21.04.2014 Aufrufe

Wronski als Mathematiker.

Wronski als Mathematiker.

Wronski als Mathematiker.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Wronski</strong> <strong>als</strong> <strong>Mathematiker</strong>.<br />

Von<br />

S. DICKSTEIN aus Warschau.<br />

Der ehrenvollen Einladung des hochverehrten Einführenden der<br />

historischen Sektion unseres Kongresses einen Vortrag über <strong>Wronski</strong> zu<br />

halten Folge leistend, erlaube ich mir Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen,<br />

am Ihnen eine Charakteristik dieses geistreichen und wenig bekannten<br />

Mannes (1778—1853) zu geben.*) Ich muß aber gleich gestehen,<br />

laß ich in der kurzen mir zugemessenen Zeit nur einen flüchtigen Überblick<br />

über einen Teil seiner Wirksamkeit Ihnen geben kann. <strong>Wronski</strong><br />

war ein Polyhistor, kein Gebiet menschlichen Wissens war ihm fremd;<br />

3r hat umfangreiche Werke über verschiedenartige Gegenstände veröffentlicht<br />

und noch mehr findet man in seinem ungedruckt gebliebenen<br />

Nachlasse.**) Er beschäftigte sich mit Mathematik, Mechanik und<br />

Physik, Himmelsmechanik und Astronomie, Statistik und politischer<br />

Ökonomie, mit Geschichte, Politik und Philosophie, er versuchte seine<br />

Kräfte in mehreren mechanischen und technischen Erfindungen. Ich<br />

kann hier natürlich nicht alle seine Leistungen in diesen verschiedenen<br />

Grebieten besprechen, ich muß mich auf die Mathematik beschränken und<br />

kann von dieser sogar nicht alles von ihm Geleistete Ihnen vorführen.<br />

<strong>Wronski</strong>s Philosophie darf ich aber nicht unerwähnt lassen, weil er<br />

selbst seine ganze wissenschaftliche Arbeit <strong>als</strong> philosophische Tat betrachtete<br />

und fast in allen seinen mathematischen Schriften Mathematik<br />

aait Philosophie vermengte. Die Einwirkung seiner philosophischen Ansichten<br />

merkt man schon an der von ihm systematisch geübten eigenirtigen<br />

dichotomischen Zergliederung des Inhalts aller seiner Arbeiten.<br />

*) Über WronsMs Leben und Werke ist von mir ein Buch in polnischer<br />

Sprache herausgegeben worden „Hoene <strong>Wronski</strong>, jego zycie i prace", Krakau 1896,<br />

Verlag der Krakauer Akademie der Wissenschaften, gr. 8°. 363 S.<br />

**) Ein Verzeichnis aller Schriften und Manuskripte von <strong>Wronski</strong> findet man<br />

in meiner Arbeit: „Catalogue des oeuvres imprimées et manuscrites de <strong>Wronski</strong>"<br />

Krakau 1896), die den zweiten Teil des unter *) zitierten Buches bildet.


516 H. Teil: Wissenschaftliche Vorträge.<br />

Er sagte doch selbst: „l'une des plus belles prérogatives de la raison<br />

est d'être capable de former un système, d'être architectonique." Die<br />

Zahlen e und % nannte er „philosophische Zahlen" und zwar die erste<br />

die der Theorie der Logarithmen, die zweite die der Theorie des Sinus;<br />

die von ihm verallgemeinerte Bernoullische und Eulersche Annäherungsmethode<br />

zur Auflösung algebraischer Gleichungen nannte er teleologisch<br />

usw. Aber noch mehr: durch seine Philosophie, die er „absolute"<br />

oder — <strong>als</strong> Philosophie der von ihm gepredigten neuen<br />

Ära der Geschichte der Menschheit — auch „Messianismus" genannt<br />

hat, wollte er die ganze menschliche Wissenschaft reformieren<br />

und dieselbe auf unfehlbaren Grundlagen errichten. Zu seinem philosophischen<br />

System gelangte er durch die Kantische Philosophie. Er<br />

wollte diese Philosophie, die er <strong>als</strong> die größte Entdeckung des XVIH. Jahrhunderts<br />

bezeichnete, weiterführen und vollenden, bis in das Absolute<br />

hinauf. Kant — sagt <strong>Wronski</strong> — war der erste, der nicht nur die<br />

Form sondern auch den Inhalt oder die Natur der Erkenntnis erfaßt<br />

habe; für Kant aber war die Erkenntnis noch eine durch die Bedingungen<br />

des reflektierenden Gemütes gebundene Reflexion des Seins.<br />

Der fundamentale Irrtum der Kantischen Philosophie bestand nach<br />

<strong>Wronski</strong> in der Vermengung des Seins mit der eigenthchen spontanen<br />

Tätigkeit der Erkenntnis. Die drei Prinzipien des Kantischen Systems,<br />

nämlich 1. die „mechanische" Voraussetzung einer besonderen Form<br />

der menschlichen Erkenntnis, 2. das Kriterium der Notwendigkeit dieser<br />

Erkenntnis, 3. die Unbedingtheit der moralischen Gesetze entbehren<br />

der systematischen Einheitlichkeit; die Lehre sei unvollständig, weil sie<br />

das Absolute nur in die Postulate der praktischen Vernunft versetzt<br />

und der reinen Vernunft Schranken vorschreibt, welche das absolute<br />

Erkennen verschließen. Wenn auch <strong>als</strong>o Kant die Richtung nach dem<br />

Absoluten angebahnt und seine Nachfolger Fichte, Schelling und Hegel<br />

Versuche zur Lösung dieses großen Problems gemacht haben, so seien<br />

doch die Resultate ihrer Gedankenarbeit einseitig und haben nichts<br />

mehr <strong>als</strong> Schemata zur weiteren Arbeit geliefert. Ich kann hier nicht<br />

die Grundlage der <strong>Wronski</strong>schen Philosophie ausführlich darstellen —<br />

dieser Gegenstand gehört ja zu der Geschichte der Philosophie — uns<br />

geht doch nur die Anwendung dieses seines im Absoluten verobjektivierten<br />

Rationalismus des XVIH. Jahrhunderts auf die Wissenschaft<br />

und speziell auf die Mathematik an. Ist <strong>als</strong>o absolute Erkenntnis<br />

möglich, so müssen für jede Wissenschaft absolute und notwendige<br />

Gesetze existieren, welche ihre Entwicklung regeln und aus welcher<br />

alle ihre Wahrheiten sich <strong>als</strong> notwendige Folgerungen ergeben. Solche<br />

absolute Gesetze glaubte <strong>Wronski</strong> für jede Wissenschaft und speziell


C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Dickstein. 517<br />

für die Mathematik aufstellen zu können. Dieselben hießen: „La loi<br />

suprême" = das höchste Gesetz, „le problème universel" = das universelle<br />

Problem, „loi (oder concoursì téléologique" = das teleologische<br />

Gesetz.<br />

Ehe ich aber den Inhalt und die Bedeutung dieser Gesetze in der<br />

<strong>Wronski</strong>schen Mathematik erkläre, muß ich in aller Kürze über die<br />

eigentlich mathematischen Leistungen von <strong>Wronski</strong> berichten. Ich<br />

habe schon vor mehreren Jahren dieselben in einer Reihe von Noten*)<br />

in der Eneströmschen Bibliotheca mathematica besprochen, ich<br />

habe dort auch den Zusammenhang der <strong>Wronski</strong>schen Ideen mit denen<br />

anderer <strong>Mathematiker</strong> berücksichtigt, ich werde <strong>als</strong>o nur wiederholen<br />

müssen, was ich dort auseinander gesetzt habe. Also zuerst die „sommes<br />

combinatoires" oder „fonctions schins" von <strong>Wronski</strong> waren eigentlich<br />

nach heutiger Benennung Differential- oder Differenzen-Determinanten,<br />

auch jetzt <strong>Wronski</strong>anen genannt. <strong>Wronski</strong> zeigte einige Eigenschaften<br />

und den Gebrauch dieser Gebilde zuerst in seiner im Jahre 1810 der<br />

Pariser Akademie vorgelegten (aber ungedruckt gebhebenen) Abhandlung<br />

unter d. T.: „Premier principe des méthodes algorithmiques comme<br />

base de la Technie algorithmique"**) und wendete dieselben in seinen<br />

späteren gedruckten Werken hauptsächlich auf die Entwicklung der<br />

Funktionen in Reihen an. Seine „fonctions alephs" sind symmetrische<br />

Funktionen, die er in einer etwas schwerfälligen Bezeichnung für die<br />

Auflösung algebraischer Gleichungen und für die Zahlentheorie gebrauchte.<br />

In der Handhabung dieser Instrumente und der vielfach von<br />

ihm benutzten sogenannten „Aggregats" oder kombinatorischen Gebilde<br />

zeigt sich <strong>Wronski</strong> <strong>als</strong> sehr geschickter Kombinatoriker, der ziemlich<br />

ermüdende Rechnungen nicht scheute und in dieser Hinsicht den<br />

deutschen Kombinatorikern an die Seite gestellt werden kann. Es hat<br />

auch ein deutscher Kombinatoriker, der etwa um zwei Jahre jüngere<br />

Fr. Schweins sehr viel aus <strong>Wronski</strong>s Schriften***) geschöpft und mehrere<br />

<strong>Wronski</strong>sche Formeln seinem Hauptwerke: „Theorie der Differenzen<br />

und Differentiale" (Heidelberg 1825) einverleibt. Die sogenannte teleologische<br />

Methode zur Auflösung algebraischer Gleichungen, die <strong>Wronski</strong><br />

*) Sur les découvertes mathématiques de <strong>Wronski</strong> (2), 6, 1892, p. 48—52,<br />

85—90; 7, 1893, p. 9—14; 8, 1894, p. 49—54, 85—87; 10, 1896, p. 5—12.<br />

**) Den Inhalt dieser Abhandlung habe ich in der oben zitierten polnischen<br />

Arbeit über <strong>Wronski</strong>s Leben und Werke (S. 29—34) besprochen.<br />

***) Nämlich aus der „Introduction à la philosophie des mathématiques"<br />

und der „Philosophie de la Technie algorithmique". Auf S. 613 seines Werkes<br />

schreibt Schweins: „Im Jahre 1821 lernten wir die Arbeiten von <strong>Wronski</strong> kennen<br />

und fanden, daß ihm die Ehre gebührt, die allgemeinsten Fakultäten zuerst untersucht<br />

und bekannt gemacht zu haben."


518 IL Teil: Wissenschaftliche Vorträge.<br />

durch Einführung der Funktionen „aleph" aus den bekannten Methoden<br />

von Bernoulli und Euler zu vervollständigen suchte, ging den bezüglichen<br />

Arbeiten von Jacobi, Fourier und anderen voraus.*)<br />

Weniger glücklich war <strong>Wronski</strong> in seinem Versuche aus dem<br />

Jahre 1812 über die Auflösung algebraischer Gleichungen aller Grade,<br />

in welchem er, mit den Ergebnissen der älteren Untersuchungen von<br />

Ruffini unbekannt, allgemeine Formeln für die Wurzeln algebraischer<br />

Gleichungen von irgend welchem Grade aufzustellen glaubte. Aber<br />

erst im Jahre 1816 hat Ruffini selbst und im Jahre 1818 der portugiesische<br />

<strong>Mathematiker</strong> Torri ani die Unzulänglichkeit der <strong>Wronski</strong>schen<br />

Theorie gezeigt.**)<br />

In seinem ersten Werke: „Introduction à la Philosophie des mathématiques"<br />

(Paris 1811) gibt <strong>Wronski</strong> eine analytische Definition höherer<br />

trigonometrischer Funktionen, von welchen die Kreis- und Hyperbelfunktionen<br />

nur spezielle Fälle sind, beweist das Additionstheorem dieser<br />

Funktionen und mehrere ihrer Eigenschaften. Durch diese neue Art<br />

analytischer Funktionen wollte er die ihm unsympathischen „fonctions<br />

elliptiques" von Legendre ersetzen und dieselben auf die Integration<br />

der Differentialgleichungen und die Probleme der Himmelsmechanik<br />

anwenden. In demselben Werke führt <strong>Wronski</strong> eine neue Infinitesimalrechnung,<br />

ein Gegenstück zur gewöhnlichen Differentialrechnung ein;<br />

er nennt sie „calcul des gradules" und definiert die in ihr vorkommenden<br />

infinitesimalen Größen yx 9 y y mittels der Gleichung<br />

y^yy =<br />

f(x^y%<br />

Soviel ich weiß, hat diese] infinitesimale Exponentialrechnung, sowie<br />

die analogen Versuche anderer <strong>Mathematiker</strong> keine nennenswerten Ergebnisse<br />

geliefert.<br />

Es ist weiter zu erwähnen <strong>Wronski</strong>s Methode der Integration<br />

hnearer Differentialgleichungen, welche auf folgendem Gedanken beruht.<br />

Es sei<br />

*) Vergi, meine Abhandlung: „Über die teleologische Methode von Hoene<br />

<strong>Wronski</strong> zur Auflösung algebraischer Gleichungen (Sitzungsberichte der Krakauer<br />

Akad. d. Wissenschaften, 19, 1889, p. 167; 20, 1890, p. 287).<br />

**) Ruffini Paolo, Intorno al metodo generale proposto dal Sig. Hoene<br />

<strong>Wronski</strong>. Memoria . . . ricevuta il 20 marzo 1816 (Mem. d. Società Italiana delle<br />

scienze, 18, Modena 1820); Torriani Joâo Evangelista, Memoria premiada na<br />

Sessäo publica de 24 de Junho de 1818 sobre o programma ... Dar a demonstraçao<br />

das Formulas propostas por <strong>Wronski</strong> para a resoluçâo gérai das equaçôes (Mem.<br />

da Acad. Real das sciencias de Lisboa); vergi. H. Burkhardt, Die Anfange der<br />

Gruppentheorie und Paolo Ruffini (Zeitschr. für Mathem. und Physik, 37, 1892,<br />

Supplement S. 157).


C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Dickstein. 519<br />

die gegebene Differentialgleichung, in welcher H 0 , H 19 .. ., H Funktionen<br />

von x sind, die auch die gesuchte Funktion Sl, ihre Differentiale<br />

und Differenzen enthalten können; Je sei ein bestimmter Wert von x 9<br />

für welchen 2Z* 0 , H l9 . . ., H^ die Werte [H 0 ], [HJ, . . ., [JT^] annehmen:<br />

führt man einen Parameter a und eine Funktion s& x ein, wo s und r<br />

willkürliche Konstanten sind, und bildet die allgemeinere Gleichung<br />

M+a-.)—m(Ä)-«+wi(äjr5£+"-+P«(iä)"^-«v<br />

so geht dieselbe in die gegebene für a = 1 über; für a = 0 aber erhält<br />

man die sogenannte „reduzierte" Gleichung<br />

»(«) + .rf--[JBU« + [^]^ + ...+[JTJ^|-.0<br />

mit konstanten Koffizienten, welche man leicht integrieren kann. Betrachtet<br />

man die Integrale der gegebenen Gleichung <strong>als</strong> Funktionen<br />

von a, so gibt die Entwicklung dieser Funktionen nach den Potenzen<br />

des Parameters a für a = 1 die gesuchten Integrale. Natürlich ist bei<br />

<strong>Wronski</strong> von den Gültigkeitsgrenzen dieser Methode nicht die Rede.<br />

Analog ist seine folgende Methode zur Auflösung algebraischer<br />

Gleichungen. Es sei<br />

A 0 + A x y + . - . + A m y m = 0<br />

die gegebene Gleichung; trennt man ihre linke Seite in zwei Teile P<br />

und Q und führt einen Parameter x ein, so daß xP + Q = 0 sei, so<br />

erhält man eine neue Gleichung, die für x = 1 in die gegebene übergeht;<br />

für x = 0 aber bekommt man die einfachere Gleichung Q = 0.<br />

Nach Auflösung derselben entwickelt man die Wurzeln der Gleichung<br />

xP + Q = 0 nach Potenzen von x und setzt dann x = 1 ein.<br />

Man findet in den Schriften von <strong>Wronski</strong> mehrere sehr interessante<br />

Entwicklungen für die höheren Differentialquotienten zusammengesetzter<br />

Funktionen, verschiedene Interpolationsformeln für einfache und mehrfache<br />

Integrale und auch eine Anweisung zum Gebrauch dieser Interpolationsmethoden<br />

für die Integration irgend welcher gewöhnlichen und<br />

partiellen Differentialgleichungen.<br />

In der „Philosophie de la Technie algorithmique" (2 Bände, Paris<br />

1816—1817) findet man mehrere ausführliche Erklärungen über divergente<br />

Reihen, deren Gebrauch <strong>Wronski</strong> <strong>als</strong> ganz legitim betrachtete<br />

und welche er durch geeignete Transformationen in konvergente zu<br />

verwandeln wußte. Seine Methode entbehrt natürlich der Strenge,


520 H- Teil : Wissenschaftliche Vorträge.<br />

welche erst durch die moderne Funktionentheorie möglich wurde. Wir<br />

begegnen auch hier mehreren Betrachtungen über die Konvergenz der<br />

Reihen, die aber den klaren und einfachen, freilich etwas späteren Untersuchungen<br />

von Bolzano und Cauchy nachstehen.<br />

Alle oben besprochenen Leistungen von <strong>Wronski</strong> sind aber —<br />

wenn ich so sagen darf — <strong>als</strong> Nebenprodukte seiner allgemeinsten<br />

Auffassung mathematischer Probleme zu betrachten. In der „Philosophie<br />

de la Technie algorithmique" fragt <strong>Wronski</strong>: „En quoi consistent les<br />

Mathématiques; n'y aurait-il pas moyen d'embrasser par un seul problème<br />

tous les problèmes de ces sciences et de résoudre généralement<br />

ce problème universel" und antwortet auf diese Frage mittels seiner<br />

„Loi suprême"; es sei ihm das einzige allgemeinste die Bildung matlie<br />

matischer Größen beherrschende Gesetz. Es hat die Form:<br />

F(x) - 4,a 0 + A 1 n 1 + A^a 2 +.. •;<br />

F(x) ist die gegebene Funktion von #; ß 0 , Sl 19 £l 2 , • • • sind ganz<br />

willkürliche Funktionen derselben Variablen; A 0 , A l9 A 29 ... sind<br />

konstante Koeffizienten, die aus den gegebenen Funktionen zu bestimmen<br />

sind. Die zweibändige „Philosophie de la Technie" ist zum<br />

größten Teil der Herleitung und den Anwendungen der „Loi suprême"<br />

gewidmet. Die Koeffizienten werden im allgemeinen durch unendliche<br />

Reihen, in deren Gliedern die oben genannten Funktionen „schin" vorkommen^<br />

ausgedrückt. Die Begründung <strong>Wronski</strong>s ist natürlich rein<br />

formell und vermag den heutigen Anforderungen nicht zu genügen.<br />

<strong>Wronski</strong> aber legte das Hauptgewicht auf die Form der Entwicklung;<br />

sie ist ihm das höchste Gesetz der Algorithmie — so nannte er den<br />

aus Arithmetik, Algebra und Analysis bestehenden Zweig der Mathematik<br />

— nicht nur weil sie alle möglichen Reihenentwicklungen und<br />

insbesondere die dam<strong>als</strong> bekannten Entwicklungen der Funktionen in<br />

unendliche Reihen umfaßt, sondern auch weil sie alle anderen Entwicklungsarten<br />

in sich enthält. <strong>Wronski</strong> zeigt nämlich, auf welche<br />

Weise man aus seiner allgemeinsten Entwicklungsform zu den Entwicklungen<br />

in unendliche Reihen, in unendliche Produkte und Kettenbrüche<br />

gelangt.<br />

Das „Problème universel" folgt unmittelbar aus der „Loi suprême"<br />

und hat folgende Form: Es seien x 9 x 19 x 29 ... mehrere unabhängige<br />

Variablen, f(x) 9 f ± (x), f 2 (x) 9 . .. Funktionen von x und es sei<br />

0 - f( x ) + Vifii?) + *tf%(?) + • • •;<br />

man sucht die Entwicklung einer Funktion F(x) derselben Variablen x.<br />

Die Entwicklung lautet:


C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Dickstein. 521<br />

F{x) = M 0 + * M(l\ + A M{\, \\ + ^<br />

M(1,1,1) 3 + • • •<br />

+ %M(2\ + *%M(l,'2\+ ^Mii, 1, 2) 8 + • • •<br />

+ £jf(3) 1 + A^(2,2),+ ^Jf(l, 2, 2) 8 + - • •<br />

AVO man die Koeffizienten M <strong>als</strong> Funktionen „schin" nach der Formel<br />

M (p, q,r,.. ., œ)^<br />

_ (_ lyr v{df{x)d*f{xY • • • dv-'fjxf- ^Iff^fjjx) • • • />)rfF(s)])<br />

11.2-. 1-2..^ (df(x)) 1 + * + ~' + ti<br />

berechnet, in welcher man in den Differentialen statt x den Wert einsetzt,<br />

für welchen f(x) = 0 ist. Im ganz speziellen Falle f(x) = a + x,<br />

x t = x 2 = x 3 = • • • = 0 ist in dieser Entwicklung die bekannte Lagrangesche<br />

Reihe enthalten. Dieses „Problem" kann natürlich sehr leicht für<br />

Funktionen F(x, «/,#,...), mehrerer Variablen aufgestellt werden. Nach<br />

einer Bemerkung von <strong>Wronski</strong> umfaßt es alle immanenten und transzendenten<br />

Gleichungen, alle primitiven und Differentialgleichungen.<br />

Auf die „Loi suprême" gründet sich die sogenannte „Méthode<br />

suprême", eine Methode zur Entwicklung der Funktionen nach Polynomen.<br />

Sind in der allgemeinsten Form<br />

F(x) - A o a o +A 1 Sl 1 + A 2 £l 2 +' • •<br />

die Funktionen ß 0 , £l 19 . . . ? £i a so gewählt, daß sie der Differentialgleichung<br />

W [dSl^2^ - •. d (a Sl (xi d (a+1 F(x)'] - 0<br />

möglichst genau genügen, und haben die folgenden Funktionen ß w+1 ,<br />

£l (lJ + 2 , . . . die Fakultätenform<br />

«.+* - 9>(*)Ç>(* + È) • • •


522 II- Teil: Wissenschaftliche Vorträge.<br />

m = 2, . . . erhält man die sukzessiven, immer genaueren Darstellungen<br />

der gesuchten Funktion. Diese Entwicklungsmethode von <strong>Wronski</strong><br />

könnte man — so scheint es mir — <strong>als</strong> ein Vorstadium der späteren<br />

strengen Entwicklungen von Weierstraß und Mittag-Leffler betrachten.<br />

Das dritte <strong>Wronski</strong>sche Gesetz, nämlich das „teleologische", hat<br />

eine von der oben genannten ganz verschiedene Natur. Während nämlich<br />

die zwei ersten mit Funktionen und zwar mit stetigen Funktionen —<br />

denn nur solche überhaupt hat <strong>Wronski</strong> im Sinne — zu tun haben,<br />

begegnen wir in der Zahlentheorie Größen, die sich in diskreten, endlichen<br />

Intervallen verändern und statt auf Gleichungen auf Kongruenzen<br />

führen. Das teleologische Gesetz gibt die Auflösungsform einer solchen<br />

Kongruenz x m = a (mod. M) mittels der Funktionen „aleph". Ein Teil<br />

des großen 1. Bandes des „Messianisme ou la Réforme absolue du<br />

savoir humain" (1847) ist dieser Auflösungsmethode verschiedener<br />

Probleme der Zahlentheorie gewidmet.<br />

Diese sind nach <strong>Wronski</strong> die „höchsten Prinzipien" der Mathematik,<br />

die sich aus seiner absoluten Philosophie unmittelbar und a priori ergeben.<br />

Ich kann hier nicht auf die Frage eingehen, auf welche Weise<br />

dies möglich sei, nur darf ich vielleicht die Bemerkung nicht unterlassen,<br />

daß mich die Einsicht in die ersten handschriftlichen Arbeiten<br />

von <strong>Wronski</strong> (vom Jahre 1803 an) belehrt hat, daß er zu seinen<br />

Ergebnissen durch allmähliche und immer allgemeinere Versuche gelangt<br />

ist. Gewiß ist der Gedanke einer einheitlichen Entwicklung der<br />

Wissenschaft aus wenigen allgemeinen Prinzipien philosophisch und<br />

wissenschaftlich berechtigt, aber die <strong>Wronski</strong>schen Prinzipien können<br />

nicht <strong>als</strong> einfache irreduktible Grundsätze gelten, die der ganzen Entwicklung<br />

zugrunde hegen; sie sind vielmehr zusammengesetzte Formen,<br />

die an der Spitze stehen, und ihre Allgemeinheit ist scheinbar, weil<br />

sie sich eigentlich nur auf Funktionen einfachster Art und auf diese<br />

nur unter gewissen Voraussetzungen, die <strong>Wronski</strong> unbekannt gebheben<br />

sind, beziehen können. <strong>Wronski</strong> wollte aber die von ihm gegebene<br />

Form <strong>als</strong> eine vollendete für alle Zukunft gelten lassen; die spätere<br />

Entwicklung der Wissenschaft hat jedoch gezeigt, daß dieselbe nicht<br />

das geeignete Mittel dazu war, um die tieferen und verborgenen Eigenschaften<br />

der Funktionen zu entdecken.<br />

In seinen ersten handschriftlichen Arbeiten ist <strong>Wronski</strong> noch ein<br />

Bewunderer der „Théorie des fonctions analytiques" von Lagrange, die<br />

er „oeuvre sublime et philosophique" nennt. Aber er hat recht schnell<br />

seine Meinung geändert. Nachdem nämlich seine oben erwähnte der<br />

Pariser Akademie im Jahre 1810 vorgelegte Abhandlung, obwohl von


C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Dickstein. 523<br />

Lagrange selbst günstig beurteilt, nicht die von <strong>Wronski</strong> gewünschte<br />

Aufnahme seitens der Akademie erfahren hatte, ließ er im „Moniteur"<br />

eine heftige Entgegnung erscheinen, in welcher er der Akademie die<br />

Kompetenz zur Beurteilung der philosophischen Bedeutung seiner Arbeit<br />

absprach. Seine zweite von den Kommissären der Akademie abgewiesene<br />

Abhandlung: „Réfutation de la Théorie des fonctions analytiques de<br />

Lagrange" (gedruckt Paris 1812), ist schon direkt gegen die Grundlagen<br />

des Lagrangeschen Werkes gerichtet.*) Durch diese Schrift<br />

wurde der Bruch <strong>Wronski</strong>s mit der Pariser Akademie auf immer vollzogen.<br />

Der leidenschaftliche Ton seiner späteren Werke, die Vermengung<br />

wissenschaftlicher Sachen mit persönlichen Angriffen haben<br />

der wissenschaftlichen Tätigkeit von <strong>Wronski</strong> großen Schaden augefügt.<br />

So z. B. ist seine lesenswerte Schrift: „Philosophie de l'Infini"<br />

(1814), welche gegen Carnots Metaphysik, der Infinitesimalrechnung<br />

und auch andere Derivationsmethoden kämpft, fast unbeachtet geblieben.<br />

In dieser Schrift stellt sich <strong>Wronski</strong> <strong>als</strong> ein heftiger Gegner<br />

allen den Bestrebungen gegenüber, welche den Unendlichkeitsbegriff<br />

aus der Wissenschaft verbannen wollen. Er steht auf dem Standpunkte<br />

der Leibnizschen Differentialrechnung. Für die Prioritätsfrage zwischen<br />

Leibniz und Newton ist für ihn entscheidend der Umstand, daß die<br />

Newtonsche Methode nur ein Übergang sei von den Indivisibilien zur<br />

eigentlichen Differentialrechnung, Leibnizens Entdeckung beziehe sich<br />

aber auf die wahre, abstrakte Natur dieser Rechnung. Von Eulers<br />

bekannten Grundlagen der Infinitesimalrechnung sagt er: „Quant à Euler,<br />

véritable fauteur des évanouissantes, nous ne pouvons concilier son<br />

opinion à cet égard avec la justesse et la profondeur de son esprit, si<br />

ce n'est en admettant avec peine que la profondeur et la justesse mathémathiques<br />

ne supposent pas nécessairement la profondeur et la grandeur<br />

philosophiques."<br />

<strong>Wronski</strong> hat auch manches <strong>als</strong> praktischer Rechner zur Beherrschung<br />

mathematischer Rechnungen beigetragen. Er hat eine originelle Einrichtung<br />

logarithmischer Tafeln unter dem Titel: „Canons de logarithmes"<br />

(Paris 1827) veröffentlicht, in welchen der ganze Inhalt der siebenstelligen<br />

Tafeln auf einem Blatte enthalten ist.**) Er hat einen „Anneau<br />

*) Siehe S. Dickstein, Zur Geschichte der Prinzipien der Infinitesimalrechnung.<br />

Die Kritiker der „Théorie des fonctions analytiques de Lagrange 44 .<br />

Cantors Festschrift (Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und Physik, 9,<br />

1899. S. 67).<br />

**) Das Werkchen enthält auch vier-, fünf- und sechsstellige Logarithmentafeln<br />

und den ersten Entwurf der teleologischen Methode zur Auflösung algebraischer<br />

Gleichungen.


524 H. Teil: Wissenschaftliche Vorträge.<br />

arithmétique" und einen „Calculateur universel" erdacht, zur Ausführung<br />

nicht nur gewöhnlicher arithmetischer Rechnungen sondern auch zur<br />

Auflösung algebraischer und transzendenter Gleichungen, zur Auswertung<br />

von Integralen und zur Integration von Differentialgleichungen. Leider<br />

habe ich eine genaue Erklärung der dem „Calculateur" zugrunde hegenden<br />

Idee nicht finden können. Diese technischen Hilfsmittel sind nur<br />

ein kleiner Teil der von <strong>Wronski</strong> erdachten vielen mechanischen und<br />

physikalischen Apparate und Maschinen.<br />

Es darf hier nicht übergangen werden, daß <strong>Wronski</strong> sich viel mit<br />

der Geschichte der Mathematik beschäftigt hat, wie man aus seinen<br />

Werken und Manuskripten sehen kann. Er besaß eine große Belesenheit<br />

in der mathematischen Literatur. Sein kleines Werkchen: „A course<br />

of mathematics, introduction determining the general state of the<br />

mathematics" (London 182.1) enthält seine historiosophischen Ansichten<br />

über den Gang der Entwicklung der mathematischen Disziplinen. Die<br />

von ihm geplante „Histoire philosophique des mathématiques" ist nicht<br />

erschienen; <strong>als</strong> Teile derselben können allerdings die in der „Philosophie<br />

de l'Infini", in der „Philosophie de la Technie" und in dem „Messianisme"<br />

dargelegten historischen Ausführungen betrachtet werden.<br />

Stünde mir mehr Zeit zur Verfügung, so würde ich mir erlauben<br />

Ihnen über die in den <strong>Wronski</strong>schen Schriften vorkommenden Fundamentalbegriffe<br />

der Mathematik, über seine Klassifikation der reinen<br />

und angewandten Mathematik, in welcher man ein Analogon zur heutigen<br />

Präzisions- und Approximationsmathematik finden kann, über seinen<br />

Plan „der Vollendung der mathematischen Reform" und über den von<br />

ihm ausführlich behandelten Zusammenhang der Grundbegriffe der<br />

Mathematik mit denen der kritischen Philosophie zu berichten. Aber<br />

die Zeit drängt und ich muß mich auf die Bemerkung beschränken,<br />

daß die <strong>Wronski</strong>schen Ideen, obwohl dieselben in den Werken von<br />

Montferrier, West und anderen*) ausführlich dargestellt worden sind,<br />

*) Montferrier A. S., Dictionnaire des sciences mathématiques pures et appliquées,<br />

Paris 1834—1840; 2. Auflage 1844, und in italienischer Übersetzung<br />

mit Zusätzen von G a sbarri und François unter dem Titel: Dizionario delle scienze<br />

matematiche pure ed applicate etc. in 8 Bänden mit mehreren Tafeln (1838—1849^.<br />

Montferrier, Encyclopédie mathématique ou exposition complète de toutes les<br />

branches des mathématiques d'après les principes des mathématiques de Hoëné<br />

<strong>Wronski</strong> in 4 Bänden s. d.; S. West, Exposé des méthodes générales en mathématiques,<br />

Paris 1886; das Verzeichnis aller Schriften, die sich auf <strong>Wronski</strong>s<br />

Theorien und Methoden beziehen, findet sich in meinem zitierten Catalogue des<br />

oeuvres imprimées et manuscrites de <strong>Wronski</strong>, Krakau 1896. (Vgl. in der jüngst<br />

[13. September 1904J erschienenen Lieferung des X. Bandes 2. Heft der Jahresberichte<br />

der D. M.-V. H. Burkhardts Bericht: „Entwicklungen nach oszillieren-


C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Dickstein. 525<br />

keinen merklichen Einfluß ausgeübt haben. Noch weniger sind seine<br />

Untersuchungen in der Himmelsmechanik bekannt. Was aber insbesondere<br />

seine Philosophie der Mathematik betrifft, so hat dieselbe<br />

natürlich jetzt nur ein historisches Interesse. Durch die bahnbrechenden<br />

Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie und der neuen<br />

Funktionentheorie, durch die sogenannte axiomatische Behandlung der<br />

Grundprinzipien der mathematischen Wissenschaft hat die philosophischkritische<br />

Arbeit in neue Bahnen eingelenkt, und wenn vor einiger Zeit<br />

von der Arithmetisierung der reinen Mathematik gesprochen wurde, so<br />

ist schon jetzt — wenn ich mich so ausdrücken darf — von der<br />

Logisierung der reinen Mathematik die Rede. Die <strong>Wronski</strong>sche Philosophie<br />

der Mathematik, mag sie auch mehrere Unkorrektheiten und<br />

vielleicht übereilte Verallgemeinerungen enthalten, hat doch, ebenso wie<br />

die analogen Versuche von Fries, Apelt und anderen, ihren historischen<br />

Reiz <strong>als</strong> ein systematischer Versuch, die in der vor-Cauchyschen Periode<br />

herrschenden Ideen mit den Grundbegriffen der kritischen Philosophie<br />

zu verbinden und unter sehr allgemeine Gesichtspunkte zu bringen.<br />

den Funktionen 44 , § 180: „Die allgemeinen Formulierungen von Hoene <strong>Wronski</strong> 44<br />

[S. 794—804]).

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!