Der Gärtner und Gewerbeschullehrer<br />

wohnt jetzt in der schmucken<br />

Thurgauer Gemeinde Weinfelden,<br />

umgeben von Rebbergen<br />

und alten Riegelhäusern.<br />

Kapplers Wohnung ist mit<br />

kunterbunter Kunst geschmückt,<br />

darunter zwei Werken von Emma<br />

Kunz. „Als Bub habe ich ihre Arbeit<br />

nicht wirklich verstanden“,<br />

meint er dazu. „Aber heute gäbe<br />

ich die Bilder nicht mehr her.“<br />

An den ersten Besuch bei seiner<br />

Gotte kann er sich gut erinnern:<br />

„Am meisten beeindruckte<br />

mich das Klosett mit der Wasserspülung.<br />

Wir hatten daheim noch<br />

ein Plumpsklo.“ Etwas irritiert<br />

hätten ihn hingegen Männermantel,<br />

Hut und Stock an der Garderobe.<br />

„Heute denke ich, dass<br />

die Accessoires dazu dienen<br />

sollten, Gerüchten über ihr Single-<br />

Dasein vorzubeugen.“ Beim Reden<br />

streicht Niklaus Kappler<br />

selbstvergessen über eine Häkeldecke<br />

– ein Geschenk seiner Gotte.<br />

Nach kurzem Schweigen fügt er<br />

an: „Am Ende hat Emma sich einsam<br />

gefühlt, unverstanden. Sie<br />

war ihrer Zeit eben weit voraus.“<br />

Am 16. Januar 1963 starb Emma<br />

Kunz, 71, in Waldstatt. Wunschgemäß<br />

wurde sie in Brittnau bestattet.<br />

Zur Beerdigung kam eine<br />

Handvoll Menschen. Anton C.<br />

Meier war nicht unter ihnen.<br />

Das Grab ist mittlerweile aufgehoben<br />

worden. Der Stein mit<br />

der schlichten Inschrift „Gott ist<br />

Licht und Leben. Emma Kunz.<br />

1892–1963“ steht nun im Schutz<br />

einer mächtigen Tanne, ein paar<br />

Schritte hinter den Kindergräbern.<br />

Kerzenlicht und frische Blumen<br />

zeugen davon, dass die einst<br />

Verfemte heute selbst in Brittnau<br />

wohlgelitten ist. P<br />

* Yvon Mutzner und <strong>Peter</strong> <strong>Donatsch</strong>:<br />

„Emma“. Appenzeller Verlag, Herisau<br />

2008, 34.90 Franken.<br />

12 <strong>GEO</strong> 03|2009

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