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Gesundheit – höchstes Gut? - Evangelische Diakonissenanstalt ...

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Definitionen von <strong>Gesundheit</strong><br />

<strong>Gesundheit</strong> ist „der Zustand vollständigen<br />

körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens<br />

und nicht nur das Freisein von<br />

Krankheit und Gebrechen“.<br />

Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />

Ob jemand gesund ist, hängt davon ab, wie<br />

viele Untersuchungen man macht. Macht man<br />

5 Untersuchungen, so sind noch 90 Prozent<br />

gesund, macht man 10 Untersuchungen, sind<br />

noch 80 Prozent gesund, und macht man 20<br />

Untersuchungen, nur noch 36 Prozent!<br />

Man könnte sagen, gesund ist eine Person,<br />

die nicht ausreichend untersucht ist.<br />

Rudolf Gross, Internist<br />

<strong>Gesundheit</strong> ist die Kraft zum Menschsein.<br />

Karl Barth, Theologe<br />

Gesund ist ein Mensch, der einigermaßen<br />

mit seinen Krankheiten glücklich leben kann.<br />

Ein alter Hausarzt aus der Eifel<br />

In dem Augenblick, in dem ein Mensch den<br />

Sinn und Wert des Lebens bezweifelt, ist er<br />

krank.<br />

Sigmund Freud, Psychotherapeut<br />

1/2008<br />

Diakonie und Kommunikation<br />

<strong>Gesundheit</strong> – höchstes <strong>Gut</strong>?<br />

Thematische Predigtreihe in der <strong>Evangelische</strong>n<br />

<strong>Diakonissenanstalt</strong> Stuttgart


G e s u n D h e I t – h ö c h s t e s G u t<br />

I N H A L T<br />

1. Juni 2008<br />

Was heißt heil sein?<br />

Psalm 6,3­10<br />

Pfarrer z. A. Philipp Geißler ..... 4<br />

8. Juni 2008<br />

„Ich mach dich gesund…“.<br />

Macht und Ohnmacht in der<br />

Medizin<br />

Pfarrer Ralf Horndasch,<br />

Dr. Heinz­Georg Emunds........... 8<br />

15. Juni 2008<br />

Heilung – mehr als der Gang<br />

zum Arzt. Markus 2,1­12<br />

Pfarrerin Ursula Ziehfuß ......... 14<br />

22. Juni 2008<br />

Was ist jetzt noch drin?<br />

Jeremia 45,1­5<br />

Pfarrerin Claudia Lempp ......... 20<br />

29. Juni 2008<br />

<strong>Gesundheit</strong> – höchstes <strong>Gut</strong>?<br />

Lukas 17,11­19<br />

Pfarrer Dr. Gottfried Claß,<br />

Dr. Axel Necker,<br />

Frank Weberheinz ................... 25<br />

Impressum:<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Evangelische</strong> <strong>Diakonissenanstalt</strong> Stuttgart<br />

Pfarrer Dr. Gottfried Claß<br />

Rosenbergstraße 40<br />

70176 Stuttgart<br />

E-Mail: info@diak-stuttgart.de<br />

www.diak-stuttgart.de<br />

Telefon: 0711/991-1045<br />

Redaktion:<br />

Frank Weberheinz<br />

Gestaltung:<br />

soldan kommunikation, Stuttgart<br />

Druck:<br />

J. F. Steinkopf Druck GmbH, Stuttgart<br />

Spendenkonto:<br />

<strong>Evangelische</strong> Kreditgenossenschaft,<br />

Konto-Nr. 405 027, BLZ 520 604 10<br />

Für eine Spende sind wir dankbar!<br />

P r e D I G t r e I h e I n D e r D I a K o n I s s e n K I r c h e


P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Liebe Leserin, lieber Leser!<br />

„<strong>Gesundheit</strong> – höchstes <strong>Gut</strong>?“<br />

– mit dieser Frage setzten wir uns im<br />

Juni 2008 in einer Gottesdienstreihe<br />

der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Diakonissenanstalt</strong><br />

Stuttgart auseinander. Wir wollten<br />

den Impuls der ökumenischen „Woche<br />

für das Leben“ aufgreifen, die diese<br />

Fragestellung für 2008 zum Leitthema<br />

gemacht hat.<br />

Eine Besonderheit: An zwei Sonntagen<br />

waren Ärzte vom Diakonie­Klinikum<br />

Stuttgart aktiv an der Vorbereitung und<br />

Durchführung der Gottesdienste mitbeteiligt;<br />

die Predigten gewannen so den<br />

Charakter von Predigtgesprächen. Dieses<br />

Experiment hat sich als sehr lohnend<br />

erwiesen.<br />

<strong>Gesundheit</strong> ist ein kostbares Geschenk<br />

– ein hohes <strong>Gut</strong>! Gerade deshalb<br />

greifen gesundheitliche Krisen tief<br />

ins eigene Leben ein. Das weiß man<br />

an einem Ort wie der <strong>Evangelische</strong>n<br />

<strong>Diakonissenanstalt</strong>, die sich von ihren<br />

Ursprüngen her der medizinischen Behandlung,<br />

Pflege und seelsorgerlichen<br />

Begleitung von Kranken verpflichtet<br />

weiß, in besonderer Weise.<br />

Aber darf man so weit gehen und<br />

<strong>Gesundheit</strong> zum höchsten <strong>Gut</strong> erklären?<br />

„Hauptsache gesund!“ – so heißt<br />

es häufig bei der Geburt eines Kindes<br />

oder anlässlich von Geburtstagen.<br />

Aber was bedeutet das für Eltern,<br />

die ein behindertes Kind bekommen<br />

oder Menschen, die mit einer chronischen<br />

Erkrankung leben müssen? Der<br />

christliche Glaube wehrt der Tendenz,<br />

die <strong>Gesundheit</strong> zur Hauptsache, zum<br />

höchsten <strong>Gut</strong> zu machen. Stattdessen<br />

verweist er uns auf Gottes Liebe zu<br />

uns Menschen, die nicht an unseren<br />

körperlichen oder geistigen Zustand<br />

geknüpft ist, sondern uns bedingungslos<br />

gilt. Gerade darum kann sie uns<br />

durch das Auf und Ab unseres Lebens<br />

tragen. Sie ist das höchste <strong>Gut</strong>!<br />

Diese thematische Predigtreihe hat<br />

Aufmerksamkeit hervorgerufen und<br />

immer wieder wurde der Wunsch geäußert,<br />

die Beiträge nochmals nachlesen<br />

zu können. Diesen Wunsch erfüllen wir<br />

gerne. Der Charakter der mündlichen<br />

Rede wurde weitgehend beibehalten.<br />

Für einen kleinen Unkostenbeitrag<br />

sind wir dankbar.<br />

Freundliche Grüße<br />

Ihr<br />

Pfarrer Dr. Gottfried Claß<br />

Direktor der Evang.<br />

<strong>Diakonissenanstalt</strong> Stuttgart


1. Juni 2008<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Was heißt heil sein? Psalm 6,3-10<br />

Pfarrer z. a. Philipp geißler, seelsorger am diakonie-klinikum<br />

Herr, sei mir gnädig, denn ich bin<br />

welk; heile mich, denn meine Gebeine<br />

sind erstarrt und meine Seele ist über die<br />

Maßen entsetzt. Ach Du, Herr, wie lange!<br />

Wende Dich, Herr, und errette mich,<br />

hilf mir um Deiner Gnade willen! Denn<br />

im Tode gedenkt man Deiner nicht; wer<br />

wird Dir bei den Toten danken?<br />

Ich bin so müde vom seufzen; ich<br />

schwemme mein Bett die ganz Nacht<br />

und netze mit Tränen mein Lager. Mein<br />

Auge ist trübe geworden vor Gram und<br />

matt, weil meiner Bedränger so viele<br />

sind.<br />

Weichet von mir, alle Übeltäter;<br />

denn der Herr hört mein Weinen. Der<br />

Herr hört mein Flehen; mein Gebet<br />

nimmt der Herr an.<br />

Liebe Schwestern und Brüder,<br />

liebe Gemeinde!<br />

Haben Sie im Supermarkt auch<br />

schon mal Äpfel gekauft? Und haben<br />

Sie dabei auch festgestellt, dass manche<br />

dieser Äpfel viel besser aussehen<br />

als sie schmecken? Ihre Schale ist oft<br />

makellos, glatt und glänzend; viele<br />

sehen so frisch und knackig aus, dass<br />

man am liebsten gleich hinein beißen<br />

möchte! Also kauft man sich einen solchen<br />

Apfel, beißt hinein – und merkt:<br />

er schmeckt nach gar nichts. Jetzt ist<br />

klar: Zu einem guten Apfel gehört mehr<br />

als sein „gesundes“ Erscheinungsbild.<br />

Doch trotzdem werden Äpfel vor<br />

allem darauf getrimmt, makellos auszusehen.<br />

Ansonsten werden sie aussortiert.<br />

Nach dem Geschmack des Apfels<br />

wird nicht gefragt; es interessiert<br />

nicht, ob dieser Apfel vielleicht mehr<br />

Vitamine hat als andere, ob er sich gut<br />

lagern lässt und ob er sich besser für<br />

Apfelkuchen eignet als andere. All das<br />

zählt nicht, denn er hat kein gesundes<br />

Erscheinungsbild. Wahrscheinlich<br />

ahnen Sie schon, dass meine Rede von<br />

den Äpfeln nur ein Bild für ein Phänomen<br />

ist, das sich in den vergangenen<br />

15 Jahren in unserer Gesellschaft<br />

ausgebreitet hat: dem Phänomen, dass<br />

<strong>Gesundheit</strong> das Hauptkriterium unserer<br />

Zeit geworden ist.<br />

In den Medien ist das Thema<br />

„<strong>Gesundheit</strong>“ allgegenwärtig:<br />

Yoghurtproduzenten bewerben ein<br />

Produkt, das den Darm gesund erhält.<br />

Ein Fernsehmagazin zeigt die besten<br />

Übungen für einen flachen Bauch und<br />

einen gesunden Rücken. Krankenversicherer<br />

ängstigen mit dem Verlust der<br />

<strong>Gesundheit</strong>. Ein neuer Diätdrink hilft<br />

beim gesunden Abnehmen. Und erst<br />

in der vergangenen Woche berichtete<br />

ein bekanntes Nachrichtenmagazin<br />

darüber, dass immer mehr Manager,<br />

Studenten, Schauspieler ... sich mit<br />

Dopingmitteln fit und gesund halten,<br />

um im Alltag so leistungsfähig wie<br />

möglich zu sein.<br />

Verstehen Sie mich nicht falsch!<br />

<strong>Gesundheit</strong> ist ein hohes <strong>Gut</strong> und<br />

besonders an einem Ort wie dem Krankenhaus<br />

ist körperliche <strong>Gesundheit</strong><br />

etwas höchst Erwünschtes! Denn hier<br />

ringen Menschen, unterstützt und<br />

begleitet von Pflegekräften und Ärzten,<br />

um ihre Genesung. – Wenn es aber<br />

in einer Gesellschaft so weit kommt,<br />

dass alleine die körperliche Leistungsfähigkeit<br />

darüber entscheidet, ob ein<br />

Mensch sich noch als aktives Glied der<br />

Gemeinschaft betrachten darf, dann ist<br />

etwas ganz gewaltig in die Schieflage<br />

gekommen: „Mit meiner Schmerztherapie<br />

liege ich doch allen da draußen auf<br />

der Tasche.“<br />

„Ich weiß nicht, ob meine Mitarbeiter<br />

meine körperliche Einschränkung<br />

akzeptieren werden.“<br />

Nach dieser Krankheit kann ich in<br />

meiner Arbeitsgruppe sicherlich nicht<br />

mehr so einfach mithalten.“<br />

„Ich habe Angst, entlassen zu werden,<br />

weil ich nicht weiß, wer sich dann<br />

um mich kümmert.“<br />

All das sind Aussagen von Menschen,<br />

die nicht mehr der „gesundheitlichen<br />

Norm“ entsprechen und die<br />

deshalb drastische Einschränkungen in<br />

ihrem Leben befürchten. Die anderen<br />

Qualitäten dieser Personen und das,<br />

was sie sonst als Mensch ausmacht<br />

– das ist plötzlich nicht mehr von Interesse.<br />

Darf das sein?! Soll „<strong>Gesundheit</strong>“<br />

in diesem Sinne tatsächlich unser<br />

höchstes <strong>Gut</strong> sein?!<br />

Ich möchte dem <strong>Gesundheit</strong>sideal<br />

unserer Tage einen viel älteren und<br />

weitaus weniger werbewirksamen<br />

Begriff entgegenzustellen, und zwar<br />

den jüdisch­christlichen Begriff des<br />

„Heils“. Um es gleich vorweg zu sagen:<br />

Natürlich hat auch das „heil sein“ mit<br />

körperlicher Unversehrtheit zu tun.<br />

Doch im Unterschied zum <strong>Gesundheit</strong>sideal<br />

unserer Tage erschöpft es<br />

sich nicht darin. In unserem Predigtabschnitt<br />

lässt sich das deutlich<br />

erkennen; denn hier begegnet uns ein<br />

zutiefst angefochtener Mensch, der


g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Gott um Heilung bittet „Herr ... heile<br />

mich“, ruft er aus, und an seinen Klagen<br />

kann man erkennen, dass „heil<br />

sein“ für ihn deutlich mehr meint als<br />

der Begriff von <strong>Gesundheit</strong>, den ich<br />

Ihnen gerade vorgestellt habe.<br />

Natürlich klagt der Beter auch über<br />

das körperliche Leiden, das ihn gefangen<br />

hält – und er schildert dieses Leiden<br />

mit drastischen Worten: „ich bin<br />

welk, ... meine Gebeine sind erstarrt“<br />

und „mein Auge ist trüb vor Gram.“<br />

Und doch erschöpft sich sein Gebet<br />

nicht in der Schilderung des leiblichen<br />

Gebrechens. Seine Bitte um „Heilung“<br />

hat den ganzen Menschen im Blick.<br />

Heil hat für den Beter auch etwas mit<br />

geistlicher Unversehrtheit zu tun. Das<br />

zeigt sich daran, dass er Gott um die<br />

Beruhigung seiner geängsteten Seele<br />

bittet: „Heile mich Herr, denn meine<br />

Seele ist über die Maßen entsetzt<br />

... Ich bin so müde vom seufzen; ich<br />

schwemme mein Bett die ganz Nacht<br />

und netze mit Tränen mein Lager.“<br />

Dieser Ausruf macht klar, dass zum<br />

„heil sein“ nicht nur die Sorge um den<br />

Körper, sondern auch die Pflege des<br />

inneren Menschen gehört. „Heil sein“<br />

bedeutet, dass da jemand ist, der<br />

meine Ängste und Zweifel mit mir aushält<br />

und meine Trauer mit mir teilt. Wo<br />

Menschen erleben, wie sich jemand<br />

ihrer seelischen Not annimmt, da kann<br />

es sein, dass mitten im Unglück plötzlich<br />

die Hoffnung auf Heilung beginnt.<br />

Doch das ist noch nicht alles;<br />

denn neben der körperlichen und der<br />

geistlichen Dimension, schließt „heil<br />

sein“ auch die soziale Unversehrtheit<br />

mit ein: „Mein Auge ist trübe geworden<br />

vor Gram und matt, weil meiner<br />

Bedränger so viele sind. Weichet von<br />

mir, alle Übeltäter; denn der Herr hört<br />

mein Weinen.“ So klagt der Beter<br />

und gibt damit zu erkennen, dass der<br />

Umgang der Menschen untereinander<br />

in entscheidendem Maße zum persönlichen<br />

„Heil“ oder „Unheil“ beiträgt.<br />

Sein Ausruf weist darauf hin, dass ein<br />

Mensch für sich alleine gar nicht „heil“<br />

sein kann. „Heil“ hat immer auch<br />

etwas mit Achtsamkeit füreinander zu<br />

tun. Wo Menschen das erleben, dass<br />

ihre Mitmenschen sie stützen und<br />

stärken und ihre Einschränkungen und<br />

Gebrechen nicht gegen sie verwenden,<br />

da kann es sein, dass trotz aller Krankheit<br />

das Heil die Oberhand gewinnt.<br />

Und schließlich und nicht zuletzt<br />

hat „heil sein“ auch eine spirituelle<br />

Dimension; denn mehr noch als alles<br />

andere weiß sich der Beter unseres<br />

Psalms darauf angewiesen, dass Gott<br />

ihm beisteht und ihm gnädig ist. Nicht<br />

umsonst hebt der Psalmist mit der<br />

Bitte um die Gnade an.<br />

„Herr sei mir gnädig; denn ich bin<br />

schwach…“. So ruft er aus und zeigt<br />

damit an, dass „heil sein“ auch heißt,<br />

dass wir mit Gott im Reinen sind und<br />

seine Vergebung und seinen Beistand<br />

erfahren.<br />

Sie haben viel über <strong>Gesundheit</strong> gehört<br />

– und viel darüber, was es heißt<br />

„heil zu sein“. Nun frage ich Sie: Welches<br />

soll unser höchstes <strong>Gut</strong> sein? Die<br />

<strong>Gesundheit</strong> oder das Heil? Ich würde<br />

mir wünschen, es wäre das Heil. Denn<br />

das Heil erstreckt sich auf den ganzen<br />

Menschen. Nicht nur auf seinen Körper<br />

und seinen Geist, sondern auch auf die<br />

Beziehung zu seinen Mitgeschöpfen<br />

und seinem Gott.<br />

Zusammenfassend könnte man<br />

sagen: „Heil sein“ bezeichnet das Hin<br />

und Her einer liebenden Fürsorge zwischen<br />

Gott und den Menschen untereinander.<br />

Dabei geht es nicht in erster<br />

Linie darum, ob einer körperlich gesund<br />

ist oder nicht, ob er seine gesellschaftliche<br />

Funktion voll wahrnehmen kann<br />

oder nicht. Es geht vielmehr darum,<br />

dass wir untereinander darauf Acht<br />

haben, was unser Mitmensch braucht,<br />

um sich trotz aller Krankheit, Not und<br />

Anfechtung als ganzer, geliebter und<br />

angenommener Mensch fühlen zu<br />

können.<br />

Um eine solche Gemeinschaft des<br />

Heils zu errichten, reicht es freilich<br />

nicht, dass jeder und jede nur sich<br />

selbst gesund erhält und sich gegen<br />

<strong>Gesundheit</strong>srisiken absichert. Um im<br />

Bild vom Anfang zu sprechen: Es reicht<br />

nicht, nur die Schale meines Apfels<br />

zu polieren und zu hoffen, dass meine<br />

Mängel nicht so schnell entdeckt<br />

werden. Um eine Gemeinschaft aufzubauen,<br />

die in allen Nöten heilsam<br />

füreinander da sein will, braucht es<br />

Menschen, die zu ihren Schwächen,<br />

Fehlern und Gebrechen stehen, und die<br />

sich trotz ihrer eigenen Sorgen nicht<br />

davon abhalten lassen, so achtsam<br />

und fürsorglich zu sein wie sie können.<br />

Auch wenn es dabei Rückschläge gibt,<br />

können wir gewiss sein, dass wir in<br />

unseren Bemühungen nicht alleine<br />

sind. Denn „heil sein“ heißt auch: dass<br />

ich immer einen habe, dem ich mein<br />

Heil und mein Unheil zu Füßen legen<br />

kann. Der, zu dem wir kommen können,<br />

heißt Jesus Christus. Er ist selbst dann<br />

für uns da, wenn alles um uns herum<br />

im Unheil versinkt: „Kommt her zu mir<br />

alle, die Ihr mühselig und beladen seid,<br />

ich will Euch erquicken.“<br />

Amen.


8<br />

8. Juni 2008<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

„Ich mach dich gesund…“<br />

Macht und Ohnmacht in der Medizin<br />

Predigt im gespräch zwischen heinz-georg emunds, chirurgische klinik<br />

am diakonie-klinikum stuttgart und Pfarrer ralf horndasch, seelsorger<br />

am diakonie-klinikum stuttgart<br />

Liebe Gemeinde,<br />

liebe Hörerinnen und Hörer,<br />

als Klinikseelsorger im Diakonie­<br />

Klinikum begegne ich zum einen vielen<br />

kranken Menschen, die kommen, um<br />

Hilfe und Heilung zu finden. Und ich<br />

begleite Schwestern und Pfleger, Ärztinnen<br />

und Ärzte, die mit ihrem Können<br />

und ihrer Kompetenz kranke Menschen<br />

begleiten und therapieren. Ins Krankenhaus<br />

geht man, um gesund zu werden.<br />

Und es wäre schön, wenn es immer so<br />

einfach wäre: Ich mach dich gesund!<br />

Sie, lieber Herr Dr. Emunds, sind Oberarzt<br />

in der Chirurgischen Klinik des Diakonie­Klinikums.<br />

Wo liegen Ihre Arbeitsschwerpunkte<br />

im Diakonie­Klinikum?<br />

Herr Emunds:<br />

Im Diakonie­Klinikum Stuttgart bin<br />

ich seit März 2001 als Leitender Oberarzt<br />

der Chirurgischen Klinik mit dem<br />

besonderen Auftrag, ein Gefäßchirurgisches<br />

Zentrum aufzubauen.<br />

Herr Horndasch:<br />

„Macht und Ohnmacht in der Medizin“<br />

– so lautet der Titel unseres heutigen<br />

Gottesdienstes. Was hat Macht<br />

mit <strong>Gesundheit</strong> zu tun, so kann man<br />

vielleicht fragen. Zunächst hat in Zeiten<br />

des Krankseins ja mit einem Male eine<br />

Krankheit mit ihren Folgen für mich<br />

und mein Leben Macht über mich. Und<br />

wer krank ist, erfährt diese Macht der<br />

Krankheit unter Umständen sehr massiv.<br />

Die Frage ist dann immer auch: Wer<br />

hat eigentlich so viel Macht, gegen die<br />

Macht der Krankheit anzugehen?<br />

Macht zu haben – das bedeutet:<br />

ich kann etwas tun, ich habe Möglichkeiten,<br />

um gegen eine Krankheit vorzugehen,<br />

um zu helfen. Und beim Wort<br />

Macht klingt unter Umständen auch<br />

das Wort „Macher“ an, und die heutige<br />

moderne Medizin kann wirklich viel<br />

„machen“, hat „Macht“. Voller Bewunderung<br />

und Staunen stehe ich manches<br />

Mal vor den Möglichkeiten unserer<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

modernen Medizin. Was man da heute<br />

so alles „machen“ kann! So stellt es<br />

sich zumindest in der Theorie dar, und<br />

so wird es häufig – nicht zuletzt in den<br />

Medien – gesehen.<br />

Aber können Sie selbst, Dr. Emunds,<br />

mit dem Wort „Macht“ für ihren Arbeitsbereich<br />

überhaupt etwas anfangen?<br />

Herr Emunds:<br />

Das Wort „Macht“ hat im chirurgischen<br />

Alltag keine Bedeutung. Lassen<br />

Sie mich unser Handeln eher unter<br />

dem Begriff „Medicus curat – Deus<br />

sanat“ (Übersetzung: Ein Arzt behandelt<br />

– Gott heilt) skizzieren.<br />

Am Anfang des Medizinstudiums,<br />

wenn uns Anatomie, Physiologie und<br />

Biochemie gelehrt werden, wird einem<br />

sehr schnell klar, welches Wunderwerk<br />

Gott im menschlichen Organismus geschaffen<br />

hat. Er hat uns aber auch den<br />

Verstand und den Intellekt geschenkt,<br />

dieses Wunderwerk zu erforschen, auch<br />

mit dem Auftrag, die Erkenntnisse in seinem<br />

Sinne einzusetzen.<br />

Lassen Sie mich ein einfaches<br />

Beispiel aus der Chirurgischen Praxis<br />

anführen: Leistenbrüche können im<br />

Laufe eines Lebens u. a. durch schwere<br />

körperliche Arbeit entstehen. Schmerzen<br />

und Einklemmungserscheinungen<br />

führen den Patienten dann zum Arzt,<br />

zum Chirurgen. Schaut man dann auf<br />

die verschiedenen Möglichkeiten, die<br />

heutzutage im Chirurgischen Portfolio<br />

angeboten werden, so könnte man<br />

schnell den Eindruck gewinnen, der<br />

moderne Chirurg habe alle Macht,<br />

jeden Leistenbruch sicher und problemlos<br />

zu heilen. Aber gerade das<br />

umfangreiche Spektrum der operativen<br />

Möglichkeiten gibt eher wieder, dass<br />

der Chirurg kein Heiler, kein Mächtiger<br />

ist. Nicht die spezielle Nahttechnik<br />

oder der Einbau eines Netzes bedingt<br />

später die dauernde Festigkeit der Hernienreparation,<br />

sondern die Ausheilung<br />

des rekonstruierten Gewebes durch<br />

die Reparationskräfte des Körpers. Der<br />

Chirurg kann nur eine Hilfestellung<br />

zur Ausheilung geben. Im Übrigen hat<br />

man durch wissenschaftliche Analysen<br />

festgestellt, dass keine Methode sich<br />

im Hinblick auf die Rezidivquote allen<br />

überlegen erweist.<br />

Herr Horndasch:<br />

Macht wird einem meistens gegeben.<br />

Ein Herrscher gibt einem Minister<br />

Macht. In einer Demokratie gibt das<br />

Volk den Regierenden Macht. Wer<br />

aber gibt eigentlich dem Arzt Macht,<br />

wenn es das gibt? Sind es vielleicht<br />

sogar die Patientinnen und Patienten,<br />

die ihnen als Arzt sozusagen „Macht“<br />

geben oder geben wollen?


10<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Herr Emunds:<br />

Ich denke mein kleines Beispiel aus<br />

der Welt der Hernienchirurgie hat Ihnen<br />

verdeutlicht, dass Ärzte keine wirkliche<br />

Macht haben. Ich betrachte unseren<br />

Berufsstand als ein Dienstleistungsunternehmen<br />

mit speziellem Auftrag.<br />

Jede Behandlung wird mit dem Patienten<br />

besprochen, die Möglichkeiten,<br />

das angestrebte Ergebnis zu erzielen,<br />

aber auch die Risiken. Risiken gibt es<br />

bei jeder Behandlung. Kein Arzt der<br />

Welt kann von sich behaupten, er sei<br />

frei von Komplikationen. Die Arzt­Patienten­Beziehung<br />

muss gekennzeichnet<br />

sein nicht durch die Wirkung einer<br />

Pseudomacht eines weißen Kittels,<br />

sondern durch gegenseitiges Vertrauen.<br />

Vertrauen in den Arzt, dass er nach<br />

neusten Erkennnissen behandelt, aber<br />

auch Vertrauen im Patienten, dass er<br />

auf bestimmte Verhaltensregeln nach<br />

einem speziellen Eingriff beachtet, z. B<br />

seine Rauchgewohnheiten einstellt.<br />

Herr Horndasch:<br />

Wir haben vorher von jener Frau<br />

gehört, die viele Jahre an einem unstillbaren<br />

Blutfluss gelitten hat (Schriftlesung:<br />

Lukas 8, 40­48 „Die Heilung<br />

der blutflüssigen Frau“). In dieser<br />

Geschichte heißt es dann: „und sie<br />

konnte von niemand geheilt werden…“<br />

Das ist doch auch eine Erfahrung, die<br />

Sie als Arzt immer wieder machen. Die<br />

Erfahrung, eben in manchen Situationen<br />

nicht oder nicht mehr helfen zu<br />

können. Wenn man von der Seite der<br />

medizinischen Machbarkeit her kommt,<br />

dann stellt sich die Frage, warum<br />

denn nun nicht geholfen werden kann.<br />

Woran liegt es denn?<br />

Herr Emunds:<br />

Unsere heutige moderne Mediengesellschaft<br />

lässt uns glauben, dass<br />

die heutige moderne Medizin alles<br />

kann und alles weiß. Meine Damen<br />

und Herren, wir befinden uns erst<br />

am Anfang der Erforschung des<br />

menschlichen Organismus. Wir haben<br />

allenfalls eine kleines „Guckloch“ in<br />

dieses Wunderwerk öffnen können. Im<br />

Vergleich zu den Möglichkeiten eines<br />

Immunsystems sind die Methoden<br />

moderner Chirurgie durchaus als stümperhaft<br />

zu bewerten. Wir können aufgrund<br />

unserer Erkenntnislage nur erst<br />

weniges erreichen, häufig erfahren wir<br />

die Grenzen unseres Wissens!<br />

Herr Horndasch:<br />

Grenzen erfahren – das ist ja ein<br />

Teil unseres Lebens. Unser Leben<br />

ist nie grenzenlos, sondern immer<br />

begrenzt, beschränkt. Leben ist auch<br />

nie vollkommen, sondern bleibt bruchstückhaft.<br />

Mensch zu sein bedeutet<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

auch, mit meinem Begrenzt­Sein zu<br />

leben. Ja zu sagen zu meinen Grenzen,<br />

Begrenzungen – auch zu den Grenzen<br />

der Medizin.<br />

An Grenzen zu stoßen – ist das auch<br />

ein Teil Ihres Arztseins, zu dem Sie<br />

auch Ja sagen? Oder ist es das, was<br />

man mit allen Mitteln vermeiden will<br />

– oder sogar nicht wahr haben will?<br />

Herr Emunds:<br />

Als Arzt, insbesondere als Chirurg,<br />

muss ich einfach akzeptieren, dass wir<br />

an Grenzen stoßen, an die Grenzen<br />

unseres Wissen und unserer Möglichkeiten.<br />

Eine große Aufgabe ist, diese<br />

Grenzen auch in der Patientenführung,<br />

in den Gesprächen mit den Angehörigen<br />

entsprechend zu vermitteln. Wir<br />

dürfen uns von den Phantasien der<br />

modernen Mediengesellschaft nicht<br />

verführen lassen und an die Allmacht<br />

der Medizin glauben.<br />

Herr Horndasch:<br />

Jesus hat auch viele Menschen<br />

geheilt, aber auch nicht alle, die ihm<br />

begegnet sind. Und Jesus, der offensichtlich<br />

Macht hatte, Kranke zu heilen,<br />

hat sich auch sehr dezidiert immer<br />

wieder entzogen, den Erwartungen,<br />

den Machtprojektionen entzogen. So<br />

erzählt das Lukasevangelium, dass<br />

Jesus einen Aussätzigen geheilt hat<br />

und Jesus zu diesem Mann dann sagte:<br />

„Sieh zu, dass du niemandem etwas<br />

sagst, sondern geh hin und zeige dich<br />

dem Priester und opfere für deine Reinigung,<br />

was Mose geboten hat, ihnen<br />

zum Zeugnis. Er aber ging fort und<br />

fing an, viel davon zu reden und die<br />

Geschichte bekannt zu machen, sodass<br />

Jesus hinfort nicht mehr öffentlich<br />

in eine Stadt gehen konnte; sondern<br />

er war draußen an einem einsamen<br />

Ort; doch sie kamen zu ihm von allen<br />

Enden.“ (Markus 1, 44 – 45)<br />

Was hier geschildert wird, das ist<br />

im Grunde die Erfolgsgeschichte eines<br />

Heilers und wie er damit umgegangen<br />

ist. Man hätte sich die Fortsetzung ja<br />

auch völlig anders vorstellen können.<br />

Nämlich so, dass Jesus nach der Heilung<br />

des Aussätzigen auf der Welle<br />

des Heilungserfolgs seine Macht als<br />

Heiler weiter ausgebaut hätte. Er aber<br />

zog sich zurück! Und er entzog sich<br />

so auch allen Zuschreibungen der<br />

Menschen an sich selbst. Jesus ging<br />

es nicht darum, als der große Wunderheiler<br />

da zu stehen, sondern seine<br />

Heilungen waren immer Zeichen für<br />

Gottes Gegenwart, Vorboten für Gottes<br />

Reich. Und Jesus war sich letztlich<br />

wohl bewusst, dass seine Macht von<br />

Gott alleine kommt, dass er derjenige<br />

11


12<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

ist, der heilt, der Macht und Fähigkeit<br />

gibt, zu heilen.<br />

Was bedeutet für Sie, Herr Dr.<br />

Emunds, ganz persönlich Ihr Glaube in<br />

Ihrem Arztsein?<br />

Herr Emunds:<br />

Mein Glaube ist Grundlage meines<br />

ärztlichen Handelns. Ich darf Ihnen ein<br />

kleines Geheimnis verraten, in manche<br />

Operationen gehe ich in Gedanken mit<br />

einem stillen Gebet.<br />

Herr Horndasch:<br />

Macht und Ohnmacht in der Medizin<br />

– Lassen Sie mich noch einmal<br />

auf unser Gottesdienstthema zurückkommen.<br />

Erfahrungen der Ohnmacht<br />

müssen manche Patientinnen und<br />

Patienten tatsächlich machen – dann,<br />

wenn es keine medizinischen oder therapeutischen<br />

Möglichkeiten mehr gibt,<br />

wenn ich selbst und auch die Ärzte<br />

nichts mehr tun können.<br />

Wir haben gehört, dass es diese<br />

Ohnmachtserfahrungen ebenso auf<br />

Seite der Ärzte gibt. Und ich als Seelsorger<br />

sitze immer wieder ohnmächtig<br />

an einem Bett, kann nichts tun<br />

– außer da zu sein. Sind wir in solchen<br />

Situationen nicht alle aufeinander<br />

angewiesen: Ärzte und Patienten,<br />

Pflegende und Seelsorger, Angehörige<br />

und Betreuende? Kann man hier<br />

nicht das Sprichwort abwandeln und<br />

sagen: „Geteilte Ohnmacht ist halbe<br />

Ohnmacht?“ Was hilft Ihnen, Herr Dr.<br />

Emunds, in Momenten der Ohnmacht?<br />

Herr Emunds:<br />

Menschen, die einem beistehen!<br />

Denn nicht nur geteilte Ohnmacht<br />

ist halbe Ohnmacht, sondern auch<br />

geteiltes Leid ist halbes Leid.<br />

Herr Horndasch:<br />

Was hilft mir in meiner Ohnmacht?<br />

Worauf kann ich mich verlassen, wenn<br />

ich mich ohnmächtig und verlassen<br />

fühle. Manche Patienten sagen mir:<br />

Ohne meinen Glauben wäre ich schon<br />

lange verzweifelt. Das wünsche ich<br />

uns allen und Ihnen, Herr Dr. Emunds<br />

in besonderer Weise, dass Sie das Vertrauen<br />

in den Gott trage, der uns aus<br />

der Tiefe der Ohnmacht holen kann.<br />

Möge Gott uns allen immer wieder<br />

Kraft geben, um handeln zu können.<br />

Amen<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Fürbittegebet<br />

(eg 1 8.12 kyrie eleison)<br />

Du Gott hast uns Gaben und Fähigkeiten<br />

geschenkt, um Menschen zu<br />

helfen: Du schenkst uns die Macht,<br />

zu heilen. Hab Dank für die ärztliche<br />

Kunst, für allen medizinischen Fortschritt,<br />

der Menschen heilt und Menschen<br />

hilft.<br />

Vor Dich bringen wir alle Menschen,<br />

die Hilfe suchen – an Leib und Seele,<br />

die sich Ärzten, Therapeutinnen und<br />

Helfern anvertrauen, in der Hoffnung,<br />

Hilfe und Heilung zu finden.<br />

Sei Du dabei, wo Menschen Hilfe<br />

suchen und heile Du.<br />

Wir rufen zu Dir:<br />

Kyrie eleison.<br />

Gaben sind auch Aufgaben, die verantwortlich<br />

und zum Wohle der Menschen<br />

gebraucht werden sollen. Vor Dich bringen<br />

wir alle, die in ihren Berufen anderen<br />

helfen, die heilen und therapieren<br />

und bitten Dich um Deinen Geist, der<br />

sie ihre Verantwortung erkennen lässt<br />

und der sie Grenzen wahrnehmen lässt.<br />

Schärfe Du die Gewissen und gib den<br />

Mut, auch unbequeme Entscheidungen<br />

zu fällen aus Achtung vor den Menschen<br />

und Dir, dem Schöpfer. Wir rufen<br />

zu Dir:<br />

Kyrie eleison.<br />

Gott, sei Du bei uns und allen Menschen<br />

an den Grenzen, die wir erfahren<br />

– an den Grenzen unseres menschlichen<br />

Könnens, an den Grenzen, anderen<br />

zu helfen, an der Grenze unseres<br />

Lebens.<br />

Lass uns in der Ohnmacht dich finden,<br />

der du selbst ohnmächtig geworden<br />

bist. Lass uns auf Dich und Deine<br />

Liebe vertrauen, die uns trägt in aller<br />

Ohnmacht. Lass uns auf Deine Kraft<br />

bauen, die in den Schwachen mächtig<br />

ist.<br />

Wir rufen zu Dir:<br />

Kyrie eleison.<br />

1


1<br />

1 . Juni 2008<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Heilung – mehr als der Gang zum Arzt<br />

Markus 2,1-12<br />

Pfarrerin ursula Ziehfuß, seelsorgerin im Pflegezentrum Bethanien und<br />

dozentin an der dortigen altenpflegeschule<br />

Predigt: Die Heilung des Gelähmten<br />

(Markus 2,1­2)<br />

Nach einigen Tagen ging Jesus<br />

wieder nach Kapernaum; und es wurde<br />

bekannt, dass er im Hause war. Und<br />

es versammelten sich viele, so dass<br />

sie nicht Raum hatten, auch nicht<br />

draußen vor der Tür; und er sagte<br />

ihnen das Wort. Und es kamen einige<br />

zu ihm, die brachten einen Gelähmten,<br />

von vier Männern getragen. Und da<br />

sie ihn nicht zu ihm bringen konnten<br />

wegen der Menge, deckten sie das<br />

Dach auf, wo er war, machten ein<br />

Loch und ließen das Bett herunter, auf<br />

dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus<br />

ihren Glauben sah, sprach er zu dem<br />

Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden<br />

sind dir vergeben. Es saßen da aber<br />

einige Schriftgelehrte und dachten in<br />

ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert<br />

Gott! Wer kann Sünden vergeben<br />

als Gott allein? Und Jesus erkannte<br />

sogleich in seinem Geist, dass sie so<br />

bei sich selbst dachten, und sprach<br />

zu ihnen: Was denkt ihr solches in<br />

euren Herzen? Was ist leichter, zu dem<br />

Gelähmten zu sagen: Dir sind deine<br />

Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh<br />

auf, nimm dein Bett und geh umher?<br />

Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn<br />

Vollmacht hat, Sünden zu<br />

vergeben auf Erden – sprach er zu<br />

dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf,<br />

nimm dein Bett und geh heim! Und er<br />

stand auf, nahm sein Bett und ging<br />

alsbald hinaus vor aller Augen, so dass<br />

sie sich alle entsetzten und Gott priesen<br />

und sprachen: Wir haben so etwas<br />

noch nie gesehen.<br />

Liebe Gemeinde,<br />

das ist keine normale Heilungsgeschichte.<br />

Hier wird ein Mensch nicht<br />

nur befreit von einer körperlichen<br />

Lähmung. Er wird zugleich befreit von<br />

der Fesselung an sich selbst. Er wird<br />

befreit von der Lähmung seiner Seele.<br />

Das hatten sich diese vier Freunde<br />

des Gelähmten wohl anders vorgestellt.<br />

Sie hatten die Initiative ergrif­<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

fen. Denn es hatte sich in Kapernaum<br />

bereits herumgesprochen, dass Jesus<br />

wieder einmal da war. Und es war<br />

wieder einmal nicht an ihn heranzukommen.<br />

Doch unterschätzen wir die<br />

Vier nicht, die durchhalten, sich etwas<br />

einfallen lassen. Sie geben nicht gleich<br />

klein bei, sondern steigen Jesus aufs<br />

Dach! <strong>Gut</strong>, dass die Bauweise der Häuser<br />

in Palästina leicht war. Vom Flachdach<br />

aus kann vieles gemacht werden.<br />

So schwebt der Gelähmte nach unten<br />

vor Jesu Füße. Vielleicht hat Jesus<br />

gerade aus dem Psalm 103 zitiert:<br />

„Lobe den Herren meine Seele,<br />

und was in mir ist, seinen heiligen<br />

Namen….Der dir alle deine Sünden<br />

vergibt und heilet alle deine Gebrechen.<br />

Der dein Leben vom Verderben<br />

erlöst und dich krönt mit Gnade und<br />

Barmherzigkeit.“<br />

Jesus schaut auf den Gelähmten,<br />

sieht die Freunde oben und deren<br />

erwartungsvolles Gesicht, voll Vertrauen.<br />

Wunderbar, diese Lastenträger­<br />

Menschen. Das ist gelebte Fürbitte.<br />

„Nimm die Lähmung von ihm. Mach<br />

ihn gesund“ – so der unausgesprochene<br />

Wunsch der Vier. Jesus sieht<br />

die Freunde und den Gelähmten. Er<br />

bleibt nicht stehen beim äußerlich<br />

sichtbaren Defekt des Gelähmten. Er<br />

sieht tiefer. Er sieht hinein in die Seele<br />

dieses Menschen und er erkennt dessen<br />

Angewiesensein auf die Gnade<br />

Gottes. Deshalb spricht er ihn zärtlich<br />

an: „Mein Sohn“. Jesus geht es nicht<br />

um die Wiederherstellung eines kranken<br />

Körpers. Nein, mit der Heilung<br />

des Gelähmten setzt er ein Zeichen<br />

einer viel tiefer gehenden Heilung: ein<br />

heilmachender Zuspruch der Sündenvergebung.<br />

Nun sind alle gelähmt, so stelle ich<br />

mir die Situation vor. Alles hätten sie<br />

erwartet, aber nicht dieses Wort. Spott<br />

zeigt sich auf ihren Gesichtern – und<br />

bei einigen Empörung: „Das ist doch<br />

pure Gotteslästerung. Sünden vergeben<br />

kann nur einer – so steht es in den<br />

Schriften!“<br />

Jesus bringt es zur Sprache: „Was<br />

ist denn nun leichter zu sagen: Dir sind<br />

deine Sünden vergeben, oder: Steh auf,<br />

nimm dein Bett und geh umher?“ Für<br />

uns sogenannte Menschen der Moderne<br />

ist die Antwort scheinbar klar: Wir<br />

können nicht so einfach Kranke heilen,<br />

aber solch einen Satz sprechen: dir<br />

sind deine Sünden vergeben, das kann<br />

doch eigentlich jede/r. Eine Heilung ist<br />

nachprüfbar. Worte dagegen sind leicht<br />

gesagt, leicht gehört und leicht überhört.<br />

Ihre Wirkung ist nicht überprüfbar<br />

wie die Wirkung eines Medikaments.<br />

1


1<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Und doch haben Worte Macht. Das<br />

wissen wir. Sie können wohl tun, aber<br />

auch wehtun. Aber Jesus meint etwas<br />

anderes. Er meint im Wort die Sache<br />

selbst: die Vergebung der Sünden. Und<br />

er spricht einem, der am Leib gelähmt<br />

vor ihm liegt, wider alle Erwartung<br />

zunächst die Vergebung der Sünden zu.<br />

Jesus sagt zu der Seele des Gelähmten:<br />

„Seele steh auf, pack dein<br />

Krankenlager unter den Arm, sei wieder<br />

bei dir selbst zu Hause! Kehr zu dir<br />

selbst zurück. Lebe nicht mehr in den<br />

Wüsten deines Lebens. Mein Sohn,<br />

deine Sünden sind dir vergeben. Der dir<br />

alle deine Sünden vergibt und heilt alle<br />

Gebrechen, der sagt jetzt: „Steh auf!“<br />

Mit der Heilung des Gelähmten<br />

setzt Jesus ein Zeichen einer viel tiefer<br />

gehenden Heilung. Es geht ihm nicht<br />

einfach um die Wiederherstellung<br />

eines kranken Körpers, sondern einer<br />

Heilung an Leib und Seele. Wie ungeheuer<br />

modern ist das, was mit dieser<br />

außerordentlichen Heilungsgeschichte<br />

ausgesagt wird. Und es ist schon aufregend<br />

zu sehen, wie wir Menschen<br />

durch die Wundertaten heutiger Medizin<br />

sehr wohl mit vielen körperlichen<br />

Lähmungen fertig werden. Aber mit<br />

den Lähmungen der Seele tun wir uns<br />

schwer.<br />

Natürlich soll durch diese Geschichte<br />

nicht das Missverständnis befördert<br />

werden, dass jede menschliche Krankheit<br />

Folge einer konkreten Sünde sei.<br />

Solch eine simple Verknüpfung, die den<br />

Kranken dann noch zusätzlich die Last<br />

eines schlechten Gewissens auflädt,<br />

hat die Bibel selbst seit der Abfassung<br />

des Buches Hiob grundsätzlich aufgehoben.<br />

Das ist eine ganz klare Absage<br />

an alle Möchtegern­Psychologen/<br />

innen, die jedem Krankheitsbild eine<br />

Verhaltensstörung zuordnen. Nach dem<br />

Motto: Wenn Du es am Kehlkopf hast,<br />

dann schluckst du zu viel herunter.<br />

Aber dass körperliche Leiden auch in<br />

einem tiefen Zusammenhang zu sonstigen<br />

Störungen des Lebens stehen,<br />

das lässt sich nicht bestreiten. Der<br />

betroffene Mensch selbst muss sich<br />

diese Fragen stellen. Das ist kein einfacher<br />

Weg und vielleicht brauchen wir<br />

andere dazu, um ihn gehen zu können.<br />

Dann kann aus einer in sich kreisenden<br />

Warum­Frage eine Wozu­Frage entstehen,<br />

die neue Räume eröffnet.<br />

In diesem Punkt helfen uns die Aussagen<br />

des Paulus: Er sieht in seiner<br />

Schwäche eine Stärke – und kann<br />

dadurch seine Krankheit annehmen, obwohl<br />

die sehnliche Hoffnung und Befreiung<br />

von seiner Krankheit unerfüllt bleibt.<br />

Er sieht seine Schwäche getragen durch<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

eine besondere Nähe zu Christus.<br />

Christlicher Glaube bekommt seine<br />

Tiefe nicht nur durch Aktivitäten, sondern<br />

auch durch Lassen und Geschehenlassen<br />

– im Vertrauen darauf, dass uns<br />

Gottes Hand auffangen wird.<br />

Wir müssen auch den Zusammenhang<br />

zwischen Heilung, Glaube und<br />

Rettung differenziert wahrnehmen.<br />

„Dein Glaube hat dich gerettet“, kann<br />

nicht einfach gleichgesetzt werden<br />

mit: „Dein Glaube hat dich gesund<br />

gemacht“. Obwohl dieser Satz auch<br />

in Heilungsgeschichten vorkommt.<br />

In der Schriftlesung (Lukas 17, 11­19<br />

„Die Heilung der zehn Aussätzigen“)<br />

haben wir davon gehört: 10 Menschen<br />

werden gesund, aber nur einer wird<br />

als gerettet bezeichnet, weil er voller<br />

Gotteslob ist. Gerettet sein bedeutet,<br />

von der Kraft Gottes berührt zu werden<br />

und voller Begeisterung zu spüren,<br />

dass die Zeit der Gottesnähe jetzt<br />

gegenwärtig ist. Dazu gehört auch,<br />

dass dem biblischen Denken eine rein<br />

individualistische Perspektive fremd<br />

ist. Keine Kranken­ und Heilungsgeschichte,<br />

auch wenn sie von einzelnen<br />

Personen erlebt wird, ist abgelöst vom<br />

Schicksal der Gemeinschaft. So fleht<br />

Hanna im Tempel um die Beendigung<br />

ihrer Unfruchtbarkeit. Ihr späteres Loblied<br />

ist eingebunden in die Geschichte<br />

ihres Volkes, dessen Schreien Gott<br />

immer wieder gehört hat. Jede Bitte<br />

um Heilung richtet sich an den Gott,<br />

der nicht nur für die einzelne medizinische<br />

Notlage zuständig ist, sondern<br />

von dem die Menschen wissen, dass er<br />

eines Tages alle Tränen abwischen und<br />

die gesamte Schöpfung erneuern wird.<br />

Sie erhoffen eine umfassende Befreiung<br />

– nicht nur von Krankheit, sondern<br />

zugleich von sozialer Ungerechtigkeit.<br />

Ich bin nicht einverstanden, wenn<br />

Ausleger die Wunder Jesu nur als<br />

eine Machtdemonstration oder als<br />

das Durchbrechen von Naturgesetzen<br />

ansehen. Heilungsgeschichten und<br />

andere Rettungsgeschichten Jesu sind<br />

Geschichten der Umwandlung und der<br />

Hoffnung, dass Gottes Kraft spürbare<br />

Veränderung bringt. Frauen, Männer,<br />

Kinder werden hineingenommen in das<br />

Reich Gottes, in den Prozess der Neuwerdung<br />

der Welt, den sie ganz konkret<br />

am eigenen Leib und im eigenen<br />

Leben in vielfältiger Form erfahren:<br />

Im Gesundwerden, im Brot teilen, im<br />

gemeinsamen Gotteslob, im Arbeiten<br />

für Gerechtigkeit.<br />

Diese Geschichte ist eine Ostergeschichte.<br />

Aufstehen, auferstehen,<br />

das ist dasselbe Wort wie in den<br />

Ostergeschichten. Es wird immer<br />

1


18<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

wieder Dinge im Leben geben, die<br />

uns lähmen und einengen. Ich wünsche<br />

uns, dass wir zu wandelnden<br />

Beispielen solcher Ostergeschichten<br />

werden: dass sich lösen kann, was<br />

uns blockiert, dass wir, getragen von<br />

den Menschen und Gott, getragen zu<br />

Gott – wie der Gelähmte –, immer<br />

wieder frei werden und neu anfangen<br />

können und andere mit unserer Freiheit<br />

anstecken.<br />

So lehrt uns unser heutiger Predigttext<br />

neu zu bedenken, welches Wunder<br />

da geschieht, wo Gott Sünde vergibt,<br />

wo er verfehltes Leben heilt und<br />

das Vorzeichen unseres Lebens von<br />

Minus auf Plus umstellt. Nichts ist da<br />

selbstverständlich! Die frohe Botschaft<br />

davon, dass Sündenvergebung möglich<br />

ist, sollte uns immer wieder neu in<br />

Bewegung bringen: Gott macht mich<br />

tatsächlich frei von den Lasten der<br />

Vergangenheit. Da wird Schuld nicht<br />

abgeschrieben, da wird nichts zugekleistert<br />

oder verdrängt, da gibt es aber<br />

die fröhliche Gewissheit: Ich darf noch<br />

einmal neu anfangen, weil Gott zu mir<br />

steht. Wer so etwas einmal erfahren<br />

hat, weiß: Da wird ein neuer Mensch<br />

geboren!<br />

Der russische Dichter Dostojewski<br />

hat uns auf mehreren hundert Seiten<br />

die grausame Geschichte des Mörders<br />

Raskolnikow erzählt. Für den Bericht<br />

darüber, wie diese zerstörte Seele die<br />

Vergebung der Sünde erfährt, brauchte<br />

der Dichter am Schluss seines großen<br />

Romans aber nur noch ganz wenige<br />

Zeilen: „Hier beginnt bereits eine neue<br />

Geschichte, die Geschichte der allmählichen<br />

Erneuerung eines Menschen, die<br />

Geschichte seiner allmählichen Sinneswandlung,<br />

des allmählichen Überganges<br />

aus einer Welt in eine andere,<br />

des Bekanntwerdens mit einer neuen,<br />

ihm bis dahin völlig unbekannten Wirklichkeit.“<br />

Die Wortkargheit des großen<br />

Epikers an dieser Stelle ist mir immer<br />

sehr eindrücklich gewesen. Das ist<br />

die Geschichte von der wundersamen<br />

Heilung zerstörten Lebens. Wo ein<br />

solches Wunder möglich ist, da mag es<br />

dann auch hin und wieder das Wunder<br />

körperlicher Heilung geben.<br />

Jesus entspricht erst einmal nicht<br />

den Erwartungen und zwingt dadurch<br />

zum Nachdenken. Und zwar nicht nur<br />

den Gelähmten. Es geht auch um die<br />

anderen. Sie sind nicht mehr nur die<br />

unbeteiligten Zuschauer, die genüsslich<br />

oder sehnsüchtig auf ein Wunder<br />

warten. Fragen entstehen! Bin ich ein<br />

Gelähmter, der durch Sündenvergebung<br />

geheilt werden kann? Warum bin ich<br />

hier? Was will ich denn von Jesus? Ein<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Wunder, ja. Ein Wunder an mir. Dass<br />

ich frei werde von den Lähmungen in<br />

meinem Leben. Dass ich wieder laufen<br />

kann, bei mir selbst zu Hause bin,<br />

wieder eins mit mir selbst. Von einem<br />

wissen wir: Er stand auf, nahm sein<br />

Bett und ging in sein Haus. An ihm<br />

war gleich sichtbar, dass Jesus Christus<br />

Macht hat, Sünden zu vergeben.<br />

Aber vielleicht sind an diesem Tag in<br />

Kapernaum noch andere innerlich, an<br />

ihrer Seele auferstanden, haben ihr<br />

Krankenlager zusammengepackt und<br />

endlich Abschied nehmen können von<br />

bisherigen Lähmungen und von lähmenden<br />

Verhältnissen.<br />

Aber so etwas sieht man nicht,<br />

jedenfalls nicht so augenscheinlich.<br />

Wie heißt es im „Kleinen Prinzen“:<br />

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.<br />

Das Wesentliche ist für die Augen<br />

unsichtbar.“<br />

So ist es! Amen.<br />

1


20<br />

22. Juni 2008<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Was ist jetzt noch drin? Jeremia 45,1-5<br />

Pfarrerin claudia Lempp, seelsorgerin im Mutterhaus<br />

der evang. diakonissenanstalt stuttgart<br />

Liebe Gemeinde,<br />

zum Glück hat die Medizin und die<br />

Pflege seit etwa 20 Jahren begonnen,<br />

nach der individuellen Lebensqualität<br />

zu fragen: Wie kann es Schwerkranken<br />

und chronisch Kranken möglichst gut<br />

gehen? Neben die Bekämpfung der<br />

Krankheit ist die Frage getreten: Wie<br />

können sich die Patienten wohl fühlen,<br />

solange die Krankheit dauert, auch<br />

gerade, wenn sie nicht heilbar ist?<br />

Denn auch Krankheitszeit ist Lebenszeit,<br />

Zeit für ein gutes, ja sogar ein<br />

erfülltes Leben, auch wenn das fehlt,<br />

was wir <strong>Gesundheit</strong> nennen.<br />

Wir können diese medizinischen und<br />

pflegerischen Bemühungen auch im<br />

biblischen Horizont sehen. In der Bibel<br />

wird das Leben als ein gutes Geschenk<br />

angesehen und als gutes Geschenk<br />

verheißen, sogar in den schwersten,<br />

ja fast unerträglichen Lebenslagen. Es<br />

gibt zwar auch die Stellen in der Bibel,<br />

die vom Leben als aufgebürdeter Last<br />

reden, die ein Leidender nur mit Mühe<br />

weiterschleppt und am liebsten ablegen<br />

würde. Aber heute soll es um das gute<br />

Leben, um die Lebensqualität derer<br />

gehen, die leiden müssen. Dazu gibt es<br />

gegen Ende des Jeremia­Buches eine<br />

sehr menschliche Klage und die Antwort<br />

Gottes darauf. Die Klage kommt<br />

von Baruch, dem Schreiber des Propheten<br />

Jeremia. Er musste alle Gerichtsworte<br />

gegen das Volk aufschreiben, die<br />

der Prophet Jeremia ihm diktierte und<br />

später auch dem Volk vorlesen. Es war<br />

eine schwere Belastung, so oft Gericht<br />

und Untergang ansagen zu müssen.<br />

Wie Jeremia litt Baruch schwer unter<br />

dem Unheil und Verderben, das er<br />

ankündigen musste. Es geht hier zwar<br />

nicht um eine Krankheit, aber auch um<br />

eine tief greifende Beschneidung aller<br />

Lebensmöglichkeiten, so dass Baruch<br />

es fast nicht ausgehalten hat:<br />

„O weh mir, der Herr häuft noch<br />

Kummer auf meinen Schmerz. Müde<br />

bin ich vor Seufzen und finde keine<br />

Ruhe.“ V. 3 (Zürcher Übersetzung)<br />

Auch wenn es hier nicht um Krankheit<br />

geht – diese Klage kann das Herz<br />

der Leidenden erreichen: „O weh mir“<br />

– das ist eigentlich nur ein Laut des<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Aufstöhnens, der für den Schmerz<br />

noch keine Worte hat. „O weh mir!<br />

Der Herr häuft noch Kummer auf<br />

meinen Schmerz“ oder „Wie hat mir<br />

der Herr Jammer zu meinem Schmerz<br />

hinzugefügt!“ Es ist das Erleben, dass<br />

eins zum anderen kommt, dass es<br />

immer schlimmer wird statt besser. Der<br />

ohnehin vorhandene Schmerz wird verschärft<br />

dadurch, dass man nicht weiß,<br />

wie man alles bewältigen soll. Kein<br />

Wunder, dass man innerlich erschöpft<br />

ist und sich davon gar nicht erholen<br />

kann, weil man keine Ruhe findet.<br />

Im Leiden keine Ruhe zu finden ist<br />

manchmal fast das Schwerste. Das kennen<br />

oft auch die Trauernden, die einen<br />

nahen Angehörigen verloren haben. In<br />

dieser Klage können sich viele Leidende<br />

wiederfinden. Aber hören wir die Klage<br />

des Baruch im Zusammenhang. Sie ist<br />

nämlich eingebettet in das Wort, das<br />

Gott Baruch sagen lässt:<br />

1 Dies ist das Wort, das der Prophet<br />

Jeremia zu Baruch, dem Sohn Nerijas,<br />

redete, als er die Worte, wie Jeremia<br />

sie ihm sagte, auf eine Schriftrolle<br />

schrieb, im vierten Jahr Jojakims, des<br />

Sohnes Josias, des Königs von Juda:<br />

2 So spricht der HERR Zebaoth, der<br />

Gott Israels, über dich, Baruch: 3 Du<br />

sprichst: Weh mir, wie hat mir der<br />

HERR Jammer zu meinem Schmerz<br />

hinzugefügt! Ich seufze mich müde<br />

und finde keine Ruhe. 4 Sage ihm:<br />

So spricht der HERR: Siehe, was ich<br />

gebaut habe, das reiße ich ein, und<br />

was ich gepflanzt habe, das reiße ich<br />

aus, nämlich dies mein ganzes Land.<br />

5 Und du begehrst für dich große<br />

Dinge? Begehre es nicht! Denn siehe,<br />

ich will Unheil kommen lassen über<br />

alles Fleisch, spricht der HERR, aber<br />

dein Leben sollst du wie eine Beute<br />

davonbringen, an welchen Ort du auch<br />

ziehst.<br />

Gott wiederholt die ganze Klage<br />

von Baruch. Er hat Baruch also gehört.<br />

Mitten in allem Unheil hat Gott auf<br />

diesen Einzelnen gehört, dem es zu<br />

viel geworden ist, der jetzt nicht mehr<br />

kann. Und Gott antwortet:<br />

„Siehe, was ich gebaut habe, das<br />

reiße ich ein, und was ich gepflanzt<br />

habe, das reiße ich aus, nämlich dies<br />

mein ganzes Land.“<br />

Nein, das tröstet uns nun gar nicht.<br />

Im Gegenteil: Es erschreckt uns. Kann<br />

Gott seine ganze Zuwendung rückgängig<br />

machen? Ist es sein Wille, dass Menschen<br />

zugrunde gehen, dass sie krank<br />

werden und sterben? Was ist das für ein<br />

Gott, dieser Herr über Leben und Tod?<br />

„Siehe, was ich gebaut habe, das<br />

reiße ich ein und was ich gepflanzt<br />

21


22<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

habe, das reiße ich aus, nämlich dies<br />

mein ganzes Land.“ Dies mein ganzes<br />

Land – da ist noch ein anderer Ton<br />

drin. „Ja, Gott des Lebens, tut es dir<br />

etwa Leid um dein ganzes Land?“ O ja!<br />

Es schmerzt Gott, was da geschieht!<br />

Und wie es ihn schmerzt!<br />

In Jeremia 31,20 heißt es: „Ist nicht<br />

Ephraim mein teurer Sohn und mein<br />

liebes Kind? Denn sooft ich ihm auch<br />

drohe, muss ich doch seiner gedenken;<br />

darum bricht mir mein Herz, dass ich<br />

mich seiner erbarmen muss, spricht der<br />

Herr.“ Es bricht ihm das Herz: Er ist voller<br />

Schmerz darüber, dass die Geschichte<br />

zwischen ihm und seinem Volk so<br />

verfahren war. Das Gericht im Abreißen<br />

und Ausreißen trifft Gott selber hart<br />

und schmerzt ihn tief. Seitdem ist<br />

nichts mehr so, wie es vorher war.<br />

Wir Christen leben davon, dass<br />

Gott in seinem Schmerz um die Menschen<br />

seinen eigenen Sohn in die<br />

Welt geschickt hat, damit die leidvolle,<br />

verfahrene Geschichte nochmals neu<br />

anfangen und – gebe es Gott! – doch<br />

noch glücklich enden könnte. Noch<br />

mehr als „Herr über Leben und Tod“ ist<br />

Gott der „Gott aller Liebe“. Seine Liebe<br />

geht tiefer als das Gericht oder das<br />

unbegreifliche Geschick einer Krankheit.<br />

Wenn wir das glauben könnten!<br />

Seine Liebe geht tiefer als ein unbegreifliches<br />

Geschick.<br />

„Schau“, sagt Gott zu Baruch, „ich<br />

leide auch darunter, dass es dir und<br />

deinem Volk so schlecht geht. Und du<br />

begehrst für dich große Dinge? Begehre<br />

es nicht. Löse dich aus deinen Wünschen,<br />

dass es möglichst werde wie<br />

vorher. Hänge dich nicht daran, wie du<br />

es jetzt haben möchtest, so begreiflich<br />

deine Wünsche sind.“ Versuche doch,<br />

dich auf die Situation einzustellen.<br />

Frage einfach: Was ist jetzt noch drin?<br />

Was ist möglich und sinnvoll unter<br />

diesen Umständen?<br />

Die Medizin und Pflege haben hier<br />

große Anstrengungen unternommen,<br />

dass die Zeit der Krankheit als Lebenszeit<br />

erlebt werden kann, die nicht<br />

ein einziger Kampf oder ein einziges<br />

Leiden ist, sondern auch Wohlbefinden<br />

und Schönes möglich macht. Die Medizinerin<br />

Thela Wernstedt aus Hannover<br />

beschreibt die Lebensqualität im Angesicht<br />

des Todes für Angehörige und für<br />

den Patienten selber:<br />

„Nicht das Verschwinden des<br />

Schmerzes um jeden Preis, sondern die<br />

Schmerzarmut, nicht die normale Nahrungsaufnahme,<br />

sondern Akzeptanz und<br />

sorgfältige Durchführung einer künstlichen<br />

Ernährung können Ziele sein.<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Die Freiheit, im letzten Lebensabschnitt<br />

nur noch mit den Menschen Kontakt<br />

aufrechtzuerhalten, die einem wichtig<br />

und hilfreich sind, kann eine neue<br />

und stärkende Erfahrung sein. Befreit<br />

von beruflichem oder intellektuellem<br />

Ehrgeiz sein Leben zu leben, kann eine<br />

neue Lebensqualität bedeuten.“<br />

Die Frage nach der Lebensqualität<br />

zu stellen, kann gerade von denen aufgenommen<br />

werden, die ihr Leben aus<br />

Gottes Hand empfangen und auch in<br />

einem schweren Leiden die Spuren und<br />

die Nähe des Gottes suchen, der voller<br />

Schmerz und voller Liebe ist für seine<br />

Menschen.<br />

Baruch wurde zugesagt, dass er mit<br />

dem Leben davon kommen würde. Was<br />

ist aber mit denjenigen unter uns, die<br />

weiterhin auf den Tod zugehen und ihre<br />

Krankheit nicht loswerden? Welches<br />

Leben wird ihnen zugesagt? Denn auch<br />

sie bleiben ja nicht ohne Verheißung<br />

des Lebens aus Gott. Hier fangen wir<br />

oft an, vom ewigen Leben nach dem Tod<br />

zu reden. Aber was ist mit der ganzen<br />

Zeit vorher, mit dem ganzen Weg des<br />

Lebens und Sterbens? Das ist eben<br />

auch Lebenszeit. Das kann auch gesegnete<br />

Zeit werden für die Kranken und<br />

ihre Angehörigen.<br />

„Ihr könnt ein Segen sein für immer<br />

für den, der Himmel und Erde neu<br />

macht (Psalm 115,15).<br />

So verheißt es Psalm 115. Gottes<br />

Leben empfangen mitten in Schmerzen<br />

und Vergehen – das ist möglich.<br />

Es wäre der Segen, der teilnimmt<br />

am Leben Gottes, das Jesus unter<br />

Schmerzen und voller Liebe in die Welt<br />

gebracht hat.<br />

So hat es Gott gefallen,<br />

so gibt er sich uns allen.<br />

Das Ja erscheint im Nein,<br />

der Sieg im Unterliegen,<br />

der Segen im Versiegen,<br />

die Liebe will verborgen sein.<br />

(Kurt Ihlenfeld, EG 94,4)<br />

Amen.<br />

Lasst uns beten:<br />

Jesus Christus, du leidender Bruder,<br />

auch wenn wir kaum beten können,<br />

wenden wir uns zu dir,<br />

du kennst die Verwirrung und Unruhe<br />

im Leiden:<br />

Augenblick der Stille, dann singt die<br />

Gemeinde:<br />

Du hast die Angst auf dich genommen,<br />

du hast erlebt, wie schwer das ist.<br />

Wenn über uns die Ängste kommen,<br />

dann sei uns nah, Herr Jesus Christ.<br />

2


2<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Jesus Christus, du leidender Bruder,<br />

alles ist anders, seit das Schwere in<br />

unser Leben gekommen ist:<br />

Die Krankheit, das Sterben, der Unfall,<br />

die Kündigung. Ich verstehe nicht, wie<br />

das geschehen konnte. Wo warst du?<br />

Wo ist jetzt dein Schutz?<br />

Jetzt brauche ich dich dringend. Aber<br />

wo bist du?<br />

Augenblick der Stille, dann singt die<br />

Gemeinde:<br />

Du hast die Angst auf dich genommen,<br />

du hast erlebt, wie schwer das ist.<br />

Wenn über uns die Ängste kommen,<br />

dann sei uns nah, Herr Jesus Christ.<br />

Jesus Christus, du leidender Bruder,<br />

nein, ich weiß nicht weiter.<br />

Der Glaube hat mich doch früher<br />

gehalten – jetzt ist nichts mehr davon da.<br />

Ich konnte beten und war voller Vertrauen<br />

in deine Güte.<br />

Jetzt bin ich innen wie zerbrochen.<br />

Hörst du überhaupt, was ich dir sagen<br />

will? Ich weiß einfach nicht, wie es<br />

gehen soll.<br />

Augenblick der Stille, dann singt die<br />

Gemeinde:<br />

Du hast die Angst auf dich genommen,<br />

du hast erlebt, wie schwer das ist.<br />

Wenn über uns die Ängste kommen,<br />

dann sei uns nah, Herr Jesus Christ.<br />

Jesus Christus, du leidender Bruder,<br />

sie sagen, ich solle wieder Vertrauen<br />

fassen und wenigstens einen kleinen<br />

Schritt in die Richtung des Lebens<br />

machen. Sie versichern mir, gerade<br />

jetzt sei die Liebe Gottes für mich da –<br />

wenn ich mich nur wieder öffnen<br />

könnte! Aber ich wage es nicht.<br />

Augenblick der Stille, dann singt die<br />

Gemeinde:<br />

Du hast die Angst auf dich genommen,<br />

du hast erlebt, wie schwer das ist.<br />

Wenn über uns die Ängste kommen,<br />

dann sei uns nah, Herr Jesus Christ.<br />

Fürbitte:<br />

Jesus, du bist das Leben.<br />

Dich bitten wir<br />

für das Leben unserer Schwestern auf<br />

dem Pflegebereich,<br />

und aller Bewohnerinnen und<br />

Bewohner im Pflegezentrum Bethanien,<br />

für das Leben aller Pflegebedürftigen.<br />

Sei du bei den Schwerkranken im<br />

Diakonie­Klinikum, bei den Sterbenden.<br />

Behüte die Schwestern und Pfleger.<br />

Sei bei den Ärztinnen und Ärzten<br />

und bei allen, die kranke Angehörige<br />

pflegen. Du weißt, was sie brauchen.<br />

Amen.<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

2 . Juni 2008<br />

<strong>Gesundheit</strong> – höchstes <strong>Gut</strong>? Lukas 17,11-19<br />

Predigt im gespräch zwischen dr. necker, chirurgische klinik am<br />

diakonie-klinikum stuttgart, Frank Weberheinz, öffentlichkeitsarbeit im<br />

diakonie-klinikum stuttgart und Pfarrer dr. gottfried claß, direktor der<br />

evang. diakonissenanstalt stuttgart<br />

Lk. 17,11-13<br />

Und es begab sich, als Jesus nach<br />

Jerusalem wanderte, dass er durch<br />

Samarien und Galiläa hinzog. Und als<br />

er in ein Dorf kam, begegneten ihm<br />

zehn aussätzige Männer, die standen<br />

von ferne und erhoben ihre Stimme<br />

und sprachen: Jesus, lieber Meister,<br />

erbarme dich unser.<br />

Herr Weberheinz:<br />

„Sie standen von ferne“ – Krankheit<br />

bedeutete damals ein doppeltes<br />

Leiden: Das Leiden an der Krankheit,<br />

aber auch an den sozialen Folgen, der<br />

gesellschaftlichen Ausgrenzung. Ist das<br />

heute auch noch so?<br />

Herr Claß:<br />

Ich denke, vor allem Menschen mit<br />

einer chronischen Erkrankung oder<br />

einer dauerhaften Behinderung erleben<br />

heute dieses An­den­Rand gedrängt<br />

werden. Wie schwer ist es z. B. in<br />

Deutschland, sich als Rollstuhlfahrer<br />

im öffentlichen Leben zu bewegen;<br />

von einer generellen Barrierefreiheit<br />

sind wir noch weit entfernt. Aber auch<br />

unsere gesellschaftlichen Leitbilder<br />

spielen dabei eine entscheidende und<br />

höchst problematische Rolle. Wenn<br />

<strong>Gesundheit</strong> und Fitness zu höchsten<br />

Gütern hochstilisiert werden, dann wird<br />

es für chronisch Kranke oder Menschen<br />

mit Behinderung umso schwieriger,<br />

ihr Leben mit seinen Einschränkungen<br />

zu akzeptieren, sich damit zu versöhnen.<br />

Denn an den gesellschaftlichen<br />

Idealen gemessen, fehlt ihnen ja die<br />

entscheidende Voraussetzung für ein<br />

gelingendes Leben.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Die Aussätzigen rufen zu Jesus:<br />

„Erbarm dich unser“ – Dr. Necker, gibt<br />

es solches Flehen heute noch oder ist<br />

das dem Glauben an die Allmacht der<br />

Hightech­Medizin gewichen?<br />

Herr Necker:<br />

Sicherlich muss man hier zwischen<br />

Akuterkrankten und chronisch Kranken<br />

2


2<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

unterscheiden. Bei Akutkranken, die<br />

sich z. B. das Bein gebrochen oder eine<br />

Blinddarmentzündung haben, besteht<br />

heutzutage der Anspruch, dass die<br />

Medizin in der Lage sein muss, eine<br />

solche Erkrankung zu heilen. Dementsprechend<br />

ist auch die Haltung der<br />

Patienten anspruchsvoll und selbstbewusst.<br />

Ein Flehen nach Heilung erfährt<br />

man hier eher selten. Bei chronisch<br />

Kranken oder onkologischen Patienten<br />

ist es etwas anderes, hier begegnen<br />

einem z. B. Tumorpatienten, die zwischen<br />

Hoffen und Bangen hin­ und hergerissen<br />

sind. Der Arzt stellt in diesem<br />

Fall durchaus die Person dar, in die alle<br />

Hoffnung auf Heilung projiziert wird.<br />

Hier stimmt der Ruf der Aussätzigen,<br />

„erbarm dich unser“, schon eher.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Wie hören Sie als Pfarrer diesen<br />

Schrei?<br />

Herr Claß:<br />

Es ist ja gut, wenn Menschen in<br />

einer solchen Notlage überhaupt noch<br />

schreien können und nicht schon längst<br />

verstummt sind. Mir steht dabei das<br />

Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch<br />

vor Augen. Dieser Schrei ist auch<br />

eine Form des Gebets. Denn in diesem<br />

Schrei steckt auch zumindest ein<br />

kleines Stück Vertrauen, dass Jesus<br />

den Schrei hört und die richtige Adresse<br />

dafür ist – ihr letzter Strohhalm<br />

Hoffnung, nach dem sie greifen.<br />

V. 14: Und als Jesus die 10 Aussätzigen<br />

sah, sprach er zu ihnen: Geht hin<br />

und zeigt euch den Priestern! Und es<br />

geschah, als sie hingingen, da wurden<br />

sie rein.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Herr Claß, das Verhalten Jesu mutet<br />

einen doch merkwürdig an. Unerhört<br />

distanziert. Er lässt die Kranken in der<br />

Ferne stehen und schickt sie zu den<br />

Priestern, also zum damaligen <strong>Gesundheit</strong>samt.<br />

Warum?<br />

Herr Claß:<br />

Ja, auch ich bin über das Verhalten<br />

Jesu gestolpert. In anderen Heilungsgeschichten<br />

geht Jesus demonstrativ<br />

auf die zu, mit denen sonst niemand<br />

zu tun haben will und berührt die<br />

Unberührbaren. Aber Jesus heilt nicht<br />

immer durch Nähe. Es gibt offensichtlich<br />

kein Schema F, nach dem die<br />

Heilungsgeschichten ablaufen. Hier<br />

mutet Jesus den Kranken zu, sich mit<br />

ihren Beschwerden auf den Weg zu<br />

machen. Obwohl ja zunächst scheinbar<br />

alles beim Alten geblieben ist. Sie<br />

müssen wagen, aufzubrechen zu den<br />

Priestern, als wären sie schon gesund,<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

obwohl sie es noch nicht sind. Wagen<br />

Sie diesen Schritt? Bringen Sie so viel<br />

Vertrauen auf? Dass sie sich auf Jesu<br />

Aufforderung überhaupt einlassen und<br />

losgehen, das ist für mich das erste<br />

Wunder in der Geschichte.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Welche Rolle spielt das Vertrauen<br />

zwischen Arzt und Patient, Herr Dr.<br />

Necker? Welche Rolle spielt es bei der<br />

Heilung?<br />

Herr Necker:<br />

Ich denke, die Arzt­Patienten­Beziehung<br />

ist und bleibt ein zentrales Thema<br />

in der Medizin. Die ersten Augenblicke<br />

des Zusammentreffens zwischen Arzt<br />

und Patient sind mitentscheidend dafür,<br />

ob eine Vertrauensbasis aufgebaut<br />

werden kann. Dabei bestehen sehr<br />

hohe Anforderungen an den Arzt. So<br />

sollte der Arzt kompetent wirken, Ruhe<br />

und Gelassenheit ausstrahlen, engagiert<br />

sein, sich Zeit nehmen und am<br />

besten noch sympathisch erscheinen.<br />

Andererseits ist es durchaus menschlich,<br />

dass auch der Patient einen Eindruck<br />

beim Arzt hinterlässt. Der Arzt<br />

darf natürlich nicht die Behandlung<br />

eines Patienten von der Sympathie<br />

abhängig machen. Er sollte ein Verhältnis<br />

der Empathie zum Patienten aufbauen.<br />

Für den Verlauf der Behandlung<br />

ist dieses Vertrauensverhältnis absolut<br />

entscheidend. Insbesondere in dem<br />

Falle, dass sich die Heilung schwierig<br />

und langwierig gestaltet, wird dieses<br />

Vertrauensverhältnis auf die Probe<br />

gestellt. Entwickelte sich zu Anfang ein<br />

zu geringes Maß an Vertrauen, so wird<br />

der Patient die Behandlung irgendwann<br />

abbrechen und zu einem anderen Arzt<br />

gehen.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Die Leprakranken in unserer Geschichte<br />

machen sich auf den Weg. Ist<br />

Gesundwerden ein Weg, Herr Claß?<br />

Herr Claß:<br />

Das wissen Sie, Herr Dr. Necker<br />

als Arzt noch viel besser, dass ein<br />

Gesundungsprozess häufig Zeit braucht<br />

und nicht gradlinig, sondern als kurvenreicher<br />

Weg – Rückschläge eingeschlossen<br />

– verläuft. Die Gesundung<br />

ist auch ein innerer Weg. Die Seele<br />

und der Geist sind entscheidend mit<br />

beteiligt. Deswegen ist uns im Diakonie­Klinikum<br />

auch das Angebot der<br />

Seelsorge so eminent wichtig. Wenn<br />

ich meine Krankheit verleugne und<br />

meine Schwäche nur bekämpfe, wird<br />

es schwierig. Ich muss sie als Teil von<br />

mir selbst annehmen, sie als Aufgabe<br />

begreifen.<br />

2


28<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Auch der Wille des Kranken ist<br />

daran beteiligt. Dem Gelähmten am<br />

Teich Bethesda, der schon 38 Jahre<br />

krank und chancenlos darniederlag,<br />

stellt Jesus eine Frage, die in unseren<br />

Ohren fast unverschämt klingen<br />

könnte: „Willst du gesund werden?“<br />

(Johannes 5,6). Aber offensichtlich<br />

weiß Jesus, der Seelsorger, um dieses<br />

Phänomen, dass Menschen sich in<br />

ihrem Unglück so einrichten, dass der<br />

Wille zur Veränderung, zum Aufbruch<br />

und Neubeginn erlischt. Nach dem<br />

Motto: „Lieber das bekannte Unglück,<br />

als das unbekannte Glück…“<br />

Herr Weberheinz:<br />

Auf was kommt es bei diesem Weg<br />

an? Gibt es aus Sicht des Arztes den<br />

Musterpatienten?<br />

Herr Necker:<br />

Es kommt darauf an, dass der<br />

Patient merkt, dass der Arzt alles für<br />

seine Heilung unternimmt. Dass der<br />

Arzt sein ganzes Wissen und Können<br />

einsetzt, um dem Patienten zu helfen.<br />

Es muss offensichtlich werden, dass<br />

der Patient vom Arzt ernst genommen<br />

wird und als Mensch für ihn wichtig<br />

ist. Eine musterhafte Beziehung sieht<br />

in meinen Augen so aus, dass im Falle<br />

eines schwierigen Heilungsprozesses<br />

ein solch großes Maß an Vertrauen<br />

besteht, dass der Patient und der Arzt<br />

zusammen als Team die Krankheit<br />

bekämpfen. Kommt es nach einer<br />

Operation zu einem Rückschlag und es<br />

wird eine Nachoperation erforderlich,<br />

so sehe ich es als eine Auszeichnung<br />

für die Arzt­Patienten­Beziehung an,<br />

wenn der Patient auch dann das Vertrauen<br />

zum Arzt besitzt, den steinigen<br />

Weg weiter zusammen zu gehen, um<br />

zu einem guten, erfolgreichen Ende zu<br />

kommen.<br />

V. 15/16 Einer aber unter ihnen, als<br />

er sah, dass er gesund geworden war,<br />

kehrte er um und pries Gott mit lauter<br />

Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht<br />

zu Jesu Füßen und dankte ihm.<br />

Und das war ein Samariter.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Was passiert eigentlich bei dem<br />

einen, Herr Claß?<br />

Herr Claß:<br />

Alle 10 sind genesen und gesund<br />

geworden. 9 davon kehren schnurstracks<br />

in ihr früheres Leben zurück,<br />

wollen die schreckliche Zeit des Aussätzigseins<br />

möglichst schnell hinter<br />

sich lassen und vergessen. Endlich<br />

wieder Normalität erleben, das ist ihr<br />

großer Wunsch. Aber bei dem einen<br />

ist es anders. Er kann nicht einfach<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

in sein altes Leben zurückgehen. Da<br />

sind in und mit ihm Veränderungen im<br />

Gang, die über die körperliche Heilung<br />

hinausgehen, die seine ganze Person<br />

betreffen. Und die brauchen Zeit. Er<br />

muss ihnen auf die Spur kommen. Darum<br />

geht er nochmals zurück.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Aber ist die Reaktion der anderen<br />

9 nicht sehr verständlich. Endlich<br />

wieder Frau und Kinder in die Arme<br />

schließen, endlich wieder seinen alten<br />

Beruf ergreifen, endlich wieder Teil der<br />

Gesellschaft sein?<br />

Herr Claß:<br />

Ja, ich kann die anderen 9 nur zu<br />

gut verstehen! Vielleicht ginge es<br />

mir genauso. „Hauptsache gesund!“<br />

– und dann ohne Zögern wieder hinein<br />

ins alte Leben. Aber unser Text<br />

hält uns allen mit der Reaktion des<br />

einen Geheilten – übrigens eines<br />

Samaritaners, also eines ziemlich<br />

verhassten Ausländers! – einen Spiegel<br />

vor Augen. Die Erzählung macht<br />

deutlich: Es gibt noch etwas, was über<br />

das Gesundwerden hinausgeht. Und<br />

darum ist Jesus auch mehr als ein<br />

Arzt, mehr als ein Wunderdoktor. Unser<br />

Text unterscheidet auch sprachlich:<br />

Genesen, gesund geworden sind alle<br />

zehn – geholfen wurde nur einem oder<br />

genauer übersetzt: gerettet ist nur<br />

einer.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Was ist das für ein Unterschied?<br />

Herr Claß:<br />

Lassen Sie es mich an Dr. Necker<br />

verdeutlichen: Wenn ich mir ein Bein<br />

gebrochen habe, dann bin ich natürlich<br />

heilfroh, dass es einen Dr. Necker oder<br />

einen Kollegen/in von ihm aus der<br />

Chirurgie gibt, der mir tatsächlich helfen<br />

kann. Aber noch glücklicher bin ich,<br />

wenn ich Dr. Necker oder seine Kollegen<br />

nicht mehr brauche und das Diakonie­Klinikum<br />

wieder von außen sehen<br />

darf. Die Pointe unserer Geschichte:<br />

Jesus ist und war für die zehn mehr<br />

als ein Arzt, obwohl er ihnen geholfen<br />

hat in ihrem Leiden. Er hatte mehr<br />

mit ihnen vor. Sein heilendes Handeln<br />

vollzog sich nicht nach dem Motto:<br />

„So, jetzt seid ihr wieder ganz die<br />

Alten“, sondern damit wollte er etwas<br />

ganz Neues in ihr Leben hineinbringen:<br />

„Seht her, Gott selber kommt in<br />

euer Leben – und zwar nicht wie ein<br />

Arzt, bei dem ihr froh seid, sobald ihr<br />

ihn nicht mehr braucht, sondern wie<br />

jemand, der euer Leben teilt und zu<br />

dem es euch einfach hinzieht.“ Bei dem<br />

einen ist dieses Wunder – das zweite<br />

Wunder in der Erzählung – passiert:<br />

2


0<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Er sah sich so gezogen. Darum ist für<br />

ihn die Geschichte mit Jesus nicht zu<br />

Ende als er geheilt ist.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Wie erleben Sie, Dr. Necker, die<br />

Krankheitszeit bei Patienten? Ist diese<br />

Unterbrechung für manche eine Chance,<br />

sich auf das eigene Leben zu besinnen,<br />

neu zu erkennen, was wirklich<br />

wichtig ist? Rückt die Krankheitserfahrung<br />

die Maßstäbe zurecht?<br />

Herr Necker:<br />

Auch hier muss man die Art der<br />

Erkrankung unterscheiden. So spielt<br />

es durchaus eine Rolle, ob es sich um<br />

eine unglückliche Verletzung wie z.B.<br />

ein gebrochenes Bein handelt oder<br />

ob eine potenziell lebensgefährliche<br />

Erkrankung wie ein Herzinfarkt auftritt.<br />

Davon wiederum ist zu unterscheiden,<br />

ob eine schwere Tumorerkrankung vorliegt.<br />

Beim gebrochenen Bein wird sich<br />

der Lebensstil des Patienten sicherlich<br />

nicht großartig verändern. Fußball<br />

wird nach erfolgter Genesung weiter<br />

gespielt werden, der Patient wird<br />

sicherlich auch weiter versuchen, seine<br />

Skispuren in den Tiefschnee zu zaubern.<br />

Den Herzinfarkt dagegen erleben<br />

die meisten Patienten als Warnung,<br />

vielleicht als einen Schuss vor den<br />

Bug. Möglicherweise ändern sie kurz­<br />

zeitig den Lebensstil. Meistens allerdings<br />

verfällt man früher oder später in<br />

seinen alten Lebensrhythmus zurück,<br />

stressig und wieder mit viel Zigaretten.<br />

Der Mensch muss wieder als Maschine<br />

funktionieren können. Nur für wenige<br />

wird die Erkrankung eine heilsame<br />

Unterbrechung sein, eine Zeit sein, in<br />

der man einen veränderten Blick auf<br />

das Leben gewinnt. Lediglich im Falle<br />

der Tumorerkrankung, denke ich, werden<br />

die Patienten gezwungen, über den<br />

Sinn des Lebens nachzudenken. Man<br />

wird die Ziele in seinem Leben neu<br />

definieren. Diese Patienten werden<br />

sich wieder neu auf das eigene Leben<br />

besinnen.<br />

Herr Claß:<br />

Wie gehen Sie als Arzt damit um,<br />

wenn Sie den Eindruck gewinnen: hier<br />

ist ein Patient von existenziellen Fragen<br />

umgetrieben? Lässt der Zeitdruck<br />

Ihnen als Arzt überhaupt eine Chance,<br />

auf den Einzelnen einzugehen?<br />

Herr Necker:<br />

Sicherlich ist die Zeit manchmal<br />

eng bemessen, man ist in Hektik und<br />

muss seiner Arbeit auf der Station<br />

gerecht werden. Allerdings ist es<br />

wichtig zu erkennen, wann man sich<br />

für den Patienten besonders viel Zeit<br />

nehmen muss. Dies ist sicherlich<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

auch ein Lernprozess. Besonders die<br />

Gespräche fallen schwer, weil man<br />

im Medizinstudium kaum beigebracht<br />

bekommt, wie ein solches Gespräch zu<br />

führen ist. Vielleicht ist das auch ein<br />

Grund dafür, dass man als Arzt diese<br />

Gespräche nicht immer sucht, weil man<br />

sich selbst unsicher und der Situation<br />

nicht gewachsen fühlt. Man ist auch<br />

auf die Rückmeldung der Patienten und<br />

auf Gespräche und Ratschläge seiner<br />

Kollegen, Oberärzte und Chefs angewiesen,<br />

die erfahrener sind und schon<br />

öfters solche Gespräche geführt haben.<br />

Insgesamt zeichnet es aber sicher<br />

den guten Arzt aus, die Sensibilität zu<br />

besitzen, in welcher Situation ein ausführliches<br />

Gespräch für den Patienten<br />

wichtig ist. Außerdem sollte der gute<br />

Arzt im Gespräch einfühlsam sein und<br />

die richtigen Worte finden, damit der<br />

Patient beruhigter und gelassener aus<br />

dem Gespräch heraus geht.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Erleben Sie als Arzt so etwas wie<br />

Dankbarkeit oder ist die Beziehung<br />

zwischen Arzt und Patient immer mehr<br />

auch eine reine Geschäftsbeziehung:<br />

Ich bezahle – Du machst mich gesund?<br />

Herr Necker:<br />

Natürlich erlebt man immer noch<br />

sehr viel Dankbarkeit vom Patienten.<br />

Der Spaß an unserem Beruf hängt<br />

ganz eng damit zusammen, ob man<br />

spürt, dass die Patienten zufrieden und<br />

dankbar nach Hause gehen. Nach einer<br />

Operation erfährt man immer wieder<br />

sehr große Dankbarkeit, die oft schon<br />

im Aufwachraum, noch halb in Narkose,<br />

zum Ausdruck gebracht wird.<br />

Bei den niedergelassenen Ärzten<br />

könnte ich mir allerdings vorstellen,<br />

dass sich die Beziehung zwischen Arzt<br />

und Patient eher in Richtung einer<br />

Geschäftsbeziehung entwickelt. So hat<br />

man in einer orthopädischen Praxis nur<br />

7 Minuten Zeit, sich mit einem Patienten<br />

zu beschäftigen. Wenn man sich<br />

überlegt, dass die Begrüßung vielleicht<br />

schon 2 Minuten dauert, kann man sich<br />

vorstellen, dass nicht mehr viel Zeit<br />

übrig bleibt, etwas anderes als eine<br />

Geschäftsbeziehung aufzubauen.<br />

V. 17-19 Jesus aber antwortete<br />

und sprach: Sind nicht die zehn rein<br />

geworden? Wo sind aber die neun? Hat<br />

sich sonst keiner gefunden, der wieder<br />

umkehrte, um Gott die Ehre zu geben,<br />

als nur dieser Fremde? Und er sprach<br />

zu ihm: Steh auf, geh hin, dein Glaube<br />

hat dir geholfen.<br />

Herr Weberheinz:<br />

Was heißt das, Gott die Ehre geben,<br />

ihn loben, Herr Claß?<br />

1


2<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

Herr Claß:<br />

Mit diesem Thema tun sich manche<br />

Menschen – vielleicht auch unter<br />

uns – schwer. Denn Loben und Danken<br />

wurde früher häufig verordnet.<br />

Wahrscheinlich haben wir es aus<br />

Kindertagen noch im Ohr: „Wie sagt<br />

man…?!“ – „Sag auch danke!“ Aber<br />

hier geht es nicht um das Danken und<br />

Loben als moralische Pflichtübung;<br />

sonst erfasst man die Bedeutung<br />

unserer Geschichte nicht.<br />

Eine kleine Beobachtung kann<br />

uns weiterhelfen: „Leben“ und „Gott<br />

loben“ sind im Alten Testament nahezu<br />

gleichbedeutend. Diese Worte rücken<br />

ganz eng zusammen. Es geht um die<br />

einfache Erfahrung, dass ich lebe.<br />

Durch eine Krankheit verliert diese<br />

Erfahrung ihre Selbstverständlichkeit.<br />

Hautnah erlebe ich, wie gefährdet<br />

und zerbrechlich das eigene Leben ist.<br />

Das ist sozusagen der Hintergrund des<br />

Lobes. Auf dem Hintergrund dieser<br />

Erfahrung wird das wieder gefundene<br />

Leben zum Gegenstand großer, ja überschäumender<br />

Freude. Und diese Freude<br />

verlangt nach Ausdruck, nach Sprache,<br />

nach Musik und Tanz. Vor allem<br />

begreife ich im Lob mein Leben neu als<br />

Geschenk! Dass ich mein Leben wieder<br />

zurückbekommen habe, aus großer<br />

Gefahr gerettet worden bin, das habe<br />

ich nicht „gemacht“, das ist mir widerfahren.<br />

Im Lob, in der Freude wende<br />

ich mich an den Ursprung der Güte, an<br />

Gott, den Geber des Geschenks.<br />

Das Lob verwandelt unser Leben.<br />

Alles, was wir machen oder was uns<br />

widerfährt, ist ja zutiefst zweideutig.<br />

Ein paar Beispiele: „Das war heute ein<br />

schöner Nachmittag, aber leider ist er<br />

schon wieder vorbei“. „Mir solch ein<br />

schönes Geschenk zu machen, war ja<br />

sehr nett, aber verpflichtet mich das<br />

nicht auch wieder…“. „So schön das<br />

ist, dass ich wieder gesund bin, aber<br />

jetzt wartet auf mich wieder ein Berg<br />

von Aufgaben und Verpflichtungen…!“<br />

Man erlebt das <strong>Gut</strong>e und stellt es<br />

gleich wieder in Frage. Eine Falle!!!<br />

Aus dieser Falle hilft das Lob heraus.<br />

Es überwindet die Zweideutigkeit.<br />

Es bringt die Güte des Lebens<br />

ans Licht. Es besingt die Wahrheit<br />

der Liebe, die Gültigkeit der Heilung<br />

und Befreiung und die Verlässlichkeit<br />

der Treue Gottes. So kehrt im Lob<br />

etwas vom Glanz und Glück der ersten<br />

Schöpfungstage in unser Leben zurück:<br />

„Und siehe, es war sehr gut!“<br />

Herr Weberheinz:<br />

An Sie beide möchte ich die<br />

Abschlussfrage richten: Ist <strong>Gesundheit</strong><br />

das höchste <strong>Gut</strong>?<br />

P r e d i g t r e i h e i n d e r d i a k o n i s s e n k i r c h e<br />

Herr Necker:<br />

Ich denke, die <strong>Gesundheit</strong> ist auf<br />

alle Fälle ein sehr hohes <strong>Gut</strong>. Wenn z.<br />

B. ein Kind auf die Welt kommt, so lautet<br />

die erste Frage, ob das Kind gesund<br />

ist? Daran kann man erkennen, welch<br />

hohen Stellenwert die <strong>Gesundheit</strong><br />

einnimmt. Stellt man sich allerdings<br />

vor, dass das Kind eben nicht gesund<br />

ist, eine angeborene Fehlbildung hat,<br />

krank oder vielleicht behindert ist, was<br />

ist dann mit diesem Kind? Man kann<br />

diesem Kind doch nicht absprechen,<br />

in seinem Leben glücklich und froh zu<br />

werden. Es muss noch etwas anderes,<br />

etwas höheres im Leben geben als<br />

<strong>Gesundheit</strong>. <strong>Gesundheit</strong> ist daher in<br />

meinen Augen ein hohes, aber nicht<br />

das höchste <strong>Gut</strong>.<br />

Herr Claß:<br />

Ja, die Differenzierung von Dr.<br />

Necker, <strong>Gesundheit</strong> ist ein hohes <strong>Gut</strong>,<br />

aber nicht das höchste <strong>Gut</strong>, kann ich<br />

mir gut zu eigen machen. Mir stehen<br />

bei dieser Frage konkrete Menschen<br />

vor Augen, z. B. eine Freundin unserer<br />

Familie, die seit ihrer Geburt mit erheblichen<br />

körperlichen Beeinträchtigungen<br />

leben muss. Und trotzdem geht von ihr<br />

eine Lebensfreude und Lebenslust aus,<br />

von der man sich nur anstecken lassen<br />

kann. Sie lässt ihrer chronischen<br />

Beeinträchtigung nicht die Macht über<br />

ihr Leben, sondern setzt dem tagtäglich<br />

etwas entgegen: die Freude an ihren<br />

Kindern, den Rückhalt in der Partnerschaft,<br />

den Trost der Musik – ihren<br />

Glauben.<br />

Umgekehrt kenne ich Menschen,<br />

die gelten als gesund und sind doch<br />

heillos in sich selber verstrickt – immer<br />

unzufrieden, immer auf sich fixiert. Es<br />

gibt zahlreiche Formen einer gedankenlosen,<br />

heillosen <strong>Gesundheit</strong>.<br />

Der christliche Glaube wagt die<br />

Aussage, dass es noch etwas Größeres<br />

gibt als die <strong>Gesundheit</strong>, nämlich die<br />

Gewissheit, dass ich, ob ich gesund<br />

oder krank bin oder eine jener tausend<br />

Spielarten zwischen <strong>Gesundheit</strong><br />

und Krankheit erlebe, ob ich mitten<br />

im Leben stehe oder dem Sterben<br />

entgegengehe, in Gottes Hand geborgen<br />

bin.


Fürbittegebet<br />

g e s u n d h e i t – h ö c h s t e s g u t<br />

I.<br />

Gott, unser Schöpfer,<br />

wunderbar hast du uns gemacht,<br />

jede und jeden als ein einmaliges<br />

Kunstwerk.<br />

Leib und Seele hast du uns gegeben,<br />

unsere Sinne und unseren Verstand<br />

und du füllst unser Leben mit einem<br />

großen Reichtum an Erfahrung.<br />

Wir danken dir für unsere <strong>Gesundheit</strong>,<br />

dieses kostbare Geschenk!<br />

Schärfe unsere Sinne, damit wir deine<br />

Güte im Alltag entdecken.<br />

Führe uns weg von den Selbstzweifeln,<br />

dass wir uns als von dir gewollte und<br />

bejahte Menschen annehmen.<br />

II.<br />

Du Gott, in dessen Hand unsere Zeit<br />

steht:<br />

Und dann ist alles anders – von heute<br />

auf morgen.<br />

Ich bin krank, schwer krank und ich<br />

weiß nicht, ob ich heil aus all dem<br />

herauskommen werde.<br />

Das, was ich lange Zeit für selbstverständlich<br />

genommen habe,<br />

was ich vom Leben eingefordert und<br />

verlangt habe,<br />

weil es mir anscheinend zusteht,<br />

erlebe ich nun als Geschenk.<br />

Aber die Ungewissheit setzt mir auch zu:<br />

Wie geht es weiter? Was kommt noch<br />

auf mich zu?<br />

Ich suche nach einem Sinn,<br />

ich frage, wie schon lange nicht mehr,<br />

gehe in die Tiefe.<br />

Die Krankheit ist auch ein Anstoß, um<br />

zur Besinnung zu kommen.<br />

Verlass mich nicht, Gott, steh mir bei<br />

und all denen,<br />

deren Leben von Krankheit verdunkelt<br />

ist.<br />

III.<br />

Jesus Christus, Hilfe in der Not und<br />

Arzt der Kranken,<br />

wir bitten dich für Schwestern, Pfleger<br />

und Ärzte,<br />

für alle, die zu Hause ihre Kranken<br />

versorgen,<br />

sei du ihnen nahe mit deiner Kraft und<br />

Geduld,<br />

Segne alle, die den Kranken und<br />

Leidenden nicht ausweichen,<br />

sondern sie besuchen und die Not<br />

teilen.<br />

Stärke in uns allen den Glauben,<br />

dass wir alle, ob gesund oder krank,<br />

in deiner barmherzigen Hand sind und<br />

bleiben.

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