Mensch und Natur* - Otto Friedrich Bollnow
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Dies an sich sehr überzeugende Beispiel ist vielleicht insofern schon ein Sonderfall, als hier<br />
als Mittel des Evozierens schon eine gestaltete Dichtung, eben die „Legende“ benutzt wird.<br />
Ich gebe deshalb ergänzend ein anderes einfaches Beispiel, in dem das Evozieren von einer<br />
andern Seite her deutlich wird, Eduard Mörikes bekanntes kleines Gedicht<br />
Frühling läßt sein blaues Band<br />
Wieder flattern durch die Lüfte ...<br />
Was hier ausgesprochen wird, ist ebenfalls keine objektive Bestimmung des Frühlings als einer<br />
bestimmten, durch bestimmte Eigenschaften ausgezeichnete Jahreszeit, es ist aber auch<br />
nicht als subjektiv zu verstehendes Gefühl des Frühlings, sondern ähnlich wie vorher beim<br />
Wasser ist es auch hier das Gemeinte selbst, der Frühling selbst oder das „was“ des Frühlings,<br />
das „Frühlingshafte“ mit dem erwachenden Leben, das hoffnungsvoll der Zukunft Zugewandte<br />
usw., das sich da in der beglückenden Erkenntnis ausdrückt:<br />
„Frühling, ja, du bists,<br />
Dich hab ich vernommen.“<br />
Wenn man nun nach den sprachlichen Mitteln fragt, mit denen diese Erfahrung ausgesprochen<br />
wird: Daß der Satz nicht wörtlich zu nehmen ist, ist selbstverständlich, denn wo wäre ein solches<br />
blaues Band? Aber auch von einem metaphorischen Sprachgebrauch zu sprechen, wäre<br />
unangemessen; denn der Frühling wird auch nicht mit einem blauen Band verglichen. Es sind<br />
lockere Assoziationen, die sich bei diesen Wörtern einstellen <strong>und</strong> die zusammen eine Ahnung<br />
vom Frühlingshaften des kommenden Frühlings erwecken.<br />
Vielleicht sollte dies Beispiel zur Vorsicht mahnen, nicht zu einfach evozierendes Sprechen<br />
mit metaphorischem Sprachgebrauch gleichzusetzen.<br />
7. Die zwei aufeinander angewiesenen Bewegungen<br />
Die Aufgaben der artikulierenden oder schöpferischen Beschreibung sind nicht auf Gegenstände<br />
der Natur beschränkt. Sie erstrecken sich auch - <strong>und</strong> vielleicht sogar vorwiegend - auf<br />
Gegenstände der geistigen Welt oder der Kultur. So hatte ja auch König seine umfangreiche<br />
Analyse der „ästhetischen Wirkung“ am Kunstwerk entwickelt. Trotzdem behalten die Naturerscheinungen<br />
eine Sonderstellung, weil sie Eigenschaften haben, die von der Kultur her nicht<br />
zu begreifen sind.<br />
Dazu ist es zweckmäßig, sich noch einmal an der „ästhetischen Wirkung“ im Sinn von König<br />
zu orientieren, denn die ästhetische Wirkung, die von einem Kunstwerk ausgeht, entsprach<br />
weitgehend dem, was wir vorläufig unbestimmt als das Sprechen der Dinge bezeichnet hatten.<br />
Bei König ist es so gefaßt, daß es der Anspruch des Kunstwerks ist, der uns in den Stand<br />
setzt, das, was es zu sagen hat, richtig aufzunehmen, oder in Königs etwas abstrakter Sprache:<br />
„Die ästhetische Wirkung ist nichts außer dem, als daß sie das ist, was uns <strong>Mensch</strong>en das<br />
Sprechen von ihr als einer ästhetischen Wirkung ... empfindbar macht“ 26 ,<br />
wobei daran zu erinnern<br />
ist, daß das Wort „ästhetische Wirkung“ bei König in einem doppelten Sinn zu nehmen<br />
26 Josef König, Die Natur der ästhetischen Wirkung, a. a. O., S. 264.