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1<br />
Damir Smiljanic<br />
Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein<br />
1. Philipp Mainländer – ein moderner Pessimist<br />
Das abendländische Denken der Neuzeit wird untergründig durch den Gegensatz von<br />
Optimismus und Pessimismus geprägt. Bereits Dilthey hat diese „Ismen“ <strong>als</strong><br />
Grundstimmungen aufgefaßt, aus welchen die großen metaphysischen Systeme erwachsen.<br />
Dabei muß – vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – ein Übergewicht der<br />
optimistischen Systeme festgestellt werden. Mit der Aufklärung beginnt die Zeit der<br />
Fortschrittsideologien und der großen Hoffnungen. Aber im Zuge der Aufdeckung der<br />
Schwächen dieser Konzeptionen, welche den Menschen das Glück auf Erden versprachen,<br />
bekommt das pessimistische Denken in der Philosophie und Literatur von neuem Nahrung –<br />
abseits der anerkannten Sprachspiele des akademischen Diskurses, jenseits des<br />
Fortschrittsdenkens und der rosaroten Geschichtsutopien, mit der nötigen Distanz zur Religion<br />
und ihrem Heilsversprechen, bildet sich eine immer stärker werdende Front gegen den<br />
vorherrschenden Optimismus. Die Erfahrung der „Gottverlassenheit“ des Menschen, das<br />
Umkippen des Primats des Ganzen zugunsten der Existenz des einzelnen, die Thematisierung<br />
der individuellen Leiderfahrung – in diesen Topoi läßt sich prägnant der Perspektivenwechsel<br />
der pessimistischen Philosophie gegenüber der optimistischen fassen. 1 Allerdings kann dabei<br />
von einer „Schule“ im Sinne einer über Generationen sich fortsetzenden Tradition des<br />
Philosophierens nicht gesprochen werden – die Bewegung des Pessimismus weist mehr<br />
Brüche <strong>als</strong> ihr weltanschaulicher Gegenspieler auf. Sie setzt sich in der Denkarbeit von<br />
Einzelgängern und Außenseitern fort, welche vom akademischen mainstream weitgehend<br />
ignoriert werden, sie scheint nicht genug anpassungs- und „gesellschaftsfähig“ zu sein, um<br />
sich eine breitere Resonanz in Hochschulkreisen zu verschaffen.<br />
Den entscheidenden Anstoß zur Etablierung des Pessimismus hat bekanntlich Arthur<br />
Schopenhauer gegeben, der sich einen Ruf <strong>als</strong> Querdenker und größter Antipode der<br />
deutschen „Professorenphilosophie“ im 19. Jahrhundert gemacht hat. Mit seinem Namen wird<br />
auch ein „Paradigmenwechsel“ in der Metaphysik, aber auch in der Ethik verknüpft: das<br />
Nichts verdrängt das Sein, an die Stelle des Geistes tritt der Wille, statt gängiger Tugenden
2<br />
gerät das Mitleid in den Mittelpunkt ethischer Überlegungen. Auch wenn er selbst keine<br />
Schule gegründet hat, führte die Rezeption seiner Schriften, die gleichermaßen irritierten wie<br />
inspirierten, zur Verbreitung und Weiterführung seiner provokativen Gedanken bei anderen<br />
Denkern. Die wohl wichtigsten sind Julius Frauenstädt, Paul Deussen, Eduard von Hartmann,<br />
Julius Bahnsen, nicht zuletzt Friedrich Nietzsche, der seine Lehre enthusiastisch<br />
aufgenommen hat, um sie später einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Aber am radik<strong>als</strong>ten<br />
hat den Schopenhauerschen Gedanken der Nichtigkeit des menschlichen Daseins, ja des Seins<br />
überhaupt, jener Philosoph entwickelt, der aus seinem Werk Konsequenzen für das eigene<br />
Leben gezogen hat: der Offenbacher „Selbstdenker und Selbsthenker“ 2 Philipp Mainländer<br />
(1841–1876). Mainländer hat nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis nach<br />
Erlösung gestrebt: kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes seiner monumentalen<br />
Philosophie der Erlösung setzt er, ganz im Sinne eigener Ideen, seinem Leben ein Ende. Sein<br />
Selbstmord ist eigentlich das letzte, ungeschriebene Kapitel seines Hauptwerks. Nachdem er<br />
eine Zeitlang das Schattendasein eines Sonderlings geführt hat, 3 dessen Denkweise<br />
befremdlich, wenn nicht sogar beängstigend wirkt, begann in den letzten Jahren, eingeleitet<br />
durch Ulrich Horstmanns Zusammenstellung einer Werkauswahl und durch die von Winfried<br />
H. Müller-Seyfarth besorgte Neuausgabe von Mainländers Schriften, eine Aufarbeitung dieser<br />
bizarr anmutenden Philosophie, welche trotz – oder gerade wegen – ihrer Radikalität<br />
allmählich an Faszination zu gewinnen scheint. Anscheinend hat man in der Gegenwart<br />
wieder die Lust am (scheinbar) Morbiden entdeckt.<br />
2. Mainländers Mythos von der „Er-schöpfung“ der Welt<br />
Im Mittelpunkt der Philosophie Mainländers steht, wie dem Titel seines opus magnum zu<br />
entnehmen ist, der Gedanke der Erlösung. Der Erlösungsgedanke, eigentlich ein religiöser<br />
Topos, tritt hier allerdings in immanenzphilosophischem Gewand auf. Der „hinterweltliche“<br />
Aspekt wird vom „innerweltlichen“ abgelöst. Bevor auf diese Differenz eingegangen wird, die<br />
den Schlüssel zum Verständnis der „Verweltlichung“ jener Denkfigur abgibt, sei kurz die<br />
Bedeutung des Begriffs der Erlösung erläutert. Erlösung bedeutet immer eine Erleichterung,<br />
buchstäblich: daß jemand eine schwierige Last losgeworden ist, unter deren Druck er<br />
zusammenzubrechen drohte, mithin den Übergang aus einer mißlichen in eine günstige Lage,<br />
aus einem schlechten in einen besseren Zustand. Im Idealfall ist man für immer und ewig<br />
erlöst. Die erlösende Wirkung wird jedoch lebensweltlich bereits dem Tod bescheinigt; so<br />
meint man etwa von einem schwerkranken Menschen, daß der Tod für ihn die Erlösung vom<br />
Leid wäre. Es scheint so, <strong>als</strong> ob die Rede von der Erlösung vom Ausmaß des Leidens
3<br />
abhängig ist. Wie groß muß nun das Leid sein, damit eine Erlösung für das leidgeplagte<br />
Individuum wünschenswert ist? Eine Möglichkeit, um dies herauszufinden, ist das Abwägen<br />
von Lust und Leid – bereits für den Fall, daß die Summe allen Leids höher <strong>als</strong> diejenige der<br />
Lüste ist, wird man sich nach der Erlösung sehnen. Man kann aber noch extremer sein: man<br />
kann schon die Leiderfahrung an sich <strong>als</strong> Grund für die Erlösung sehen. Die wohl extremste<br />
Ansicht ist jedoch jene, welche bereits das Leben <strong>als</strong> solches mit Leiden gleichsetzt, das<br />
Leben selbst für erlösungsbedürftig hält. Letztere Ansicht findet man bei den pessimistischen<br />
Philosophen in verschiedenen Schattierungen vor. Mainländer geht erwartungsgemäß noch<br />
einen Schritt weiter: für ihn ist nicht nur das menschliche Leben, sondern der gesamte<br />
Kosmos ein grausamer Schauplatz des Leidens, das erlöst werden will. Die Erlösung, welche<br />
er energisch fordert, ist eine Erlösung vom Sein. Nun hat schon Schopenhauer behauptet, daß<br />
es besser wäre, wenn wir gar nicht existieren würden. Mainländer überbringt uns eine<br />
Doppelnachricht – die schlechte: daß wir noch immer da sind, die gute: daß wir uns auf dem<br />
Weg ins Nichts befinden. Die Seinsgeschichte wird selbst für die Erlösung sorgen, da sie<br />
selbst nur ein Teil eines umfassenderen Geschicks ist, nämlich der Verwesungsgeschichte.<br />
„Der Sinn der Welt ist die Aufhebung ihres Unsinns.“ 4<br />
Mainländer fordert von der Philosophie die volle Anerkennung der Immanenz, d. h. sie muß<br />
sich allein an die Erfahrung halten und keine außerweltlichen oder unerkennbaren Kräfte<br />
voraussetzen, die in der Welt am Werk wären. Die Welt ist ein dynamischer Zusammenhang<br />
von Individuen, in und hinter dem sich keine göttliche Macht verbirgt. Will man sich jedoch<br />
die Entstehungsgeschichte der Welt klarmachen, so muß man das transzendente Gebiet klar<br />
vom immanenten trennen. Zwischen ihnen waltet eine unüberbrückbare Kluft. „Nur ein<br />
einziges dünnes Fädchen überbrückt den bodenlosen Abgrund: es ist die Existenz.“ 5 Der<br />
Faden ist aber gerissen – wir haben nur noch das immanente Gebiet vor uns bzw. sind selber<br />
Teil desselben; das transzendente existiert nicht mehr. Letzteres faßt Mainländer <strong>als</strong> eine<br />
„einfache Einheit“ auf, über die man keine inhaltlichen Aussagen machen kann (man kann sie<br />
höchstens mit negativen Ausdrücken beschreiben: sie ist unerkennbar, unergründlich usw.).<br />
Am besten kann sie durch den Ausdruck ‚Gott‘ bezeichnet werden. Doch Gott spielt in<br />
Mainländers Erlösungsdrama nur eine Nebenrolle, deren erste und einzige Tat allerdings<br />
schwerwiegende Folgen für den Ablauf desselben hatte: „Es war ... Gott nur eine einzige Tat<br />
möglich, und zwar eine freie Tat, weil er unter keinerlei Zwang stand, weil er sie ebenso gut<br />
unterlassen, wie ausführen konnte, nämlich einzugehen in das absolute Nichts, in das nihil<br />
negativum, d. h. sich vollständig zu vernichten, zu existieren aufzuhören.“ 6 Eine<br />
folgenschwere Tat und eine folgenschwere Aussage: „Gott ist gestorben und sein Tod war das<br />
Leben der Welt.“ 7 Gott wollte – aus welchem Grund auch immer (vielleicht vor lauter
4<br />
Langeweile?!) – nicht mehr existieren. Die einzige Wahl, vor der er stand, war diejenige<br />
zwischen (Weiter-)Sein und Nichtsein – und er hat sich für letzteres entschieden. Die Sache<br />
hat aber einen Haken: Die Tat konnte nicht gleich zum Ziele führen. Gott stand sich selbst im<br />
Weg. Statt mit einem Schlage vernichtet zu werden, begann seine lange Vernichtungsodyssee<br />
durchs Weltall, die noch immer nicht an ihr Ziel gelangt ist.<br />
Mainländers Kosmologie nimmt die Form einer Lehre vom Zerfall an. „Die Bewegung des<br />
Weltalls ist die Bewegung aus dem Übersein in das Nichtsein. Die Welt aber ist der Zerfall in<br />
die Vielheit, d. h. in egoistische, gegeneinander gerichtete Individualitäten. Nur in diesem<br />
Kampf von Wesen, die vorher eine einfache Einheit waren, kann das ursprüngliche Wesen<br />
selbst zerstört werden.“ 8 Da das Wesen Gottes in die Welt <strong>als</strong> eine bestimmte Kraftsumme<br />
übergegangen ist, kann das Ziel der Bewegung nur auf dem Weg über die kontinuierliche<br />
Abschwächung der Kraft erreicht werden. „Das Gesetz der Schwächung der Kraft ist Weltall-<br />
Gesetz. Für die Menschheit heißt es Gesetz des Leidens.“ 9 Aufgrund der Annahme eines<br />
universalen Gesetzes des Energieverschleißes, <strong>als</strong>o entgegen der breiter akzeptierten<br />
Vorstellung seiner Zeitgenossen von der „Erhaltung der Energie“ 10 , wird Mainländer zum<br />
Vordenker des Entropie-Prinzips, das v. a. in den modernen Disziplinen der Physik<br />
Verwendung gefunden hat. Treffend bestimmt daher Horstmann Mainländers<br />
Verwesungsmetaphysik <strong>als</strong> „Metaphysik der Entropie“. 11 Allerdings darf man Mainländers<br />
Verständnis der kosmischen Prozesse, wie Horstmann richtig bemerkt, nicht am Maßstab<br />
strenger Wissenschaftlichkeit messen, sondern seine Leistung eher im Bereich der Gattung<br />
des naturphilosophischen Lehrgedichts ansiedeln (ähnlich wie De rerum natura von Lukrez) –<br />
das würde eher der Charakteristik des Offenbacher Denkers entsprechen, der, wie sein Werk<br />
zeigt, zwischen Philosophie und Dichtung hin- und hergerissen wurde. 12<br />
Der Entschluß Gottes, nicht mehr zu sein, setzt sich im (unbewußten) Impuls eines jeden<br />
unorganischen Elements bzw. Organismus, sich selbst zu vernichten, fort. Diese zielgerichtete<br />
Bewegung bestimmt Mainländer <strong>als</strong> Willen, und da sie letztlich im absoluten Tod enden soll,<br />
wird sie des weiteren <strong>als</strong> Wille zum Tode gefaßt. Die Teleologie bekommt somit ein negatives<br />
Vorzeichen. Eine berühmte Formel Theodor Lessings umkehrend könnte man die Geschichte<br />
des Universums nach dieser Version <strong>als</strong> Sinnentleerung des (scheinbar) Sinnhaften<br />
bezeichnen. „Schöpfung“ und „Er-schöpfung“ der Welt liegen beim „Mythopoeten“<br />
Mainländer dicht beieinander, ja, im Grunde genommen, sind sie ein und dasselbe. Alle<br />
Individuen (Mainländer spricht auch von „Ideen“) streben nach Vernichtung. Dies erreichen<br />
sie dadurch, daß sie miteinander im Wettstreit liegen und sich dabei gegenseitig schwächen.<br />
Das gilt sowohl für das unorganische <strong>als</strong> auch für das organische Reich. Allerdings tritt ein<br />
wichtiger Unterschied in der Weise hervor, wie sich hier und dort der Wille zum Leben bzw.
5<br />
zum Tode äußert. Während bei „chemischen Ideen“ (Gasen, Flüssigkeiten, Festkörpern) das<br />
Leben die von außen oder von innen bedingte Hemmung des Willens zum Tode ist, wollen die<br />
Organismen das Leben direkt. Eigentlich kann erst hier von „Leben“ gesprochen werden:<br />
Organismen verschiedenster Art wachsen bzw. entwickeln sich, zeugen neue Organismen und<br />
sterben am Ende. Der Wille zum Tod verschwindet aber nicht auf den „Stufen des<br />
Organischen“, sondern bildet den dunklen Grund, auf dem sich der Wille zum Leben allererst<br />
entfalten kann. Der Wille zum Leben ist der „maskierte“ Wille zum Tode. Aber sie<br />
koexistieren bei den verschiedenen Lebewesen nicht auf dieselbe Weise: bei Pflanzen tritt der<br />
Wille zum Leben neben den Willen zum Tode; bei Tieren schiebt sich jener vor diesen und<br />
verdeckt ihn; schließlich verdrängt bei Menschen der Lebenswille seinen Widerpart gänzlich,<br />
dieser verschwindet in den Tiefen des Unbewußten. Nun ist nach Mainländer das menschliche<br />
Leben Modifikation des tierischen, das tierische Modifikation des pflanzlichen Lebens. Die<br />
Pflanze ist bloßer Wille; das Tier ist die Verbindung von Wille und Geist; der Mensch<br />
zeichnet sich neben diesen noch durch Vernunft <strong>als</strong> komplexes Wahrnehmungs- und<br />
Reflexionsvermögen aus. Das Tier hat Furcht vor dem Tod, aber dies ist keineswegs ein<br />
Widerspruch zum Todeswillen <strong>als</strong> dem Kern seines Wesens; denn die Todesfurcht steht im<br />
Dienste dieses Willens, weil durch sie die Kraft wirksamer abgeschwächt wird. Durch das<br />
Vermögen der Vernunft kommt es beim Menschen einerseits zur Steigerung seiner<br />
Todesfurcht (durch die Wahrnehmung einer Unzahl von Gefahren) und seiner Liebe zum<br />
Leben (Vervielfältigung der Projektionsflächen für Triebe und Raffination des Genusses),<br />
andrerseits zur Möglichkeit der Erkenntnis des Endzwecks des Daseins, zu der allerdings nur<br />
sensiblere und reflektiertere Naturen fähig sind: die „Heiligen“ und „Weisen“, die nach den<br />
effektivsten Mitteln der Erreichung jenes finalen Zwecks suchen. Der Mensch ist das Wesen,<br />
welches das Leben dämonisch liebt und den Tod dämonisch fürchtet.<br />
Was vom einzelnen Menschen gilt, trifft auch auf das Kollektiv zu: nicht nur das Individuum,<br />
auch die gesamte Menschheit ist dem Tode geweiht, so Mainländers „Hiobsbotschaft“. „Die<br />
Menschheit muß dieselbe Bewegung [aus dem Leben in den absoluten Tod, d. Verf.] haben,<br />
da sie ja nichts weiter ist, <strong>als</strong> die Gesamtheit der Individuen. Jede Definition ihrer Bewegung,<br />
welche den absoluten Tod nicht <strong>als</strong> Zielpunkt enthält, ist zu kurz, weil sie nicht sämtliche<br />
Vorgänge deckt. Wäre die wahre Bewegung nicht deutlich zu erkennen, so müßte die<br />
immanente Philosophie den absoluten Tod, <strong>als</strong> Zielpunkt, postulieren.“ 13 Die Bewegung der<br />
Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein ist der Gegenstand von Mainländers ethischpolitischen<br />
bzw. geschichtsphilosophischen Überlegungen in der Philosophie der Erlösung.<br />
Der Ausgangspunkt seiner Ethik ist der Egoismus des einzelnen Menschen: sowohl der<br />
„Barmherzige“ wie der „Hartherzige“ handeln aus egoistischen Motiven, auch wenn sich
6<br />
diese Motive untereinander ausschließen. Für Mainländer ist entscheidend, daß beide<br />
Handlungen ausführen, welche sie tief befriedigen. Stellt man sich den Naturzustand der<br />
Menschheit <strong>als</strong> einen „Krieg aller gegen alle“ vor, so ist klar, daß der Egoismus auf Dauer<br />
nicht aufrechterhalten werden kann, denn selbst der stärkste Egoist kann durch<br />
Zusammenschluß seiner schwächeren Kontrahenten in Gefahr geraten. Das Individuum sah<br />
sich auf dieser Stufe der Gesellschaftsentwicklung vor die folgende Alternative gestellt:<br />
entweder weiterhin auf seinem Egoismus zu bestehen, auf das Risiko hin, ihm einmal zum<br />
Opfer zu fallen, oder seinen Egoismus zu beschränken, um sein Leben sicher(er) gestalten zu<br />
können. So hat sich der Staat gebildet, denn nur durch ihn konnte der Egoismus der Menschen<br />
in Schranken gewiesen und ein einigermaßen friedliches Zusammenleben der Individuen<br />
gesichert werden. „Wir nehmen an, daß der Staat ein Werk der Vernunft ist und auf einem<br />
Vertrag beruht, den die Menschen widerwillig abgeschlossen haben: aus Not, um einem<br />
größeren Übel, <strong>als</strong> das der Beschränkung ihrer individuellen Macht war, vorzubeugen.“ 14<br />
Die Zivilisation zieht nach Mainländer alle Völker in ihren Kreis; und nachdem „der Gang der<br />
Menschheit nicht die Erscheinung einer sogenannten sittlichen Weltordnung, sondern die<br />
nackte Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod ist“ 15 , so kann die Zivilisation nur ein<br />
effektiveres Mittel zum Erreichen des Endzwecks sein. Die Zivilisation bringt selbst den Tod:<br />
„Wie gebleichte Gebeine die Wege durch die Wüste, so bezeichnen die Denkmäler zerfallener<br />
Kulturreiche, den Tod von Millionen verkündend, die Bahn der Zivilisation.“ 16 Mainländer ist<br />
davon überzeugt, daß der Zivilisationsprozeß irgendwann in einen idealen Staat münden wird,<br />
in dem die Menschheit ihren Frieden und die Verwirklichung aller Freiheiten finden wird. Er<br />
entwirft diesen Staat in Gedanken und will sehen, ob in ihm der Mensch endlich sein Glück<br />
finden wird. Seine Utopie – deren Verwirklichung er aber letztlich bezweifelt 17 – kann mit<br />
denjenigen Morus’ oder Campanellas „mithalten“, ja in manchen Punkten überbietet sie sogar<br />
die letzteren. Werfen wir nun einen Blick auf die Konstruktion des idealen Staates: Die<br />
gesamte Menschheit steht in seiner Obhut. Die Menschen leben im Frieden miteinander – es<br />
gibt weder Kriege noch Revolutionen. Die Arbeit ist perfekt organisiert, d. h. die<br />
Arbeitszeiten sind kurz, die Individuen sind durch die Maschinisierung der Arbeit entlastet<br />
und können sich sinnvolleren Tätigkeiten widmen. Die Armut ist endlich beseitigt. Wir haben<br />
es nur noch mit „schönen Seelen“ zu tun, die ihre Individualität weiter „veredeln“ möchten.<br />
„Es verbleiben mithin nur vier Übel, die durch keine menschliche Macht vom Leben getrennt<br />
werden können: Wehen der Geburt, sowie Krankheit, Alter und Tod jedes Individuums.“ 18<br />
Aber Mainländers Einbildungskraft scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, wie folgende<br />
Behauptung zeigt: „Wir nehmen an, daß die Geburt des Menschen in Zukunft ohne<br />
Schmerzen vonstatten gehe, daß es der Wissenschaft gelinge, den Menschen vor jeder
7<br />
Krankheit zu bewahren, schließlich, daß das Alter solcher beschirmten Menschen ein frisches<br />
und kräftiges sei, welchem ein sanfter schmerzloser Tod plötzlich ein Ende mache<br />
(Euthanasie). Nur den Tod können wir nicht fortnehmen, und wir haben mithin ein kurzes<br />
leidloses Leben vor uns.“ 19<br />
Nach dieser kurzen Schilderung des Lebens im idealen Staat stellt Mainländer die<br />
entscheidende Frage: Haben die Individuen in ihm endlich ihr Glück gefunden? Die Antwort:<br />
„Sie wären es, wenn sie nicht eine entsetzliche Öde und Leere in sich empfänden. Sie sind der<br />
Not entrissen, sie sind wirklich ohne Sorgen und Leid, aber dafür hat die Langeweile sie<br />
erfaßt. Sie haben das Paradies auf Erden, aber seine Luft ist erstickend schwül.“ 20 Die<br />
Menschen sind trotz scheinbarer Vorteile nicht wesentlich zufriedener geworden. Daß eine<br />
solche Ernüchterung von ihnen zu erwarten wäre, entnimmt Mainländer Erfahrungen<br />
berühmter Menschen, welche dank ihrer sozialen Lage Zugang zu Erkenntnissen, Künsten<br />
und anderen „geistigen Genüssen“ hatten, aber dennoch des müßigen Lebens und seiner<br />
Freuden überdrüssig geworden sind. Daher kommt er zum Schluß, daß selbst das schönste<br />
Leben im idealen Staat sinnlos wäre.<br />
Aber selbst wenn ein solcher Staat im Laufe der Menscheitsgeschichte realisiert werden sollte,<br />
ist man noch immer nicht an ihrem Ende: es gibt kein happy end für die Menschen. Die<br />
ursprüngliche Bewegung der Menschheit kommt im idealen Staat nicht zum Stillstand,<br />
sondern sie geht weiter bis das Ziel erreicht ist – und das Ziel ist das Nichtsein. Der Philosoph<br />
der Erlösung ist sich dessen sicher, daß irgendeinmal der Menschheit die letzte Stunde<br />
schlagen wird, auch wenn er nicht eindeutig zu bestimmen vermag, aus welchem Grund sie<br />
letztlich untergehen wird: ob wegen „selbstverschuldeten“ Fehlverhaltens oder wegen einer<br />
Laune der Natur (es ist sogar von Impotenz (!) <strong>als</strong> möglicher Ursache der Selbstvernichtung<br />
die Rede, doch Mainländer bleibt hier weitgehend rätselhaft). Wie auch immer, für ihn steht<br />
fest, daß sie untergehen wird und daß dieses Ereignis Auswirkungen auf das restliche<br />
organische Leben auf der Erde und – indirekt – auf die Geschehnisse im Weltall haben wird.<br />
Der Niedergang der Menschheit wird der Anfang vom Ende sein, denn ihr werden zunächst<br />
die höheren Organismen folgen, dann die niederen – und schließlich greifen die<br />
Veränderungen auf die unorganische Welt über. Die Planeten werden durch den Sturz in die<br />
Zentr<strong>als</strong>onne vernichtet; Gase werden sich auflösen; es bleiben nur noch Flüssigkeiten übrig,<br />
die sich <strong>als</strong> letzte „Überreste“ des Seins „verflüchtigen“ werden. „Und dann? Dann ist Gott<br />
tatsächlich aus dem Übersein, durch das Werden, in das Nichtsein übergetreten; er hat durch<br />
den Weltprozeß gefunden, was er, von seinem Wesen verhindert, nicht sofort erreichen<br />
konnte: das Nichtsein. [...] Es ist vollbracht!“ 21 Trübe Aussichten für das<br />
Menschengeschlecht.
8<br />
Was bleibt dem Individuum übrig angesichts der Unausweichlichkeit des kosmischen<br />
Annihilierungsprozesses? Der Gang des Weltgeschehens ist durch die einzige, aber<br />
verhängnisvolle Tat Gottes determiniert – der Weltprozeß steuert auf das Nichts zu. Freiheit<br />
ist in dem erlösungsphilosophischen Vokabular Mainländers ein Fremdwort; sie ist<br />
(zumindest in ihrer uneingeschränkten Form) ein bloßes Hirngespinst, denn alles was der<br />
Mensch willig oder wider Willen tut, geschieht in Übereinstimmung mit seinem Charakter<br />
und mit dem Weltlauf. Moralisch handeln heißt bei ihm übrigens, daß man einerseits im<br />
Einklang mit den Gesetzen handelt, andererseits diese Handlungen auch gern ausführt, daß<br />
man Freude an ihnen hat. Um „Gefallen“ an einer bestimmten Handlung zu finden, muß der<br />
Wille durch Erkenntnis „entzündet“ werden. Die höchste Erkenntnis ist aber nach Mainländer<br />
diejenige vom Vorrang des Nichtseins vor dem Sein, sie ist „das oberste Prinzip aller<br />
Moral“ 22 . Daher wird allein derjenige wahrhaft moralisch und sogar weise handeln, der sich<br />
dem Schicksal fügt und darüber hinaus selbst zur Beschleunigung seines Laufs beiträgt.<br />
Letzteres vollbringt er dadurch, daß er sich mit Leib, Seele und Geist in den Dienst der<br />
Menschheit stellt. Er verspricht sich davon einen größeren Vorteil für sich, so daß ihm die<br />
Erkenntnis des Sinns der Aufopferung für andere das Herz „entzündet“. Nun hat man<br />
gesehen, daß sich der Lauf der Welt in zwei Bewegungen spaltet, wobei sich die erste an der<br />
Oberfläche, die zweite in der Tiefe abspielt: die Bewegung nach dem idealen Staat und die<br />
Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein. Die erste fordert vom Individuum die<br />
bedingungslose Hingabe an das Allgemeine, verkörpert in den Tugenden der Vaterlandsliebe<br />
(sic!), Gerechtigkeit und Menschenliebe 23 ; die zweite zieht das Gebot der Virginität nach sich,<br />
was zunächst befremdlich erscheinen mag. In beiden Fällen wird die Bewegung intensiviert<br />
und man ist ein paar Schritte dem Nichts näher gekommen.<br />
Das Virginitätsgebot, welches eine „totale Umwandlung des Willens“ erforderlich macht,<br />
dürfte für Irritationen sorgen. Handelt der Mensch dabei nicht gegen die Natur? Wie soll er<br />
eine so „unerhörte“ Forderung erfüllen, ohne sich dabei Gewalt anzutun? Der Widerspruch<br />
zum Lebenwollen ist nicht zu übersehen: der Wille zum Leben „will für alle Zeit leben und da<br />
er nur im Dasein verbleiben kann durch die Zeugung, so konzentriert sich sein Grundwollen<br />
im Geschlechtstrieb, der die vollkommenste Bejahung des Willens zum Leben ist und alle<br />
andern Triebe und Begierden an Heftigkeit und Stärke bedeutend übertrifft“ 24 . Aber wenn<br />
man das Leben mit Leiden gleichsetzt, dann setzt sich mit der Fortsetzung des Lebens auch<br />
das Leid fort. Deshalb hat jener Mensch, der Kinder in die Welt setzt, Anteil an der<br />
Perpetuierung des Leids. Er kann im Tod nur eine relative Erlösung finden, da er in seinen<br />
Nachkommen weiterlebt und weiter leidet. Derjenige, der sich dagegen an der Erkenntnis der<br />
Nichtigkeit des Lebens „entzündet“, verneint den Willen zum Leben und verweigert den
9<br />
Zeugungsakt, was die Beschleunigung des Weltvernichtungsprozesses zur Folge hat, denn<br />
durch die Unterdrückung des Geschlechtstriebs wird die Kraftsumme im Weltall effektiver<br />
geschwächt. „Der den Willen zum Leben wirksam Verneinende erntet im Tode die volle und<br />
ganze Vernichtung des Typus. Er zerbricht seine Form, und keine Macht im Weltall kann sie<br />
neu bilden ... Durch Enthaltung vom geschlechtlichen Genusse hat er sich von der<br />
Wiedergeburt befreit, vor der sein Wille zurückschaudert, wie der Rohe vor dem Tode. Sein<br />
Typus ist erlöst: das ist sein süßer Lohn.“ 25 Ein solcher Mensch, der sein Leben demjenigen<br />
der Menschheit weiht und dadurch die Bewegung des Weltalls aus dem Sein in das Nichtsein<br />
fördert, wird von Mainländer zum „weisen Helden“ stilisiert. Wahrscheinlich hat er sich in<br />
ihm wiedererkannt.<br />
Mainländers Philosophie der Erlösung ist vielleicht die konsequenteste Gestalt einer Lehre<br />
vom Tod und Sterben. Er blieb ihr buchstäblich bis zum Tod treu. Inkonsequenz kann man<br />
ihm wahrlich nicht vorwerfen, wie sein Selbstmord zeigt. Es wirkt so, <strong>als</strong> ob er durch seine<br />
Tat ein Zeichen für die Nachwelt setzen wollte, damit auch die letzten Zweifler und Kritiker<br />
seiner Philosophie verstummen. Es verwundert daher nicht, daß er im Rahmen seines Werks<br />
eine Apologie des Selbstmords betreibt. Seine Philosophie empfiehlt zwar nicht den<br />
Selbstmord, sie rät aber auch nicht von ihm ab. (Hier tritt auch die Differenz zu seinem<br />
„Lehrer“ Schopenhauer offen zutage.) So spricht er die potentiellen Lebensüberdrüßigen an:<br />
„Geht ohne Zittern, meine Brüder, aus diesem Leben hinaus, wenn es zu schwer auf euch<br />
liegt: ihr werdet weder ein Himmelreich, noch eine Hölle im Grabe finden.“ 26 Diese Worte<br />
muten unheimlich an, <strong>als</strong> ob man zwischen den Zeilen die Stimme eines sinistren Dämons<br />
vernehmen würde. Auf jeden Fall verleihen diese und ähnliche Reden, die geradezu<br />
hypnotisch auf den Leser einwirken – freilich mit unterschiedlichem Effekt: entweder sie<br />
beunruhigen, irritieren die sanften Gemüter oder sie fesseln, ziehen die Angesprochenen in<br />
ihren Bann und lassen sie nicht mehr los – , der Philosophie der Erlösung einen morbiden<br />
Tonfall, der gleichzeitig anziehend wie abstoßend wirkt. Mainländer war sich indes seiner<br />
Sache sicher: „Wenn seither die Vorstellung einer individuellen Fortdauer nach dem Tode, in<br />
einer Hölle oder in einem Himmelreich, viele vom Tode abhielt, die immanente Philosophie<br />
dagegen viele in den Tod führen wird – so soll dies fortan so sein, wie jenes vorher sein sollte,<br />
denn jedes Motiv, das in die Welt tritt, erscheint und wirkt mit Notwendigkeit.“ 27<br />
3. Gegenwartsdenken zwischen Lebenseuphorie und Menschenflucht
10<br />
Werfen wir nach dieser Zusammenfassung des Gedankengangs von Mainländers<br />
Erlösungsphilosophie einen Blick in die Gegenwart. Hat sich einiges von Mainländers<br />
„Prognosen“ bewahrheitet? Leben wir in einem „idealen“ Staat? Inwieweit ist die Menschheit<br />
dem Abgrund näher gekommen? Die Entwicklung im vergangenen Jahrhundert bringt ein<br />
widersprüchliches Bild zum Vorschein. Auf der einen Seite haben die Ereignisse wie die<br />
beiden Weltkriege, der „kalte“ Krieg mit seiner atomaren Bedrohung, das Scheitern<br />
sozialistischer Systeme, Bürgerkriege in postsozialistischen Gesellschaften, nicht zuletzt der<br />
Terroranschlag vom 11. September und der Irak-Krieg, mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß das<br />
(Selbst-)Vernichtungspotential des „zivilisierten“ Menschen keineswegs ausgeschöpft ist –<br />
das „Untier“ tobt noch immer in uns. Von dieser Seite kann Mainländers These von der<br />
Bewegung der Menschheit in den absoluten Tod durchaus zugestimmt werden. Auf der<br />
anderen Seite ist seit 1945 – zumindest in den westlichen Ländern – eine Verbesserung der<br />
Lebensbedingungen wahrnehmbar. Auch wenn man unsere Zeit nicht gerade die friedlichste<br />
nennen kann, so lassen sich doch Bemühungen in der Politik (auch in der Religion) um einen<br />
dauerhaften Weltfrieden nicht bestreiten, so erfolglos sie bislang, wie die jüngste<br />
Vergangenheit gezeigt hat, gewesen sind. Armut und soziales Elend sind zwar nicht<br />
abgeschafft, aber doch einigermaßen in die Schranken gewiesen. Die Arbeit findet unter<br />
verbesserten Konditionen statt; sie ist besser organisiert, die Arbeitszeiten können flexibler<br />
gestaltet werden, die Menschen haben mehr Freizeit zur Verfügung, ja erst in den letzten<br />
Jahrzehnten hat auch der Begriff ‚Freizeit‘ seinen vollen Sinn bekommen. 28 Das „Zauberwort“<br />
heißt jetzt Individualisierung, worunter das „Recht“ eines jeden Menschen zu verstehen ist,<br />
sich sein Leben auf eigene (nicht fremdbestimmte) Weise gestalten, seine Individualität voll<br />
entfalten zu können. Wir leben zudem in einer „Wissensgesellschaft“, soll heißen: das Wissen<br />
selbst ist zu einer wichtigen Ressource geworden, die Wissenschaften prosperieren weiter mit<br />
unbändigem Elan und verschaffen sich über die Technisierung des Alltags einen noch<br />
größeren Einfluß auf seinen Ablauf; Bildung soll allen Gesellschaftsmitgliedern zukommen,<br />
unabhängig von ihrem sozialen Status – „Bildung für alle!“, so könnte der Slogan der<br />
heutigen Wissensgesellschaft lauten. Dennoch – in einem „idealen“ Staat leben wir noch<br />
immer nicht. Dagegen sprechen die Schattenseiten des Modernisierungsprozesses: Phänomene<br />
wie Massenarbeitslosigkeit, Marginalisierung des sozialen Elends in den Medien, Gefährdung<br />
des Friedens durch Terrorismus und Neokolonialismus, die unstillbare Konsumhaltung des<br />
Individuums, Unübersichtlichkeit des Bildungsangebots usw. Die Frage, ob sich die heutige<br />
Menschengeneration durch „sanften Charakter“ und „entwickelte Intelligenz“ auszeichne, so<br />
wie die Bürger des idealen Staats bei Mainländer, sei erst recht dahingestellt. Nichtsdestotrotz<br />
kann man eine deutliche Gradverschiebung auf der von Mainländer konstruierten
11<br />
Entwicklungsskala feststellen, an deren (vor)letzter Stelle der ideale Staat in all seiner Pracht<br />
steht.<br />
Nun haben wir gesehen, daß selbst in Mainländers Ide<strong>als</strong>taat vier Übel übrigbleiben, die sich<br />
nicht ohne weiteres beheben lassen, da sie die „Lebenssubstanz“ des Menschen betreffen:<br />
Qualen der Geburt, Krankheiten, Altern und Tod. Es steht außer Zweifel, daß sich die<br />
Lebensbedingungen in der heutigen Gesellschaft wesentlich gebessert haben, was auch eine<br />
Abschwächung (wenn auch keine Abschaffung) jener Übel zur Folge hat: werdende Mütter<br />
können sich mittlerweile in speziellen Seminaren auf die Wehen der Geburt mental<br />
vorbereiten, was eher <strong>als</strong> skurriler Individualisierungseffekt zu betrachten ist; durch<br />
frühzeitige Erkennung und sofort einsetzende Therapie können heutzutage selbst schwere<br />
Krankheiten mit Erfolg behandelt werden; die Lebenserwartung ist im letzten Jahrhundert<br />
deutlich gestiegen (der negative Effekt davon ist die „Überalterung“ der Gesellschaft). Vor<br />
Geburt, Krankheit und Altern muß man sich nicht so fürchten wie noch zu Mainländers<br />
Zeiten. Nur der Tod scheint weiterhin dem fortschrittsgläubigen modernen Menschen zu<br />
spotten. Doch wer weiß, vielleicht hat er bald keinen Grund mehr zum Lachen. Denn seit<br />
einiger Zeit bekommt die Hoffnung auf die Überwindung des größten aller Übel von neuem<br />
Nahrung: der Gentechnologe führt sich <strong>als</strong> neuer Heiland auf. Zu den Zielen der<br />
Gentechnologie gehört die Eliminierung schwerer Erbkrankheiten, die „Steuerung“, d. h.<br />
Verzögerung und evtl. Aufhebung des Alterungsprozesses – und <strong>als</strong> letzte Konsequenz die<br />
Beseitigung des Todes und die Verheißung des ewigen Lebens. Falls dies jem<strong>als</strong> gelingen<br />
sollte, könnte der Mensch die Nachfolge Gottes antreten. Der Mensch würde der Zeuge einer<br />
neuen Schöpfungsgeschichte werden, deren Dreh- und Angelpunkt er selbst wäre: der Mensch<br />
würde sich selbst (neu) erschaffen. Die Erde würde zum Wohnort von „Übermenschen“ und<br />
„Halbgöttern“. Es ist jedoch fraglich, ob es zu einer solchen Wende in der<br />
Menschheitsgeschichte jem<strong>als</strong> kommen wird. Dennoch können jene Phantasmen den Boden<br />
für einen neuen Mythos abgeben, der einen Erzähler vom Rang Mainländers erst finden muß.<br />
Nehmen wir an, es würde einmal nicht nur der Traum vom idealen Staat, sondern auch<br />
derjenige vom „idealen Menschen“ Wirklichkeit werden. Würde ein solcher Mensch glücklich<br />
sein? Not und Elend wären abgeschafft, Arbeit aufs Minimum reduziert,<br />
zwischenmenschliche Konflikte aus dem Weg geräumt, ein für allemal Frieden auf Erden<br />
hergestellt – dies wäre der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich sein Leben abspielen würde.<br />
Es würde aber darüber hinaus auch das somatische Leid bis zur Unkenntlichkeit<br />
abgeschwächt. Wären damit nicht die Voraussetzungen für ein gutes, ja für ein schönes Leben<br />
geschaffen? Man könnte doch das Leben in vollen Zügen genießen. Die Verringerung oder<br />
gar Eliminierung des körperlichen Leids würde sicherlich zu einer Steigerung der Lebenslust
12<br />
und zu einer zusätzlichen Stärkung des Willens zum Leben führen. Die entscheidende Frage<br />
ist jedoch, ob es einen absoluten Lustzustand überhaupt geben könne. Hat denn nicht die Rede<br />
von Lust nur dort Sinn, wo es auch Unlust bzw. Leid gibt? Sind sie nicht dialektisch<br />
vermittelt? Die Streichung einer Seite des Gegensatzpaares Lust/Unlust würde diese Dialektik<br />
erst recht entfachen: dann würden möglicherweise die geringeren Lüste nicht mehr<br />
befriedigen und selbst zu einer Art Unlust werden. Um diese verhängnisvolle Eigendynamik<br />
der Lüste einzusehen, muß man jedoch nicht in die Zukunft blicken und einen Idealzustand<br />
der Menschheit konstruieren – es reicht vollkommen, wenn wir in der gegenwärtigen<br />
Erlebnisgesellschaft (Schulze) verbleiben.<br />
Man hat jüngst in der Soziologie den Wandel der Lebensauffassungen moderner Menschen<br />
<strong>als</strong> Umkehr von der Außen- zur Innenorientierung gefaßt. 29 Die Erlebnisorientierung ist zu<br />
einem festen Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft geworden. Das Tückische am<br />
Erlebnisbedürfnis ist aber, daß es, einmal gestillt, nicht aufhört, die Psyche des Individuums<br />
zu reizen, sondern noch stärker auf sie einwirkt. Auf der Suche nach dem ultimativen<br />
„Erlebniskick“ setzt man sich der Gefahr aus, immer wieder „enttäuscht“ zu werden. Alles<br />
Mögliche erlebt man auf diese Weise – nur den Sinn nicht. Der Skeptiker Marquard schreibt<br />
dazu: „Weil der Lebenssinn verlorengegangen ist, flieht man in Surrogate, ... in das<br />
Anspruchsdenken. Die Ansprüche wachsen, weil der Sinn ausbleibt: die moderne<br />
Wohlstandgesellschaft ist ... der Versuch, den verlorenen Sinn durch Luxus zu ersetzen; durch<br />
eine Art umgedrehten ‚overkill‘ – <strong>als</strong>o durch ‚overlife‘ – wird das Sinnlose transformiert zum<br />
Superleben. [...] Die moderne Anspruchsgesellschaft ist der Kummerspeck des Sinndefizits.“ 30<br />
Man könnte geradezu von einer Paradoxie der Erlebnisorientierung sprechen:<br />
„Erlebnisorientierung wird zum habitualisierten Hunger, der keine Befriedigung mehr zuläßt.<br />
Im Moment der Erfüllung entsteht bereits die Frage, was denn nun <strong>als</strong> nächstes kommen soll,<br />
so daß sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellt, weil die Suche nach<br />
Befriedigung zur Gewohnheit geworden ist.“ 31 Die Erlebnisparadoxie besteht darin, daß das<br />
Mittel (Genuß) zur Lösung des Problems (Stillen des Erlebnisbedürfnisses) zum verstärkten<br />
Katalysator des Problems wird (das Bedürfnis wird noch größer). ‚Der Not entkommen, aber<br />
zu Tode gelangweilt‘ – das ist das tragikomische Los des postmodernen Menschen.<br />
Einiges von Mainländers Utopie scheint bereits in der Gegenwart realisiert zu sein,<br />
wenngleich nur in bestimmten Regionen der Erde und dann noch in unterschiedlichem<br />
Ausmaß. Aber bereits Mainländer hat um die Gefahren einer solchen Lebensweise gewußt.<br />
Denn ist man der Not entrissen, droht der Plagegeist namens Langeweile. „Die Not ist ein<br />
schreckliches Übel, die Langeweile aber das schrecklichste von allen.“ 32 Unter diesen<br />
Umständen könnte man dem Tod ausnahmsweise eine positive Konnotation abgewinnen: er
13<br />
könnte <strong>als</strong> Möglichkeit der Erlösung von der Dauerlangweile, vom Erlebensüberschuß und<br />
Lebensüberdruß wahrgenommen werden. Dadurch würde er einiges von seinem Schrecken<br />
verlieren. „Im Wohlleben liegt kein Glück und keine Befriedigung; folglich ist es auch kein<br />
Unglück, dem Wohlleben entsagen zu müssen. Aber es ist ein großes Unglück, ein Glück in<br />
das Wohlleben zu setzen und nicht erfahren zu können, daß kein Glück darin liegt.“ 33 Konsum<br />
schafft kein Glück – so könnte man den heutigen Menschen vor den Gefahren des<br />
„Superlebens“ warnen. Welchen Sinn hätte es auch dann, das Leben (künstlich) zu<br />
verlängern, wenn es nicht mehr Erfüllung, sondern nur Übersättigung und <strong>als</strong> Folge davon das<br />
Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit mit sich bringt. Leben, das lang(e)weilt, ist nichtig, und<br />
um einzusehen, daß in diesem Fall das Nichtsein dem Sein vorzuziehen ist, braucht man kein<br />
Erlösungsphilosoph zu sein. Vielleicht war die Langeweile auch der Grund dafür, daß Gott<br />
nicht mehr existieren wollte – das ewige Leben scheint ihm nicht mehr Freude bereitet zu<br />
haben. Die künftigen „Macher“ des Lebens sollten daraus ihre Lehren ziehen.<br />
Mainländers eudämonistischer Ethik können somit nützliche Anregungen für die Gestaltung<br />
des Lebens und für den Umgang mit dem Tod entnommen werden. In der Antizipation der<br />
Sinnprobleme erlebnisheischender Individuen wirkt sie modern und daher kann von einer<br />
Aktualität Mainländers durchaus die Rede sein. Wesentlich größere Probleme wird man bei<br />
der „Würdigung“ der Philosophie der Erlösung in metaphysischer Hinsicht haben. Denn in<br />
der Gegenwart hat man sich weitgehend vom metaphysischen Denken verabschiedet. Der<br />
Verifikationismus der exakten Wissenschaften und der nüchterne Alltagspragmatismus haben<br />
uns angeblich die metaphysischen Grillen aus dem Kopf ausgetrieben. Wenn man derzeit<br />
philosophisch denkt, denkt man nachmetaphysisch. Doch wie die aufkeimende Mainländer-<br />
Rezeption zeigt, scheint uns der Schatten der Metaphysik wieder einzuholen. Vielleicht stehen<br />
wir vor der Pforte einer neuen Metaphysik. Der Bruch mit dem Gottesglauben mag zwar die<br />
Zersetzung ihrer traditionellen Form beschleunigt haben, doch die in der Gegenwart sich<br />
abzeichnende (Selbst-)Hinterfragung des Menschen scheint das metaphysische Bedürfnis<br />
erneut in uns zu wecken und es zu seinem Recht kommen zu lassen. Möglicherweise wird die<br />
„Biotechnologie“ zur neuen prima philosophia, vielleicht zur ersten, die auch in der Praxis<br />
Folgen haben wird (die Frage ist, ob fruchtbare oder furchtbare). Auch die neue<br />
„Lebensmetaphysik“ – wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann – wird an einem<br />
Scheideweg stehen: Entweder wird man sich von den neuen wissenschaftlichen Techniken<br />
grenzenlosen Erfolg versprechen und z. B. an die Möglichkeit der Perfektionierung des<br />
menschlichen Erbguts glauben, welche zur Abschaffung der physischen Übel führen wird.<br />
Oder man wird gegenüber dem biotechnischen Projekt skeptisch gesinnt sein und es zum<br />
Scheitern verurteilt sehen, da es dem kosmischen Zerfall nichts entgegenzusetzen vermag:
14<br />
keine gentechnische Maßnahme kann den Gang des Menschen ins Nichts aufhalten. Es stehen<br />
sich <strong>als</strong>o wieder Optimismus und Pessimismus gegenüber: biotechnologischer<br />
Fortschrittsglaube vs. kosmologischer Nihilismus.<br />
Der Theozentrismus ist in der Moderne in den Hintergrund getreten und droht gänzlich von<br />
der Weltbühne des Denkens abzutreten. Doch an seine Stelle ist ein neuer „Ismus“ getreten:<br />
der Anthropozentrismus. Er begann in der Renaissance mit seinem Aufstieg, erlebte seit der<br />
Aufklärung einen starken Aufschwung und gewann endlich in der Moderne die Oberhand im<br />
abendländischen Denken. Aber auch die Stellung des Menschen im Kosmos gerät allmählich<br />
ins Wanken. Der moderne Mensch leidet an grenzenloser Selbstüberschätzung, welche ihm<br />
zum Verhängnis werden könnte. Denken, das sich von seiner „Selbstvergötterung“ distanziert<br />
und das vom Menschen überhaupt loskommen möchte, heißt anthropofugales Denken. Damit<br />
ist aus philosophiegeschichtlicher Sicht jenes Denken gemeint, dessen Spuren man im Werk<br />
folgender Denker findet: bei Schopenhauer, Mainländer, Bahnsen, Nietzsche, Lessing,<br />
Klages, Cioran, Horstmann, Baladur. 34 Es verwundert nicht, daß auf dieser buchstäblich<br />
„schwarzen Liste“ auch Mainländers Name steht. Vor zwanzig Jahren hat sich auch Ulrich<br />
Horstmann mit seinem ketzerischen Buch Das Untier in diese Liste eingetragen und der<br />
verdutzten Menschheit vorgeschlagen, im Angesicht der nunmehr vorhandenen Mittel zur<br />
Selbstauslöschung (vor allem der Nuklearwaffen) die Chance zu nutzen, den von Mainländer<br />
beschriebenen (weiten) Weg zur Erlösung vom Sein wesentlich zu verkürzen, mit anderen<br />
Worten: mit sich selbst einen kurzen Prozeß zu machen. Man könnte eine Parallele zum<br />
Entschluß Gottes ziehen, sich selbst zu vernichten. Ebenso steht nun die Menschheit vor der<br />
„Hamlet-Frage“ (Lütkehaus), deren Beantwortung darüber entscheidet, ob der<br />
Anthropozentrismus weiterhin den Ton angeben wird oder ob die „Anthropofugalen“ das<br />
Requiem anstimmen werden. Im Gesang der letzteren würde man auch Mainländers Echo<br />
vernehmen. Es besteht nämlich kein Zweifel, daß Mainländer den Schritt zur bewußten<br />
Selbstauslöschung der Menschheit begrüßt hätte (wenngleich er in seinem Werk dafür nicht<br />
offen plädiert). Allerdings liegt die Differenz zwischen ihm und Horstmann in der Wahl der<br />
Mittel zu jenem Zweck: während sich Horstmann den Abgang der Menschheit nach Art eines<br />
das ganze Sonnensystem durchbebenden Infernos vorstellt, das einem „Urknall“ im<br />
Kleinformat gleichen würde, ist Mainländer in dieser Frage wesentlich unspektakulärer und<br />
bevorzugt leisere Töne – er empfiehlt die Virginität, die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr,<br />
<strong>als</strong> effektivste Methode zur „Schwächung der Kraft“.<br />
Beim Keuschheitsgebot, welches Mainländer zum obersten Ideal erhebt, handelt es sich<br />
keineswegs um die Schrulle eines ödipal veranlagten jungen Mannes, der sich selbst <strong>als</strong> „Kind<br />
ehelicher Notzucht“ angesehen hat, sondern um eine ask-ethische Disziplinarmaßnahme,
15<br />
deren Zweck die Verweigerung einer „menschlichen, allzumenschlichen“ Praxis ist. Leider<br />
besteht gerade hier die Gefahr, daß man Mainländer mißversteht und ihn allzuschnell in die<br />
psychopathologische Ecke schiebt. 35 In dieser Hinsicht teilt Mainländer das Schicksal mit<br />
einem anderen „dekadenten Genie“, jenem Denker, der sich ebenfalls kurz nach Erscheinen<br />
seines Hauptwerks das Leben genommen hat: mit dem Autor des „Skandalbuchs“ Geschlecht<br />
und Charakter, Otto Weininger. Auch hier sieht man angeblich denselben Größenwahn am<br />
Werke, der die Feder Mainländers bei der Abfassung der Philosophie der Erlösung gleich<br />
einem Dämon geleitet haben soll. Statt diese Denker trotz all ihrem Übermut der<br />
vulgärpsychologischen Diagnostik zu überlassen, sollte man ihre exzessive und<br />
selbstzerstörerische Schaffenskraft würdigen – wer Großes leisten will, muß mit dem Risiko<br />
rechnen, an der Größe seines Vorhabens zu scheitern. 36 Doch zurück zum Ausgangspunkt –<br />
wer das Virginitätsideal propagiert, denkt (und handelt) anthropofugal. 37 Denn er ist sich der<br />
Konsequenzen seines Tuns (korrekter ausgedrückt: Unterlassens) bewußt: würde jeder<br />
Mensch jenes Ideal <strong>als</strong> Leitlinie seines Verhaltens verinnerlichen, dann würde die Natalität<br />
zum Schreck aller Anthropozentriker rapide sinken. Die Menschheit würde binnen weniger<br />
Jahrzehnte aussterben. Daß es jedoch soweit gar nicht kommen wird, dafür wird schon der<br />
geradezu unstillbare Geschlechtstrieb der Menschen sorgen. 38<br />
Die Befolgung des Virginitätsgebots hat nicht nur einen ethischen, sondern vor allem einen<br />
metaphysischen Sinn: der „Weise“, der dem Geschlechtstrieb den Kampf ansagt, handelt nicht<br />
gegen die Natur, sondern steht in ihrem Dienst, „er opfert ihr in Treue und beschleunigt<br />
dadurch ihren Lauf in wirksamster Weise“ 39 . Im Unterschied zu den modernen<br />
Existentialisten, welche sich gegen das Absurde stemmen, verlangt Mainländer vom weisen<br />
Individuum, daß es sich in den absurden Lauf der Dinge fügt – das Sein selbst ist das<br />
Absurde, von dem man sich in der absoluten Vernichtung erlösen kann. Nun beharren die<br />
Hardliner des Anthropozentrismus darauf, daß es gegenüber den zukünftigen Generationen –<br />
nicht zuletzt gegenüber den eigenen Kindeskindern, die man in die Welt (aus)setzt – eine<br />
Verantwortung gebe, der sich die Menschen in der Gegenwart bewußt sein müssen. Aus<br />
anthropofugaler Sicht gibt es aber eine wesentlich tiefgreifendere Verantwortung dem<br />
Weltgeschehen gegenüber. Wenn der Endzweck desselben die Bewegung aus dem Sein ins<br />
Nichts ist, dann ist es vom Individuum unverantwortlich, wenn es durch seine Vermehrung<br />
den Ablauf dieser Bewegung verzögert: dadurch perpetuiert sich nur unnötig das alltägliche<br />
Leid. Man sollte daher mitbedenken, daß derjenige, der sich, „durch Erkenntnis entzündet“,<br />
dafür entscheidet, die Fortpflanzungskette zu unterbrechen und sich aus der Reihe seiner<br />
Ahnen auszugliedern, nicht nur etwas für seine individuelle Freiheiten, sondern etwas für die<br />
schnellere Erlösung von den Leiden des Daseins tut. „Wer den Tod nicht fürchtet, der allein
16<br />
kann für andere etwas tun, für andere bluten und hat zugleich das einzige Glück, das einzige<br />
begehrenswerte Gut in dieser Welt: den echten Herzensfrieden.“ 40 So liegt aus Sicht der<br />
Erlösungsphilosophie die letzte (paradoxe) Konsequenz eines verantwortungsbewußten<br />
Handelns – damit auch die einzige Möglichkeit einer Erlösung von Noch-nicht-Geborenen –<br />
darin, daß man sie gar nicht in die Welt setzt! Diese sind von vornherein erlöst, weil sie gar<br />
nicht gezeugt worden sind.<br />
4. Von der Lust und Last des Schaffens<br />
Mainländers Denken ist radikal. Es ist eine Radikalität, welche den „nachmetaphysischen“<br />
Denkern der Gegenwart abhanden gekommen ist. Aber vielleicht ist man zu einem Umdenken<br />
bereit. Ein Zeichen dafür ist nicht zuletzt das wachsende Interesse an Mainländers Werk, die<br />
Neuausgabe seiner Schriften und die Auseinandersetzung mit seiner Philosophie in der<br />
Sekundärliteratur. Die nihilistische Büchse der Pandora ist wieder geöffnet und der in ihr<br />
eingesperrte Geist beginnt von neuem sein Unwesen zu treiben. Auf der Tagesordnung des<br />
philosophischen Diskurses könnten sich wieder „klassische“ Themen finden: Gott, Ursprung<br />
der Welt, Sein, Nichts, Leben, Tod, Unsterblichkeit, Erlösung. Aber sie würden unter neuen<br />
Gesichtspunkten zu beleuchten sein. Bereits Mainländer hat mit seiner Philosophie der<br />
Erlösung die Veränderung des Blickwinkels ihrer Betrachtung angezeigt und damit die<br />
Weichen für ihre Neuinterpretation gestellt. So wird der Gedanke der Entwicklung<br />
buchstäblich ad absurdum geführt: sie führt nicht zu einem „besseren“ Sein, sondern zum<br />
Nichtsein. In Mainländers Entwicklungsschema steht das Vollkommene am Anfang – Gott hat<br />
sich gleich bei seiner Tat er-schöpft und zerbröckelt langsam bis in seine letzten Atome. 41 Der<br />
Zerfall ereignet sich nicht allein auf der makrokosmischen, sondern auch auf der<br />
mikrokosmischen Ebene: die Entwicklung der Organismen wird vom Willen zum Tode<br />
geleitet. Der Sinn der Entwicklung liegt <strong>als</strong>o in ihrer Aufhebung – sie ist durchweg absurd. 42<br />
Vor diesem Hintergrund drängt sich die berechtigte Frage auf, ob es sinnvoll sei, Leben in die<br />
Welt zu setzen, wenn es von vornherein zur Nichtigkeit verurteilt ist. Unter diesem<br />
Gesichtspunkt könnte die Verantwortungs- und sogar die Schuldfrage in bezug auf<br />
ungeborenes Leben neu gestellt werden: die Fortpflanzung selbst wird zu einem hochbrisanten<br />
bioethischen (vielleicht auch biopolitischen) Problem. Das von Mainländer geforderte<br />
Virginitätsgebot soll entgegen der anthropozentrischen Selbstzensur in unseren Köpfen nicht
17<br />
von vornherein <strong>als</strong> Problemlösungsstrategie ausgeschlossen werden. Denn vielleicht erlöst<br />
sich aus dem fatalen Schuldzusammenhang des Weiterzeugens und -leidens nur jener, der sich<br />
weigert, bei der Fortsetzung dieser Lebens- und Leidensgeschichten mitzumachen. Das<br />
Potential der Mainländerschen Gedanken konnte hier nur angedeutet werden – es gilt nun, aus<br />
dieser lange Zeit verschütteten Quelle aus dem vollen zu schöpfen.<br />
Um aber für Mainländers Art des Denkens das richtige Gespür zu entwickeln, muß man<br />
seinem Werk einen anderen Sinn abgewinnen. Man muß gewissermaßen zu<br />
„tiefergehenderen“ hermeneutischen Dechiffrierungstechniken greifen. Mainländer hat mit<br />
seinem Werk ein Zeichen gesetzt, das es fernab von konventionellen, nur auf den Inhalt<br />
fixierten Interpretationen zu entschlüsseln gilt. Es geht dabei um den Zusammenhang von<br />
Lebenskraft, Schaffensdrang und Selbstzerstörung, der sich bezeichnenderweise in<br />
Mainländers Werk – sowohl im Hinblick auf seine Produktion wie auf seinen Inhalt –<br />
reflektiert. Die Philosophie der Erlösung ist die Schöpfung eines tollkühnen Geistes, der sich<br />
Gedanken über die (Er-)Schöpfung in kosmischen Dimensionen gemacht hat. Bereits in<br />
göttlichen Angelegenheiten muß man beim schöpferischen Akt mit einem enormen<br />
Kraftaufwand rechnen: Gott hat sich in seiner (einzigen) Schöpfung völlig verausgabt, die<br />
Weltgeschichte ist nur der im Zeitlupentempo verlaufende Nachhall einer ungeheuren<br />
kräftezehrenden Tat, die ihn sein Leben gekostet hat. Eine Parallele zur erschöpfendschöpferischen<br />
Tat Mainländers, der u. a. die Philosophie der Erlösung entsprungen ist, läßt<br />
sich leicht herstellen. Wenn nach Bahnsen der Mensch nur ein sich selbst bewußtes Nichts<br />
ist, 43 dann ist der göttliche Doppelgänger, der Werkschaffende bzw. Autor, eine Art<br />
schöpferisches Nichts. „Der Weise ... blickt fest und freudig dem absoluten Nichts ins<br />
Auge.“ 44 Und dieser Blick scheint bei ihm geistige Kräfte freizusetzen. Das Ungeheure dieses<br />
Anblicks stachelt seinen Schaffenstrieb an und für einen Augenblick scheint das universale<br />
Gesetz, von dem Mainländer spricht, außer Kraft gesetzt zu sein: beim Autor eines<br />
philosophischen, literarischen oder anderen Werks läßt sich ein Überschuß an Kraft<br />
feststellen. Doch auch er muß anscheinend der allgemeinen Abnutzung den Tribut zollen: je<br />
anspruchsvoller das Niveau des zu Denkenden, desto höher der Aufwand an geistigen<br />
Kräften, der zu seiner Bewältigung nötig ist; wenn dies in einer kurzen Zeitspanne geschieht,<br />
so verbraucht sich die Kraft wesentlich schneller. Der Kräfteverschleiß geht dann nicht nur<br />
auf Kosten der geistigen, sondern auch der leib-seelischen Substanz vonstatten. Wie im Falle<br />
Mainländers kann dies fatale Folgen haben: dem ultimativen Schöpfungsakt folgt die<br />
(physische) Selbstzerstörung.<br />
Auf der anderen Seite, wer dem Nichts ins Auge geschaut hat, ohne vor Schreck zu erstarren,<br />
der sieht sich gerade zum Schaffen „verurteilt“ und, da er nichts zu verlieren hat, wagt er sich
18<br />
auf den (kurzen) Pfad der (Er-)Schöpfung, der vielleicht auch derjenige der Erlösung ist. ‚Sich<br />
durchs Schaffen erlösen‘ – so könnte die Devise all jener Ex-zentriker lauten, die der<br />
materialen Reproduktion des Lebens die geistige Produktion von Werken vorziehen. Während<br />
die Nachkommen aus Fleisch und Blut dem Tod nicht entrinnen können, weil auch ihre<br />
Erzeuger sterblich gewesen sind, sind die geistigen Erzeugnisse von Rang im bestimmten<br />
Sinne unsterblich (zumindest solange es Rezipienten gibt, die sie aufnehmen und<br />
interpretieren), sie überdauern ihre Schöpfer, die wiederum in ihnen und durch sie weiter am<br />
Leben bleiben (zumindest in einem symbolischen Sinne). Während der leibliche Vater seinem<br />
Kind nicht zu erklären vermag, aus welchem Grund es auf der Welt sei – vielleicht deshalb,<br />
weil er den Zweck seines eigenen Daseins nicht herausgefunden hat – , spricht das Werk für<br />
sich selbst, es lebt gewissermaßen den Sinn vor, den der geistige Vater in es gelegt hat.<br />
Letztlich verkehrt sich hier die Perspektive, denn der Autor empfängt den Sinn seines Daseins<br />
von seinem Werk; das ist der Sinn der Wendung ‚für sein Werk leben‘. Oder, wie einmal<br />
Walter Benjamin, ebenfalls in bezug auf große Werke, bemerkt hat: „Die Schöpfung nämlich<br />
gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. [...] Er ist der männliche Erstgeborene des<br />
Werkes, das er einstm<strong>als</strong> [aus dem weiblichen Element, d. Verf.] empfangen hatte.“ 45 Das<br />
Werk ist ein lebendiges Sinngebilde, das aber auch nach einem neuen Empfänger sucht, um in<br />
seinem Geiste wiedergeboren zu werden. Deswegen mußte noch einmal die Pandora-Büchse<br />
des Nihilismus geöffnet werden, damit man sich wieder von jenem Geist anstecken läßt, der<br />
trotz seiner Schwermut zu großen Taten fähig gewesen ist und jetzt vielleicht andere dazu<br />
anregen könnte, falls sie genug Mut und Kraft haben – jenem Geist, der erst dann zur Ruhe<br />
kommen wird, wenn endlich sein Werk vollbracht ist.<br />
Anmerkungen<br />
1 Vgl. zu diesem Perspektivenwechsel Pauen 1997, zum metaphysischen Pessimismus bes. 103–143.<br />
2 So Horstmanns lapidare Bezeichnung in Horstmann 2002, 65.<br />
3 Vgl. zur spärlichen Rezeptionsgeschichte von Mainländers Philosophie Müller-Seyfarth 1993, ferner ders.<br />
2000, 127 ff.
19<br />
4 Lütkehaus 1999, 249.<br />
5 Mainländer 2004, 33 f. (Im folgenden wird aus Mainländers Werkauswahl zitiert, welche Ulrich Horstmann im<br />
letzten Jahr herausgegeben und eingeleitet hat. Vgl. zu den Quellennachweisen ebd., 249 ff. Dort wird man auf<br />
die Neuausgabe der Philosophie der Erlösung verwiesen – vgl. Mainländer 1996a und ders. 1996b.)<br />
6 Mainländer 2004, 39.<br />
7 Ebd., 34.<br />
8 Ebd., 44.<br />
9 Ebd., 50.<br />
10 Vgl. dazu auch die Einschätzung Theodor Lessings in Müller-Seyfarth 1993, 80.<br />
11 Vgl. zu dieser Bezeichnung der Lehre Mainländers Horstmann 1993, ferner Müller-Seyfarth 2000, 75 ff.<br />
12 Band 3 und 4 versammeln seine literarischen Arbeiten und geben ein Zeugnis von seinem schriftstellerischen<br />
Potential (vor allem die Novelle Rupertine del Fino – vgl. Mainländer 2004, 131–189). Horstmann bedauert<br />
jedoch, daß Mainländer seine literarische Arbeit in den Dienst der Philosophie gestellt hat, sie von dieser<br />
assimiliert sehen wollte. Vgl. Horstmann 2002, 70 f.<br />
13 Mainländer 2004, 60.<br />
14 Ebd., 66.<br />
15 Ebd., 69.<br />
16 Ebd., 70.<br />
17 Vgl. etwa ebd., 79: „Wir stoßen ... unseren idealen Staat wieder um. Er war ein Phantasiegebilde und wird<br />
nie in die Erscheinung treten.“ Er ist sich <strong>als</strong>o durchaus des fiktiven Charakters seiner Konstruktion bewußt.<br />
18 Ebd., 72.<br />
19 Ebd., 73 f.<br />
20 Ebd., 74.<br />
21 Ebd., 82.<br />
22 Ebd., 85.<br />
23 Es sei dahingestellt, ob sich Vaterlands- und Menschenliebe überhaupt miteinander vertragen. Zurecht betont<br />
Horstmann die Seltsamkeit Mainländers in dieser Hinsicht: die „verzehrend glühende Vaterlandsliebe“, die ihn<br />
zum Militärdrill gezwungen hat (vgl. unten Anm. 40), sei für „uns Nachgeborene vielleicht die irritierendste<br />
Facette dieses an Absonderlichkeiten und Abstrusitäten überreichen Lebens“ (Horstmann 1993, 140).<br />
24 Mainländer 2004, 89.<br />
25 Ebd.<br />
26 Ebd., 120. Die Trennung zwischen dem immanenten und dem transzendenten Gebiet soll angeblich die<br />
Gründe eliminiert haben, welche jemanden vom Selbstmord zurückhielten. Siehe Mainländer 1996b, 511.<br />
27 Mainländer 2004, 122.<br />
28 Mit Mainländer gesprochen: „Wenig Arbeit, viel Vergnügen: das ist die Signatur des Lebens in unserem<br />
Staate.“ (Ebd., 72)<br />
29 Vgl. zu dieser Umorientierung der Lebensauffassung Schulze 1995, 36 ff. Die Erlebnisgesellschaft ist nach<br />
Schulze „eine Gesellschaft, die (im historischen und interkulturellen Vergleich) relativ stark durch<br />
innenorientierte Lebensauffassungen geprägt ist“ (ebd., 54).<br />
30 Marquard 1986, 39.<br />
31 Schulze 1995, 65.<br />
32 Mainländer 2004, 74.<br />
33 Ebd., 78.<br />
34 Vgl. zur (Vor-)Geschichte des anthropofugalen Denkens Horstmann 1983.<br />
35 Selbst Lütkehaus, dem wir ein glänzend geschriebenes Buch über das Nichts zu verdanken haben, läßt sich<br />
von der „Normalisierungswelle“ mitreißen, wenn er z. B. schreibt: „Man kann ... Mainländer getrost auf die<br />
Couch legen.“ (Lütkehaus 1999, 246) Oder: „Wie hätte Mainländer auch so rabiat gegen die<br />
Fortsetzungsgeschichten des Lebens denken können, wenn er gesund gewesen wäre.“ (Ebd.) Als ob das<br />
angeblich „gesunde“ Denken nicht selbst zu hinterfragen wäre. Ein wesentlich differenzierteres psychologisches<br />
Mainländer-Bild gibt Gerhard Dammann in seinem Beitrag zum Offenbacher Mainländer-Symposium 2001 –<br />
vgl. Dammann 2002.<br />
36 Auf den hier angesprochenen Zusammenhang zwischen dem Schaffensdrang und der Selbstzerstörung gehe<br />
ich kurz im Schlußteil ein.<br />
37 Weininger sieht die Fortpflanzung <strong>als</strong> Verstoß gegen das sittliche Gesetz: „Es ist unmoralisch, ein<br />
menschliches Wesen zur Wirkung einer Ursache zu machen, es <strong>als</strong> Bedingtes hervorzubringen, wie das mit der
20<br />
Elternschaft gegeben ist; und der Mensch ist im tiefsten Grunde nur deshalb unfrei und determiniert neben seiner<br />
Freiheit und Spontaneität, weil er auf diese unsittliche Weise entstanden ist.“ (Weininger 1980, 458) Jenen, die<br />
das Leben der Gattung durch die Befolgung des Virginitätside<strong>als</strong> bedroht sehen, wirft Weininger den „Unglaube<br />
[n] an die individuelle Unsterblichkeit“, „Kleinmut“ und die „Unfähigkeit, außer der Herde zu leben“ vor: „Wer<br />
so denkt [nämlich anthropozentrisch, d. Verf.], kann sich die Erde nicht vorstellen ohne das Gekribbel und<br />
Gewimmel der Menschen auf ihr, ihm wird angst und bange nicht so sehr vor dem Tode, <strong>als</strong> vor der<br />
Einsamkeit.“ (Ebd., 457)<br />
38 Vgl. zur Metaphysik der Geschlechtsliebe vor allem Schopenhauer 1986, 678–727.<br />
39 Mainländer 2004, 91.<br />
40 Ebd., 119. Diese und ähnliche Stellen könnten jedoch in der Gegenwart Anlaß zu Fehlinterpretationen geben.<br />
So könnte ein besorgter Zeitgenosse Mainländer vorwerfen, durch seine Lehre den Terrorismus rechtfertigbar<br />
gemacht zu haben, denn der Terrorist fürchtet nicht den Tod, wenn er sich beim Terrorakt selbst in die Luft<br />
sprengt. Er tut dies sicherlich nicht aus Menschenliebe, so müßte man zur Verteidigung Mainländers sagen – der<br />
Terrorist hat nur das Wohl einer begrenzten Menschengruppe, der er selbst durch Konfession, Interesse oder was<br />
auch immer zugehört, im Auge er denkt und handelt exklusivistisch, ist somit nur ein roher Egoist. Mainländer<br />
will jedoch Egoismus und Altruismus in einer Form vereinigt sehen, weswegen er von jedem Individuum<br />
verlangt, im Interesse der gesamten Menschheit zu handeln. Freilich ist er dabei nicht immer konsequent, denn<br />
so billigt er Handlungen aus Vaterlandsliebe – dabei sind aus diesem Antrieb einige der größten Schandtaten der<br />
Menschheitsgeschichte verübt worden. Deutliche Aussagen, z. B. gegen den Krieg, hätten hier eher für Klarheit<br />
gesorgt. Doch möglicherweise wirken sich hier die Widersprüche seiner Persönlichkeit aus – bekanntlich hat sich<br />
Mainländer einem schwierigen Militärdienst ausgesetzt, obwohl kein äußerer Anlaß dazu bestand. Der<br />
Militärdienst war vielleicht nur eine Flucht vor dem Kampf mit sich selbst, den er danach in seiner Philosophie<br />
ausgetragen hat und der all seine Kräfte binnen weniger Monate verzehrt hat. Vgl. die Tagebuchblätter Meine<br />
Soldatengeschichte, in: Mainländer 2004, 191–248. Bezeichnend sind aber die Parallelen zur Biographie anderer<br />
selbstquälerisch veranlagter Denker wie Nietzsche und Wittgenstein.<br />
41 Der Gegensatz zur traditionellen Metaphysik springt sofort ins Auge, sobald man den ontologischen Aufbau<br />
der Philosophie der Erlösung mit demjenigen der Hegelschen Wissenschaft der Logik vergleicht: hier hat man es<br />
mit der Triade Sein–Nichts–Werden, dort mit dem Schema (Über-)Sein–Werden–Nichts zu tun. Während bei<br />
Hegel das Werden die produktive Synthese von Sein und Nichts ausmacht, löst sich in Mainländers Metaphysik<br />
das Sein sukzessive in(s) Nichts auf – die „Aufhebung“ hat hier einen (auto-)destruktiven Zug.<br />
42 Mainländer hält jedoch noch am Zweckbegriff fest und behauptet die durchgängige Determiniertheit des<br />
Weltgeschehens. Es ist aber eine negative Teleologie und somit eine deutliche Abweichung von klassischen<br />
Denkweisen.<br />
43 Vgl. dazu Reschika 2001, 145.<br />
44 Mainländer 2004, 129.<br />
45 Benjamin 1994, 138.<br />
Literatur<br />
Benjamin, Walter (1994): Denkbilder, Frankfurt a. M.<br />
Dammann, Gerhard (2002): „Zur psychopathologischen Dimension des extremen<br />
philosophischen Pessimismus“, in: Müller-Seyfarth (2002), 49–63.
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Wien/Berlin.<br />
ders. (1993): „Der verwesende Gott. Philipp Mainländers Metaphysik der Entropie“<br />
[ursprünglich 1989 erschienen], in: Müller-Seyfarth 1993, 139–151.<br />
ders. (2002): „Der philosophische Dekomponist. Was Philipp Mainländer ausmacht“, in:<br />
Müller-Seyfarth (2002), 65–72.<br />
Lütkehaus, Ludger (1999): Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Zürich.<br />
Mainländer, Philipp (1996a): Die Philosophie der Erlösung. Erster Band, mit einem Vorwort<br />
zur Neuausgabe von Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York.<br />
ders. (1996b): Die Philosophie der Erlösung. Zweiter Band, mit einem Vorwort zur<br />
Neuausgabe von Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York.<br />
ders. (2004): Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl,<br />
herausgegeben und eingeleitet von Ulrich Horstmann, 2. Auflage, Waltrop und Leipzig.<br />
Marquard, Odo (1986): „Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen“, in:<br />
ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart, 33–53.<br />
Müller-Seyfarth, Winfried H. (Hrsg.) (1993): „Die modernen Pessimisten <strong>als</strong> décadents“.<br />
Von Nietzsche zu Horstmann. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainländers<br />
Philosophie der Erlösung, Würzburg.<br />
ders. (2000): Metaphysik der Entropie. Philipp Mainländers transzendentale Analyse und ihre<br />
ethisch-metaphysische Relevanz, Berlin.<br />
ders. (Hrsg.) (2002): Was Philipp Mainländer ausmacht. Offenbacher Mainländer-<br />
Symposium 2001, Würzburg.
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Pauen, Michael (1997): Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von<br />
Nietzsche bis Spengler, Berlin.<br />
Reschika, Richard (2001): Philosophische Abenteurer. Elf Profile von der Renaissance bis zur<br />
Gegenwart, Tübingen.<br />
Schopenhauer, Arthur (1986): Sämtliche Werke. Band II: Die Welt <strong>als</strong> Wille und Vorstellung.<br />
Band II, Frankfurt a. M.<br />
Schulze, Gerhard (1995): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 5.<br />
Auflage, Frankfurt/New York.<br />
Weininger, Otto (1980): Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung,<br />
München.