Der sanfte Koloss - Polar-Reisen.ch
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Tierwelt<br />
<strong>Der</strong> <strong>sanfte</strong> <strong>Koloss</strong><br />
Walrosse ernähren si<strong>ch</strong> fast nur von kleinen Mus<strong>ch</strong>eln. Wie bringen sie die aus dem<br />
Boden? Mit ihren Stosszähnen, vermutete man bisher. Das stimmt ni<strong>ch</strong>t.<br />
<strong>Polar</strong> NEWS
Von Peter Balwin (Text)<br />
und Norbert Rosing (Bilder)<br />
Rund um den Nordpol lebt ein Tier, das es<br />
dem Mens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>on immer angetan hat –<br />
im guten wie im s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Sinne. Dabei<br />
kennen wir Mitteleuropäer dieses arktis<strong>ch</strong>e<br />
Charaktertier seit erst fünfhundert Jahren.<br />
Vielen, denen es vergönnt war, diesem Tier<br />
wenigstens einmal im Leben gegenüber zu<br />
stehen, begegnen ihm heute no<strong>ch</strong> mit einer<br />
undefinierbaren Mis<strong>ch</strong>ung aus Neugierde,<br />
Abneigung, Faszination und einem kleinen<br />
biss<strong>ch</strong>en widerwilligem S<strong>ch</strong>audern viellei<strong>ch</strong>t:<br />
das Walross!<br />
Die grösste Robbe der nördli<strong>ch</strong>en Halbkugel<br />
erhielt von Anbeginn ihrer Kontakte zu europäis<strong>ch</strong>en<br />
Seefahrern des 16. Jahrhunderts<br />
keine löbli<strong>ch</strong>en Attribute zugespro<strong>ch</strong>en. <strong>Der</strong><br />
erste Eindruck von einem Walross sei «kein<br />
günstiger», wusste Tierfors<strong>ch</strong>er Alfred<br />
Brehm selbst no<strong>ch</strong> in den 1870er-Jahren in<br />
seinem berühmten «Thierleben» zu beri<strong>ch</strong>ten.<br />
Das «ozeanis<strong>ch</strong>e Monsters<strong>ch</strong>wein» oder<br />
die «Meereskuh» trug «sta<strong>ch</strong>lige Bürsten<br />
rund um sein O<strong>ch</strong>senmaul» (1671) und regte<br />
die Phantasie der damaligen Entdecker<br />
regelre<strong>ch</strong>t an. Das «Seepferd mit zwei langen,<br />
abstehenden Zähnen» (Holland, 1578)<br />
«klettert mit seinen Zähnen auf die Gipfel<br />
der Felsen, von wo es si<strong>ch</strong> wieder zurück ins<br />
Meer wälzt – falls es ni<strong>ch</strong>t an den Felsen<br />
hängen bleibt, vom S<strong>ch</strong>lafe überras<strong>ch</strong>t»<br />
(Olaus Magnus, 1539).<br />
Bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert hatte<br />
no<strong>ch</strong> kaum jemand bei uns ein e<strong>ch</strong>tes<br />
Walross gesehen – oder als sol<strong>ch</strong>es erkannt.<br />
Die markanten Stosszähne dieser riesigen<br />
Robbe hingegen waren seit dem 9.<br />
Jahrhundert begehrte Handelsobjekte. So<br />
etwa zahlte das Bistum der Wikinger auf<br />
Grönland 1282 seinen Zehnten an Rom in<br />
O<strong>ch</strong>senhäuten, Robbenfellen und –<br />
Walrosszähnen. Im Jahre 1520 wollte ein<br />
Bis<strong>ch</strong>of im norwegis<strong>ch</strong>en Trondheim wohl<br />
besonders gut dastehen, indem er ni<strong>ch</strong>t nur<br />
die Zähne des Walrosses na<strong>ch</strong> Rom lieferte,<br />
sondern glei<strong>ch</strong> den ganzen eingesalzenen<br />
Kopf an Papst Leo X. spedierte. Jener<br />
Walrosskopf, unterwegs in die Heilige Stadt,<br />
wurde via Strassburg befördert, wo ihn der<br />
Maler Albre<strong>ch</strong>t Dürer meisterhaft abzei<strong>ch</strong>nete<br />
und so den wissbegierigen Mens<strong>ch</strong>en<br />
Europas zum ersten Mal eine brau<strong>ch</strong>bare<br />
Darstellung dieses «Ungeheuers» lieferte.<br />
Mit der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem s<strong>ch</strong>nelleren Weg<br />
zu den Gewürzinseln im Fernen Osten sta<strong>ch</strong>en<br />
im 16. und 17. Jahrhundert immer mehr<br />
europäis<strong>ch</strong>e Expeditionen in See und nahmen<br />
Kurs in die Arktis. Den ersehnten<br />
Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lupf na<strong>ch</strong> Japan fanden sie allerdings<br />
dann no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, aber jede dieser oft<br />
tragis<strong>ch</strong> verlaufenden S<strong>ch</strong>iffsreisen lüftete<br />
den S<strong>ch</strong>leier des Unbekannten über der<br />
Arktis mehr und mehr. Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten über<br />
neue Inseln, fremdartige Mens<strong>ch</strong>en und seltsame<br />
Tiere errei<strong>ch</strong>ten die Handelsherren in<br />
Europa. Und die ersten gefangenen «Wal -<br />
pferde» fanden ihren Weg wiederholt und<br />
unfreiwillig zu den staunenden Aristokraten,<br />
das erste na<strong>ch</strong>weisli<strong>ch</strong> im Jahre 1608.<br />
Damals jedo<strong>ch</strong> versetzte ni<strong>ch</strong>t das Walross<br />
die Kommerzialräte, Navigatoren und Com -<br />
pa nien in Aufregung, sondern die Meldung<br />
von arktis<strong>ch</strong>en Meeren, in denen es vor lauter<br />
Wal-Leibern zu brodeln s<strong>ch</strong>ien. Die Jagd<br />
auf Wale in Spitzbergen und Grönland galt<br />
damit als eröffnet, mit den bekannten tragis<strong>ch</strong>en<br />
Konsequenzen für die Walpopu -<br />
lationen, die wir heute, 400 Jahre später,<br />
immer no<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong> wahrnehmen können.<br />
Erst als es bald keine Wale mehr zu erlegen<br />
gab, wandte man si<strong>ch</strong> notgedrungen anderen<br />
Tierarten zu – und das Walross geriet ins<br />
Visier der erbarmungslosen Robbenjäger.<br />
«Sie werden alleine umb der Zähne gefangen»,<br />
gibt Frideri<strong>ch</strong> Martens in seiner<br />
Reisebes<strong>ch</strong>reibung von 1671 zu. Und weiter<br />
s<strong>ch</strong>reibt er: «Wann der Wall Ross getödtet<br />
ist, hauet man ihm den Kopf abe, den Leib<br />
lassen sie liegen oder lassen ihn im Wasser<br />
treiben. Den Kopf nehmen sie mit an das<br />
S<strong>ch</strong>iff, da werden die Zähne aussgehauen,<br />
die zwo grossen Zahn gehören den Redern<br />
oder Kauffleuten des S<strong>ch</strong>iffes, die kleinen<br />
Backen-Zähn werden wenig gea<strong>ch</strong>tet.»<br />
<strong>Der</strong> Zahnläufer als Ziels<strong>ch</strong>eibe<br />
Die Gier na<strong>ch</strong> diesen beiden hauerartig verlängerten<br />
oberen Eckzähnen ma<strong>ch</strong>te den<br />
Walrossen beinahe den Garaus. Diese Zähne<br />
lieferten das von alters her begehrte Elfen -<br />
bein für S<strong>ch</strong>nitzereien, wel<strong>ch</strong>es über Jahr -<br />
hunderte hinweg gesu<strong>ch</strong>t war, weshalb das<br />
Walross weit oben stehen blieb auf der Jagd -<br />
liste europäis<strong>ch</strong>er und nordamerikanis<strong>ch</strong>er<br />
Ges<strong>ch</strong>äftsleute. Man s<strong>ch</strong>ätzt, dass es in<br />
Nordamerika und dem europäis<strong>ch</strong>en Nord -<br />
polar gebiet viele hunderttausend Walrosse<br />
gegeben haben musste, bevor die Europäer<br />
die Neue Welt entdeckten.<br />
Im späten 18. Jahrhundert, als der Walfang<br />
zu Ende ging, begann die kommerzielle Jagd<br />
auf Walrosse. Ni<strong>ch</strong>t nur das Elfenbein der<br />
Hauer war begehrt. Walrosse mit ihrer bis zu<br />
zehn Zentimeter dicken Specks<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t lieferten<br />
Öl. Und au<strong>ch</strong> die zwei bis vier Zenti -<br />
Wenn si<strong>ch</strong> ein Eisbär einer Walrossherde nähert, kann s<strong>ch</strong>on mal Panik ausbre<strong>ch</strong>en. Dann stürzen si<strong>ch</strong> die Tiere Hals über Kopf ins Wasser.<br />
meter starke Haut wurde verwertet; unter<br />
anderem stellte man daraus Treibriemen für<br />
Mas<strong>ch</strong>inen her. Se<strong>ch</strong>zig oder mehr Männer<br />
könnten an einem Walross-Lederriemen ziehen,<br />
ohne ihn zu zerreissen, heisst es in<br />
einem Dokument aus dem 13. Jahrhundert.<br />
Das Abs<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten nahm ein ungeheuerli<strong>ch</strong>es<br />
Ausmass an. Bis zur Mitte des 20. Jahr -<br />
hunderts ist die gesamte Population des<br />
Atlantis<strong>ch</strong>en Walrosses (Odobenus rosmarus<br />
rosmarus) in jedem Winkel seines Ver -<br />
breitungsgebietes beinahe völlig ausgerottet<br />
worden. Die Gesetze zum S<strong>ch</strong>utz dieser <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>en<br />
Robbe in den vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Anrainerstaaten der Arktis kamen fast zu<br />
spät. Als Erste erkannten die Russen den<br />
Ernst der Lage und erliessen bereits 1921<br />
Jagdvors<strong>ch</strong>riften, wel<strong>ch</strong>e 1956 no<strong>ch</strong> ausgeweitet<br />
wurden, so dass seither nur no<strong>ch</strong> die<br />
Ureinwohner Russlands, für wel<strong>ch</strong>e die Jagd<br />
Lebensgrundlage ist, dort in bes<strong>ch</strong>ränktem<br />
Masse Walrossen na<strong>ch</strong>stellen dürfen.<br />
Ähnli<strong>ch</strong>es gilt au<strong>ch</strong> für Grönland, an dessen<br />
wilder Ostküste 1956 ein vollständiges Jagd -<br />
verbot für Walrosse verhängt wurde. Trotz -<br />
dem werden heute no<strong>ch</strong> jedes Jahr 20 bis 30<br />
dieser Tiere erlegt. An der grönländis<strong>ch</strong>en<br />
Westküste hingegen ist eine na<strong>ch</strong>haltige Jagd<br />
für Einheimis<strong>ch</strong>e erlaubt. Kanada zog An -<br />
fang der dreissiger Jahre na<strong>ch</strong>, und in Alaska<br />
ist die Jagd heute den Ureinwohnern (Indi -<br />
anern, Aleuten und Eskimos) vorbehalten.<br />
In Spitzbergen sind diese Tiere seit 1952<br />
vollständig ges<strong>ch</strong>ützt, als klar wurde, dass<br />
damals dort gerade mal rund hundert<br />
Walrosse das Gemetzel überlebt hatten.<br />
Abgesehen von denjenigen Walrossen, die<br />
heute no<strong>ch</strong> Jagdopfer der indigenen Völker<br />
werden, kann si<strong>ch</strong> der urtümli<strong>ch</strong>e «Zahn -<br />
läufer», wie Odobenus auf Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong> heisst,<br />
heute endli<strong>ch</strong> wieder unbekümmert an den<br />
Stränden der kalten Küsten ausruhen. Seit<br />
gut einem dreiviertel Jahrhundert stehen die<br />
Vertreter der beiden Walross-Unterarten, des<br />
Atlantis<strong>ch</strong>en und des Pazifis<strong>ch</strong>en, mehr oder<br />
minder unter S<strong>ch</strong>utz.<br />
S<strong>ch</strong>wergewi<strong>ch</strong>tige Unterarten<br />
Und jetzt bemerken wir Mens<strong>ch</strong>en, dass wir<br />
von diesem Tier, das so lange verfolgt wurde,<br />
no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t alles aus seinem spannenden<br />
Leben kennen. Dabei tummelten si<strong>ch</strong> die<br />
ersten Walrosse bereits vor 18 Millio nen<br />
Jahren in den Gewässern des frühen<br />
Miozäns. No<strong>ch</strong> vor etwa 2000 Jahren gehörte<br />
das Walross zur ganz normalen Tierwelt<br />
der Nordsee, wohin es si<strong>ch</strong>, nota bene, hin<br />
und wieder immer no<strong>ch</strong> zurück verirrt: Aus<br />
dem 20. Jahrhundert gibt es se<strong>ch</strong>s gemeldete<br />
Walross-Beoba<strong>ch</strong>tungen aus der Nordsee.<br />
Während Zoologen – hätte es sie dann s<strong>ch</strong>on<br />
gegeben – in prähistoris<strong>ch</strong>er Zeit 13 Arten<br />
des Walrosses hätten unters<strong>ch</strong>eiden können,<br />
Brehm bes<strong>ch</strong>rieb die Tasthaare einst abs<strong>ch</strong>ätzig als «sta<strong>ch</strong>elige Bürsten rund um sein O<strong>ch</strong>senmaul».<br />
Ri<strong>ch</strong>tig ist: Sie sind ein ho<strong>ch</strong>sensibles Instrument für die Nahrungssu<strong>ch</strong>e.<br />
kommt heute nur mehr eine Art vor, das<br />
Walross eben, oder Odobenus rosmarus.<br />
Allerdings unters<strong>ch</strong>eiden Fa<strong>ch</strong>leute zwei<br />
Unterarten, deren Trennung gute 500’000<br />
bis 785’000 Jahre zurück liegt und deren<br />
körperli<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede selbst für Laien<br />
erkennbar sind.<br />
Da sind zum einen die 20’000 bis 30’000<br />
Individuen des Atlantis<strong>ch</strong>en Walrosses<br />
(Odobenus rosmarus rosmarus) «unserer»<br />
Region. Sein Lebensraum rei<strong>ch</strong>t von der<br />
zentralen kanadis<strong>ch</strong>en Arktis über Grönland<br />
und Spitzbergen bis zur russis<strong>ch</strong>en Karasee<br />
östli<strong>ch</strong> von Nowaja Semlja. Während die 3,5<br />
Meter langen Männ<strong>ch</strong>en bis 1500 Kilo -<br />
gramm auf die Waage bringen, s<strong>ch</strong>einen die<br />
Weib<strong>ch</strong>en mit ihrer Körperlänge von 2,5<br />
Metern und einem Gewi<strong>ch</strong>t von 700 bis 900<br />
Kilogramm geradezu zierli<strong>ch</strong>. No<strong>ch</strong> weiter<br />
östli<strong>ch</strong> an der Nordküste Sibiriens stösst man<br />
auf das Laptev-Walross (Odobenus rosmarus<br />
laptevi), wel<strong>ch</strong>es man<strong>ch</strong>mal als dritte Unter -<br />
art angeführt wird.<br />
Zum anderen leben in der Region der Beringstrasse<br />
zwis<strong>ch</strong>en Russland und Alaska etwa<br />
200’000 Tiere, die zur Unterart des Pazi fi -<br />
s<strong>ch</strong>en Walrosses (Odobenus rosmarus divergens)<br />
gehören. Sie sind merkli<strong>ch</strong> grösser als<br />
ihre europäis<strong>ch</strong>en Artver wandten. Ein<br />
Männ<strong>ch</strong>en bringt dort s<strong>ch</strong>nell mal 1700<br />
Kilogramm auf die Waage und errei<strong>ch</strong>t eine<br />
Körperlänge von 4 Metern. Au<strong>ch</strong> die Zähne<br />
sind beim Pazifis<strong>ch</strong>en Walross länger und<br />
ers<strong>ch</strong>einen deshalb s<strong>ch</strong>ön auseinander gebogen<br />
oder weggedreht (lateinis<strong>ch</strong> divergens).<br />
Typis<strong>ch</strong> für diese Unterart sind die Fotos, die<br />
wir alle s<strong>ch</strong>on irgendwo einmal gesehen<br />
haben: Weite Strände, von denen man<br />
eigentli<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>ts sieht – weil jeder Qua -<br />
dratmeter von einem dicken, rosaroten<br />
Walross belegt ist und si<strong>ch</strong> Tausende dieser<br />
Tiere ins Bild drängeln...<br />
Wedeln beim Essen<br />
Walrosse ernähren si<strong>ch</strong> hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> von<br />
eher kleinen Lebewesen des Meeresgrundes<br />
(des Benthals). So stehen etwa benthis<strong>ch</strong>e<br />
Wirbellose wie zweis<strong>ch</strong>alige Mus<strong>ch</strong>eln (zum<br />
Beispiel die Felsenbohrmus<strong>ch</strong>el, au<strong>ch</strong><br />
Nordis<strong>ch</strong>er Steinbohrer genannt) ganz oben<br />
auf der Menükarte. Für Abwe<strong>ch</strong>slung auf<br />
dem Speisezettel sorgen Tintenfis<strong>ch</strong>e,<br />
<strong>Polar</strong>dors<strong>ch</strong>, Würmer, Krabben und Floh -<br />
krebse, Seegurken – und ab und zu eine<br />
Ringelrobbe.<br />
Ni<strong>ch</strong>ts geht einem Walross aber über seine<br />
geliebten Mus<strong>ch</strong>eln. S<strong>ch</strong>ätzungen zufolge<br />
konsumiert ein Walross dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittli<strong>ch</strong> 6,2<br />
Prozent seines Körpergewi<strong>ch</strong>tes dur<strong>ch</strong> den<br />
Verzehr von wirbellosen Tieren des Meeres -<br />
grundes. Umgere<strong>ch</strong>net heisst das, dass ein<br />
1000 Kilogramm wiegendes Walross jeden<br />
Tag 180 bis 240 Kilogramm an Mus<strong>ch</strong>eln<br />
auss<strong>ch</strong>lürfen muss, um an die notwendige<br />
tägli<strong>ch</strong>e Ration von 60 Kilogramm wei<strong>ch</strong>em<br />
Mus<strong>ch</strong>elfleis<strong>ch</strong> zu gelangen. Zu diesem<br />
Zweck muss ein Walross zwis<strong>ch</strong>en 4000 und<br />
6000 Mus<strong>ch</strong>eln pro Tag aufspüren. Führen<br />
wir dieses Unterwasserre<strong>ch</strong>nen no<strong>ch</strong> etwas<br />
weiter, so kommen wir auf die stolze Zahl<br />
von 8900 Tonnen Nahrung, wel<strong>ch</strong>e allein die<br />
gesamte Population des Pazifis<strong>ch</strong>en Wal -<br />
rosses in der Region des Beringmeeres jeden<br />
Tag vers<strong>ch</strong>lingt – oder 3,2 Millionen Tonnen<br />
pro Jahr.<br />
Weil si<strong>ch</strong> die Mahlzeiten in den obersten,<br />
s<strong>ch</strong>lammigen S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten des Meeresbodens<br />
verstecken, muss ein Walross gehörig Staub<br />
aufwirbeln, um an sein Mittagessen zu<br />
gelangen. Die Nahrungssu<strong>ch</strong>e des Walrosses »<br />
8<br />
<strong>Polar</strong> NEWS<br />
<strong>Polar</strong> NEWS 9
Eckzähnen ausgraben, ist fals<strong>ch</strong> und längst<br />
widerlegt. Die Zähne dienen als Waffen,<br />
haben eine soziale Signalfunktion, sind dienli<strong>ch</strong><br />
beim Heraushieven auf eine Eiss<strong>ch</strong>olle,<br />
vergrössern im Nu ein Atemlo<strong>ch</strong> im Packeis<br />
oder geben ein praktis<strong>ch</strong>es «Kopfkissen» ab<br />
bei plötzli<strong>ch</strong>en Müdigkeitsanfällen an Land.<br />
Und dorthin kommt ein Walross nur, um si<strong>ch</strong><br />
auszuruhen, denn das Leben ausserhalb des<br />
Wassers ist für eine derart s<strong>ch</strong>were, plumpe<br />
Robbe gar ni<strong>ch</strong>t lustig. Walross-Ruhepätze<br />
findet man denn au<strong>ch</strong> nur an fla<strong>ch</strong>en arktis<strong>ch</strong>en<br />
Stränden, meist nahe bei guten<br />
Nahrungsgebieten in sei<strong>ch</strong>ten Meeres regio -<br />
nen und nur wenige Dutzend Meter vom<br />
Meer entfernt.<br />
An Land wirken Walrosse plump und s<strong>ch</strong>werfällig. Do<strong>ch</strong> im Wasser manövrieren sie flink und s<strong>ch</strong>nell.<br />
Dann geht man ihnen si<strong>ch</strong>erheitshalber besser aus dem Weg.<br />
am Meeresgrund führt deshalb ganz nebenbei<br />
dazu, dass grosse Mengen der oberen<br />
Sediments<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t stark umgepflügt werden.<br />
Dies wiederum könnte wesentli<strong>ch</strong> dazu beitragen,<br />
dass die Produktivität in den Nah -<br />
rungsgebieten der Walrosse mä<strong>ch</strong>tig angeheizt<br />
wird, weil dur<strong>ch</strong> das Pflügen Nähr -<br />
stoffe freigesetzt werden. Ohne das Zutun<br />
der Walrosse würden diese Stoffe im Boden -<br />
s<strong>ch</strong>lick einges<strong>ch</strong>lossen bleiben.<br />
Für ein Walross heisst essen also glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
au<strong>ch</strong> tau<strong>ch</strong>en. Das Meer sollte aber ni<strong>ch</strong>t<br />
tiefer als rund 80 Meter sein. Am Meeres -<br />
grund angekommen, bringt das Walross ein<br />
weiteres Merkmal seines ur<strong>ch</strong>igen Aus -<br />
sehens ins Spiel, die Tastborsten auf der<br />
Nase, au<strong>ch</strong> Vibrissae genannt. 600 bis 700<br />
sol<strong>ch</strong>er Nasenhaare – mehr als bei anderen<br />
Robben arten – zieren eine Walrosss<strong>ch</strong>nauze<br />
und geben dem Tier sein typis<strong>ch</strong> unrasiertes<br />
Äusseres.<br />
Diese Borsten sind empfindli<strong>ch</strong>e Organe,<br />
jede einzelne ist mit Nerven und Blutbahnen<br />
versorgt und an kleine Muskeln angehängt.<br />
Walrosse können die Tasthaare also gruppenweise<br />
bewegen und mit ihrer Hilfe Form<br />
und Grösse ihrer Beute erkennen. Dank<br />
Filmaufnahmen dur<strong>ch</strong> wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Tau<strong>ch</strong>er vor Ostgrönland konnte vor ein paar<br />
Jahren erstmals na<strong>ch</strong>gewiesen werden, wie<br />
denn nun ein Walross an seine Nahrung<br />
gelangt.<br />
Erstaunli<strong>ch</strong>es Ergebnis dieses Fors<strong>ch</strong>ungs -<br />
projektes: Walrosse neigen dazu, während<br />
der Nahrungssu<strong>ch</strong>e vor allem die re<strong>ch</strong>te<br />
Vorderflosse zu benutzen. Damit wedeln sie<br />
die Sediments<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t weg und legen so die<br />
Mus<strong>ch</strong>eln frei. Diese Beoba<strong>ch</strong>tung wurde<br />
no<strong>ch</strong> erhärtet dur<strong>ch</strong> Messungen an gut zwei<br />
Dutzend Walrossskeletten aus Museums -<br />
sammlungen. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, bei allen waren<br />
die vorderen Gliedmassen (S<strong>ch</strong>ulterblatt,<br />
Oberarmkno<strong>ch</strong>en, Elle) re<strong>ch</strong>ts bedeutend<br />
länger als links.<br />
Neben dieser bevorzugten Methode, ihre<br />
Nahrung freizulegen, benutzen Walrosse<br />
au<strong>ch</strong> öfters mal die linke Vorderflosse, produzieren<br />
mit dem Mund einen extrem starken<br />
Wasserstrahl oder ruts<strong>ch</strong>en auf der<br />
S<strong>ch</strong>nauze dur<strong>ch</strong>s Sediment – womit man den<br />
alten Grie<strong>ch</strong>en wieder Re<strong>ch</strong>t geben muss:<br />
Odobenus, der Zahnläufer...<br />
Und die Hauer? Die alte Meinung, Walrosse<br />
würden ihre Nahrung mit den mä<strong>ch</strong>tigen<br />
Lange Tragzeit und Aufzu<strong>ch</strong>t<br />
Im Sommer kehren diese leistungsstarken<br />
S<strong>ch</strong>wimmer na<strong>ch</strong> einem opulenten Mus<strong>ch</strong>el -<br />
mahl beinahe weisshäutig zu einem Ruhe -<br />
platz zurück, wo sie di<strong>ch</strong>t an di<strong>ch</strong>t gedrängt,<br />
zu Dutzenden bis zu Tausenden friedli<strong>ch</strong> an<br />
der arktis<strong>ch</strong>en Sonne dösen. S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> kurzer<br />
Zeit sind die dicken Speck- und Haut -<br />
s<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten wieder wohlig dur<strong>ch</strong>blutet, und die<br />
Tiere nehmen eine rosarote Farbe an. Im<br />
Winter allerdings leben Walrosse südli<strong>ch</strong><br />
ihrer dann vereisten Sommerplätze, weit im<br />
Meer, an der Grenze des Packeises.<br />
Irgendwo dort draussen im Eismeer, während<br />
des düster-dämmrigen <strong>Polar</strong>winters,<br />
paaren si<strong>ch</strong> die Walrosse. Es dauert 15 bis 16<br />
Monate, bis das Walrossbaby geboren wird,<br />
worauf es gute zwei Jahre gestillt wird – mit<br />
ein Grund, weshalb Walross-Weib<strong>ch</strong>en nur<br />
alle zwei bis drei Jahre ein Junges austragen<br />
können. Bei keiner anderen Robbenart ist<br />
die Fortpflanzungsrate derart tief.<br />
Und wenn man nun einem Walross lange<br />
genug in seine kleinen, kurzsi<strong>ch</strong>tigen, roten<br />
Augen blickt, an seine traurige Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
und sein faszinierendes Leben denkt, dann<br />
wird man «diese ungeheuerli<strong>ch</strong>ste aller<br />
Robben» (Brehms «Thierleben») unwillkürli<strong>ch</strong><br />
in sein Herz s<strong>ch</strong>liessen.<br />
<strong>Polar</strong>NEWS<br />
Walross-Webtipps:<br />
Auf einer Internetseite des US Geological<br />
Survey lassen si<strong>ch</strong> kürzli<strong>ch</strong> besenderte<br />
Walrosse im Beringmeer verfolgen:<br />
http://alaska.usgs.gov/science/biology/<br />
walrus/2008animation.html.<br />
Zurzeit können im Internet unter<br />
www.biomedcentral.com/1472-6785/3/9,<br />
dort im Kapitel «Results», zwei Film -<br />
sequenzen herunter geladen werden, wel<strong>ch</strong>e<br />
die eigentümli<strong>ch</strong>e Nahrungssu<strong>ch</strong>e<br />
eines Walrosses auf dem Meeresgrund<br />
vor Ostgrönland verans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>en.<br />
10 <strong>Polar</strong> NEWS<br />
<strong>Polar</strong> NEWS<br />
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