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Musterstrecke GEO | Stand1.05.06 - Peter Donatsch

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<strong>GEO</strong> Schauplatz Schweiz<br />

Emma Kunz spürte mit ihrem Pendel universellen Mustern nach. Daraus ergaben sich auf dem Zeichenpapier streng<br />

geometrische Formen und Figuren. Nun sind ihre Bilder Wertanlagen<br />

Strick um den Hals. „Es gab viele<br />

Selbstmorde damals in Brittnau“,<br />

schreiben Yvon Mutzner und <strong>Peter</strong><br />

<strong>Donatsch</strong> im biografischen<br />

Roman „Emma“*. „Im Wirtshaus,<br />

wenn der Alkohol die Schwere<br />

lichtete, spottete man über die<br />

‚Brittnauer Krawatte‘.“<br />

Mutzner und <strong>Donatsch</strong> schildern<br />

anschaulich und faktenreich<br />

die Plackerei der leidgeprüften<br />

Familie mit einer Protagonistin,<br />

die unbeirrt ihren Weg ging. Als<br />

19-Jährige riss Emma Kunz aus,<br />

um ihrem Geliebten, dem abenteuerlustigen<br />

Brittnauer Pfarrerssohn,<br />

nach Amerika zu folgen.<br />

Doch schon ein Jahr später kam<br />

die verlorene Tochter wieder<br />

heim. Über ihren Aufenthalt in<br />

den USA hat Emma Kunz nie gesprochen.<br />

Im Dorf wurde sie seit<br />

ihrer Rückkehr verächtlich „Philadelphia“<br />

genannt.<br />

Kurz darauf zog sie mit ihrer<br />

Mutter und den beiden Schwestern<br />

Hulda und Mina an die Zofingerstrasse<br />

um, in ein Haus etwas<br />

außerhalb des Dorfkerns. Die<br />

Einheimischen giftelten bald über<br />

das „Klösterli“.<br />

Das Klösterli ist eine Zuflucht<br />

geblieben. Heute lebt Emmas Neffe<br />

dort, Otto Kunz, ehemals Fachlehrer.<br />

Der 83-Jährige ist Brittnaus<br />

Sonne an diesem düsteren Tag.<br />

Mit einem Lächeln im Gesicht, das<br />

eine Menge Leben offenbart, heißt<br />

er mich willkommen.<br />

Auf dem weiß gedeckten Stubentisch<br />

steht geblümtes Porzellan<br />

samt Kaffeekanne. „Ein Schnäpschen<br />

gefällig?“, fragt der Hausherr,<br />

ganz alte Schule. Und beginnt zu<br />

erzählen: von Emma, ihrem Nachlass<br />

und dem Rechtsstreit, den er<br />

verloren hat. „Aber was soll's“, sagt<br />

er. „Herr Meier hatte das Geld, um<br />

Emmas Bilder bekannt zu machen.“<br />

Bloß die Art und Weise, wie der<br />

einstige Galerist ihn übertölpelt<br />

habe, mache ihm zu schaffen. „Dafür<br />

schäme ich mich.“<br />

Wie kommt's? Nach dem Tod<br />

der Kunz-Schwestern verstaubte<br />

Emmas Nachlass auf dem Estrich.<br />

Anton C. Meier erfuhr davon und<br />

erwarb ihn für einen symbolischen<br />

Betrag. Als er Jahre später<br />

ein paar Bilder für mehrere Tausend<br />

Franken verkaufte und andere<br />

als Sonderdruck in Auftrag<br />

gab, ließ Otto Kunz sich von<br />

einem Journalisten überreden,<br />

Meier via ProLitteris, die Urheberrechtsgesellschaft,<br />

zu verklagen.<br />

Das Handelsgericht des Kantons<br />

Aargau entschied jedoch<br />

gegen ihn: Da kein Testament existiere,<br />

sei Otto Kunz bloß Legatsempfänger.<br />

Meier verklagte darauf<br />

ProLitteris auf einen Schadenersatz<br />

von 4,6 Millionen Franken.<br />

Die Gesetzesvertreter schmetterten<br />

die Klage ab.<br />

Für Otto Kunz ist die leidige Sache<br />

damit abgehakt. Er steht auf,<br />

entschuldigt sich. Nach geraumer<br />

Zeit kehrt er mit einem Paket zurück,<br />

das er irgendwo im verwinkelten<br />

Haus sicher verwahrt.<br />

Sorgfältig schält er zwei Rollen<br />

aus einem Stück bordeauxfarbener<br />

Seide: „Ein paar Andenken<br />

sind mir geblieben.“ Großformatige,<br />

angejahrte Papierbögen liegen<br />

auf dem Tisch. Ich traue mich<br />

kaum, sie zu berühren. An den<br />

Ecken erinnern Löcher von Reißzwecken<br />

an die ursprüngliche Bedeutung:<br />

Emma Kunz pflegte ihre<br />

Werke in Schichten an die Wände<br />

des Arbeitszimmers zu pinnen.<br />

Im Obergeschoss des Hauses<br />

befindet sich das Studio. Hier also<br />

stand Emma Kunz, über den Tisch<br />

gebeugt, und befragte ihr Pendel.<br />

Setzte Punkt für Punkt, zog Strich<br />

für Strich. Stundenlang. Manchmal<br />

dauerte es Tag und Nacht, bis<br />

ein Bild vollendet war.<br />

„Obwohl Emma meine Tante<br />

war“, erzählt Otto Kunz beim<br />

zweiten Kaffee, „hatte ich nicht<br />

viel Kontakt mit ihr.“ Man habe<br />

ihn gewarnt, „pass auf, sie ist eine<br />

Hexe!“. Er mochte sie trotzdem.<br />

Und er bewunderte sie. Emma,<br />

die nur die Primarschule besuchen<br />

konnte, erklärte ihm bei<br />

einem der wenigen Besuche Niels<br />

Bohrs Gedanken zum Energiesatz.<br />

Prophetie? Otto jedenfalls ließ<br />

sich später zum Physik- und Chemielehrer<br />

ausbilden. „Irgendwie<br />

nahmen wir sie zu wenig ernst“,<br />

sagt er. Auch bereue er, dass er sie<br />

nie in Waldstatt besucht habe.<br />

„Aber Familientreffen waren damals<br />

nicht üblich. Für Reisen fehlten<br />

Zeit und Geld.“<br />

Als der Druck für Emma Kunz<br />

in Brittnau zu groß wurde – die<br />

Ärzteschaft machte mobil gegen<br />

sie –, zog sie Ende der 1940er Jahre<br />

nach Lungern OW. Zwei Jahre<br />

später wurde sie erneut vertrieben.<br />

Freunde rieten ihr darauf, ins<br />

Appenzellerland überzusiedeln.<br />

Dort konnten Heilkundige frei<br />

praktizieren. 1951 kam Emma<br />

Kunz nach Waldstatt.<br />

Ein verträumter Fleck zwischen<br />

Herisau und Urnäsch, inmitten<br />

sanft geschwungener Hügel,<br />

an denen vereinzelt trutzig<br />

wirkende Schindelhäuser kleben.<br />

Die Dorfarchitektur ist eher<br />

schlicht in Waldstatt, geprägt von<br />

der Hauptstraße, die nach Schönengrund<br />

führt.<br />

Hier erinnert seit Mai 2008 ein<br />

Lehrpfad mit vier Stationen an<br />

Emma Kunz. Elisabeth Wolfensberger,<br />

einstige Nachbarin der<br />

Zuzügerin, übernimmt das Spurensuchkommando.<br />

Eine würdige Führerin: Die<br />

Frau zählt 81 Jahre, war die erste<br />

»Am Ende hat<br />

sich Emma einsam<br />

gefühlt«,<br />

erzählt ihr Göttibub.<br />

»Sie war<br />

ihrer Zeit weit<br />

voraus«<br />

Vertreterin ihres Geschlechts im<br />

Gemeinderat und hatte als solche<br />

wie Emma Kunz mit allerlei Unbill<br />

zu kämpfen. Nachdem die<br />

Schweiz 1971 das Frauenstimmrecht<br />

eingeführt hatte, sollten<br />

weitere 18 Jahre vergehen, bis<br />

auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden<br />

Frauen politisch mitmischen<br />

durften. „An Kantonsratsitzungen<br />

wurde ich nicht<br />

begrüßt, und man sah geflissentlich<br />

über mich hinweg“, erinnert<br />

sich Elisabeth Wolfensberger.<br />

Schon als Gemeinderätin setzte<br />

sie sich für eine Emma-Kunz-Gedenkstätte<br />

ein. „Engeren Kontakt<br />

hatten wir beide nicht“, erzählt<br />

sie. Emma Kunz habe zurückgezogen<br />

gelebt. „Im Dorf sah man<br />

sie nie. Ihre Einkäufe erledigten<br />

die Nachbarskinder.“<br />

Autos mit fremden Nummernschildern,<br />

die vor dem Haus der<br />

„alten Jungfer“ parkten, schürten<br />

den Klatsch. Recherchen Einheimischer<br />

ergaben, dass der Finanzchef<br />

des Fürsten von Liechtenstein<br />

sich regelmäßig von Emma<br />

Kunz beraten ließ. Ebenso konsultierten<br />

Politiker, Professoren<br />

und Pharmavertreter – beispielsweise<br />

Abgesandte von Roche – die<br />

Heilpraktikerin, um neu entwickelte<br />

Medikamente von ihr<br />

auspendeln zu lassen.<br />

10 <strong>GEO</strong> 03|2009<br />

03|2009 <strong>GEO</strong> 11

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