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Nelly Sachs - Mystik und Poetologie<br />

von Max Lorenzen<br />

I<br />

Besonders in den Jahren 1957 - 1959, bis zum Beginn des Krankheitsausbruchs, äußert sich Nelly<br />

Sachs in einer Reihe von Briefen über ihr Dichtungsverständnis. Sie entwickelt hier ihre Anschauung<br />

von der Moderne und einer existenziellen Lyrik, die sich der Aufgabe, Leben und Schreiben in einem<br />

Akt restloser Hingabe zu verbinden, um so den Schrecken der Gegenwart ins Wort zu bringen, stellen<br />

kann. Die in diesen Briefen formulierten Einsichten sind so radikal und weisen in solcher Konsequenz<br />

in eine Richtung, der sich heutige Autoren und Leser eher verweigern, dass aus dieser Diskrepanz unterschiedlichster<br />

Lebensentwürfe wohl auch die "Vergessenheit" (eine Wortprägung der Dichterin)<br />

resultiert, in die das Werk von Nelly Sachs nunmehr gefallen ist. Eine weitere Folge der Verweigerung<br />

gegenüber einem Dasein, das sich nur auf Eines richtet und einzig und allein die Transzendierung<br />

aller seiner Augenblicke zu ihm hin erstrebt, besteht darin, Nelly Sachs’ Bekenntnis zur Mystik<br />

<strong>als</strong> Äußerung einer Frau misszuverstehen, deren lyrische Produktion naiv-spontan, jedenfalls ohne<br />

erheblichen Anteil an kritischer Rationalität (wie bei dem deshalb <strong>als</strong> "moderner" eingeschätzten Celan)<br />

zustande komme. Demgegenüber soll hier gezeigt werden, wie sich in den Briefen und in den<br />

wenigen Prosaarbeiten, besonders den bisher noch nie publizierten "Briefen aus der Nacht" - ein früherer<br />

Text, aus den Jahren 1950 - 1953, der die späteren poetologischen Reflexionen bereits in nuce<br />

enthält - , eine eigene strenge Sprachlogik entfaltet, in deren Bild-Begriffen eine autonome rationale<br />

Form, die per se die etablierte und scheinbar einzig gültige kritisiert, erzeugt wird.<br />

Bereits 1947 entwirft Nelly Sachs in Briefen an Carl Seelig und Hugo Bergmann die Grundstrukturen<br />

ihrer poetologischen Anschauungen: "In meinem Buch steht: "Chor der Tröster" und dies ist, was ich<br />

meine. Wir nach dem Martyrium unseres Volkes sind geschieden von allen früheren Aussagen durch<br />

eine tiefe Schlucht, nichts reicht mehr zu, kein Wort, kein Stab, kein Ton - (schon darum sind alle<br />

Vergleiche überholt) was tun, schrecklich arm wie wir sind, wir müssen es herausbringen, wir fahren<br />

zuweilen über die Grenzen, verunglücken, aber wir wollen ja dienen an Israel, wir wollen doch keine<br />

schönen Gedichte nur machen, wir wollen doch an unseren kleinen elenden Namen, der untergehen<br />

kann, nicht das Unsägliche, das Namenlose heften, wenn wir ihm nicht dienen können. Nur darum<br />

geht es, denke ich, nur darum, und deswegen unterscheiden wir uns von den früheren, denn der Äon<br />

der Schmerzen darf nicht mehr gesagt, gedacht, er muss durchlitten werden" (Briefe, S. 83 f). - "Es<br />

reicht ja doch kein Wort zu nichts mehr hin, von gestern zu morgen ist eine Kluft wie eine Wunde, die<br />

noch nicht heilen darf" (Briefe, S. 85). - "Das Nicht-Gebundene, das Fließende, das immer Mögliche<br />

ist nach den furchtbaren Erfahrungen wohl auch das einzig Trostgebende. [...] Nur wer diese restlose<br />

Dahingabe, die ja in Wunder und Geheimnisse hineinfließen kann, wirklich erlebt hat, kann ermessen,<br />

welche Tiefen Sie [gemeint ist hier Hugo Bergmann] mit ihren Worten ausmaßen" (Briefe, S. 87).<br />

Die Rede ist von dem mit "In den Wohnungen des Todes" beginnenden neuen Einsatz einer Lyrik, die<br />

sich dem "Martyrium" stellt. 1950 schreibt Nelly Sachs an Walter A. Berendsohn: "Wie muss das<br />

Dichten früher einmal wie Blumenpflücken gewesen sein. [...] Heute soll gewiss jeder der schreibt,<br />

das Geschriebene durchsterben um der furchtbar geheimnisvollen Formen wegen, die das Böse im<br />

Lichte des Tages annimmt" (Einführung, S. 151 f). Das "Böse", von dem hier gesprochen wird, dauert<br />

<strong>als</strong>o an und ist gerade nicht nur an den nation<strong>als</strong>ozialistischen Genozid gebunden. Weshalb erlegt seine<br />

Existenz den Schreibenden auf, den "Äon der Schmerzen" nicht nur zu bezeugen, sondern selber zu<br />

durchleiden, ja zu "durchsterben"?<br />

"Die Sehnsucht reisst mir das Fleisch fort. Immer so leben, immer so atmen. Niem<strong>als</strong> stehn, immer eilen,<br />

niem<strong>als</strong> anderes <strong>als</strong> die Unruhe "Dahin". Das soll Abram dartun, aufgehalten vom bösen Durstgeist,<br />

der doch nötig ist und zu den Engeln schliesslich alles wirft. Immer fühlen, dass diese Erdkruste<br />

dazu da ist, durchbrochen zu werden, immer die Sterne ansehn <strong>als</strong> den nächsten Wegweiser, der "weiter"<br />

zeigt. Ein und aus tritt das Geheimnis in den Leib, in die Gebärde, in den Augenaufschlag, in den<br />

Atemzug ein und aus und brennt heftiger. Darum kann sich nichts ründen, nichts im Gedicht ruhen,<br />

nichts im Drama sich vollenden, nichts sein, nur weiter, weiter" (Briefe aus der Nacht, Typoskript S.<br />

25 f). - Das "einzig Trostgebende", das "Nicht-Gebundene, das Fließende", ist die "Unruhe", die<br />

"Sehnsucht" - eines der zentralen Worte in Nelly Sachs’ Dichtung - nach dem Urgrund, dem "Geheimnis";<br />

sie stachelt dazu an, sich jeder Lebenssituation zu entfremden und jede Ruhe aus Gedicht und<br />

Drama zu vertreiben: "Die Gedichte wollen im Grunde nicht aufatmen - sie sträuben sich - sie atmen


ein, bis sie am äußersten sind, wo alles verschwindet" (an Dagrun und Hans Magnus Enzensberger,<br />

10.6.61, Briefe S. 268).<br />

Eine der bekanntesten Gedichtzeilen von Nelly Sachs lautet: "An Stelle von Heimat / halte ich die<br />

Verwandlungen der Welt -" ("In der Flucht / welch großer Empfang / unterwegs -" , Gedichte I, S.<br />

262). Man begreift, warum die "Unruhe", Flucht und Vertriebensein zur Metapher für die Existenz<br />

der Menschen in der Moderne werden: "O ihr Gejagten alle auf der Welt! / Unsere Sprache ist gemischt<br />

aus Quellen und Sternen / Wie die eure" (Chor der Bäume, Gedichte I, S. 64) - die lyrische<br />

Sprache beinhaltet dasselbe "Fließende", Nicht-verweilen-dürfen, das sich auch im haltlosen Dasein<br />

selber ausdrückt, beider Gesetz ist das fortwährende Verlassen jedes Ruhepunktes - nur so ist noch<br />

eine Verbindung zu den Ursprüngen und Sehnsuchtsbildern, den "Quellen und Sternen", möglich. Bereits<br />

hier zeigt sich, wie die Bilder von Flucht und Ermordung zu Chiffren des den Weltprozess nicht<br />

nur darstellenden, sondern zugleich enthaltenden Gedichts werden.<br />

"Gerade hinein in das Äußerste" (Gedichte II, S. 51, s. die Interpretation in: Einführung in Nelly<br />

Sachs’ Dichtungen 2), diese Aufforderung verlangt <strong>als</strong>o dem heute Schreibenden ab, jeden gesicherten,<br />

materiellen oder geistigen, Besitz fahren zu lassen, wie es früher in der religiösen Sprache<br />

hieß, die Gesamtheit dieser Welt <strong>als</strong> das Negative zu erfahren, <strong>als</strong> Abwesenheit allen Heils und Kulminationsort<br />

des Schmerzes, der eigentlich die Sehnsucht nach dem Ursprung der Schöpfung ist. Die<br />

Welt so zu sehen: <strong>als</strong> diesen Abgrund, und den Blick nicht abzuwenden, sondern ihn vielmehr geradewegs<br />

auf das Ungeheure des Leides zu richten, öffnet den Zugang zur verborgenen Wahrheit: "o die<br />

Wunde zwischen Nacht und Tag / die unser Wohnort ist!" (Jakob, Gedichte I, S. 90, vgl. auch: "Seine<br />

Hände aber halten die Felsen auseinander / Von Gestern und Morgen / Wie die Ränder einer Wunde /<br />

Die offenbleiben soll / Die noch nicht heilen darf", "Chor der Tröster", Gedichte I, S. 65).<br />

Das "Durchschmerzen" beraubt sich jeder Stütze, auch der letzten, der unmittelbaren Erinnerung an<br />

die Toten, die doch ein Festhaltenwollen beinhaltet: "denn nicht dürfen Freigelassene / mit Schlingen<br />

der Sehnsucht / eingefangen werden" (Gedichte I, S. 322, vgl. auch: "Fortgehen ohne Rückschau -" ,<br />

Gedichte II, S. 74). Was Nelly Sachs zuerst sich selber, im Grunde aber jeder Dichterin und jedem<br />

Dichter, jedem Schreibenden, abverlangt, ist eine Existenzweise, wie sie in den Texten der Mystik<br />

dargestellt wird und wie sie sie ihrer Mutter zuschreibt: "Sie freute sich, von allem Besitz losgekommen<br />

zu sein und wie die Vögel leben zu können" (Briefe, S. 189). "Trost" entspringt nur in der<br />

Heimatlosigkeit, im "weiter". Es gibt in diesem Leben kein Ankommen. Dem, der die Hoffnung darauf<br />

restlos aufgibt, droht aber gerade kein Untergang im Nihil, sondern er beginnt, im Ephemeren<br />

selbst die geheimen Zeichen des Schöpfungsursprungs zu erkennen.<br />

Der Faschismus hat die erste Phase der Moderne gewaltsam beendet. Eine zweite, noch einmal radikalisierte,<br />

beginnt in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. In ihr stellt sich unmittelbar die<br />

Aufgabe, dem radikal Bösen, das sich in Krieg und Holocaust zeigte und jede positive Sinnbehauptung<br />

unmöglich machte, mit literarischen, künstlerischen und philosophischen Mitteln zu begegnen<br />

und ihm standzuhalten. Dies geschieht in der Lyrik, indem die Metaphernsprache sich ihres<br />

eigenen Halts beraubt. Die Bilder heben sich selbst auf und zeigen nur so auf etwas direkt nicht sichtbares<br />

"Äußerstes" - aber in dieser Zone des "Ausdruckslosen" (Benjamin) wartet kein utopisches Heil,<br />

sondern eine letzte schreckliche Auseinandersetzung. Um genauer fragen zu können, welcher Kampf<br />

im Innersten von Nelly Sachs’ Dichtung stattfindet und welche Rolle das radikal Böse hierin spielt,<br />

müssen einige Passagen aus Hanna Ahrendts Untersuchung der "Elemente und Ursprünge totaler<br />

Herrschaft" herangezogen werden.<br />

II<br />

"Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft,<br />

ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht,<br />

was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde,<br />

stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das<br />

man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid,<br />

Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle<br />

menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen,<br />

keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen" (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler<br />

Herrschaft, Band III, Totale Herrschaft, Frankfurt a.M. 1975, S. 235).


Man mag sich noch so sehr sträuben, die Ähnlichkeit des von Nelly Sachs beschriebenen Raumes der<br />

"Geheimnisse", der gleichfalls in der Transzendierung aller, positiven oder negativen, egohaften Motive<br />

gestiftet wird, mit dem Bereich des schlechthin Bösen, der das Zentrum totaler Herrschaft ist,<br />

muss in den Blick genommen werden: gerade vor diesem Abgrund darf man nicht ausweichen. Nelly<br />

Sachs verlangt sich eine unablässige "Unruhe" ab, um ihre "Sehnsucht" nach der Sphäre des Unsichtbaren<br />

oder Numinosen (der Begriff stammt von dem Religionswissenschaftler Rudolf Otto) nicht zu<br />

schwächen; Hannah Arendt diagnostiziert für die totalitären Systeme die Notwendigkeit, "einen Zustand<br />

permanenter Unstabilität zu erzeugen" (a.a.O., S. 146). Das "richtunggebende Gesellschaftsideal"<br />

solcher Systeme aber sind die Konzentrationslager: "denn diese Lager sind, so unwahrscheinlich<br />

dies klingen mag, die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats"<br />

(a.a.O., S. 211). Das unvorstellbar Grauenhafte ist, dass es ihnen gelingt, "das Sterben selbst<br />

permanent zu machen, einen Zustand zu erzwingen, in dem Tod wie Leben gleich wirksam verhindert<br />

werden" (a.a.O., S. 217). "Solche aus scheinbarer Sinnlosigkeit stammende Irrealität liegt aber de facto<br />

allen Formen der Konzentrationslager zu Grunde. Von außen gesehen sind sie und was in ihnen<br />

sich abspielt nur mit Bildern zu beschreiben, die aus der Vorstellungswelt von einem Leben nach dem<br />

Tode stammen, nämlich von einem Leben, das irdischen Zwecken enthoben ist" (a.a.O., S. 218).<br />

Nelly Sachs spricht in ganz ähnlichen Worten von der Permanenz des Sterbens: "Dieses Dasein<br />

immer an einer äußersten Spitze erlebt, immer und jede Minute im Gedenken an die Marter, die ein<br />

geliebtester Mensch durchging dam<strong>als</strong>, dieses ewige Sterben, dies alles floss in meine Worte, weiter<br />

wusste ich nichts" (Briefe, S. 212). Wenn die "Wunde" der Welt selber zum "Wohnort" wird, so bedeutet<br />

das, sich ohne Unterlass dem Schrecklichsten, das sich allen üblichen Kategorien des Verstehens<br />

entzieht, auszusetzen. Der "Wohnort" ist das KZ, in ihm geschieht die Begegnung mit den<br />

immerfort Sterbenden, dem "geliebtesten Menschen", der zum Bild des geopferten Menschen überhaupt<br />

wird, und dieses Lager existiert weiter, ja hat sich über die gesamte Erde ausgedehnt. Wer das<br />

Leben offenen Auges anschaut, erkennt, wie sich das Grundgeschehen von Mord und Opferung<br />

immer wiederholt: "Unsere Zeit ist Sieger- und Besiegten-Zeit - in neuer Form des Erlebens. Der<br />

ewige Kreislauf vom Schöpfungsaugenblick an in Natur und Menschen aus- und eingeatmet" (Zu: Beryll<br />

sieht in der Nacht, in: szenische Dichtungen, S. 353, vgl. auch: "Das ewige Spiel von Jäger und<br />

Gejagtem, von Henker und Opfer ..., Zu: Nachtwache, a.a.O., S. 349).<br />

Weil die innerste Existenzweise von Henker und Opfer keineswegs identisch - wer dürfte sich anmaßen,<br />

eine solche Behauptung aufzustellen - , aber dennoch in einem ortlosen Ort einander ähnlich ist,<br />

begegnen sie sich im numinosen Raum, in dem die eigentlichen Chiffren der Existenz aufeinandertreffen.<br />

In ihm existiert, was auf die eine oder andere Weise den Bereich der Egoität gesprengt<br />

hat.<br />

"Jene furchtbarste Frage, eine der Kernfragen der Menschheit, zieht durch das Ganze: Warum es des<br />

Bösen bedarf, um den Heiligen, den Märtyrer, zu schaffen" (ebda.) - beide archetypischen Formen gehorchen<br />

demselben Gesetz; ihre Auseinandersetzung findet im Unsichtbaren selber statt. Wer sie betrachtet,<br />

nimmt unweigerlich an ihr teil. Hannah Arendt spricht vom "Verweilen beim Grauen" und<br />

"antizipierende[r] Angst" (a.a.O., S. 214) <strong>als</strong> einzig möglichen Mitteln der Erkenntnis, um sich den<br />

Geschehnissen in den Lagern überhaupt nähern zu können. Diese "Angst" könne frei "von der tierisch<br />

verzweifelten Furcht, die vor dem real gegenwärtigen Grauenhaften unweigerlich alles lähmt, was<br />

nicht bloße Reaktion ist" (ebda.) sein. Die Kantkennerin Arendt stellt hier einen zwar impliziten, aber<br />

doch deutlichen Bezug zur "Kritik der Urteilskraft" und der dort gegebenen Definition des<br />

"Erhabenen" her: der Anblick "gleichsam drohende[r] Felsen", von "Donnerwolken" oder "Vulkane<br />

[n]" werde "nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden"<br />

(Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band V, Darmstadt 1970,<br />

S. 349). Es geht Arendt um eine Erkenntnisform, die sich dem stellt, das wohl "furchtbar", aber gerade,<br />

auch in der sicheren Distanz, in keiner Weise mehr "anziehend" ist; die "antizipierende Angst"<br />

lebt "gleichsam", aber nicht realiter in der Gegenwart des Todes, sie bewahrt die Distanz des Erkennenden<br />

und gibt sie zugleich auf. Nelly Sachs steigert diese paradoxe Haltung bis ins Unerhörte:<br />

"Meine geliebte Kranke kämpfte mit den Gesichtern jede Nacht aufs neue, bis sie am Morgen lächelnd<br />

zu mir zurückkehrte. Und ich hatte Angst vor dem Schreiben. Betete, es nicht tun zu brauchen,<br />

aber es half nicht. So starben wir beide Überlebenden wieder und wieder zusammen" (Briefe, S. 223).<br />

Dieses "Sterben" ist ebenso real, ein Paroxysmus des Schmerzes, wie imaginiert und in äußerster Bewusstheit<br />

nicht nur in Kauf genommen, sondern akzeptiert und erstrebt. Der Versuch, das eigene Ich<br />

zurückzulassen und ganz in die gestellte Aufgabe einzugehen, führt zu Formulierungen in den<br />

Briefen, die missverstanden wurden: "Ich selbst bin kein literarischer Mensch [...]. Ja eigentlich bin


ich eine richtige Hausfrau. Niem<strong>als</strong> eine Dichterin. So fremd dieser Ausdruck. Aber können wir<br />

Frauen es auch eigentlich sein. Wir werfen doch unser Leben in Flammen und stammeln dann dahin<br />

in äußerster Not" (Briefe, S. 231). Gemeint ist, dass Nelly Sachs, in einem radikalen Opfergestus, <strong>als</strong><br />

Person hinter ihrer Aufgabe zurücktreten, ja geradezu verschwinden will - vgl. etwa: "Lieber Walter,<br />

ich glaube, ich muss es nun sagen, dass ich am besten fände, Du nimmst Abstand von dem Buch, falls<br />

du es in die private Sphäre hineinzwingen willst. Ich könnte dazu niem<strong>als</strong> meine Einwilligung geben<br />

(an Walter A. Berendsohn, Briefe, S. 217) - , um sich so vorbehaltlos der mystischen Inspiration auszusetzen.<br />

Immer wieder wird sie darüber berichten, dass die Gedichte "plötzlich wie ein Blutsturz bis<br />

zur Vernichtung, bis an den Tod [kommen]. Man bebt, man bittet, es soll aufhören, aber man muss<br />

sich fügen, man ist eine "Wahlstatt"" (so noch 1965 an den schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf,<br />

Briefe, S. 303). Es sei immerhin erwähnt, dass etwa Rainer Maria Rilkes lyrische Produktion in ähnlichen<br />

eruptiven Schüben, nach denen lange Perioden kamen, in denen sich die poetische Kraft zurückzog,<br />

erfolgte; niemand würde ihm deswegen poetische Naivität unterstellen.<br />

Damit ist noch nicht alles gesagt. Die zugleich, in einem Augenblick, stattfindende Erfahrung einer<br />

völligen Ausgeliefertheit dieser Welt und einer alle Vorstellungen sprengenden Erlösungsmöglichkeit<br />

nimmt das Böse <strong>als</strong> wirklichen Gegenspieler des "Heiligen" auf gleicher Stufe wahr. Beide, so sagten<br />

wir, gehören zum numinosen Raum. Im Versuch, dieses zu verstehen, radikalisiert Nelly Sachs die<br />

tradierten Vorstellungen der jüdischen Mystik vom Bösen <strong>als</strong> sich verselbstständigendem und so erst<br />

wahrhaft böse werdendem Widerpart des Guten (vgl. "Erst, wenn die linke Seite zur anderen Seite<br />

wird, sagt der Sohar, wenn das Böse sich selbständig gemacht hat, ist es das Böse", "Briefe aus der<br />

Nacht", Typoskript, S. 16). Besonders in den in einem Zustand absoluter Daseinserschütterung nach<br />

dem Tod der Mutter geschriebenen "Briefen aus der Nacht" führt der Versuch, das Gleichgewicht von<br />

Leben und Tod <strong>als</strong> "notwendig" anzuerkennen, an mehreren Stellen, wenn nicht zum Zweifel, so doch<br />

zur drängenden Hiob-Frage: " Und Gut und Böse. Diese Zwillinge, dieses schreckliche Todesgemisch<br />

mit dem Sänger Sehnsucht. Von Ihm gewollt. Aber wir sind zu Ende da. Warum so, warum? Warum?<br />

Warum?" (Typoskript, S. 21) - "Und warum? Warum verwirft der Erdgeist alles und pflanzt die<br />

Atombombe anstelle des Brotbaumes? Und warum vergisst er das Lächeln des Kindes, das in die<br />

Flamme geworfen wurde und dachte, es sei ein Spiel? Und warum bedarf es des Würgers, um den<br />

Heiligen "Ah" sagen zu lassen? (Typoskript, S. 26) - "Geheimes Gesetz des Ausgleiches. Unschuldiges<br />

leidet um des Ausgleiches willen. Wie die Gesetze der Sternenbahnen, sind die Gesetze des inneren<br />

Universums alles Lebens. So kann Geschehenes nicht unwirksam bleiben. Furchtbar." (Typoskript,<br />

S. 27)<br />

"Deine Stimme ist stumm geworden, / denn sie hat zu viel Warum gefragt" (Gedichte I, S. 95), heißt<br />

es in dem Hiob-Gedicht in "Sternverdunkelung". Nelly Sachs selber wird zur Gestalt desjenigen, dem<br />

von "Ihm" alles genommen wird - "damit" sie wie der Heilige "Ah" sagen kann (vgl.: "Aber der<br />

Mensch / hat Ah gesagt / und steigt / eine grade Kerze / in die Nacht", Gedichte I, S. 268 und dazu<br />

Weissenberger: "Mit dem "Ah" verbindet sich in der jüdischen Tradition die Vorstellung von Gott <strong>als</strong><br />

dem Prinzip der Schöpfung, in dem alle Gegensätze zur Einheit zusammenfallen. Das "Aleph" enthält<br />

in sich mit dem Zahlenwert Eins alle anderen Buchstabenwerte; auch von seiner Form her kann es <strong>als</strong><br />

Symbol für die mystische coincidentia oppositorum [...] angesehen werden." Weissenberger, S. 123 f).<br />

Wiederum in Zu: Beryll sieht in der Nacht heißt es: "Alle dienen - auch der Widerspruch - und sind<br />

notwendige Fragmente der Schöpfung. Warum? Das ist die Klippe wie bei Hiob - aber das Leiden<br />

dient, die Materie durchsichtig zu machen. Also reif" (szenische Dichtungen, S. 353).<br />

In "jene[r] furchtbarste[n] Frage" entsteht die Ansicht eines "inneren Universums", das zu erblicken<br />

eine existenzielle Angst auslöst. In "Simson fällt durch Jahrtausende" sprechen in einem imaginären<br />

Krankenhauskorridor Stimmen: "Ich bin die Posaune von Jericho / Erinnere mich ganz deutlich an<br />

den Garten Eden / [...] Arzt im weißen Rock / du willst dass wir uns an vorgestern erinnern / aber wir<br />

- wir erinnern uns an Gott -" - "Ich bin blind - Darum erinnere ich mich an Simson" (szenische Dichtungen,<br />

S. 218). Um ermessen zu können, was sich in diesen Worten spiegelt, müssen sie gemeinsam<br />

mit den folgenden Gedichtzeilen betrachtet werden:<br />

"Wo nur sollen wir hinter den Nebeln / die Wurzel der Hauche suchen / die in den Wolken Augenblicks-Schöpfungsgeschichte<br />

schreiben? / Was zieht da ein in den windigen Leib / für mutterloses<br />

Gesicht? / Welche Ader zersprang um der heiligen Geometrie der Sehnsucht / in deinen Augen<br />

Heimat zu geben? // [...] // Das Neue ist Gottes - / Seine Erstlinge dort oben winken / Verwandtschaft.<br />

[...]" (Gedichte I, S. 306)<br />

Das "mutterlose Gesicht" (vgl. etwa "über die Schulter mir schaut / nicht dein Gesicht / aber / wohnhaft<br />

in Luft / und Nichts / Maske aus Jenseits", Gedichte I, S. 314) bezieht sich auf das "innere Ant-


litz", von dem im Sohar die Rede ist: "Die Welt der Sefirot, der Gesamtheit des göttlichen Ausdrucks,<br />

die in unserm Stück mit einem schönen Bild das "innere Antlitz" heißt, wird <strong>als</strong> eine geheime Urwelt<br />

der Sprache aufgefasst" (Gershom Scholem: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem<br />

Sohar, Einleitung, S. 29, vgl. etwa auch: "Und alle Tausende und Myriaden [von Formen der Kreatur]<br />

gehen aus diesen [Urformen der Wesen am Throne Gottes], die das Geheimnis des Wortes Schin'an<br />

sind, hervor. Und aus diesen Urgesichtern tritt jedes andere [Gesicht] nach seiner Seite hervor, wie es<br />

ihm zukommt, aber sie sind es auch, die eines im andern verschränkt und eines im andern enthalten<br />

sind, so dass jedes die anderen enthält", Geheimnisse, S. 72). Das "mutterlose Gesicht" bildet sich<br />

mithin aus den Lauten einer Sprache, die "Neues" sprechen - aber diese Laute sind "Seufzer": "Ein<br />

Seufzer / ist das die Seele -?" (Gedichte II, S. 93) Was auf dieser Erde geschieht, wiederholt unablässig<br />

Ursignaturen, die sich selber wiederum in ihrem Durchleben - in ihren Individuationen - erneuern.<br />

Aber sie bestehen, und das ist das Unerhörte, nicht aus archetypischen, gleichsam ewigen<br />

Strukturen, sondern aus den Augenblicken des Loslassens, des "Durchsterbens" - und denjenigen des<br />

Verrats und des Mordes.<br />

Das eigentliche, unsichtbare Universum ist das Insgesamt der Todesseufzer, der Momente des Hindurchgehens<br />

durch den Tod, in denen sich Ewiges und Augenblickshaftes zu einem ungeheuerlichen<br />

Nunc stans verbinden. Das "Neue" ist das eben "jetzt" Geschehende, das aus dem Zeitfluss heraustritt<br />

und sich im Vergehen seinem Urbild einschmiegt. Die Toten, deren Erinnerung es zu bewahren gilt,<br />

sind solchermaßen Verwandelte (vgl. "Werden deine Arme mich auffangen, wenn ich die Augen geschlossen<br />

habe? Oder werden die immer dünneren Kreise der Verwandlungen mich fortreissen in das<br />

durchsichtig, immer durchsichtiger werdende, mein Gedächtnis löschen vor dem Übergang?" "Briefe<br />

aus der Nacht", Typoskript, S. 19), flüchtige Urphänomene - worum es hier geht, kann nur paradox<br />

ausgedrückt werden - des Schmerzes.<br />

Dies ist das "innere Antlitz" der Welt. Es besteht aus Sterbenden. Wer sich immer wieder, "jede<br />

Nacht erneut", an sie erinnert, tritt ein in ihre Daseinszone. Im loslassenden Erinnern wird das individuelle<br />

Gesicht der "Geliebtesten" zu dem des Kosmos selber und dieses zu jenem. Das "Ich" der Dichtung<br />

begreift in seiner Qual und mit ihr, in ihrer Kulmination, dass es selber eine flüchtige Form<br />

ewiger Signaturen ist. In dieser Gemeinschaft mit den Toten - es gehört wesenhaft zu ihnen - wird seine<br />

Erinnerung zu ihrer und hierin zur eigentlichen Selbsterkenntnis des Urbildes der Schöpfung.<br />

Findet es zu sich selber, ist es wieder, für einen ewigen Moment, aus der Erstarrung seiner Konfigurationen<br />

erlöst: "und das / Licht / im schwarzumrätselten Laub / der einsamsten Stunde / wurde ein<br />

Auge / und sah" (Gedichte I, S. 275).<br />

III<br />

Was mithin den Menschen geschieht und was sie tun, zeichnet sich im "inneren Universum" ab: "Es<br />

ist doch nichts Willkürliches, der Mensch erlebt, was der Kosmos erlebt, ich habe das immer nur im<br />

Bilde gesehn" (Briefe, S. 183, v. 7.1. 58). Die eigentliche "Welt" oder "Schöpfung" ist eine "Landschaft<br />

aus Schreien" (Gedichte I, S. 221 ff): "In der Nacht, wo Sterben Genähtes zu trennen beginnt, /<br />

reißt die Landschaft aus Schreien / den schwarzen Verband auf // [...] // Hiobs Vier-Winde-Schrei /<br />

und der Schrei verborgen im Ölberg / wie ein von Ohnmacht übermanntes Insekt im Kristall. // O<br />

Messer aus Abendrot, in die Kehlen geworfen, / wo die Schlafbäume blutleckend aus der Erde fahren,<br />

/ wo die Zeit wegfällt / an den Gerippen in Maidanek und Hiroschima. // Ascheschrei aus blindgequältem<br />

Seherauge - // O du blutendes Auge / in der zerfetzten Sonnenfinsternis / zum Gott-Trocknen aufgehängt<br />

/ im Weltall -"<br />

Eines der in seiner furchtbaren Intensität kaum zu ertragenden Gedichte in "Glühende Rätsel" endet<br />

mit den Zeilen: "Dies ist nur mit einem ausgerissenen Auge / aufs Papier zu bringen -" Nur das blinde,<br />

nein das blindgequälte Auge wird zu dem des Sehers. Es jedoch ist "zum Gott-Trocknen aufgehängt<br />

im Weltall". Hier wird eine ungeheuerliche Identität ausgesprochen. Das "blutende[…] Auge" ist das<br />

aller derjenigen - Abrahams, Hiobs, Christi, der zu Tode Gefolterten und der diesen Tod Bezeugenden,<br />

wie Nelly Sachs selber es tut - , die in den Abgrund der Schöpfung schauen; es bildet sich<br />

aus diesen Blicken. In und mit ihnen aber wird und bildet sich Gott. Die eigentliche Erkenntnis, in der<br />

Schöpfer und Geschöpf verschmelzen, ist diejenige, in der sich der Schöpfungsursprung fortwährend<br />

neu erzeugt.<br />

Nelly Sachs kannte, was Gershom Scholem in "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" referiert:<br />

"Denn auch Luria fasst, dem Erbe des Sohar getreu, die Vorgänge im Urraum nach dem Zimzum


is zu einem ganz bestimmten Stadium <strong>als</strong> Vorgänge in Gott selber auf [...]" - "Der lebendige Gott der<br />

Religion, den die Kabbalisten sich unmittelbar vor Augen stellen wollten, ist viel mehr <strong>als</strong> das verborgene<br />

En-Sof; er ist jener Gott, der im Prozess des Tikkun sich selbst zur vollendeten Person<br />

gestaltet" (Die jüdische Mystik, S. 289 u. 295). - Von einer "vollendeten Person" ist bei Nelly Sachs<br />

nicht die Rede; sondern: "Hautlos / augenlos / hat Hiob Gott gebildet" (Gedichte I, S. 283). Der Prozess<br />

dieser Bildung geschieht wechselseitig, Hiob bildet Gott und Gott eben hierin Hiob. Beider Sein<br />

fließt ineinander und stiftet so das Urbild des Schöpfers und Dichters, in dem Existenz und Erkenntnis<br />

nur eines sind.<br />

Aus der alten, auch schon in der jüdischen Mystik vorhandenen und dann besonders in der Romantik<br />

wieder zu Bedeutung gelangten Vorstellung eines sich im Weltprozess entwickelnden Gottes wird in<br />

der radikalisierten Moderne diejenige eines gehäuteten und blinden Schöpfers, der gleichsam unmittelbar<br />

mit dem sich aus den Folterungen bildenden Körper die Essenz seiner Welt begreift. Der<br />

immer erneut kulminierende Schmerz öffnet die "Wunde", die nicht mehr nur die Eingangspforte zur<br />

Initiation in die Wahrheit ist, sondern selber ihr "Wohnort". - Wer in einem gesteigerten Moment<br />

empfindet und versteht, dass sein Blick in den Ungrund des Daseins auch schon zu dessen Existenzpunkt<br />

geworden ist, weiß nun auch, dass dieser nur <strong>als</strong> Erkenntnis Dasein hat. Erkenntnis und Wahrheit<br />

fallen zusammen, weil die "augenlos"-ungemilderte Einsicht in die Seinsweise der Welt zugleich<br />

das Zentrum ist, in dem diese selber entsteht.<br />

Nun erst kann man verstehen, warum, wenn Nelly Sachs schreibt, sie sei keine "Dichterin", hiermit<br />

keine Herabminderung, sondern im Gegenteil eine absolute Aufgipfelung der Aufgabe, die sie sich<br />

stellt, gemeint ist. Der Anspruch, dem sie nachkommen muss, zu "durchleiden", nicht mehr nur zu<br />

"sagen", beinhaltet den unablässigen Versuch einer Transformation des eigenen Lebens ins Exemplarisch-Zeichenhafte.<br />

Sie selbst muss zu Hiob werden, der sich zum "Gott-Trocknen" aufhängt, wie die<br />

"Hausfrau" ihre Wäsche. Dieser Vergleich ist, wie wir noch sehen werden, keineswegs gesucht; er ergibt<br />

sich konsequent aus einer von Nelly Sachs zitierten und übernommenen chassidischen Maxime:<br />

"Aus der Erlösung des Alltags wächst der Alltag der Erlösung" (Briefe, S. 179).<br />

Bevor wir uns den poetologischen Äußerungen von Nelly Sachs zuwenden (an dieser Stelle muss<br />

vermerkt werden, dass eben wegen der von der Dichterin angestrebten Grenzüberschreitung Begriffe -<br />

wie Poetologie - , die nur innerhalb jener Grenzen sinnvoll sind, nur noch verwendet werden dürfen,<br />

wenn ihr Transzendierendes mitgedacht wird), sind nun Schlussfolgerungen, die das bereits behandelte<br />

Verhältnis von Gut und Böse betreffen, zu ziehen.<br />

"In einer Landschaft aus Musik, / in einer Sprache nur aus Licht, / in einer Glorie, / die das Blut / sich<br />

mit der Sehnsucht Zunge angezündet, // dort wo die Häute, / Augen, Horizonte, / wo Hand und Fuß /<br />

schon ohne Zeichen sind, // dort wo des Sandelbaumes Duft / schon holzlos schwebt / und Atem baut<br />

an jenem Raume weiter, / der nur aus übertretnen Schwellen ist - // hier wo ein rotes Abendtuch / den<br />

Stier des Lebens reizt / bis in den Tod, // hier liegt mein Schatten, / eine Hand der Nacht, // die mit des<br />

schwarzen Jägers Jagegeist / des Blutes roten Vogel / angeschossen hat." (Gedichte I, S. 172)<br />

Zunächst scheint es, <strong>als</strong> werde in einer an Rilke gemahnenden Weise ("Pollen der blühenden Gottheit,<br />

/ Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne, / Räume aus Wesen [...]", zweite Duineser Elegie)<br />

von der ursprünglichen Welt jenseits des Sündenfalls gesprochen; dann jedoch fällt auf, wie sich gerade<br />

im zweiten Teil des Gedichts Worte vordrängen, die hierzu nicht passen wollen. Dennoch: in den<br />

ersten drei, längeren, Strophen entsteht in ungeheurer Weise eine "Landschaft", nicht aus "Schreien",<br />

sondern wahrhaft aus "Musik", der befreiten "Lichtfunken" (von denen in Kabbala und chassidischer<br />

Mystik die Rede ist, vgl. etwa: "Die Funken der Schechina sind in aller Welt versprüht, und es gibt<br />

weder im Organischen noch im Anorganischen eine Sphäre, die nicht voll heiliger Funken wäre, die<br />

ihrerseits nicht mit Kelipoth vermischt wäre und es nicht nötig hätte, von diesen getrennt und nach<br />

oben gehoben zu werden", Die jüdische Mystik, S. 307 f), wo der "Atem" - ein "poetologisches"<br />

Schlüsselwort - an einem "Raum" weiterbaut, der nur "Neues" (erinnert sei an Gedichte I, S. 306, vgl.<br />

auch: "O meine Rückkehrerin, / [...] / höre ich doch ein Neues / in deiner zunehmenden Liebe!", Gedichte<br />

I, S. 135), die Momente des Transzendierens, enthält. Dort schwebt "des Sandelbaumes Duft /<br />

schon holzlos" - man vergleiche hierzu die von Nelly Sachs zitierte Stelle aus den von Martin Buber<br />

gesammelten "Ekstatischen Konfessionen": ""Nun spricht" - so heißt es bei Meister Eckhart - "die<br />

Braut im Hohenliede: Ich habe überstiegen alle Berge und all meine Vermögen, bis an die dunkle<br />

Kraft des Vaters. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht, da roch ich ohne Bewegen, da<br />

schmeckte ich das was nicht war, da spürte ich das was nicht bestand. Dann wurde mein Herz grundlos,<br />

meine Seele lieblos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos"" (Einleitung. Ekstase und<br />

Bekenntnis, XXIX, zit. in Briefe, S. 257 f). - E. M Cioran beschreibt, was Meister Eckhart meint, so:


in nächtlicher Einsamkeit "s'ouvre dans un frisson rare la vision substantielle de la nuit, de la lumière,<br />

de la pensée. On y recueille alors le reste absolu, ce qui demeure d’une chose lorsqu’elle cesse d’exister<br />

pour les sens. On comprend le secret dernier de la nuit, mais les sens ne sentent plus la nuit. Ou<br />

l’on s’enivre de musique, et aucun son ne caresse plus l’oreille. La solitude impitoyable de l’esprit découvre<br />

le néant immaculé du fondement des apparences, la pureté divine ou démoniaque de la base de<br />

toutes choses" (Le Crépuscule des Pensées, in: Œuvres, Paris 1995, S. 501 - in nächtlicher Einsamkeit<br />

"öffnet sich in einem seltenen Schauer die substantielle Vision der Nacht, des Lichtes, des Denkens.<br />

Dort erntet man den absoluten Rest, das, was von einer Sache bleibt, wenn sie aufhört, für die Sinne<br />

zu existieren. Man begreift das letzte Geheimnis der Nacht, doch die Sinne empfinden die Nacht nicht<br />

mehr. Oder man berauscht sich an Musik, und kein Ton liebkost mehr das Ohr. Die unerbittliche Einsamkeit<br />

des Geistes entdeckt das unbefleckte Nichts des Grundes der Erscheinungen, die göttliche<br />

oder dämonische Reinheit des Fundamentes aller Dinge.").<br />

Es handelt sich um ein Schlüsselzitat der Moderne. Cioran lässt erahnen, was "Herz", "Seele" oder<br />

"Geist" erfahren, bevor sie grund-, lieb- und formlos werden, <strong>als</strong>o ins Nichts, den mystischen Ungrund,<br />

eintauchen oder wieder aus ihm zurückkommen. Die Wahrnehmung des "unberührten Nichts" -<br />

der "Farbe Nichts" (Eine Schöpfungsminute im Auge des B<strong>als</strong>chem, Gedichte I, S. 351) - , nicht jenseits,<br />

sondern in dieser Welt und ihren "Erscheinungen" ist diejenige ihres Wesens: jedes Ding kommt<br />

in den es freilassenden Blick, <strong>als</strong> steige es unmittelbar aus seinem Ursprung auf. Die ihm solchermaßen<br />

zukommende Präsenz, es ist mehr, <strong>als</strong> es selbst und hierin ganz, was es ist, nämlich selber die<br />

Chiffre seines Wesens, zeigt sich <strong>als</strong> Klarheit oder Leuchten: "nur zu wiegen sich / in Lichtmusik aus<br />

Ebbe und Flut / nur zu wiegen sich / im Rhythmus des unverwundeten / Ewigkeitszeichen: / Leben -<br />

Tod -" (Gedichte I, S. 331 f). Das "Ewigkeitszeichen" ist die Einheit von Leben und Tod, die sich im<br />

letzten Vers auch rhythmisch kundtut (durch den Kretikus). - "Die höhere Silbenwertigkeit von<br />

"Leben" geht [...] im rhythmischen Gleichschlag des "Atems" auf, so dass "Leben - Tod -" eine rhythmisch<br />

und logisch nicht mehr zu scheidende Einheit bilden, die aus der Wechselbeziehung dieser<br />

Gegensätze hervorgegangen ist. Der letzte Gedankenstrich verweist auf die Aufhebung aller Gegenständlichkeit<br />

in der Verwirklichung des "reinen Widerspruchs"". (Weissenberger, S. 226)<br />

Die "Wechselbeziehung" von Leben und Tod beinhaltet, dass sich unsichtbare und sichtbare Form in<br />

der Erscheinung verbinden - diese "ist" die Einheit von Nichts und Sein <strong>als</strong> Rhythmus, in dem Steigen<br />

und Fallen zugleich gegenwärtig sind. Für Nelly Sachs wie für die Mystik des Sohar-Buches scheinen<br />

in solcher Gegenwart die Konfigurationen der eigentlichen Schöpfung auf, die sich in der irdisch-materiellen<br />

nur noch spiegeln, indem sie sich verbergen. Dort jedoch liegt die "Teilhaftigkeit Aller an<br />

Allem" (Berendsohn, S. 156) offen zutage. Ihre geheime, sich immer wieder aus den Nunc stans-<br />

Momenten bildende ewige Struktur ist zugleich der innerste Grund der Moralität - "Es muss wohl eine<br />

tiefere Teilhaftigkeit geben <strong>als</strong> die moralisierende Formel: Ein Jeder ist für Alle verantwortlich! Wie<br />

ist es wohl mit jenen unterirdischen oder irgendwo wesenden Übereinstimmungen des "Gegenwärtigen"?"<br />

(Briefe aus der Nacht, Typoskript, S. 11) - und, ineins damit, des Sprachcharakters alles<br />

Wirklichen. Die eigentliche Realität ist Rhythmus und Sprache, <strong>als</strong>o die Spannungsbeziehung eines<br />

sich bis in sein Wesen steigernden Gegensatzes. Hier ist die Ursprungszone der Bildhaftigkeit des Seienden,<br />

deren mehr oder weniger blasser Nachhall die Metaphern der konkreten Sprache sind.<br />

Von den "unterirdischen [...] Übereinstimmungen des "Gegenwärtigen"", mithin der Signaturen der<br />

Existenz, war schon die Rede: es bedarf "des Bösen [...], um den Heiligen, den Märtyrer, zu schaffen"<br />

(Zu: Nachtwache, a.a.O., S. 349). Nun kann die Frage gestellt werden, was die "Einheit" von Leben<br />

und Tod wirklich enthält. Wenden wir den Blick zurück zum oben zitierten Gedicht. Die Verse: "dort<br />

wo des Sandelbaumes Duft / schon holzlos schwebt" berühren unmittelbar in ihrer Schönheit - aber<br />

sie geben, was sie enthalten, erst preis, wenn man ihre Beziehung zu den früher von Nelly Sachs geschriebenen<br />

herstellt: "O die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, / Als<br />

Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft -" (Gedichte I, S. 8). "Dein Leib im Rauch durch<br />

die Luft" ist der Titel des ersten Zyklusses von "In den Wohnungen des Todes", an dessen Beginn "O<br />

die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes" steht. Das frühere Bild hallt<br />

im späteren nach. Der Schrecken schlechthin angesichts der Verbrennungsöfen - die Nelly Sachs in<br />

ungeheuerlichster Partizipation zur Grundmetapher der Moderne: der Verwandlung ins Unsichtbare,<br />

macht - ist auch noch in den Versen gegenwärtig, die vom Schweben des Duftes in der Luft des verbrannten<br />

Holzes sprechen.<br />

An dieser Stelle tritt der innere Gegenrhythmus des Gedichts zutage, der sich in den drei Strophen der<br />

zweiten Hälfte deutlich vernehmbar macht. Des "schwarzen Jägers Jagegeist" verweist, obgleich hier<br />

die Sehnsucht, deren Bedingungslosigkeit in den Schwellenraum treibt, gemeint ist, auf das "Urzeit-


spiel von Henker und Opfer, / Verfolger und Verfolgten, / Jäger und Gejagt -" (Gedichte I, S. 77). Damit<br />

ist bedeutet, dieselbe aus dem Ursprung stammende Kraft äußere sich, bereit und vor allem fähig<br />

zu töten, sowohl in den eigentlichen Tätern, <strong>als</strong> auch in den sich ins "Äußerste" vorwagenden Gestalten<br />

der Transzendierung. Wie es keinen "Heiligen" oder "Märtyrer" ohne das "Böse" gäbe, so auch<br />

nicht ohne dessen radikale Macht zur Aufhebung alles Seienden.<br />

Aus dem zweimaligen "dort" des Gedichts, zu Beginn der zweiten und dritten Strophe, wird das<br />

doppelte "hier" der vierten und fünften, zwischen denen so, markiert durch den Gedankenstrich am<br />

Ende der dritten, die Achse zwischen zwei zunächst getrennt scheinenden Bereichen verläuft. Aber<br />

die "Landschaft aus Musik" ist vielmehr auch die des Übergangs, "wo ein rotes Abendtuch / den Stier<br />

des Lebens reizt / bis in den Tod". Der Raum "nur aus übertretnen Schwellen" ist und enthält beides,<br />

das Chiffrenbild der Erlösung und das andere, das die Bereitschaft zum Durchgang durch das Sterben<br />

bekundet, ja, der untergründige Gegenrhythmus greift auf die Anfangsstrophen zurück und bringt, wovon<br />

sie sprechen, in die Schwebe. Die Signatur wirklichen Lebens entspringt nur "hier", wo "mein<br />

Schatten, / eine Hand der Nacht" liegt, wo <strong>als</strong>o "ich" mit äußerster Todeskraft des Loslassens das<br />

Nichts des Daseins in dasjenige des Ursprungs verwandle. Die letzte Strophe bildet mit der ersten die<br />

"Einheit", die Weissenberger, mit Rilkes Ausdruck, die des "reinen Widerspruchs" nennt – beide umschließen<br />

die vier mit den Ortsadverbien beginnenden. Leben und Tod fallen in eins zusammen, weil<br />

in der Zone ihres Übergangs ineinander das Bild des Ursprungsrhythmus' aus seinem gegenwendigen<br />

Pendant entspringt, das jenes ebensowohl aufhebt, wie stiftet. In solcher Gemeinschaft existieren<br />

Ewiges und die Zerstörungskraft des gesteigerten Augenblicks. Die Einheit ist nur <strong>als</strong> zerbrechende:<br />

sie gebiert die "Wunde", die sie auch heilt, immer erneut: "Und, schwarzer Tiger, brüllte auf / die<br />

Nacht; und wälzte sich / und blutete mit Funken / die Wunde Tag" (Gedichte I, S. 209) - im "Seeleneingang"<br />

selber schlägt " das immer knospende Samenkorn / die erste Wunde / ins Geheimnis" (Gedichte<br />

I, S. 273).<br />

In der Hingabe an dieses "Geheimnis" entsteht das Gedicht, und es, niemand sonst, begreift, dass sich<br />

in seiner Welt die Signaturen der Erlösung nur in und mit den existenziellen Gesten von Henker und<br />

Opfer bilden. Die Einheit ist die "Wunde" - und "warum" muss das "unsichtbare Universum" so beschaffen<br />

sein, warum liegt in der "Teilhaftigkeit Aller an Allem" das werdende Bild der Erlösung untrennbar<br />

immer neben, nein in dem des größten Schmerzes? Das "Böse" ist, nicht nur in seiner Verfestigung,<br />

Teil des "inneren Antlitzes". Die Qual dieses Daseins bleibt nicht an der Eingangspforte in<br />

den Raum des Numinosen zurück. Dieser selbst enthält etwas Ungeheuerliches, nicht zu Bewältigendes:<br />

sein Wesen lebt von den "Seufzern" und "Schreien" der Geopferten, wie vom "Verrat" der<br />

Jäger und Henker; nur wenn es sich wieder und wieder an sie - an sich - erinnert und die Einheit mit<br />

sich selber aufs neue herstellt, so dass seine Inkarnationen mit ihren urphänomenalen Strukturen<br />

verschmelzen und ihr maßloses Leid sich aus einem körperlich-psychischen in einen existenziellen<br />

Schmerz verwandelt, wenn <strong>als</strong>o, beinahe mit Schopenhauer zu reden, in einem furchtbaren Moment,<br />

in dem Sein und Erkennen zusammenfallen, alles je gelebte "Sterben" wieder "da" ist, kann die<br />

"Wunde", der Ungrund, die Kraft zu seinem neuen "Tag" aufbringen. Was bleibt dem Gedicht, <strong>als</strong><br />

selbst mit seiner Hiob-Frage Ja zu dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen zu sagen? Der einzelne<br />

Mensch mag sich ihr verweigern wollen. Übernimmt er jedoch die ihm zugeteilte Aufgabe, so kann<br />

auch er nicht anders, <strong>als</strong> sich der Gnade einer solchen göttlichen Schöpfungsordnung dankbar zu überlassen.<br />

Die Gedichte, in denen sich diese Ordnung, die zugleich immerwährendes Chaos ist, spiegelt und aussagt,<br />

partizipieren an ihr und müssen folglich beides beinhalten, die radikale Abwesenheit jeglichen<br />

Sinns und seine in ihr erscheinende Apotheose. Eben dies macht ihren Sprach-Charakter aus; sie sind<br />

nicht Schrift in der uns geläufigen Bedeutung, sondern Rhythmus und Atem.<br />

IV<br />

An wichtigen Stellen in ihren Briefen und immer wieder auch in den Gedichten spricht Nelly Sachs<br />

vom "Atem"; so etwa bereits 1951 an Albrecht Goes: "Und so ist alles, was ich schreiben muss, wie<br />

Atmen. Ich müsste ersticken, täte ich es nicht" (Briefe, S. 130). 1957 ist diese Metapher, in einem programmatischen<br />

Brief an Margit Abenius, zum zentralen Bild ihres Lebens und Schreibens geworden:<br />

"Ich lebe, ich atme den Augenblick, so tief meine Kraft es zulässt. Ich glaube an die Durchschmerzung,<br />

an die Durchseelung des Staubes <strong>als</strong> an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten. Ich glaube<br />

an ein unsichtbares Universum, darin wir unser dunkel Vollbrachtes einzeichnen. Ich spüre die


Energie des Lichtes, die den Stein in Musik aufbrechen lässt, und ich leide an meinem Leibe, an der<br />

furchtbaren Pfeilspitze der Sehnsucht, die uns von Anbeginn zu Tode trifft und die uns stößt,<br />

außerhalb zu suchen, dort wo die Unsicherheit zu spülen beginnt. [...] Aus meinem eigenen Volk kam<br />

mir die chassidische Mystik zu Hilfe, die eng im Zusammenhang mit aller Mystik die Quelle aller<br />

existenziellen Durchströmung des Alltagsaugenblickes ist und sich ihren Wohnort weit fort von allen<br />

Institutionen und Dogmen immer aufs neue in Geburtswehen schaffen muss" (Briefe, S. 180 f).<br />

Erinnert sei an die Strophe: "Und, schwarzer Tiger, brüllte auf / die Nacht; und wälzte sich / und<br />

blutete mit Funken / die Wunde Tag"; diese "Wunde" ist hier die uns "zu Tode" treffende "Pfeilspitze<br />

der Sehnsucht", die uns der Vergänglichkeit und dem Irrtum - sie "stößt" uns, "außerhalb zu suchen",<br />

nicht im "inneren Universum", sondern im Bereich des Sichtbaren, der Begierden und Triebe - ausliefert<br />

und uns zugleich <strong>als</strong> einziges Hilfsmittel, zurückzufinden aus dem "Staub", wiederum den Tod,<br />

das "Durchschmerzen", überlässt.<br />

Die zwei grundlegenden Briefe an Walter A. Berendsohn vom 22.1. und 25.1. 1959 nehmen diese Metapher<br />

wieder auf: "mein Vater holte sich den Mut zum Dasein mit jedem Atemzug wieder heim"<br />

(Briefe, S. 198) - "Genauso wie mein Vater sich jeden Augenblick seine Existenz im neu Erleiden und<br />

Erfassen schöpferisch hereinholte - genauso hole ich mir meinen Anteil an dem mir zuwachsenden<br />

und wieder abnehmenden und wieder wie nichts vergehenden göttlichen Geheimnis herauf - jenseits<br />

aller Religion und Glaubensdogmen. Ich hole es mir, verzweifelnd oft, und wieder getrost - nur mit<br />

meinen Atemzügen" (Briefe, S. 200). Nelly Sachs beschreibt nun, wie ihr Vater "jenen rhythmischen<br />

Takt der Bewegung [des Tanzes] mit dem des Atems in Verbindung brachte und für damalige Zeit<br />

ganz revolutionäre Ideen hatte, die es jedem Menschen gestatteten, einen natürlichen und verlorengegangenen<br />

Rhythmus wieder zu gewinnen"" Briefe, S. 201).<br />

In diesen Briefen werden "Institutionen", "Religion und Glaubensdogmen" dem "natürlichen [...]<br />

Rhythmus" und einem Atmen "für den Augenblick" gegenübergestellt. Es geht, gewissermaßen vom<br />

Vater gelernt (vgl. hierzu Dinesen, S. 30 ff), von vornherein um eine mystisch-schöpferische Existenz,<br />

in der der Bereich des täglichen Lebens und die lyrische Sprachfindung untrennbar zusammengehören.<br />

Die "jüdischen Mystiker, nach denen ich bemüht bin zu leben" (Briefe, S. 238), sprechen davon,<br />

"die kleinen ewigen täglichen Dinge zu tun - aber so tief, so innig, dass dieser Staub durchschmerzt,<br />

durchleuchtet wird" (Briefe, S. 221, vgl. die oben zitierte Maxime). Hierin zeigt sich der "Rhythmus"<br />

der "Atemzüge": jeden Augenblick vollgültig heraufkommen und eben darin schon wieder gehen zu<br />

lassen. Dies ist die wirkliche Einheit von Leben und Tod - alle Handlungen sind ihr eigenes Opfer, sie<br />

lassen, worauf sie sich beziehen, zugleich frei und beinhalten solchermaßen das Absterben des Egos.<br />

Was jedoch in der jüdischen und etwa auch hinduistischen Mystik - Nelly Sachs kannte die Upanishaden<br />

- <strong>als</strong> zwar schwere aber doch freudige Erfahrung beschrieben wird, klingt nun ganz anders:<br />

"eigentlich jede Nacht den Tod neu gelernt, da ich das letzte mir gebliebene geliebte Wesen so weit<br />

fort umfangen sah, zwang mir immer im Angesicht der Leidenden die Worte auf, die dann später<br />

meine Gedichte und dramatischen Versuche hießen. [...] Puls und Atem haben diese Dinge geschaffen,<br />

genau wie ich dam<strong>als</strong> unter den nazistischen Drohungen die Sprache für eine Woche verlor -<br />

hatte keine Atemhilfe mehr" (Briefe, S. 189 f).<br />

Die "Atemhilfe" ist die Möglichkeit, das Dasein in jedem Moment auf seinen Ursprung zu beziehen;<br />

die furchtbarste Bedrohung, die von den Nation<strong>als</strong>ozialisten ausgeht, besteht nicht darin, den Verfolgten<br />

das Leben zu nehmen, sondern ihnen den Ursprungsbezug zu rauben. Deswegen ist die Dichtung<br />

der Moderne von aller vorhergehenden geschieden. Sie existiert angesichts des immer erneut vor ihr<br />

aufsteigenden Verstummens, ihm muss sie abgerungen werden. (Das bekannte Diktum Adornos, nach<br />

Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, das der Autor später selber widerrufen hat, verkennt<br />

mithin die Situation und den Einsatz der Nachkriegslyrik.) Im Tod erfolgt die Konfrontation mit<br />

einem letzten Nihil - und nur aus ihm, seiner jetzt, im Leben und im Gedicht, geschehenden Transformation,<br />

kann eine doch immer prekär bleibende Lebensmöglichkeit aufsteigen. Jeder Augenblick<br />

muss vor der ihn begleitenden Bedrohung, seinem Bösen, gerettet werden: "Schwarz liegt er da [der<br />

Staub] nach so viel Abschiednehmen und nach dem großen Martyrium, das es jedes Mal braucht, sein<br />

innewohnendes Teilchen Licht zu erlösen. Du bist ein Dichter, und Du bist es ganz und gar. Nicht nur<br />

weil Du das Wort findest, das immer unter der Decke aus Geheimnis verborgen schläft, sondern weil<br />

Du mit Deinem Leben tief einatmest, tief staunst und der Verwandlung Zeit lässt. Ehrfurcht und<br />

Scheu und das, was die chassidische Mystik die Heiligung des Augenblicks nennt, all dies ist Dir<br />

eigen und davon wird Dein Wort reif und wahr" (an Rudolf Peyer, Briefe, S. 223).<br />

Man sieht hier deutlich genug, was nach Nelly Sachs einen Dichter auszeichnet - und was sie sich<br />

selbst nie zuschreiben würde. Die Worte werden "reif und wahr", wenn man mit seinem ganzen Leben


tief einatmet; und dieses Atmen bedeutet, sich dem Staunen und der "Verwandlung" zu überlassen,<br />

nämlich der Rückverwandlung allen Daseins in seinen ursprünglichen Rhythmus. "Wir alle, die wir<br />

den Tod in der unmenschlichsten Weise immer <strong>als</strong> Nachbar hatten, wir atmeten auch noch für den<br />

gleichen Augenblick ein Neues ein, für das es keinen Namen gibt" (Briefe, S. 213). Man erinnere sich<br />

an die Sätze aus Zu: Beryll sieht in der Nacht: "Aus dem Atem wurde der Buchstabe geboren und<br />

wieder entsteht neue Schöpfung aus dem Wort" und: "aber das Leiden dient, die Materie durchsichtig<br />

zu machen. Also reif" (op.cit., szenische Dichtungen, S. 353). "Reif" und "wahr" meint dasselbe. Ein<br />

Wort ist "wahr", wenn es sich durchsichtig macht: so wird es zum sich selbst aufhebenden Bild.<br />

Der eigentliche "Atem" (die Beziehung zum "Pneuma" ergibt sich mit Notwendigkeit) ist derjenige<br />

der sich in den Nunc stans-Momenten wiedererzeugenden Schöpfung. Wessen Worte "wahr" und<br />

"reif" sind, lässt "neue Schöpfung" entstehen, die sich, sie umformend, mit den zeitlosen Ursignaturen<br />

verbindet. - In einem weiteren Brief an Rudolf Peyer sagt Nelly Sachs: "ich atme das Du in jedem<br />

Augenblick - in jedem Augenblick - und wenn ich es wage, es in Buchstaben zu hüllen, so steht es<br />

überall. Auch bei mir in der Küche, wenn ich die Petersilie schneide oder eine Kartoffel koche. Nur<br />

ist das Universum immer in unserem Blut und Atem. [...] Lieber, Dein Gedicht war so schön, las es,<br />

und schon atmete es in mir. Niem<strong>als</strong> wollte ich Dein Du um Haaresbreite verringern - es war mir im<br />

Augenblick, <strong>als</strong> sei es das meine [...]" (Briefe, S. 232 f). - Man mache sich nur endlich klar, dass diese<br />

Sätze von einer wirklichen Mystikerin und Dichterin stammen. Die "Teilhaftigkeit Aller an Allem",<br />

Grundbedingung der Schönheit ("Dein Gedicht war so schön"), ist die des Universums, das "in unserem<br />

Blut und Atem" pulsiert. Sie formt sich zur Wahrnehmung eines Du, in dem der Freund, der<br />

Geliebte (vgl. die "Gebete für den toten Bräutigam") und das Göttliche selbst verschmelzen. In der<br />

Zone des Sterbens, das jeglichen Sinn vernichtet und somit auch jedes bloße Hinnehmen eines Seienden<br />

<strong>als</strong> Wahrheitszeichen unmöglich macht, entspringt "im Augenblick" der Anverwandlung des<br />

Fremden ins sich selber transzendierende Eigene ("<strong>als</strong> sei es das meine") die Präsenz eines Geistigen,<br />

das dasteht ("so steht es überall") wie das "En-Sof" der Kabbala.<br />

Die zwei wichtigsten Briefstellen, in denen Nelly Sachs Auskunft über die Sprache ihrer Dichtung<br />

gibt, lauten:<br />

"... die furchtbaren Erlebnisse, die mich selbst an den Rand des Todes und der Verdunkelung gebracht<br />

haben, sind meine Lehrmeister gewesen. Hätte ich nicht schreiben können, so hätte ich nicht überlebt.<br />

Der Tod war mein Lehrmeister. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können, meine<br />

Metaphern sind meine Wunden. Nur daraus ist mein Werk zu verstehen" (zit. nach Gisela Dischner:<br />

"Das verlorene und wieder gerettete Alphabet", in: Nelly Sachs zu Ehren, S. 108, Brief an die<br />

Verfasserin vom 12.7. 1966).<br />

"Als Frau und ungeheuer Betroffene von dem furchtbaren Geschehen habe ich versucht, das Thema<br />

"Jäger und Gejagte" im letzten Teil meines neuen Buches bis hinein in das Universum der Unsichtbarkeit<br />

durchzuführen, dorthin wo meine geliebten Toten heimgefunden haben. Hier mag nur noch<br />

schweigendes Seufzen auf den Blättern stehn und wird nur von wenigen gehört werden. Dieses Dasein<br />

wird für mich nicht entgegengenommen, es ist in jeder Minute gelebt und gestorben worden, eine<br />

andere Religion weiß ich nicht. Um aber solches auszudrücken, verlieren die Worte ihre Kleider fast,<br />

stehen nackt da, nur um zu leuchten [...]. Bis in "die Augen der Hindin sind die Scheiterhaufen der<br />

Angst entzündet". So sieht es wohl bei vielen aus, die unsere Zeit, die nicht mehr mit einem früheren<br />

Zeiten angemessenen Wortschatz angerührt werden kann, menschlich und dichterisch erlebten. Davon<br />

zeugen die Dichter Lorca, Neruda, der Italiener Quasimodo. Ihnen gelang, durch Feuer zu gehn und<br />

die Worte für die Wunden zu holen - sie aus fernem Geheimnis zu pflücken. Wer leidet und wer liebt,<br />

muss sich überlassen können bis zum letzten Atemzug, den Staub zu durchseelen ist eine Mission -<br />

das Wort zu finden - Gnade" (an Walter A. Berendsohn, 30.10.1957, Briefe, S. 173).<br />

Die "Briefe aus der Nacht" beginnen: "Welch redendes Schweigen zwischen uns, geliebte selige Seele<br />

meiner Mutter. Welch redendes Schweigen" (Typoskript, S. 1). "Redendes Schweigen", äußerste Begegnung<br />

mit dem "Du", oder "schweigendes Seufzen" sind dasselbe: "... zwang mir immer im Angesicht<br />

der Leidenden die Worte auf, die dann später meine Gedichte und dramatischen Versuche<br />

hießen" (op.cit., Briefe, S. 189). Nelly Sachs' Blick auf die kranke Mutter sieht und erkennt in ihr die<br />

"Wunde", aus der die Schöpfung nun besteht. Dort <strong>als</strong>o müssen "die Worte" geholt werden: "Mutter /<br />

Meerzeitgeblüh / nächtlicher Ort / für der Ozeane Arom / und die Niederkunft / des erleuchteten<br />

Sandes - // [...] // Dein Atemzug holt Zeiten heim" (Gedichte I, S. 287), nämlich der ursprungs- oder<br />

meerhafte des unsichtbaren Daseins selber. Die Worte oder Metaphern stammen aus dem jetzt immer<br />

noch geschehenden Schöpfungsprozess, der zugleich, wie wir sahen, die "Landschaft aus Musik" und<br />

die "Wunde" ist, göttlicher Atemrhythmus und unhörbarer Schrei der Gequälten. Die lyrischen Bilder


sind dann "wahr" und "reif", wenn sie auf ihrer Oberfläche das Unsichtbare spiegeln, <strong>als</strong>o auf es hin<br />

durchsichtig werden. Hierfür bewegen sie sich in einem Spannungsgeflecht von Rhythmus und<br />

Gegenrhythmus, Auf- und Abbau, Steigen und Fallen, bis das Gedicht <strong>als</strong> "das, was von einer Sache<br />

bleibt, wenn sie aufhört, für die Sinne zu existieren" dasteht.<br />

"Aber erst das blutig gegeißelte Wort / bricht in die Auferstehungen ein / die Seele am Flügel -" (Gedichte<br />

II, S. 77) - "das Unbekannte zieht ein wo eine Wunde ist" (Gedichte II, S. 102) - beide<br />

Wendungen sprechen davon, dass "die Worte ihre Kleider fast" verlieren, "nackt" dastehen, "nur um<br />

zu leuchten". Das Gedicht wird selber zum "schweigenden Seufzen" und zur "Wunde", wenn es sich<br />

in einem Akt äußerster Anspannung bis an jene Grenze zwingt, wo es "der Verwandlung Zeit" lassen<br />

muss - es vernichtet jeden ihm vorgegebenen Sinnbezug, alles, was sich <strong>als</strong> "schöner Schein" behaupten<br />

will, reißt Satzgefüge und Bildbedeutungen ein, um zuletzt - "sterbend", weder tot noch<br />

lebendig - an der Schwelle zum Nichts auf die "Gnade" der Wortfindung zu hoffen. Tritt sie ein, so<br />

beginnen die Worte "zu leuchten", weil die geistige Kraft der Schöpfung in sie gekommen ist. Nur wo<br />

eine "Wunde ist", kann "das Unbekannte" einziehen - "wo aber Gefahr ist wächst / das Rettende auch"<br />

heißt es bei Hölderlin.<br />

"Und Metatron, der höchste aller Engel, / fünfhundert Meilen hoch, / und schlägt das Rad / aus Lichtgefieder<br />

und lässt Musik, / daran die Welten hängen, klingen, / der Liebe Inbegriff! // So tief misst<br />

Sehnsucht aus / der Worte Meer, bis das Gestrahle / aufbricht - und Leben hinnaht / mit dem Wundenmale<br />

-" (Gedichte I, S. 212). Es gibt nur wenige Stellen in den Gedichten, wo in solch offener Weise<br />

gesagt wird, dass die rhythmische Grundstruktur der Welt: ihre "Musik", nicht einfach, irdische,<br />

Liebe, sondern "der Liebe Inbegriff" ist (vgl. "denn Rahels Grab ist längst Musik geworden - / und<br />

Stein und Sand / ein Atemzug im Meer, / und Wiegenlied von aller Sterne: / Auf- im Untergang -",<br />

Gedichte I, S. 233), deren Schöpfungsatemzüge auch von der "Sehnsucht" aufgenommen wurden, die<br />

das "Meer" der Worte zum Leuchten bringt, so dass das Leben "mit dem Wundenmale" "hinnaht".<br />

"Der Worte Meer" ist keine Metapher im normalen Sinn, weil die Laute der Sprache für Nelly Sachs<br />

ihren unauslotbaren Ungrund in sich tragen; tritt er, das Klanglose in ihrem Klang, hervor, so kommt<br />

das verwundete Leben heran, um zu gesunden. - Hier ist in unglaublicher Weise die Rede von einer<br />

wahrhaft magischen Heilwirkung der poetischen Sprache (vgl. " Wenn Nelly Sachs hier [in Gershom<br />

Scholems Einleitung zu seiner Übersetzung des ersten Kapitels des Sohar] unter anderem die Worte<br />

"Wort <strong>als</strong> Kraft" und die "innern, sprachlichen Wurzeln allen Daseins" unterstreicht [...]. Dies ist der<br />

Kern im Sohar und der Kern ihrer eigenen Arbeit mit und an dem dichterischen Ausdruck: die Dualität<br />

von geheimer Wirklichkeit der Mystik und einzigartiger Schöpferkraft des Wortes. Zu dieser<br />

"Überschrift" passt ihre eigene handschriftliche Konklusion: Versuch die Materie mit inneren Sprachen<br />

durchsichtig zu machen", Dinesen, S. 207). Darunter ist nicht, höchstens in sehr abgeleiteter<br />

Form, die therapeutische Wirkung der Lektüre von Lyrik zu verstehen. Vielmehr geschieht etwas Unerhörtes:<br />

in der dichterischen Sprachverwandlung spiegelt sich das immer "Neue", der engelhafte<br />

Weltrhythmus, "der Liebe Inbegriff", zu dem das Leben kommt, weil nur er im Moment ihrer Begegnung<br />

seine Wunde schließen kann - die sich doch, weil sie muss, wieder öffnen wird.<br />

Die "inneren Sprachen" sind die der Schöpfung selber. Sprechen sie sich aus, so geschieht ineins damit<br />

eine "Verwandlung" der Welt. Die Epiphanie des Gedichts ist - das Wort ohne jeden Abzug genommen<br />

- die tiefste Transformation des Seins. Wenn aus nicht ableitbarer "Gnade", in Rhythmus und<br />

Gegenrhythmus, sowie den aus beiden entstehenden Bildern, die unsichtbare Mitte der Verse hervortritt,<br />

schließt sich in einem sich so bildenden Augenblick das bisher Getrennte zu einer höchsten<br />

Einheit zusammen, in der in einem gesteigerten Rhythmus, der die beiden gegenläufigen enthält und<br />

verbindet, der nicht-sinnliche "Rest" alles Existierenden "im Untergang" aufgeht: "Wir Mütter, / die<br />

wir in den Wiegen / die dämmernden Erinnerungen / des Schöpfertages wiegen - / des Atemzuges Auf<br />

und Ab / ist unseres Liebessanges Melodie" (Gedichte I, S. 118 f).<br />

Wie in solchem Dichtungsverständnis Leben und Schreiben - nicht per se, sondern in den Augenblicken<br />

der Inspiration - ineinander übergehen, so tauschen auch die Begriffe von "Heilung" und<br />

"Wunde" ihren Platz, ja treten in einem zuhöchst gesteigerten Sinn füreinander ein: "Bis endlich dein<br />

Herz / die schreckliche Angelwunde / in ihre Heilung gerissen wurde / Himmel und Erde / <strong>als</strong> Asche<br />

sich küßten in deinem Blick -" (Gedichte I, S. 318) - "gerissen", wie der an der Angel hängende Fisch<br />

aus dem Wasser (vgl. "Drüben auf dem Wasser angelt ein Knabe. Jetzt zappelt etwas Silbriges. Was<br />

hält das Silbrige aus, während ungeschickte Finger Kiemen blutig reissen? Dies würde schon genügen,<br />

um mir den Tod lieblich zu machen", "Briefe aus der Nacht", Typoskript, S. 28 f). Der Hieros<br />

Gamos von "Himmel und Erde" findet - dies ist das Signum der Moderne, das auszusprechen sich<br />

alles sträubt - im Holocaust statt, <strong>als</strong> ein Verbrennungsprozess, dessen zurückbleibende Asche Chiffre


der "Weltenwunde" (Gedichte I, S. 319) und ihrer "Heilung" ist. Erst angesichts dieser schrecklichsten<br />

Identität kann man beginnen zu ermessen, was Nelly Sachs wahrhaft unter "Durchschmerzung des<br />

Staubes" versteht:<br />

" [...] // Wie will diese Orestie / von wievielen verlorenen Vätern und Müttern geschrieben / und<br />

Söhnen mit Blutschuld beladen, in Verweslichkeit gebracht / gelesen werden? // Mit dem Leib wenn<br />

er schreibt im Sand / sagt eine Hand und / streicht mir über den Rücken / dass ich friere -" (Gedichte I,<br />

S. 346) - Das Lesen der Geschichte, ihrer Kontinuität von Verrat und Mord, geschieht mit dem "im<br />

Sand" schreibenden "Leib". Die "Hand" ist die "der Nacht", des an der Schwelle liegenden "Schatten<br />

[s]", "die mit des schwarzen Jägers Jagegeist / des Blutes roten Vogel / angeschossen hat" (op. cit.,<br />

Gedichte I, S. 172).<br />

Das "Dichten", ganz bestimmt kein "Blumenpflücken" mehr, geschieht auf Aufforderung der Sehnsuchtskraft<br />

des Daseins selber, ihre tröstende Geste macht vielmehr frieren, denn sie beinhaltet, dass<br />

der Mensch, dem sie zuteil wird, in eine letzte Verlassenheit gestoßen wird: "Immer nur Einer / muss<br />

wachen - / seit Adam / die einsamste Minute schuf" (Gedichte II, S. 134). - Im Verschmelzen von<br />

Leben und Dichtung, das nur in den Augenblicken der Inspiration gelingt, wird das sich verwandelnde<br />

Ich der "Weltenwunde" gewahr. In ihr sind alle "Schreie" und "Seufzer" der Geschichte gegenwärtig,<br />

die wahren Metaphern des "unsichtbaren Universums". Sie zu sehen heißt, sie in einem letzten Sinn<br />

zu akzeptieren - in diesem Moment, dem der "Gnade" und Vollendung, stürzt es sich, in grässlicher<br />

Theodizee, erneut in seinen Abgrund der Qual und stiftet die Gestalten-Bilder der fortwährenden<br />

"Orestie". Die Frage, in die ein Gedicht mündet: "Das Kind malt im Sarg mit Staub / den Nabel der<br />

Welt - / und im Geheg der Zähne hält / der Henker den letzten Fluch - / was nun?" (Szene aus dem<br />

Spiel Nachtwache, Gedichte I, S. 375) wird so beantwortet: "Hiob du befragst das Sandkorn / warum<br />

schmerzt du? / Aber das Sandkorn schmerzt weiter / Seine Antwort ist der Schmerz -" (Briefe, S. 293,<br />

bislang nur dort veröffentlicht) Denn die Imagination von "Ruhe", einem Ende dieses Geschehens,<br />

verfehlt seinen "Zweck", der sich jedem empirisch begreifbaren entzieht (vgl. "O Seele - verzeih /<br />

dass ich zurück dich führen gewollt / an so viele Herde der Ruhe // Ruhe / die doch nur ein totes Oasenwort<br />

ist -", Gedichte I, S. 318). Das Bild der Erlösung entsteht inmitten des nicht enden könnenden<br />

Lebenskreislaufes <strong>als</strong> dessen in seiner Selbsttranszendierung sich bildendes Zentrum; seine Einheit ist<br />

allerdings diejenige des "reinen Widerspruchs" von Leben und Tod, "der Liebe Inbegriff". Sie und ihr<br />

Gegenteil, die Welt der Henker und Opfer, stehen in einer nicht auflösbaren Spannungsbeziehung. Ihr<br />

Insgesamt ist die Schöpfung, das Zugleich von Versöhnung und Folter: "Hier sagt die Welt: Es geschehe<br />

- Amen -" (Gedichte II, S. 159). Das Kind versteckte sich "vier Tage vier Nächte" in einem Sarg<br />

vor seinen Verfolgern: "Zwischen vier Brettern / lag das Leiden der Welt - // Draußen wuchs die Minute<br />

voller Blumen / am Himmel spielten Wolken -" (Gedichte II, S. 79). In "Völker der Erde" heißt<br />

es noch: "Welt, wie kannst du deine Spiele weiterspielen / und die Zeit betrügen - [...] // Und Sonne<br />

und Mond sind weiter spazierengegangen - / zwei schieläugige Zeugen, die nichts gesehen haben"<br />

(Gedichte I,153). Die Auflehnung gegen die Gleichgültigkeit des Numinosen ist in dem späten Gedicht<br />

keineswegs gänzlich verlorengegangen; aber sie paart sich, in einer ungeheuren Kraftanstrengung,<br />

mit der verzweifelten Einsicht, Freiheit und Liebe erwüchsen <strong>als</strong> "Minute voller Blumen"<br />

nicht <strong>als</strong> Überwindung des Leids, sondern mit seiner Hilfe. Wer fähig zu solchen Versen ist: "Adieu<br />

sagt der Rauch / und beschreibt Verbranntes" (Gedichte II, S. 153) - , nämlich in seiner Luftform die<br />

in der Vernichtung verwandelten Körper; das "Adieu" entspricht dem "Aber das Sandkorn schmerzt<br />

weiter / Seine Antwort ist der Schmerz -" - , der lebt in einer Welt, in der Schmerz und Erlösung ununterscheidbar<br />

geworden sind.<br />

V<br />

Die Frage, wie man sich heute zu einem solchen kompromisslosen Leben und Werk stellt, kann nicht<br />

einfach dadurch beantwortet werden, dass man sich von beiden abwendet und solchermaßen kundtut,<br />

ihre Prämissen passten nicht mehr in unsere Zeit. Natürlich zeigt die Nichtbeachtung der Dichterin,<br />

dass die radikalisierte Moderne, der ihre Lyrik wie diejenige Celans oder die Theaterstücke und<br />

Romane Samuel Becketts zuzuordnen sind, deren Rezeption gleichfalls, wenn auch nicht im selben<br />

Maß, zurückgegangen ist, zu einer geschichtlichen Epoche geworden ist, die sich erst vor kurzem aus<br />

dem Raum der Gegenwart ausgegliedert hat. Mit dieser Verschiebung geht ein verändertes Verhalten<br />

gegenüber dem Holocaust einher. Die Tabuisierungen, die bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts die geschichtliche, philosophische und literarische Auseinandersetzung mit ihm un-


tergründig bestimmten, haben sich zwar nicht aufgelöst, aber doch abgeschwächt. Vielleicht besteht<br />

jetzt erst die Chance, aus einer Haltung der Freiheit heraus die Problematik der kollektiven Schuld<br />

wirklich zu diskutieren. Hannah Arendt hat erkannt, weshalb das radikal Böse des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

keiner Vergebung fähig ist: es sprengt die Zweckkategorien des Verstandes und stiftet solchermaßen<br />

einen tendenziell autonomen Raum des Numinosen. Nelly Sachs ist dem Bösen in diesem<br />

Raum begegnet und hat, ihr Leben einsetzend, den Kampf mit ihm aufgenommen, wobei sie wusste,<br />

dass in diesem Bereich die für die Auseinandersetzung zu verwendenden Mittel einander ähnlich sind.<br />

An den entscheidenden Stellen der Konfrontation bricht darum mit Notwendigkeit das Warum? Hiobs<br />

auf, dessen Unbeantwortbarkeit das Wahrheitszeichen der aus den Gedichten, Tagebuchaufzeichnungen<br />

und Briefen entstehenden Poetologie und das Resultat des poetischen Prozesses ist. Das sich<br />

im Ausbleiben einer eindeutigen Antwort zeigende Scheitern ist mithin kein einfacher Fehlschlag,<br />

sondern vielmehr die Bedingung der Konstituierung des numinosen Gefüges der zweiten Moderne, in<br />

dem sich alle Vorzeichen verkehren. Es ist wesenhaft ein Schwebezustand, der aus der radikalen Konfrontation<br />

von diesseitig-empirischer Welt und einem "Gott", der sich wie in der negativen mystischen<br />

Theologie Simone Weils vollständig aus seiner Schöpfung zurückgezogen hat, entsteht - wobei "Gott"<br />

gleichsam der Name für die numinose Kraft selber und ihre Fähigkeit zur "Gnade" ist.<br />

Der von Nelly Sachs unternommene verzweifelte Versuch jedoch, das schrecklichste - jeden Vorstellungsbereich<br />

sprengende - Geschehnis der Geschichte, den Holocaust, zur Chiffre für den poetischen<br />

Prozess zu machen, mündet nicht nur in ein sich selber transzendierendes, sondern unweigerlich auch<br />

in ein reales Scheitern, dem sie, wie alle großen Autoren jener Zeit, ausgesetzt ist und das folglich<br />

nichts mit etwa nicht zureichenden subjektiven Fähigkeiten zu tun hat. Im Gegenteil kommt gerade es,<br />

das sich im Innern des Inspirationsraumes ereignet, erst zutage, wenn dessen Grundkonfigurationen in<br />

aller Härte bloßgelegt werden. Dann zeigt sich, dass die sich in ihm erzeugende Erlösungsgestalt nicht<br />

nur nicht freibleiben kann von dem mit solcher Gewalt noch nie in der Menschheitsgeschichte erschienenen<br />

radikal Bösen; es kann vielmehr in sie eindringen, weil, was es ausmacht, bereits in ihrem<br />

Ursprung existiert. In beiden arbeitet dieselbe, jede empirische Zwecksetzung und jede personale<br />

Struktur durchbrechende numinose Energie, deren zerstörerisches Potenzial nicht transformierbar ist.<br />

Dieses ist der eigentliche Grund für das Misslingen aller utopischen Projekte oder Versuche, Ideale,<br />

welcher Art immer, in der Wirklichkeit zu realisieren, und hieran scheitern auch die Anstrengungen<br />

der Kunst, unmittelbar nach dem nation<strong>als</strong>ozialistischen Morden und der ihm innewohnenden Leugnung<br />

jeglichen Sinns dennoch Epiphanien einer möglichen Erlösung zu stiften.<br />

Die numinosen Strukturen und Fundamente dessen, das einmal das Gute und Böse war, haben sich<br />

zersetzt, und in der sich dadurch definierenden Nachmoderne treten neue Formen an ihre Stelle. Die<br />

Momente, die den gesellschaftlichen und individuellen Inspirationsprozess steuerten und mit Begriffen<br />

wie "Ursprung", "Opfer", "Hingabe", "Freiheit" und "Gnade" bezeichnet wurden, lösen sich auf;<br />

stattdessen bilden sich andere, die zunehmend die heutige Realität formen, indem sie psycho-soziale<br />

Gefüge, die in sich plural und deswegen auf spezifische Weise unwägbar sind, entstehen lassen. Sie<br />

enthalten auch keinen "abwesenden Gott" mehr, weil ihr Geschichtsraum auf keine eindeutige Richtung<br />

beziehbar ist. Welchen Platz etwa die Dichtung in ihm einnehmen wird, muss sich erst noch<br />

zeigen. Die Sehnsucht, ja geradezu das Verlangen, das wir manchmal nach der radikalen Poesie der<br />

Moderne empfinden, stößt auf eine Barriere, die uns von jener Epoche trennt. Dennoch stellt sich eine<br />

schrankenlose Bewunderung vor Werk und Leben von Nelly Sachs ein. Ohne deren Kenntnis wäre ein<br />

Verständnis der Dichtung und inneren Geschichte der Moderne nicht möglich, ebensowenig aber<br />

könnten wir begreifen, warum wir uns zwar nach der Bedingungslosigkeit jener Zeit sehnen, ohne<br />

doch ihrem Anspruch zu folgen.<br />

Verwendete Literatur:<br />

Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs, Frankfurt a. M. 1961 (zit. <strong>als</strong>: Gedichte I)<br />

Suche nach Lebenden. Die Gedichte der Nelly Sachs, Frankfurt a. M. 1971 (zit. <strong>als</strong>: Gedichte II)<br />

Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs, Frankfurt a. M. 1962 (zit. <strong>als</strong>:<br />

szenische Dichtungen)<br />

Briefe aus der Nacht. Prosa. Erstveröffentlichung in: Marburger Forum, Heft 5, 2005<br />

Briefe der Nelly Sachs. Hg. von Ruth Dinesen und Helmut Müssener, Frankfurt a. M. 1958 (zit. <strong>als</strong>:<br />

Briefe)<br />

Paul Celan / Nelly Sachs: Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1993


Nelly Sachs zu Ehren. Zum 75. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1966<br />

Das Buch der Nelly Sachs. Hrsg. von Bengt Holmqvist, Frankfurt a. M. 1968<br />

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Band 3: Totale Herrschaft, Frankfurt a.<br />

M., Berlin, Wien 1975<br />

Martin Buber: Ekstatische Konfessionen, Heidelberg 1984<br />

E. M. Cioran: Œuvres, Paris 1995<br />

Gershom Scholem: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar, Berlin 1935<br />

Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967 (zit. <strong>als</strong>: Die<br />

jüdische Mystik)<br />

Erhard Bahr: Nelly Sachs, München 1980<br />

Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicks<strong>als</strong>,<br />

Darmstadt 1974 (zit. <strong>als</strong>: Berendsohn)<br />

Gisela Bezzel-Dischner: Poetik des modernen Gedichts. Zur Lyrik von Nelly Sachs, Bad Homburg<br />

V.D.H., Berlin, Zürich 1970<br />

Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biografie, Frankfurt a. M. 1994 (zit. <strong>als</strong>: Dinesen)<br />

Paul Kersten: Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs (Dissertation), Hamburg 1970<br />

Michael Kessler / Jürgen Wertheimer: Nelly Sachs: Neue Interpretationen, Tübingen 1994<br />

Christine Rospert: Poetik einer Sprache der Toten. Studien zum Schreiben von Nelly Sachs (Dissertation),<br />

Bielefeld 2004<br />

Peter Sager: Nelly Sachs. Untersuchungen zu Stil und Motivik ihrer Lyrik (Dissertation), Bonn 1970<br />

Erika Schweizer: Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil - ein theologischer<br />

Diskurs (Dissertation), Mainz 2005<br />

Klaus Weissenberger: Zwischen Stein und Stern. Mystische Formgebung in der Dichtung von Else<br />

Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Paul Celan, Bern, München 1976 (zit. <strong>als</strong>: Weissenberger)

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