LADYSPECIAL - Morgenweb
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<strong>LADYSPECIAL</strong><br />
34<br />
UBI BENE
DIE<br />
Nah<br />
bare<br />
FÜR DEN SPAZIERGANG MIT UNSEREM AUTOR<br />
STEFAN M. DETTLINGER HAT DIE HEIDELBERGER<br />
SCHRIFTSTELLERIN JAGODA MARINIC DEN<br />
MANNHEIMER HAFEN GEWÄHLT. EIN KENNENLERNEN<br />
AN EINEM ORT, DER KEINE ZUFLUCHT BIETET –<br />
AUSSER DEM AUGE, DAS AUFS WASSER BLICKT.<br />
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UBI BENE
Sie wollte es so. Sie wollte hierher,<br />
in die Kulissen fast morbider<br />
Industrieromantik, hierher,<br />
wo sich der Geruch alter Lagerhallen mit dem<br />
Gestank laufender Dieselmotoren mischt und<br />
wo man sich nachts lieber nicht getroffen hätte.<br />
Jagoda Marinic wollte also hierher: ans Wasser,<br />
einfach weil sie dies alles hier an die Heimat<br />
ihrer Vorfahren erinnert. An die dalmatinische<br />
Stadt Split. An den Industriehafen dort. Daran,<br />
dass dies unweigerlich ihre Wurzeln sind, auch<br />
wenn sie selbst aus dem schwäbischen Remstal<br />
stammt, aus Waiblingen.<br />
Heute aber kommt sie direkt von der Lesetour<br />
aus Ulm mit dem Zug angereist und sieht überraschenderweise<br />
weder müde noch geschafft<br />
aus. Eher glücklich. Marinic las und liest im Literaturhaus<br />
Stuttgart, in Nürnberg und auf der<br />
Frankfurter Buchmesse, in Berlin, Heilbronn,<br />
Waiblingen und Friedrichshafen, trägt so ihren<br />
neuen Roman „Restaurant Dalmatia“ persönlich<br />
in die Welt hinaus, den Roman, der, so sagt sie,<br />
deutlich mehr Interesse findet als der Vorgänger<br />
„Die Namenlose“. „Die Namenlose“ war aber<br />
auch ein experimentelleres Buch mit so etwas<br />
Kuriosem wie Fußnoten. Es war poetisch, intim,<br />
düster und hell, ernst und witzig, starr und ruhelos,<br />
beherrscht und erotisch zugleich. „Restaurant<br />
Dalmatia“ ist da realer, diesseitiger, und in<br />
gewisser Hinsicht trifft dieses etwas modische<br />
Wort zu: gesellschaftlich relevant und dadurch<br />
kritisch und politisch, einfach weil es das brisante<br />
Thema Immigration und Heimat bearbeitet.<br />
Marinic verliert aber dabei nie das Erzählerische<br />
als Zentrum des Romans aus den Augen.<br />
Doch dazu später. Mit einem breiten Lächeln<br />
sagt Frau Marinic: „Ich bin total glücklich. Meine<br />
Lesungen sind voll. Die Leute sind begeistert.<br />
Es gibt eine Menge an Rezensionen – das<br />
hätte ich nie für möglich gehalten!“<br />
Eine Erscheinung in Schwarz,<br />
Rosarot und Weiß<br />
Spätestens jetzt also ist sie keine „Namenlose“<br />
mehr. Nachdem sie sich zuvor schon durch allerlei<br />
renommierte Stipendien, Nominierungen und<br />
Preise sowie durch Bücher und Theaterstücke<br />
einen Ruf erarbeitet hatte und der „Spiegel“ die<br />
„Namenlose“ sogar eine der wichtigsten Neuerscheinungen<br />
des Herbstes 2007 nannte, sieht es<br />
nun, sechs Jahre später, aus, als könne sie sich<br />
erfolgreich auf dem Markt etablieren. Ja, das ist<br />
ihr Rhythmus: fünf, sechs Jahre für einen Roman<br />
– dazwischen, da schreibt sie anderes, Erzählungen<br />
wie „Eigentlich ein Heiratsantrag“ oder „Russische<br />
Bücher“, meinungsstarke Anmerkungen<br />
in ihrem Blog (www.jagodamarinic.de) oder auch<br />
eine überaus witzige und spritzige „Gebrauchsanweisung<br />
für Kroatien“. Sehr empfehlenswert!<br />
Der Mannheimer Hafen also. Rheinkaistraße.<br />
Die schmale Landzunge zwischen Rhein und<br />
Mühlauhafen. Wir gehen los. Runde sieben<br />
Meter unter uns fließt gelassen der Rhein.<br />
Schiffe schleppen sich den Fluss hinauf. Schiffe<br />
fahren den Fluss hinunter. Aus angrenzenden<br />
Lagerhallen hören wir Rumpeln, Ächzen, Quietschen.<br />
Vereinzelt hallen Stimmen von Arbeitern<br />
durch die Luft. Hafenalltag. Wir haben Glück<br />
bei unserem Vorhaben. Die Sonne scheint und<br />
wärmt. Eine leichte Brise kühlt. Altweibersommer<br />
nennt man dies wohl. Gegenüber, am Ufer<br />
in Ludwigshafen, türmen sich Sandmassen zu<br />
hohen Haufen. Die Welt arbeitet. Die Welt<br />
schuftet. Das ist die Umgebung hier.<br />
Und da geht sie. Marinic, die so, wie sie sich<br />
gekleidet hat, dann doch nicht so recht hierher<br />
passen möchte. Stiefel hat sie an, einen<br />
schwarzen Minirock und eine knallrosarote Bluse.<br />
Über einem Arm hängt elegant ein weißer<br />
Mantel, eine schwarzweiße Tasche am anderen.<br />
Überhaupt: Sie ist an diesem Tag eine Erscheinung<br />
in Schwarz, Rosarot und Weiß – und Gold:<br />
Denn neben einer sehr großen Sonnenbrille<br />
trägt sie auch sehr große Goldscheiben an den<br />
Ohren. Es ist offensichtlich: Sie hat sich schick<br />
und schön gemacht für das, was noch folgen<br />
wird. Mitten in unserem Spaziergang ist ein<br />
Fotoshooting geplant. Ob sie denn ein bisschen<br />
eitel sei, werde ich sie rund hundert Fotos und<br />
90 Minuten später genauso gefragt haben wie,<br />
ob sie sich als ehrgeizig beschreiben würde. Ihre<br />
Verlegenheit ist Antwort genug.<br />
Figuren, die offenbar<br />
aus ihr herausmüssen<br />
Nach rund 200 Metern endet unser Small Talk.<br />
Wir sprechen über ihr neues Buch. Marinic wird<br />
hellhörig. Die Stimmung ist angespannt. Das<br />
Buch ist ihr wichtig. Es handelt von einer wie ihr,<br />
von der Identitätssuche der jungen Fotografin <br />
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Mia, die wie Marinic eine kroatische Vor- und<br />
Familiengeschichte hat. Toronto, Berlin und die<br />
kroatische Provinz sind die Orte der Handlung.<br />
Es wird viel gesprochen, sinniert und in der Vergangenheit<br />
gesucht. Nach Erinnerungen. Nach<br />
Geschichten. Nach Sinn und Identität. Und am<br />
Ende steht die vielleicht ja sogar glückliche Erkenntnis,<br />
dass Identität und Glück vor allem in<br />
uns selbst zu finden sind und sonst nirgendwo.<br />
Wie kommt sie zu einem, wie kommt sie zu diesem<br />
Buch? Es sei nicht die Idee zu einem Buch<br />
oder zu einem Plot, es sei keine Geschichte, die<br />
am Anfang stehe, sagt sie. „Es fängt immer mit<br />
Personen an, mit Figuren.“ Sie müssen offenbar<br />
aus ihr heraus. Im Falle von „Restaurant Dalmatia“<br />
habe sie einer Minderheit eine Stimme<br />
geben und dem Land zeigen wollen, dass diese<br />
kroatischen Immigranten genau so bundesrepublikanische<br />
Geschichte sind wie jeder andere in<br />
diesem Land, egal ob deutsch oder nicht. Hinzu<br />
kommt, dass die Personen in dem Roman weitgehend<br />
so real sind wie das Restaurant im Berliner<br />
Stadtteil Wedding, in dem ein großer Teil<br />
der Handlung spielt. Sie existieren in der Wirklichkeit.<br />
Nur Jesus, jener durch Berlin streunende<br />
weise Stadtindianer und Alltags-Philosoph,<br />
ist hinzuerfunden. Ausgerechnet Jesus, der bei<br />
Marinic wahlweise auch Chesus heißt!<br />
Literatur, die in der<br />
Normalität Platz findet<br />
Mittlerweile sind wir unter der Kurt-Schumacher-Brücke<br />
durchgegangen, haben viel Schrott,<br />
viel Beton, viel totes, seelenloses Material mit<br />
Patina gesehen, alte Kräne und Bagger gequert,<br />
stolpern über Kies und balancieren auf verrosteten<br />
Bahngleisen, weil der Weg zu eng geworden<br />
ist. Hier, direkt vor unserer Nase, treibt ein leerer<br />
Blumentopf den Rhein hinunter. „Nichts“,<br />
sagt sie, „ist so spannend wie die Realität.“ Doch<br />
obwohl viel Reales in ihrer Literatur steckt, ist<br />
sie doch nicht ihr Abbild, weist darüber hinaus,<br />
wird bisweilen fast surreal.<br />
Marinic lebt in Heidelberg, wo sie auch studierte.<br />
Seit mehr als einem Jahr hat sie dort als Leiterin<br />
das Interkulturelle Zentrum aufgebaut. Es<br />
ist, so könnte man sagen, ihr Hauptberuf geworden.<br />
Wie sie da überhaupt noch zum Schreiben<br />
kommt? Das Zentrum, sagt sie, gebe ihr eher<br />
Halt und Ruhe, aus der heraus ihre literarische<br />
Arbeit entstehen kann. Marinic spricht: „Das ist<br />
für mich jetzt der Ausgangspunkt für kreative<br />
Prozesse.“ Sie bekomme jetzt auch noch Hilfe<br />
in administrativen Dingen, so dass sich auch in<br />
den Arbeitszeiten eine gewisse Normalität einstellen<br />
werde. Literatur, ihre Literatur, so geht<br />
es einem durch den Kopf, muss in dieser Normalität<br />
Platz finden.<br />
Und plötzlich, einige Schritte weiter auf der<br />
schmaler und schmaler werdenden Landzunge<br />
und fast wie aus heiterem Himmel, sagt sie<br />
diesen Satz: „Literatur geht für mich immer von<br />
einem Schmerzzentrum aus, von einer inneren<br />
Verletzung, einer Ur-Wunde, um die herum wir<br />
unsere Persönlichkeit bauen.“ Ist das die Keimzelle<br />
ihres literarischen Schaffens, sozusagen<br />
ihr Urtrieb? Immerhin nennt sie den aus der<br />
Dominikanischen Republik stammenden US-<br />
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Amerikaner und Pulitzer-Preisträger von 2008,<br />
Junot Diaz, als seelenverwandten Autor und verweist<br />
auf dessen Roman „Das kurze wundersame<br />
Leben des Oscar Wao“ – eine Sehnsuchtsgeschichte<br />
über ein karibisches Geschwisterpaar,<br />
das es immer wieder wie durch einen Fluch aus<br />
New Jersey heraus und zurück in die Heimat<br />
zieht. Wie bei Marinic ist hier die Wunde einer<br />
irgendwie verloren gehenden Heimat, der Karibik,<br />
das Schmerzzentrum einer Immigrantengeschichte.<br />
Sie will dem Leser<br />
ein Kumpel sein<br />
Wir sitzen auf einer Betontreppe. Der Fotograf<br />
ist da, spricht, führt Situationen herbei, während<br />
sich Inge I und Inge II, zwei voll beladene,<br />
miteinander verbundene Frachtriesen den<br />
Rhein hinaufkämpfen. Ganz natürlich soll sie<br />
sein, sagt der Fotograf, sein, wie sie ist. Aber wie<br />
ist jemand? Wie ist Marinic? Sie wirkt tough<br />
und klar und sagt, sie wolle sich „keinem Markt<br />
anpassen“, zugleich hat sie aber auch etwas<br />
Weiches, was nicht nur von der Nuance Württembergisch<br />
in ihrem Zungenschlag herrührt.<br />
„Ich will den Mensch ins Zentrum meiner Literatur<br />
rücken“, sagt sie da. Oder auch einen Satz<br />
wie: „Ich will, dass der Leser das Gefühl hat,<br />
mich nach dem Lesen meiner Bücher anrufen<br />
und ganz normal mit mir sprechen zu können.“<br />
In solchen Momenten blitzen große Empathie<br />
und Philanthropie auf, auch die Suche nach<br />
Nähe zu den Menschen. Sie will dem Leser ein<br />
Kumpel sein. Deswegen mag sie auch Daniel<br />
Kehlmann nicht. Als Typus. Deswegen liebt sie<br />
die Texte der Amerikaner, die einen persönlichen<br />
Zugang zur Literatur haben, sagt sie, bei<br />
denen die Geschichten im Vordergrund stünden<br />
und nicht die Sprache.<br />
Wir wandern, sind längst auf dem Rückweg.<br />
Tauben stäuben auf wie die letzten lebenden<br />
Elementarteilchen einer toten Industriewelt.<br />
Marinic inmitten der Schar. Ein froher und<br />
farbfroher Fleck. Der Fotograf drückt auf den<br />
Knopf. Begeistert. Immer und immer wieder.<br />
Noch einmal. Unser Treffen neigt sich dem<br />
Ende. Der Fotograf sagt Tschüs. Was bleibt<br />
von diesem Spaziergang mit einer „großartigen<br />
Schriftstellerin, ganz nach meinem Herzen“,<br />
wie Hanser-Geschäftsführer Michael Krüger<br />
sie einmal nannte? Das angenehme Gefühl,<br />
einer interessanten Autorin begegnet zu sein,<br />
die man, hat man ihr Buch gelesen, auch mal<br />
anrufen kann, um mit ihr darüber zu diskutieren.<br />
Unnahbar ist sie nicht, auch wenn sie sagt,<br />
dass sie über Persönliches nie öffentlich rede.<br />
„Die meisten wissen nicht einmal, ob ich mit<br />
jemandem zusammenlebe!“, sagt sie. Spielt
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das eine Rolle? Der Automatismus Sage-mirmit-wem-du-lebst-und-ich-sag-dir-wer-du-bist<br />
funktioniert so wenig wie der von Sage-mir-wodu-wanderst-und-ich-sag-dir-wer-du-bist.<br />
Obwohl: Sie wollte hierher, an diesen Ort, der<br />
irgendwie ein Unort ist, eng, kalt, unwirtlich,<br />
roh, ein Ort, der keine Zuflucht bietet außer dem<br />
Auge: mit dem Blick auf jenes Wasser, das einen<br />
irgendwo bei Rotterdam und Utrecht in die weite<br />
Nordsee führen würde. Von dort sind es auf dem<br />
Seeweg zwar noch einige Tausend Meilen bis<br />
Split. Aber diese Rechnung ist ohnehin nur ein<br />
Hirngespinst. Hier wollte sie her. So wollte sie es.<br />
Text: Stefan M. Dettlinger<br />
Fotos: Christian Dammert •<br />
Weitere Informationen<br />
www.jagodamarinic.de<br />
ZUR PERSON<br />
Jagoda Marinic, geboren 1977 in Waiblingen<br />
als Kind kroatischer Eltern, wuchs zweisprachig<br />
auf. Sie studierte Germanistik, Politikwissenschaft<br />
und Anglistik in Heidelberg.<br />
2005 war sie dort beim Stückemarkt und 2007<br />
für den Bachmann-Preis nominiert – ein Format,<br />
das sie vor einigen Monaten in einem<br />
Interview mit dem „Mannheimer Morgen“ als<br />
„zutiefst reaktionär, entwürdigend für Autoren“<br />
bezeichnete.<br />
1999 erscheint „Kurz eingemischt“ in der<br />
„Frankfurter Rundschau“. 2001 folgt „Eigentlich<br />
ein Heiratsantrag“, 2005 „Russische<br />
Bücher“ und 2006 „Therapie. Ein Spiel“ (alle<br />
Suhrkamp Verlag). Ihr Stück „Zalina“ erhielt<br />
2007 den Exzellenzpreis für das beste Programm<br />
der Europäischen Kulturhauptstadt<br />
Hermannstadt 2007. Mit dem Roman „Die<br />
Namenlose“ machte sie 2007 auf sich aufmerksam.<br />
Ihr Buch „Gebrauchsanweisung<br />
für Kroatien“ ist äußerst unterhaltsam. Im<br />
September erschien bei Hoffmann und Campe<br />
ihr Roman „Restaurant Dalmatia“.<br />
BESSER<br />
ANGEZOGEN<br />
RESTAURANT DALMATIA –<br />
JAGODA MARINICS NEUER<br />
ROMAN.<br />
Marktplatz 8 · Neustadt · 0 63 21 / 3 26 73<br />
Mo bis Fr: 9.30 bis 18.30 · Samstag: 9.00 bis 16.00<br />
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