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Lebensretter für Millionen - Roche in Deutschland

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<strong>Lebensretter</strong> für <strong>Millionen</strong>


<strong>Lebensretter</strong> für <strong>Millionen</strong>


<strong>Lebensretter</strong> für <strong>Millionen</strong><br />

Sab<strong>in</strong>e Päuser<br />

Christoph Mörgeli<br />

Urs B. Schaad<br />

Vorwort von<br />

Eric Notegen<br />

Editiones <strong>Roche</strong><br />

Basel


Inhalt<br />

6<br />

8<br />

14<br />

Zum Geleit<br />

Vorwort<br />

Isoniazid (Rimifon):<br />

erstes Spezifikum gegen die Tuberkulose<br />

von Sab<strong>in</strong>e Päuser<br />

84<br />

Bactrim<br />

von Christoph Mörgeli<br />

150<br />

201<br />

Roceph<strong>in</strong><br />

von Urs B. Schaad<br />

Biographien<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Lektorat<br />

Graphik<br />

Foto Schutzumschlag:<br />

Alexander L. Bieri<br />

Reg<strong>in</strong>e Pötzsch<br />

BBF AG, Basel<br />

Urs Schachenmann<br />

2001275<br />

ISBN 978-3-907770-93-1<br />

© 2012 Editiones <strong>Roche</strong>, Basel<br />

5


Zum Geleit<br />

Vor 60 Jahren brachte <strong>Roche</strong> das erste gegen die Lungentuberkulose<br />

wirksame Medikament, «Rimifon», auf den Markt. Die<br />

Wirksubstanz von «Rimifon», Isoniazid, ist bis heute nicht aus der<br />

Tuberkulosetherapie wegzudenken. Zur Behandlung bakterieller<br />

Infekte führte <strong>Roche</strong> 16 Jahre später «Bactrim» e<strong>in</strong>. Der aus zwei<br />

Wirksubstanzen zusammengesetzte Inhaltsstoff Cotrimoxazol<br />

wurde seither rund zwei Milliarden Mal verabreicht. Als günstig<br />

verfügbares, breit e<strong>in</strong>setzbares Medikament s<strong>in</strong>d «Bactrim»<br />

und dessen Generikaformen besonders <strong>in</strong> Entwicklungsländern<br />

zu e<strong>in</strong>em Standard der Infektionsbehandlung geworden. Vor<br />

30 Jahren entwickelte <strong>Roche</strong> das Cephalospor<strong>in</strong>-Antibiotikum<br />

«Roceph<strong>in</strong>» zur Marktreife. Auch mit diesem Produkt, das bei<br />

besonders vielen Infektionskrankheiten e<strong>in</strong>gesetzt werden kann,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen <strong>Millionen</strong> Patient<strong>in</strong>nen und Patienten behandelt<br />

worden.<br />

Matthew White, Autor des Buches «Atrocitology. Humanity’s<br />

100 Deadliest Achievements» rechnet vor, dass sämtliche Kriege<br />

aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte rund 455 <strong>Millionen</strong><br />

Menschenleben gekostet haben. Demgegenüber halfen diese drei<br />

bemerkenswerten Anti<strong>in</strong>fektiva von <strong>Roche</strong> mehrere Milliarden<br />

Mal, Menschenleben zu retten.<br />

Oftmals werden diese altgedienten Heilmittel heute als selbstverständlich<br />

verfügbare Produkte betrachtet. Dabei wird gerne<br />

vergessen, dass ihre Erforschung und Vermarktung überhaupt<br />

erst durch Investoren ermöglicht wurde, die e<strong>in</strong>erseits den Mut<br />

hatten, <strong>in</strong> moderne Pharmaforschung zu <strong>in</strong>vestieren, andererseits<br />

aber auch ihre <strong>in</strong> die Forschung getätigten Investitionen bezahlt<br />

haben wollten. Bei allen drei genannten Produkten ist dies <strong>in</strong><br />

der Vergangenheit geschehen und diese Produkte werden nun<br />

als Generika von vielen Anbietern mit nur ger<strong>in</strong>gem Aufschlag<br />

auf die Herstellungskosten angeboten. Die durch mutige Investoren<br />

ermöglichte Forschungsleistung kommt seither breitesten<br />

Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt zugute. Angesichts<br />

der zunehmenden Resistenzen gegen Antibiotika werden wir auch<br />

<strong>in</strong> Zukunft darauf angewiesen se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e forschende Pharma<strong>in</strong>dustrie<br />

neue Produkte entwickelt und damit die heutigen<br />

Heilungschancen auf dem bisherigen Niveau erhalten bleiben<br />

oder gar noch ausgebaut werden können.<br />

Das doppelte Jubiläum von «Rimifon» und «Roceph<strong>in</strong>» bildet<br />

den Anlass, auf die Geschichte und den heutigen Nutzen dieser<br />

drei Anti<strong>in</strong>fektiva zurückzublicken. Jedes hatte auf dem Weg zum<br />

Klassiker der Pharmazie se<strong>in</strong>e eigenen Hürden zu überw<strong>in</strong>den, bei<br />

allen waren es überaus begabte Wissenschaftler<strong>in</strong>nen und Wissenschaftler,<br />

die den Erfolg ermöglicht haben. Ihnen hat <strong>Roche</strong> e<strong>in</strong><br />

Umfeld geboten, <strong>in</strong> dem sie sich entfalten konnten. Von dem so<br />

erzielten mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritt profitieren letztlich vor allem<br />

auch die Patient<strong>in</strong>nen und Patienten <strong>in</strong> den Entwicklungsländern.<br />

Es ist die Absicht der vorliegenden Darstellung, diese Zusammenhänge<br />

anhand der konkreten Beispiele aufzuzeigen.<br />

Dr. Gottlieb Keller<br />

General Counsel und Mitglied der Konzernleitung<br />

F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> AG<br />

6 7


Vorwort<br />

Zeitraum veränderte sich auch das regulatorische Umfeld sehr<br />

stark und hat somit die Entwicklung e<strong>in</strong>er starken Generika 1 -Industrie<br />

ermöglicht.<br />

Die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten<br />

und Therapien ist e<strong>in</strong> äusserst kostspieliges und langwieriges<br />

Unternehmen. Die Entwicklungskosten können heutzutage, je<br />

nach Indikation, zwischen 500 bis 1000 <strong>Millionen</strong> Franken oder<br />

mehr betragen. Die Entwicklungsdauer liegt zwischen acht und<br />

zwölf Jahren. Andererseits ist es möglich, Medikamente sehr leicht<br />

und rasch zu kopieren, weil deren Zusammensetzung jeweils<br />

bekannt gemacht werden muss. Damit sich solche Investitionen<br />

<strong>in</strong> Forschung und Entwicklung (F & E) überhaupt lohnen, müssen<br />

sie adäquat geschützt werden können, und hier kommen<br />

die Patente <strong>in</strong>s Spiel. Patente gewähren e<strong>in</strong> zeitlich beschränktes<br />

Recht, das geschützte Medikament exklusiv zu vermarkten. Billigere<br />

Nachahmerprodukte dürfen erst nach Ablauf der Patente<br />

auf den Markt kommen.<br />

Der Patentschutz ist, wie erwähnt, zeitlich beschränkt. Patente<br />

werden für e<strong>in</strong>e Laufzeit von 20 Jahren ab dem Anmeldetag erteilt.<br />

Bei Patenten für neue Medikamente kann die Laufzeit <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />

der Entwicklungsdauer um bis zu fünf Jahre verlängert<br />

werden. Da die Patente allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr frühen Stadium<br />

der Entwicklung angemeldet werden müssen, beträgt die effektive<br />

Patentlaufzeit, das heisst die Zeit zwischen Markte<strong>in</strong>führung und<br />

Patentablauf, im Durchschnitt etwa 13 bis 14 Jahre. In Entwicklungsländern<br />

und aufkommenden Ländern, wie Brasilien, Ch<strong>in</strong>a,<br />

Indien und Mexiko, können Patente allerd<strong>in</strong>gs nicht verlängert<br />

werden. Weil neue Medikamente <strong>in</strong> diesen Ländern auch erst<br />

später auf den Markt kommen, beträgt die effektive Patentlaufzeit<br />

nur etwa sechs bis acht Jahre.<br />

Da nur über Patente e<strong>in</strong>e zeitlich beschränkte Marktexklusivität<br />

ermöglicht werden kann, s<strong>in</strong>d sie für e<strong>in</strong> forschendes<br />

Pharmaunternehmen wie <strong>Roche</strong> von ausserordentlicher Bedeutung.<br />

Patente bilden quasi das Rückgrat unseres Geschäftsmodells.<br />

Das war aber nicht immer so. Die Bedeutung der Patente hat<br />

im Verlauf der letzten 40 Jahre stetig zugenommen. Im gleichen<br />

Die Entwicklung des Patentsystems<br />

Die Schweiz ist dem Europäischen Patentübere<strong>in</strong>kommen (EPUe)<br />

am 7. Oktober 1977 beigetreten und hat mit diesem Beitritt<br />

auch den sogenannten Stoffschutz für chemische Erzeugnisse<br />

e<strong>in</strong>schliesslich pharmazeutisch wirksamer Stoffe e<strong>in</strong>geführt. Der<br />

Stoffschutz ermöglicht es, den Wirkstoff selber zu patentieren. E<strong>in</strong><br />

Stoffpatent gewährt e<strong>in</strong>en umfassenden Schutz für den Wirkstoff,<br />

der unabhängig vom Herstellungsverfahren, von der Formulierung<br />

oder der Anwendung ist.<br />

Vor dem Beitritt zum EPUe konnten <strong>in</strong> der Schweiz und<br />

auch <strong>in</strong> vielen anderen Ländern 2 nur Verfahren zur Herstellung<br />

von Wirkstoffen patentiert werden. Das führte dazu, dass die<br />

Industrie sehr viel Geld <strong>in</strong> die Erforschung und Entwicklung von<br />

Herstellungsverfahren <strong>in</strong>vestierte, um e<strong>in</strong>en möglichst dichten<br />

Schutz für den Wirkstoff zu erhalten. Man wollte damit verh<strong>in</strong>dern,<br />

dass die Generika-Firmen patentfreie Herstellungsverfahren<br />

entwickeln konnten. Im Verlauf der 1980er Jahre haben dann<br />

immer mehr Länder den Stoffschutz e<strong>in</strong>geführt. Häufig geschah<br />

das im Zuge von Freihandelsabkommen, wobei die USA hier e<strong>in</strong>e<br />

führende Rolle übernommen hatten. Im Rahmen der Uruguay-<br />

Runde der GATT 3 -Verhandlungen wurde dann am 15. April<br />

1994 <strong>in</strong> Marrakesh, Marokko, die WTO 4 gegründet. Integraler<br />

Bestandteil des Vertragswerkes war auch der TRIPS 5 -Vertrag, <strong>in</strong><br />

welchem weltweit gültige Standards für die verschiedenen Rechte<br />

des geistigen Eigentums festgeschrieben wurden. Unter anderem<br />

wurde im TRIPS-Vertrag auch der Stoffschutz für chemische und<br />

pharmazeutische Wirkstoffe festgeschrieben.<br />

Die am wenigsten entwickelten Länder müssen sich noch<br />

nicht an sie halten. Sie haben e<strong>in</strong>e Übergangsfrist bis 2016, um<br />

die Standards e<strong>in</strong>zuführen. Es ist aber davon auszugehen, dass<br />

diese Frist noch weiter verlängert wird. Schwellenländer, wie<br />

Ch<strong>in</strong>a, Indien und Brasilien, mussten diese Standards mittlerweile<br />

<strong>in</strong> ihre Gesetzgebung aufnehmen. Indien hat als letztes<br />

dieser Länder den Stoffschutz für pharmazeutische Wirkstoffe<br />

per 1. Januar 2005 implementiert.<br />

1 Generika s<strong>in</strong>d Kopien des Orig<strong>in</strong>alpräparates,<br />

welche nach Patentablauf auf den Markt<br />

kommen.<br />

2 Italien hat den Stoffschutz ebenfalls mit<br />

dem Beitritt zum EPUe am 1. Dezember<br />

1978 e<strong>in</strong>geführt. <strong>Deutschland</strong> kannte den<br />

Stoffschutz schon seit 1968. E<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> den<br />

USA konnten pharmazeutische Wirkstoffe<br />

seit jeher als solche patentiert werden.<br />

3 General Agreement on Tariffs and Trade<br />

4 World Trade Organization/<br />

Welthandelsorganisation<br />

5 Trade-related Aspects of Intellectual<br />

Property/Handels-bezogene Aspekte des<br />

Geistigen Eigentums<br />

8 9


Entwicklung des regulatorischen Umfeldes<br />

Früher konnte mit der Entwicklung von Generika erst nach<br />

Patentablauf begonnen werden. Zudem konnten sich die Generikahersteller<br />

für die Zulassung ihrer Produkte nicht auf die Registrierungunterlagen<br />

des Orig<strong>in</strong>alherstellers beziehen, sondern<br />

mussten eigene Registrierungsunterlagen vorlegen, das heisst,<br />

sie mussten kl<strong>in</strong>ische Prüfungen vornehmen. Die Anforderungen<br />

an die fraglichen Unterlagen waren allerd<strong>in</strong>gs bis <strong>in</strong> die späten<br />

1960er Jahre nicht besonders hoch.<br />

Heute können Generika bereits während der Laufzeit des<br />

Patentes für das Orig<strong>in</strong>alpräparat entwickelt werden. Für die<br />

Zulassung kann man auf die Registrierungsunterlagen des Orig<strong>in</strong>alherstellers<br />

Bezug nehmen. Es muss lediglich gezeigt werden,<br />

dass die Bioverfügbarkeit des Generikums mit derjenigen des<br />

Orig<strong>in</strong>alpräparates vergleichbar ist. Generika werden heutzutage<br />

praktisch am Tag e<strong>in</strong>s nach Patentablauf auf den Markt gebracht.<br />

Die mit Patentabläufen e<strong>in</strong>hergehenden Umsatzverluste verliefen<br />

daher früher wesentlich moderater als heute. Dies kann<br />

anhand von zwei Beispielen illustriert werden.<br />

Abbildung 1 zeigt die <strong>in</strong> den USA erzielten Umsätze <strong>in</strong> <strong>Millionen</strong><br />

US-Dollar für Valium <strong>in</strong> den Jahren 1981 bis 1992. Valium<br />

war damals das umsatzstärkste Medikament von <strong>Roche</strong>. Das<br />

Patent für Valium lief <strong>in</strong> den USA im Februar 1985 ab. Die ersten<br />

Generika kamen etwa e<strong>in</strong> Jahr später auf den Markt. Während<br />

die Verkäufe <strong>in</strong> den USA im Spitzenjahr 1985 total 755 <strong>Millionen</strong><br />

US-Dollar betrugen, fielen sie 1986 auf 350 <strong>Millionen</strong> und 1987<br />

auf 210 <strong>Millionen</strong> Dollar zurück.<br />

Wesentlich dramatischer fallen die Umsatze<strong>in</strong>bussen heutzutage<br />

aus; vergleiche Abbildung 2. Diese Figur zeigt die <strong>in</strong> den<br />

USA erzielten Umsätze <strong>in</strong> <strong>Millionen</strong> Franken für Roceph<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

den Jahren 2000 bis 2006. Das Patent lief Mitte Juli 2005 ab. Die<br />

ersten Generika kamen am Tag nach Patentablauf auf den Markt<br />

und die Umsätze von <strong>Roche</strong> brachen völlig e<strong>in</strong>.<br />

Gerade dieses letzte Beispiel, welches die Kosequenzen von<br />

Patentabläufen e<strong>in</strong>drücklich dokumentiert, belegt sehr gut, weshalb<br />

solide, starke Patente für forschende Pharmaunternehmen<br />

so wichtig s<strong>in</strong>d. Um e<strong>in</strong> nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten,<br />

muss <strong>Roche</strong> im Durchschnitt etwa alle 10 Jahre se<strong>in</strong> gesamtes<br />

Produkteportfolio nicht nur erneuern, sondern auch erweitern,<br />

und zwar mit patentierten und <strong>in</strong>novativen, neuen Medikamenten<br />

und Therapien. Die Innovation wird quasi zur Pflicht!<br />

Im heutigen Umfeld gibt es zwei Faktoren, die für den<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritt verantwortlich s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>erseits<br />

das Patentsystem, welches die Voraussetzung schafft, um <strong>in</strong><br />

die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten<br />

und Therapien zu <strong>in</strong>vestieren, und andererseits die Existenz<br />

der Generika-Industrie, welche forschende Unternehmen zur<br />

Innovation zw<strong>in</strong>gt.<br />

Abbildung 1 Abbildung 2<br />

800<br />

755<br />

Figure 1<br />

1200<br />

700<br />

600<br />

500<br />

440<br />

470<br />

525<br />

660<br />

1000<br />

800<br />

893<br />

953<br />

889<br />

820<br />

796<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

350<br />

600<br />

490<br />

210 195 198<br />

400<br />

160<br />

130 125<br />

200<br />

25<br />

0<br />

1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006<br />

10 11


Isoniazid, Co-Trimoxazol und Ceftriaxon<br />

Die drei <strong>in</strong> diesem Buch beschriebenen Anti<strong>in</strong>fektiva, Isoniazid,<br />

Co-Trimoxazol und Ceftriaxon, hatten <strong>in</strong> Bezug auf den Patentschutz<br />

völlig unterschiedliche H<strong>in</strong>tergründe.<br />

Isoniazid, der Wirkstoff, den <strong>Roche</strong> unter der Marke Rimifon<br />

auf den Markt brachte, war schon lange bekannt, bevor dessen<br />

Wirksamkeit gegen die Tuberkulose gefunden wurde. Auch wenn<br />

Anfang der 1950er Jahre der Stoffschutz möglich gewesen wäre,<br />

hätte Isoniazid nicht mehr patentiert werden können, weil der<br />

Stoff eben nicht mehr neu war. Neuheit ist jedoch e<strong>in</strong> zw<strong>in</strong>gendes<br />

Erfordernis für die Patentierbarkeit. Da auch schon verschiedene<br />

Herstellungsverfahren bekannt waren, konnte auch mit Verfahrenspatenten<br />

ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igermassen wirksamer Schutz erzielt<br />

werden. Die Folge war natürlich, dass mehrere Firmen <strong>in</strong>nerhalb<br />

kurzer Zeit mit diesem Wirkstoff auf den Markt kamen, was<br />

erwartungsgemäss auf die Preise drückte.<br />

E<strong>in</strong> patentfreier Wirkstoff, wie Isoniazid, würde heutzutage<br />

kaum mehr entwickelt werden. Es gibt zwar noch den sogenannten<br />

Erstanmelderschutz, der aber ke<strong>in</strong>e Marktexklusivität<br />

verleiht. In der Europäischen Union und <strong>in</strong> der Schweiz beträgt<br />

der Erstanmelderschutz zehn Jahre für e<strong>in</strong>en Wirkstoff, der erstmals<br />

als Medikament entwickelt wurde. Die Dauer von zehn<br />

Jahren ist normalerweise deutlich kürzer als der Patentschutz.<br />

Ke<strong>in</strong>en Schutz gibt es, wenn für e<strong>in</strong>en bekannten Wirkstoff e<strong>in</strong>e<br />

völlig neue Indikation gefunden wird. Der Erstanmelderschutz<br />

bed<strong>in</strong>gt, dass die Gesundheitsbehörden während zehn Jahren<br />

nach der Erstzulassung ke<strong>in</strong>e weiteren Zulassungen erteilen,<br />

welche sich auf die Daten des Orig<strong>in</strong>alherstellers abstützen.<br />

Ausserhalb Europas ist dieser Schutz entweder nicht erhältlich<br />

oder zu kurz, um e<strong>in</strong> nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten.<br />

Der Erstanmelderschutz müsste weltweit attraktiver ausgestaltet,<br />

und auch auf neue Indikationen, welche umfangreiche kl<strong>in</strong>ische<br />

Prüfungen voraussetzen, ausgedehnt werden. Nur dann wäre es<br />

genügend attraktiv, e<strong>in</strong>en patentfreien Wirkstoff, wie Isoniazid,<br />

oder e<strong>in</strong>e völlig neue Indikation für e<strong>in</strong>en bekannten Wirkstoff<br />

zu entwickeln.<br />

Co-Trimoxazol wurde von <strong>Roche</strong> und Wellcome geme<strong>in</strong>sam<br />

entwickelt. <strong>Roche</strong> vermarktete Co-Trimoxazol unter der Marke<br />

Bactrim seit Ende der 1960er Jahre. Bactrim enthält e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation<br />

aus zwei Wirkstoffen, nämlich Sulfamethoxazol und<br />

Trimethoprim. Die Wirkstoffkomb<strong>in</strong>ation war als solche bereits<br />

<strong>in</strong> der Literatur beschrieben, so dass sie nicht mehr patentiert<br />

werden konnte. Sulfamethoxazol war ebenfalls e<strong>in</strong> seit langem<br />

bekannter Wirkstoff und konnte nicht mehr patentrechtlich<br />

geschützt werden. Beim Trimethoprim sah es allerd<strong>in</strong>gs etwas<br />

anders aus. Burroughs Wellcome erhielt am 10. November 1953<br />

e<strong>in</strong> Patent <strong>in</strong> den USA, das den Wirkstoff als solchen schützte.<br />

Das Patent lief im November 1970 ab. Inner- und ausserhalb<br />

der USA gelang es auch, e<strong>in</strong> relativ dichtes Patentportfolio aufzubauen,<br />

das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen wichtigen Märkten die Exklusivität für<br />

<strong>Roche</strong> und Wellcome sicherte.<br />

Ceftriaxon wurde <strong>in</strong> den Labors von <strong>Roche</strong> erfunden und ab<br />

den frühen 1980er Jahren unter der Marke Roceph<strong>in</strong> vermarktet.<br />

Ceftriaxon wurde 1979 weltweit zum Patent angemeldet und<br />

genoss auf allen wichtigen Märkten den Stoffschutz. Die Patente<br />

von <strong>Roche</strong> s<strong>in</strong>d weltweit im Jahre 1999 abgelaufen. In den USA<br />

gab es jedoch Patentschutz bis Mitte Juli 2005. Dieses Patent<br />

gehörte Hoechst und war genügend breit, um den Wirkstoff Ceftriaxon<br />

mit zu umfassen. Das Patent war vor den <strong>Roche</strong>-Patenten<br />

angemeldet worden, wurde aber erst viel später, nämlich im Jahre<br />

1988, erteilt. Da US-Patente damals e<strong>in</strong>e Laufzeit von 17 Jahren<br />

ab dem Tag der Erteilung hatten, lief der Stoffschutz für dieses<br />

Medikament somit erst Mitte 2005 ab. <strong>Roche</strong> war unter diesem<br />

Patent exklusiv lizenziert.<br />

Alle drei Produkte s<strong>in</strong>d heute generisch und billig erhältlich,<br />

und sie bef<strong>in</strong>den sich alle auf der Liste der essentiellen<br />

Medikamente der WHO. Diese <strong>in</strong>novativen Produkte kommen<br />

den Patient<strong>in</strong>nen und Patienten heute noch zugute. E<strong>in</strong>st als<br />

mediz<strong>in</strong>ische Innovationen von <strong>Roche</strong> auf den Markt gebracht,<br />

helfen sie dank ihrer breiten Verfügbarkeit bis heute, täglich<br />

Leben zu retten.<br />

Dr. Eric Notegen<br />

Chief Patent Officer<br />

F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> AG<br />

12 13


Isoniazid (Rimifon):<br />

erstes Spezifikum<br />

gegen die Tuberkulose<br />

Sab<strong>in</strong>e Päuser<br />

14


«Es wird oft gesagt, dass ‘der Mensch der grösste Fe<strong>in</strong>d<br />

des Menschen sei’. Das mag wahr se<strong>in</strong> oder auch nicht,<br />

sicher ist, dass er andere Fe<strong>in</strong>de hat, die mit ihm um diesen<br />

Titel wetteifern. E<strong>in</strong>er der bösartigsten unter ihnen, und<br />

e<strong>in</strong>er, der ihn seit den Anfängen der Geschichte und darüber<br />

h<strong>in</strong>aus plagte, ist die Tuberkulose. Es ist allgeme<strong>in</strong> nicht<br />

bekannt, dass der ‘Weisse Tod’ vergangener Zeiten, dieser<br />

unablässige Dezimator menschlicher Populationen, immer<br />

noch e<strong>in</strong>e der möglichen Todesursachen von heute ist. Tatsächlich<br />

ist die Tuberkulose mehr als jede andere Ur sache<br />

für den Tod der 15- bis 45-Jährigen verantwortlich.» 1<br />

Herman Herbert Fox, 1953<br />

1 Fox HH. The chemical attack on tuberculosis.<br />

Trans N Y Acad Sci. 1953 May;15(7):234-42.<br />

2 Isoniazid (INH) wurde 1952 von etlichen<br />

Firmen auf den Markt gebracht, da sich<br />

die Substanz nicht patentieren liess. Unter<br />

folgenden Handelsnamen wurde INH damals<br />

hergestellt: Rimifon (Hoffmann-La <strong>Roche</strong>),<br />

Nydrazid (Squibb and Sons, New York und<br />

London), Neoteben (Farbenfabriken Bayer),<br />

Bacill<strong>in</strong> (chem. Werke M<strong>in</strong>den), Cot<strong>in</strong>az<strong>in</strong><br />

(Chs. Pfizer & Co., New York), Mybasan<br />

(Antigen Laborat. Ltd, London), Pycazide<br />

(Herts Pharmaceuticals Ltd, London),<br />

Isonicot<strong>in</strong>ic Acid Hydrazyde (Organon<br />

Labor. Ltd., London).» Quelle: Enenkel H,<br />

Enenkel G. Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid. Das<br />

neue Antituberkulotikum. Sonderdruck aus<br />

Promedico 1952; 21 (6).<br />

In der DDR wurde es 1952 von der<br />

Firma Jenapharm hergestellt. Quelle:<br />

Blaurock G. Zur Chemotherapie der<br />

Tuberkulose II. Mitteilung: Tuberkulostase<br />

durch Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid. Dtsch<br />

Gesundheitsw. 1952 Jul. 24;7(30):941-3.<br />

Manchmal ist die Zeit reif für bestimmte Entdeckungen und<br />

der Druck, sie zum Segen der Menschen praktisch umzusetzen,<br />

ist riesengross. Und meist kommen dann an mehreren Stellen<br />

gleichzeitig auf der Welt Forscher unabhängig vone<strong>in</strong>ander und<br />

doch im Austausch mite<strong>in</strong>ander zu e<strong>in</strong>er Lösung. Selten ist sie so<br />

deckungsgleich wie im Falle des Isoniazids, des ersten spezifisch<br />

gegen Tuberkulose-Bazillen gerichteten Medikaments, welches<br />

von Forschern der Firmen <strong>Roche</strong>, Squibb und Bayer kurz h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander<br />

entdeckt wurde. 2<br />

Selten auch ruft die Lösung e<strong>in</strong>es mediz<strong>in</strong>ischen Problems<br />

soviel Euphorie hervor wie dieses Tuberkulose-Mittel, welches<br />

auch 60 Jahre nach se<strong>in</strong>er Entdeckung noch zum <strong>Lebensretter</strong> für<br />

viele Menschen wird – wenn auch <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit anderen<br />

Medikamenten.<br />

Aber selten war e<strong>in</strong> Arzneimittel auch so dr<strong>in</strong>gend nötig<br />

und so gesucht wie e<strong>in</strong> Tuberkulose-Heilmittel <strong>in</strong> der Mitte des<br />

20. Jahrhunderts, denn diese Infektionskrankheit wird immer<br />

dann zur Geissel der Menschheit, wenn Hunger und Elend das<br />

Immunsystem se<strong>in</strong>er Vertreter schwächen. Und so war auch den<br />

Tuberkulose-Forschern klar, was der Zweite Weltkrieg mit sich<br />

br<strong>in</strong>gen würde: e<strong>in</strong>en Wiederanstieg der Tuberkulose-Toten, der<br />

sich nicht auf Europa beschränken sollte.<br />

Wir haben heute <strong>in</strong> Westeuropa nahezu vergessen, welche Gefahr<br />

diese Infektionskrankheit e<strong>in</strong>st bedeutete. Tuberkelbazillen<br />

werden über die Luft verbreitet. Im Gegensatz zu vielen anderen<br />

Krankheitserregern, wie etwa den Grippe verursachenden<br />

Influenza-Viren, verändern sie ihre Oberfläche nicht. 3 Sie nutzen<br />

die Immunantwort <strong>in</strong> Form von Husten- und Niesreizen, um<br />

durch Tröpfchen<strong>in</strong>fektion von Mensch zu Mensch übertragen zu<br />

werden. Hustet e<strong>in</strong> Patient mit offener Tuberkulose, so gelangt<br />

ohne entsprechende Schutzmassnahmen, wie e<strong>in</strong>e Maske für den<br />

Erkrankten, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>fektiöses Aerosol <strong>in</strong> die umgebende Raumluft,<br />

<strong>in</strong> dem diese Mykobakterien stundenlang verbleiben können. 4<br />

Schon zehn dieser Bakterien sollen ausreichend se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong>e<br />

Primär<strong>in</strong>fektion hervorzurufen. 5 Die sich nur langsam vermehrenden<br />

Tuberkelbazillen können sich, wenn sie – meist ausgehend<br />

von der Lunge – den Blutstrom erreichen, <strong>in</strong> fast jedem Organ<br />

des Körpers e<strong>in</strong>nisten und es zerfressen. Der Tod naht unausweichlich,<br />

wenn das Immunsystem und/oder Medikamente den<br />

Erreger nicht <strong>in</strong> Schach halten können. Nicht umsonst hatte man<br />

der aktiven Tuberkulose e<strong>in</strong>st auch den Namen «galoppierende<br />

Schw<strong>in</strong>dsucht» gegeben.<br />

Schon der Erste Weltkrieg hatte die Anzahl der Tuberkulose-<br />

Opfer ansteigen lassen: 1914 lag die Zahl der jährlichen Tuberkulose-Todesopfer<br />

<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> bei 142 auf 100 000 E<strong>in</strong>wohner.<br />

Im Jahr 1918 war sie auf 230 pro 100 000 E<strong>in</strong>wohner gestiegen. 6<br />

In Frankreich starb 1918 jeder Sechste an der Tuberkulose. 7 Als<br />

sich dann 1945 Armeen und Flüchtl<strong>in</strong>gsströme durch Europa<br />

wälzten und viele Tausende dichtgedrängt, frierend und hungernd<br />

<strong>in</strong> Notunterkünften, <strong>in</strong> Luftschutzkellern, Militärbaracken<br />

und Kriegsgefangenenlagern untergebracht waren, hatten viele<br />

dieser Menschen e<strong>in</strong>er Infektion mit Tuberkelbazillen wenig<br />

entgegen zu setzen.<br />

Und so stieg denn auch die Tuberkulose-Mortalität, beispielsweise<br />

im kriegsgebeutelten Berl<strong>in</strong>, wieder an. Lag sie im Jahr 1938<br />

dort, bezogen auf 100 000 Lebende, bei 82 Toten, so betrug sie 316<br />

im Jahr 1946. Das entspricht e<strong>in</strong>er Steigerung der Todesrate an<br />

Tuberkulose auf 385%. 8 Doch «wenn wir alle<strong>in</strong> die Sterbefälle an<br />

Tuberkulose betrachten, sehen wir das Ausmass der Katastrophe<br />

noch nicht…», schrieb Anfang 1948 Professor Dr. med. Gerhard<br />

Johannes Paul Domagk (1895–1964), der Entdecker des ersten<br />

Sulfonamid-Antibiotikums Prontosil, damals Leiter des Institutes<br />

für experimentelle Pathologie und Bakteriologie der Farbenfabriken<br />

Bayer <strong>in</strong> Wuppertal-Elberfeld und führte genauer aus:<br />

3 Comas I, Chakravartti J, Small PM, Galagan<br />

J, Niemann S, Kremer K, et al. Human T cell<br />

epitopes of mycobacterium tuberculosis are<br />

evolutionarily hyperconserved. Nat Genet.<br />

2010 Jun;42(6):498-503.<br />

4 Marseken, M. Tuberkulose: Unterschätzt,<br />

gefährlich, tödlich. Fastbook Publish<strong>in</strong>g; 2010.<br />

5 Ewig S, Schaberg T. Tuberkulose heute. 2.<br />

vollständig neu bearbeitete und erweiterte<br />

Auflage, München –Deisenhofen: Dustri<br />

Verlag Dr. Karl Feistle; 2007.<br />

6 Burke RM. A historical chronology of<br />

tuberculosis. 2nd ed. Spr<strong>in</strong>gfield (IL): Charles<br />

C Thomas; 1955.<br />

7 Siehe Anm. 4.<br />

8 He<strong>in</strong> J, Kle<strong>in</strong>schmidt H, Uehl<strong>in</strong>ger E.<br />

Handbuch der Tuberkulose. Band 1,<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Grundlagen. Stuttgart: Georg<br />

Thieme Verlag; 1958.<br />

16 17


Tuberkuloseherde treten nicht nur <strong>in</strong> der Lunge auf<br />

Tuberkulose:<br />

Von der Infektion zur Schw<strong>in</strong>dsucht<br />

Centers for Disease Control and Preventions Image Library<br />

Tuberkelbakterien gesehen<br />

mit dem Elektronenmikroskop.<br />

Die gram-positiven aeroben<br />

Stäbchen-Bakterien teilen sich<br />

nur alle 16 bis 20 Stunden. Dies<br />

ist extrem langsam im Vergleich<br />

zu anderen Bakterien und macht<br />

e<strong>in</strong>e antibakterielle Behandlung<br />

schwierig.<br />

A<br />

B<br />

Nachweise e<strong>in</strong>er Knochentuberkulose<br />

im zweiten<br />

Lendenwirbelkörper<br />

(schwarzer Pfeil) und im<br />

Dornfortsatz des dritten<br />

Lendenwirbelkörpers<br />

(weisser Pfeil) mit der<br />

Magnetresonanztomographie<br />

(MRT). Bei der Abbildung<br />

A handelt es sich um<br />

e<strong>in</strong> T2-gewichtetes MR-<br />

Bild, bei der Abbildung B<br />

um e<strong>in</strong> T1-gewichtetes<br />

MR-Bild nach Kontrastmittelgabe.<br />

Die beiden <strong>in</strong>fektiösen<br />

Herde s<strong>in</strong>d stark<br />

durchblutet und nehmen<br />

daher viel Kontrastmittel<br />

auf.<br />

Marius Schmid<br />

Bei dieser Patient<strong>in</strong> führte die tuberkulöse Entzündung<br />

zur vollständigen Zerstörung der Nase.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Tuberkulöser<br />

Knieerguss: Weil<br />

er drei Jahre se<strong>in</strong>e<br />

Lungentuberkulose<br />

nicht behandeln<br />

liess, trat bei<br />

diesem Patienten<br />

e<strong>in</strong>e schmerzhafte<br />

Schwellung des<br />

Kniegelenks auf,<br />

die <strong>in</strong> Folge e<strong>in</strong>e<br />

Prothese nötig<br />

machte.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Mycobacterium tuberculosis-Bakterien können nahezu<br />

jedes Gewebe und jedes Organ des Körpers<br />

<strong>in</strong>fizieren. Die Infektion erfolgt meist durch E<strong>in</strong>atmen<br />

der Erreger. Es bilden sich kle<strong>in</strong>e Entzündungsherde<br />

<strong>in</strong> der Lunge, die der Körper mit Blutabwehrzellen<br />

e<strong>in</strong>kapselt. Diese Knötchen, die auch als Tuberkel<br />

oder Primärkomplexe bezeichnet werden, können<br />

sich ruhend verhalten und ohne Auswirkung bleiben.<br />

Nur bei etwa 5–10% der Infizierten entwickelt sich<br />

daraus die Krankheit Tuberkulose.<br />

Noch Jahre nach e<strong>in</strong>er Infektion kann sich aber aus<br />

ruhenden Herden e<strong>in</strong>e Tuberkulose entwickeln, besonders<br />

bei schlechter Infektabwehr des Infizierten,<br />

z. B. <strong>in</strong> höherem Alter oder wenn Krankheiten (AIDS)<br />

oder Medikamente (Immunsuppressiva) das Immunsystem<br />

schwächen. Wenn sich die Tuberkelbakterien<br />

<strong>in</strong> den Primärherden vermehren, diese Herde grösser<br />

werden und dann Kontakt zu den Blutgefässen<br />

bekommen, können die Erreger von dort im ganzen<br />

Körper verteilt werden. Besonders häufig siedeln sich<br />

die Bakterien nicht nur <strong>in</strong> der Lunge, sondern auch <strong>in</strong><br />

der Hirnhaut, <strong>in</strong> den Lymphknoten, <strong>in</strong> den Knochen,<br />

den Nieren, den Eierstöcken und <strong>in</strong> den Nebenhoden<br />

ab. Man spricht dann von extrapulmonaler Tuberkulose.<br />

Bei sehr schwachem Immunsystem können sich Tuberkelbakterien<br />

– verteilt über das Blut im ganzen<br />

Körper – <strong>in</strong> Form hirsekorngrosser Krankheitsherde<br />

<strong>in</strong> mehreren Organen ansiedeln. E<strong>in</strong>e solche Miliartuberkulose<br />

(ausgehend vom late<strong>in</strong>ischen Wort milium<br />

für Hirsekorn) führt <strong>in</strong> der Regel ohne E<strong>in</strong>satz wirksamer<br />

Medikamente <strong>in</strong>nerhalb weniger Tage zum Tod.<br />

Die häufigste Form aber ist die Lungentuberkulose.<br />

Hustet der Tuberkulose-Patient ke<strong>in</strong>e Bakterien aus,<br />

hat er e<strong>in</strong>e geschlossene Tuberkulose. F<strong>in</strong>det der<br />

tuberkulöse Herd <strong>in</strong> der Lunge Anschluss an e<strong>in</strong>e<br />

Luftröhre und werden aktive Erreger ausgehustet,<br />

hat der Infizierte e<strong>in</strong>e offene Tuberkulose und kann<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Jahres bis zu zehn andere Personen<br />

anstecken. E<strong>in</strong>e rasche Diagnose und Therapie ist<br />

notwendig. Zu den kl<strong>in</strong>ischen Krankheitssymptomen<br />

zählen Husten, Gewichtsabnahme, Appetitlosigkeit,<br />

Müdigkeit, Fieber, Nachtschweiss und manchmal<br />

Blutbeimengungen im Auswurf.<br />

18<br />

19


«Die Tuberkulose bedroht <strong>Deutschland</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausmaß,<br />

wie es uns bisher unbekannt ja unvorstellbar war. Ich brauche<br />

nur wenige Zahlen zu nennen: Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z<br />

Schleswig-Holste<strong>in</strong> schätzte man die Zahl der Behandlungsbedürftigen<br />

1947 auf m<strong>in</strong>destens 40 000, die der Offen-<br />

Tuberkulösen auf etwa 12 000. In den Großstädten liegen die<br />

Verhältnisse noch katastrophaler, Degkwitz 9 gab alle<strong>in</strong> für<br />

Hamburg folgende Zahlen an: 46 000 Patienten mit offener<br />

Tuberkulose und 150 000 Behandlungsbedürftige, für die<br />

aber nur 12 000 Heilstättenbetten zur Verfügung stehen.» 10<br />

9 Prof. Rudolf Degwitz (1889–1973) war e<strong>in</strong><br />

herausragender K<strong>in</strong>derarzt und früher<br />

Anhänger der NSDAP, der er 1923 beitrat.<br />

Später wandte er sich jedoch gegen das<br />

Naziregime und g<strong>in</strong>g dafür <strong>in</strong>s Gefängnis.<br />

10 Domagk G. Die experimentellen Grundlagen<br />

e<strong>in</strong>er Chemotherapie der Tuberkulose.<br />

Beitr Kl<strong>in</strong> Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch.<br />

1948;101(4):365-94.<br />

11 The toll of TB. Industrial bullet<strong>in</strong> of Arthur<br />

Deh<strong>in</strong> Dolittle. 1951 Dec;282.<br />

12 Kaempfert W. New drugs that combat<br />

tuberculosis hold out a promise of far more<br />

effective control. 1952, Historisches Archiv<br />

<strong>Roche</strong> (HAR).<br />

13 Reported Tuberculosis <strong>in</strong> the United States,<br />

2009 [Internet]. Atlanta (GA): Centers for<br />

Disease Control and Prevention; [updated<br />

2010 Oct 25; cited 2011 Jul]. Available<br />

from: http://www.cdc.gov/tb/statistics/<br />

reports/2009/table1.htm.<br />

Dieses Szenario liess Tuberkulose-Forscher zum Teil unsägliche<br />

Anstrengungen und Risiken auf sich nehmen, um dieser unheilvollen<br />

Krankheit E<strong>in</strong>halt zu bieten und zwar auf beiden Seiten des<br />

Atlantiks. Denn auch im kriegsverschonten Amerika starben die<br />

Menschen an Tuberkulose, trotz Sonnensche<strong>in</strong>-Sanatorien und<br />

auch ohne Hunger und überfüllte Notunterkünfte. Tuberkulose<br />

war der «Killer Nummer 1» der 15–35 Jährigen. 11 1948 starben <strong>in</strong><br />

den USA 43 833 Menschen an der Tuberkulose. 12 Noch im Jahr<br />

1953 erkrankten von 100 000 US-E<strong>in</strong>wohnern 52.6 an Tuberkulose<br />

und 12.4 starben daran. 13<br />

Neben dieser dr<strong>in</strong>genden Not waren <strong>in</strong> den 1940er und 1950er<br />

Jahren aber auch die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt, die<br />

das Auff<strong>in</strong>den wirksamer Medikamente zur Behandlung der<br />

Tuberkulose möglich machten: Der Erreger Mycobacterium tuberculosis<br />

war nebst e<strong>in</strong>iger se<strong>in</strong>er sehr spezifischen Eigenschaften<br />

schon seit 1882 bekannt. Verfahren, um <strong>in</strong> Zellkulturen und <strong>in</strong><br />

Tierversuchen zu untersuchen, wie sich se<strong>in</strong>e Vermehrung stoppen<br />

liesse, waren etabliert. Das erste, <strong>in</strong> dieser Zeit gefundene<br />

Antibiotikum gegen Tuberkulose sollte <strong>in</strong>des nicht halten, was<br />

es zunächst versprach.<br />

Hilfe aus dem Boden: Streptomyc<strong>in</strong><br />

Vermutlich existierten Tuberkulosebakterien schon im Boden,<br />

lange bevor es humane Lebewesen gab. Und so wurde das erste<br />

Heilmittel gegen Tuberkulose auch «im Boden» gefunden.<br />

Genauer gesagt handelte es sich um das Produkt von im Boden<br />

lebenden Mikroorganismen, von Bakterien, die – wie Pilze –<br />

mehrzellige Gebilde und Hyphen ausbilden. Entdeckt wurde die<br />

antituberkulöse Wirksamkeit im Labor des Mikrobiologen Selman<br />

Abraham Waksman (1888–1973) an der Rutgers-Universität<br />

<strong>in</strong> New Jersey <strong>in</strong> den USA.<br />

Waksman, der se<strong>in</strong>en ersten akademischen Abschluss an der<br />

Rutgers-Universität im Fach Landwirtschaft erworben hatte, war<br />

damals der Spezialist für Bodenbakterien <strong>in</strong> den USA und hatte<br />

1932 von der Amerikanischen Tuberkulose-Gesellschaft den Auftrag<br />

erhalten, die Überlebensfähigkeit von Tuberkulosebazillen<br />

im Boden zu untersuchen. Wie se<strong>in</strong> Mitarbeiter Chester Rh<strong>in</strong>es<br />

herausfand, überlebten Tuberkulosebakterien <strong>in</strong> sterilisierten<br />

Bodenproben recht gut. Ja sie vermehrten sich sogar, wenn diese<br />

mit verschiedenen Bodenbakterien angereichert wurden. Wurden<br />

die Bodenproben dagegen nicht sterilisiert und nichts unternommen,<br />

um die Pilze im Boden abzutöten, verr<strong>in</strong>gerte sich die Anzahl<br />

der Tuberkulosebakterien. Trotzdem können Tuberkulosebakterien<br />

im Boden für Monate überleben, selbst wenn es dort e<strong>in</strong>e<br />

komplexe mikrobiologische Population gibt, die ihnen das Leben<br />

schwer macht. Welche der Bodenmikroorganismen für die Zerstörung<br />

der Tuberkelbazillen verantwortlich se<strong>in</strong> könnten, vermochte<br />

Rh<strong>in</strong>es nicht herauszuf<strong>in</strong>den. Diesen Aufsehen erregenden, 1935<br />

veröffentlichten Ergebnissen 14 folgten zunächst ke<strong>in</strong>e weiteren<br />

Experimente mit Tuberkulosebakterien. Waksman <strong>in</strong>teressierte<br />

sich zu dieser Zeit mehr für das Mite<strong>in</strong>ander der Bakterien im<br />

Boden, das – wie er herausfand – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em knallharten Konkurrenzkampf<br />

um das Angebot an Platz und Nährstoffen bestand,<br />

ausgefochten mit Hilfe «chemischer Waffen».<br />

Die D<strong>in</strong>ge änderten sich als 1939 e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er ehemaligen<br />

Doktoranden, René Dubos (1901–1982), am Rockefeller Institut<br />

<strong>in</strong> New York aus Bacillus brevis-Bodenbakterien diese chemischen<br />

Waffen isolierte und mit ihnen bakterielle Infektionen bekämpfte.<br />

Die von Dubos isolierten und von Waksman 1942 «Antibiotika»<br />

getauften Substanzen erwiesen sich zwar, sowohl oral als auch<br />

<strong>in</strong>travenös verabreicht, als zu toxisch für den Menschen, aber<br />

sie konnten bei Wund<strong>in</strong>fektionen und auf der Haut lokal angewendet<br />

werden. Und sie beflügelten die Phantasie der Forscher<br />

und liessen erneut die Hoffnung keimen: Sollte sich nicht doch<br />

auch e<strong>in</strong> Antibiotikum gegen Tuberkulose f<strong>in</strong>den lassen und zwar<br />

im Boden? Die zu dieser Zeit schon existierenden Antibiotika,<br />

das von Flem<strong>in</strong>g gefundene, aus Schimmel isolierte Antibiotikum<br />

Penicill<strong>in</strong>, und auch das erste synthetische Antibiotikum<br />

14 Rh<strong>in</strong>es C. The persistence of avian tubercle<br />

bacilli <strong>in</strong> soil and <strong>in</strong> association with<br />

soil microorganisms. J Bacteriol. 1935<br />

Mar;29(3):299-311.<br />

20 21


Streptomyc<strong>in</strong><br />

15 K<strong>in</strong>gston W. Streptomyc<strong>in</strong>, Schatz v.<br />

Waksman, and the balance of credit for<br />

discovery. J Hist Med Allied Sci. 2004<br />

Jul;59(3):441-62.<br />

16 Lechevalier HA. The search for antibiotics<br />

at Rutgers University. Parascandola J. The<br />

History of Antibiotics: A Symposium. Madison<br />

(WI): American Institute of the History of<br />

Pharmacy; 1980.<br />

17 Schatz A, Bugie E, Waksman SA.<br />

Streptomyc<strong>in</strong>, a substance exhibit<strong>in</strong>g<br />

antibiotic activity aga<strong>in</strong>st gram-positive and<br />

gram-negative bacteria. Proc Soc Exp Biol<br />

and Med. 1944;55:66-9.<br />

18 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer<br />

W. Erfahrungsbericht des Teams<br />

der Gesellschaft Schweizerischer<br />

Tuberkuloseärzte zur kl<strong>in</strong>ischen Prüfung<br />

von Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12<br />

(Suppl 1):9.<br />

Prontosil, vermochten nichts gegen Mycobacterium tuberculosis<br />

auszurichten.<br />

Und so wurde von nun an mit f<strong>in</strong>anzieller Unterstützung<br />

der pharmazeutischen Firma George Merck & Co 15 <strong>in</strong> Waksmans<br />

Labor nach neuen Antibiotika gesucht – vor allem gegen<br />

Tuberkulose. Untersucht wurde die Hemmwirkung von im<br />

Boden lebenden Mikroorganismen, meist Bakterien, auf den<br />

Tuberkulose-Erreger. Die Firma Merck beteiligte sich an der<br />

Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Antibiotikum nicht nur f<strong>in</strong>anziell:<br />

Während Waksman und se<strong>in</strong>e Mitarbeiter sich mit den Mikroben<br />

beschäftigten, kümmerten sich Wissenschaftler von Merck um<br />

die Chemie und Pharmakologie der gefundenen Antibiotika. 16<br />

Die f<strong>in</strong>anzielle Vere<strong>in</strong>barung mit Merck sah vor, dass die Firma<br />

alle Erf<strong>in</strong>dungen von praktischer Bedeutung patentieren lassen<br />

und dann 2.5% der E<strong>in</strong>nahmen aus den Verkäufen von daraus<br />

hervorgegangenen Medikamenten an die Rutgers-Universität<br />

zahlen würde.<br />

Am 19. Oktober 1943 isolierte e<strong>in</strong> Doktorand Waksmans,<br />

Albert Schatz (1920–2005), erstmals e<strong>in</strong> Antibiotikum aus Streptomyces<br />

griseus-Bakterien, welches den Namen Streptomyc<strong>in</strong><br />

erhielt. Im Januar 1944 veröffentlichten Schatz, Waksman und<br />

Elizabeth Bugie die Entdeckung, dass dieses Streptomyc<strong>in</strong> das<br />

Wachstum etlicher grampositiver und gramnegativer Bakterien<br />

hemmen konnte. 17 Mitte 1945 folgten weitere Publikationen, <strong>in</strong><br />

denen bekannt gegeben wurde, dass Streptomyc<strong>in</strong> das Wachstum<br />

von Tuberkelbazillen im Kultur- und im Tierversuch verh<strong>in</strong>derte.<br />

Das Antibiotikum wurde unter anderem mit der gefährlichsten<br />

Art humaner Tuberkulosebakterien getestet: mit H37Rv, e<strong>in</strong>em<br />

Stamm, mit dem später auch Forscher der <strong>Roche</strong> ihre potenziellen<br />

Tuberkulose-Mittel testeten.<br />

In den Jahren 1945 und 1946 wurden die ersten Ergebnisse<br />

der kl<strong>in</strong>ischen Prüfung von Streptomyc<strong>in</strong> veröffentlicht. 18 Es ist<br />

anzunehmen, dass der erste Tuberkulose-Patient, der Streptomyc<strong>in</strong><br />

erhielt, noch mit Material behandelt wurde, welches Schatz <strong>in</strong><br />

mühsamer Handarbeit im Labor hergestellt hatte. Ab 1946 wurde<br />

Streptomyc<strong>in</strong> biotechnologisch <strong>in</strong> den Fermentern der amerikanischen<br />

Firma Merck & Co <strong>in</strong> Elkton, Virg<strong>in</strong>ia, produziert.<br />

Ohne Patente ke<strong>in</strong>e Medikamente<br />

Als Waksman 1945 zu ahnen begann, welche Bedeutung Streptomyc<strong>in</strong><br />

erlangen könnte, und dass die Produktionskapazitäten<br />

von Merck eventuell nicht ausreichen würden, den Bedarf zu<br />

decken, wandte er sich mit der Bitte an Merck, die Patentrechte<br />

an die Rutgers-Universität zurückzugeben. Auch andere Firmen<br />

sollten Lizenznehmer werden können. Die Firma Merck kam dem<br />

entgegen und übertrug ihre 1939 mit Waksman ausgehandelten<br />

Patentrechte 1946 zurück an die Rutgers-Forschungsstiftung.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs bed<strong>in</strong>gte sich Merck e<strong>in</strong>en Rabatt auf die Gebühren<br />

für die nichtexklusive Lizenz zur Produktion von Streptomyc<strong>in</strong><br />

aus, um zum Teil die Kosten zu kompensieren, die die Firma <strong>in</strong><br />

die Entwicklung von Streptomyc<strong>in</strong> gesteckt hatte. Damit war<br />

der Weg frei für andere Firmen, Lizenzen zur Herstellung des<br />

dr<strong>in</strong>gend benötigten Streptomyc<strong>in</strong>s zu erwerben.<br />

Waksman überredete nun auch se<strong>in</strong>e Mitentdecker Schatz und<br />

Bugie, «auf alle E<strong>in</strong>nahmen aus dem Streptomyc<strong>in</strong>-Patent zugunsten<br />

der Rutgers-Forschungsstiftung zu verzichten». 19 Schatz<br />

entdeckte jedoch später, dass Waksman e<strong>in</strong>en Vertrag mit der<br />

Rutgers-Forschungsstiftung abgeschlossen hatte, der Waksman<br />

persönlich 20% der E<strong>in</strong>nahmen aus dem Streptomyc<strong>in</strong>-Patent<br />

sicherte. Der erboste Schatz zog 1950 vor Gericht, was ihm e<strong>in</strong>e<br />

Abf<strong>in</strong>dung und 3% der jährlichen Streptomyc<strong>in</strong>-Lizenzgebühren<br />

der Rutgers-Forschungsstiftung e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, aber – wie sich später<br />

zeigte – se<strong>in</strong>e wissenschaftliche Karriere verh<strong>in</strong>dern sollte.<br />

Waksmans persönlicher Anteil an den E<strong>in</strong>nahmen wurde auf 10%<br />

herabgesetzt, 7% wurden unter den anderen, an der Entdeckung<br />

von Streptomyc<strong>in</strong> beteiligten Mitarbeitern des Labors verteilt.<br />

Waksman selbst reduzierte später se<strong>in</strong>en Anteil auf 5%.<br />

Diese Regelung, e<strong>in</strong>er Firma nicht mehr die alle<strong>in</strong>igen Rechte<br />

an e<strong>in</strong>em Antibiotikum e<strong>in</strong>zuräumen, sollte Rutgers beibehalten<br />

und führte letzlich dazu, dass die Antibiotika-Forschung an dieser<br />

Universität e<strong>in</strong>gestellt wurde musste. 20<br />

Enttäuschungen<br />

Der Nobelpreis für Mediz<strong>in</strong> g<strong>in</strong>g im Jahr 1952 nur an Waksman<br />

für «se<strong>in</strong>e Entdeckung des Streptomyc<strong>in</strong>s, als des ersten gegen<br />

Tuberkulose effektiven Antibiotikums», was Schatz und die an der<br />

kl<strong>in</strong>ischen Testung von Streptomyc<strong>in</strong> beteiligten Ärzte verbitterte.<br />

Und: Streptomyc<strong>in</strong> erwies sich leider nicht als das Wundermittel<br />

gegen Tuberkulose, für das man es anfangs gehalten hatte.<br />

Es wirkte nicht bei allen Patienten und die «Heilung» war oft nicht<br />

von Dauer. Kehrte die Tuberkulose bei den mit Streptomyc<strong>in</strong><br />

behandelten Patienten zurück, so erwiesen sich die Tuberkelbazillen<br />

bei diesen Patienten nun oft als resistent gegen Streptomyc<strong>in</strong>.<br />

Schlimmer noch, Streptomyc<strong>in</strong> war auch wirkungslos bei<br />

19 Zankl H. Wertvoller Bakterienkiller. In:<br />

Kampfhähne der Wissenschaft. 1.Aufl.<br />

We<strong>in</strong>heim: Wiley VCH; 2010.<br />

20 Siehe Anm. 16.<br />

22 23


21 Bernheim F. The effect of salicylate on the<br />

oxygen uptake of the tubercle bacillus.<br />

Science. 1940 Aug 30;92(2383):204.<br />

22 Bernheim F. The effect of various substances<br />

on the oxygen uptake of the tubercle bacillus.<br />

J Bacteriol. 1941 Mar;41(3):387-95<br />

23 Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never<br />

told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd;<br />

1992.<br />

jenen, die sich bei Patienten mit gegen Streptomyc<strong>in</strong> resistenter<br />

Tuberkulose angesteckt hatten. Zudem schädigte Streptomyc<strong>in</strong><br />

bei e<strong>in</strong>igen Patienten die Hörnerven, etliche wurden durch die<br />

Therapie taub oder schwerhörig. Die Situation verbesserte sich<br />

etwas, als man <strong>in</strong> Amerika erstmals e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ationstherapie<br />

<strong>in</strong> kontrollierten kl<strong>in</strong>ischen Studien prüfte: Streptomyc<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

Komb<strong>in</strong>ation mit para-Am<strong>in</strong>o-Salizylsäure (PAS).<br />

Geniale Überlegung: para-Am<strong>in</strong>o-Salizylsäure<br />

Im Gegensatz zur F<strong>in</strong>dung des Streptomyc<strong>in</strong>s war die Entdeckung<br />

von PAS zunächst nicht das Ergebnis umfangreicher<br />

mikrobiologischer Experimente im Labor, sondern Frucht e<strong>in</strong>es<br />

genialen Gedankenexperiments. Im kriegsneutralen Schweden<br />

las 1940/1941 der dänische Physiologieprofessor Jørgen Lehmann<br />

(1898–1989), Leiter des Zentrallabors des Sahlgrenska<br />

Universitätsspitals, die Artikel se<strong>in</strong>es Kollegen Frederick Bernheim<br />

(1905 bis vermutlich 1988) von der Duke University Medical<br />

School. Dieser berichtete davon, dass sich der Sauerstoffverbrauch<br />

von Tuberkelbazillen nach Zugabe von Acetylsalicylsäure<br />

(Aspir<strong>in</strong>) erhöhte. Dies war von der Aspir<strong>in</strong>-Konzentration<br />

abhängig 21 und geschah auch erst nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit, die,<br />

wie Bernheim annahm, wohl dazu gebraucht würde, um «die<br />

Acetylgruppe des Aspir<strong>in</strong>s zu hydrolysieren». Bernheim hatte<br />

zuvor den E<strong>in</strong>fluss mehrerer Substanzen auf den Stoffwechsel<br />

der Tuberkelbazillen untersucht. 22 Aspir<strong>in</strong> oder ähnliche Verb<strong>in</strong>dungen<br />

könnten für Tuberkelbazillen wichtig se<strong>in</strong>, schlussfolgerte<br />

er. Lehmann spann diesen Gedanken weiter: Wenn man<br />

Acetylsalicylsäure-Moleküle so modifizierte, dass sie von den<br />

Tuberkelbazillen zwar zur Energiegew<strong>in</strong>nung aufgenommen,<br />

dann dazu aber nicht mehr verwertet werden konnten, hätte<br />

man vielleicht e<strong>in</strong> Heilmittel. Aber welche Art von Modifikation<br />

sollte man am Aspir<strong>in</strong> vornehmen? «Tatsächlich war es sehr<br />

e<strong>in</strong>fach. Bei den Sulfonamiden befand sich e<strong>in</strong>e Am<strong>in</strong>ogruppe<br />

<strong>in</strong> der para-Position. Wenn man diese Am<strong>in</strong>ogruppe durch<br />

e<strong>in</strong>e andere Gruppe ersetzte oder sie an die ortho- oder meta-<br />

Position setzte, verm<strong>in</strong>derte sich der bakteriostatische Effekt<br />

oder verschwand ganz», 23 soll Lehmann se<strong>in</strong>e Überlegungen<br />

später beschrieben haben.<br />

Lehmann schlug daher dem schwedischen mittelständischen<br />

Unternehmen Ferrosan die Synthese e<strong>in</strong>es modifizierten Aspir<strong>in</strong>s<br />

mit e<strong>in</strong>er Am<strong>in</strong>ogruppe <strong>in</strong> para-Position zur Acetylgruppe vor.<br />

Diese Substanz, mit der auf dem Papier so e<strong>in</strong>fach aussehenden<br />

Struktur (siehe nebenstehende Formel), liess sich anfangs allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht e<strong>in</strong>fach herstellen. Zudem war sie von deutschen<br />

Chemikern schon zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts synthetisiert<br />

worden und liess sich daher auch nicht mehr patentieren. Und<br />

dennoch arbeitete e<strong>in</strong> Chemiker bei Ferrosan an e<strong>in</strong>er neuen<br />

Synthese und die Firma stellte Lehmann die Substanz für dessen<br />

Laborversuche und später auch für die kl<strong>in</strong>ischen Studien zur<br />

Verfügung.<br />

Lehmann erdachte und prüfte PAS nicht nur eigenhändig im<br />

Labor, er testete die Substanz auch an sich selbst. Erst nachdem<br />

er die Substanz geschluckt und sich selbst <strong>in</strong>jiziert hatte, gab<br />

er sie zur Prüfung an e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Patient<strong>in</strong> frei, die an e<strong>in</strong>em<br />

Lymphom und an Knochentuberkulose litt. Im Frühl<strong>in</strong>g 1946<br />

wurde die Presse über das Ergebnis der Testung mit weiteren<br />

Patienten <strong>in</strong>formiert. 24 Noch im selben Jahr kam das Präparat <strong>in</strong><br />

den Handel und zu breiter kl<strong>in</strong>ischer Anwendung.<br />

PAS hatte weder solche gravierenden Nebenwirkungen wie<br />

Streptomyc<strong>in</strong>, noch musste es wie dieses gespritzt werden; man<br />

konnte es schlucken. Auch war PAS e<strong>in</strong>facher durch chemische<br />

Synthesen herzustellen als das biotechnologisch erzeugte Streptomyc<strong>in</strong>.<br />

Aber beide Medikamente hatten nur e<strong>in</strong>e bakteriostatische<br />

Wirkung, das heisst sie hemmten das Wachstum der Tuberkelbazillen,<br />

konnten sie aber nicht abtöten. Zudem entwickelten<br />

sich schnell Resistenzen gegen beide Medikamente. Mit e<strong>in</strong>er<br />

Komb<strong>in</strong>ationstherapie aus beiden Medikamenten konnte man<br />

Patienten helfen, bis Erkrankungen mit neuen Tuberkelbazillen<br />

auftraten, die gegen beide Mittel resistent waren.<br />

Zu toxisch, aber doch den Weg weisend:<br />

die Thiosemicarbazone<br />

Bei Bayer hatte man die Tuberkulose-Forschung mit Ausbruch<br />

des Zweiten Weltkrieges zunächst aufgegeben. Domagk, damals<br />

tätig am Forschungs<strong>in</strong>stitut für experimentelle Pathologie und<br />

Bakteriologie der Farbenfabriken Bayer <strong>in</strong> Wuppertal-Elberfeld,<br />

befürchtete jedoch aufgrund se<strong>in</strong>er Erfahrungen im und nach<br />

dem Ersten Weltkrieg e<strong>in</strong>e neue Tuberkulose-Epidemie. Am<br />

9. November 1940 riet er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an das Management<br />

von Bayer dr<strong>in</strong>gend dazu, die Tuberkulose-Forschung wieder<br />

aufzunehmen. Schon bald nach Wiederaufnahme der Experimente<br />

entdeckte Domagk, dass von den Sulfonamiden «die thiazolhaltigen<br />

e<strong>in</strong>en bemerkenswerten Hemmungseffekt gegenüber<br />

Tuberkelbacillen entfalteten». 25 Und bereits im November 1941<br />

para-Am<strong>in</strong>o-Salizylsäure<br />

24 Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never<br />

told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd;<br />

1992.<br />

25 Domagk G, Offe HA, Siefken W.<br />

Weiterentwicklung der Chemotherapie<br />

der Tuberkulose. Beitr Kl<strong>in</strong> Tuberk Spezif<br />

Tuberkuloseforsch. 1952 Aug 22;107(4):<br />

325-37.<br />

24 25


Tibione (Conteben)<br />

26 Domagk G. Lebenser<strong>in</strong>nerungen Band 1<br />

S. 267 Bayer Archiv Leverkusen.<br />

27 Mietzsch F. Die Pharmazeutische<br />

Nachkriegsforschung der Farbenfabriken<br />

Bayer Aktiengesellschaft. Mediz<strong>in</strong> und<br />

Chemie Bd.V. We<strong>in</strong>heim/Bergstr.: Verlag<br />

Chemie GmBH; 1956; S. 11-24.<br />

28 Professor Fritz Mietzsch (1896–1958) wurde<br />

1954 Leiter der Elberfelder Forschung.<br />

29 Domagk G. Lebenser<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong> Bildern<br />

und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995;<br />

S. 46.<br />

30 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer<br />

W. Erfahrungsbericht des Teams<br />

der Gesellschaft Schweizerischer<br />

Tuberkuloseärzte zur kl<strong>in</strong>ischen Prüfung von<br />

Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12(Suppl<br />

1):1-344.<br />

war den Experten <strong>in</strong> Elberfeld bekannt, dass die Thiosemicarbazone<br />

e<strong>in</strong>e bemerkenswerte antituberkulöse Wirkung im Kulturund<br />

Tierversuch aufwiesen. In der ersten Hälfte des Jahres 1944<br />

musste diese Forschung aber erneut e<strong>in</strong>gestellt werden: Nach<br />

e<strong>in</strong>er massiven Bombardierung war die Stadt Elberfeld nur noch<br />

e<strong>in</strong> Trümmerhaufen. Die meisten von Domagks Mitarbeitern<br />

waren obdachlos, verwundet oder tot.<br />

Viele Schwierigkeiten mussten überwunden werden, um der<br />

Tuberkulose-Forschung bei Bayer nach dem Krieg wieder Leben<br />

e<strong>in</strong>zuhauchen: Erst im Oktober/November 1945 gestattete die<br />

britische Besatzungsmacht die Wiedereröffnung der Elberfelder<br />

Forschungslaboratorien. Im kriegszerstörten <strong>Deutschland</strong> zu<br />

diesem Zeitpunkt Materialien für die Forschung aufzutreiben,<br />

war zudem alles andere als e<strong>in</strong>fach: «Dazu kam, dass <strong>in</strong> den ersten<br />

Nachkriegsjahren <strong>in</strong>folge der schwierigen Ernährungsverhältnisse<br />

das für die pharmazeutische Forschung nun e<strong>in</strong>mal unumgänglich<br />

notwendige Tiermaterial kaum zu beschaffen war, da es<br />

entweder der menschlichen Ernährung zugeführt wurde oder<br />

wegen Futtermittelknappheit gar nicht erst gezüchtet werden<br />

konnte» 27 , er<strong>in</strong>nerte sich 1956 Fritz Mietzsch 28 (1896–1958). Das<br />

Hauptproblem war jedoch die Rekrutierung neuer Mitarbeiter.<br />

Viele Mitglieder der alten Belegschaft hatten ihr Leben lassen<br />

müssen oder waren durch den Krieg <strong>in</strong> alle W<strong>in</strong>de zerstreut worden.<br />

Dies galt übrigens auch für Domagks Familie: Se<strong>in</strong>e Mutter<br />

war auf der Flucht aus Ostpreussen verhungert. Se<strong>in</strong>e Schwester<br />

überlebte die Flucht und erreichte Wuppertal im Januar 1946 «<strong>in</strong><br />

bedauernswertem Zustand». 29 Se<strong>in</strong>e Frau und drei se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>der<br />

waren noch evakuiert.<br />

Trotzdem kam die Forschung mit den Thiosemicarbazonen so<br />

gut voran, dass Domagk 1946/1947 ihre kl<strong>in</strong>ische Erprobung für<br />

gerechtfertigt hielt. E<strong>in</strong>e dieser Substanzen, das p-Acetylam<strong>in</strong>obenzaldehyd-thiosemicarbazon,<br />

erwies sich als besonders wirkungsvoll<br />

und sollte später <strong>in</strong> Europa als Conteben vermarktet<br />

werden.<br />

In den USA wurde es Tibione genannt, abgeleitet von «TB<br />

one». Allerd<strong>in</strong>gs wurden die Erfahrungen über die kl<strong>in</strong>ische<br />

Anwendung «nur zögernd und <strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ger Zahl publiziert,<br />

da sich das mittlerweile verfügbare Streptomyc<strong>in</strong>, meist<br />

zusammen mit PAS, als Mittel der Wahl durchsetzen konnte<br />

und sich der Anwendungsbereich der Thiosemicarbazone wegen<br />

ihrer toxischen Nebenwirkungen und der relativ bescheidenen<br />

Wirksamkeit bei bestimmten Tuberkuloseformen mehr und<br />

mehr e<strong>in</strong>engte». 30<br />

Nur ger<strong>in</strong>g gegen Tuberkulose wirksam und<br />

trotzdem viel bewirkend: e<strong>in</strong> B-Vitam<strong>in</strong><br />

Paris im Jahr 1945: Trotz e<strong>in</strong>es entsprechenden Befehls von Hitler<br />

hatten die Deutschen beim Abzug die Stadt nicht zerstört. Am<br />

Institut Pasteur beschäftigte sich der Franzose Vital Chor<strong>in</strong>e<br />

mit Tuberkulose und fand heraus: Die Tuberkulose des Meerschwe<strong>in</strong>chens<br />

lässt sich mit Nikot<strong>in</strong>säureamid, e<strong>in</strong>em Vitam<strong>in</strong><br />

des B2-Komplexes, positiv bee<strong>in</strong>flussen. Diese Neuigkeit wurde<br />

von den Chemikern bei Bayer mit Interesse aufgenommen und<br />

sollte etwas später auch deren Wirkstoffsynthesen bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Diese Erkenntnis liess aber auch Experten der Firma <strong>Roche</strong><br />

aufhorchen, der damals bedeutendsten Produzent<strong>in</strong> von Vitam<strong>in</strong>en.<br />

Neben dem Aufbau entsprechender Labor-Forschungskapazitäten<br />

für die Tuberkulose-Forschung liess <strong>Roche</strong> kl<strong>in</strong>ische<br />

Studien mit Nikot<strong>in</strong>säureamid bei Tuberkulose-Patienten <strong>in</strong> der<br />

Domagk: «Me<strong>in</strong> Verdienst<br />

an der Auff<strong>in</strong>dung der<br />

Tuberkuloseheilmittel ist im<br />

übrigen die Tatsache, dass<br />

ich 20 Jahre an dem fast allen<br />

hoffnungslos ersche<strong>in</strong>enden<br />

Problem unter steter<br />

Gefährdung für mich und me<strong>in</strong>e<br />

Mitarbeiter arbeitete, selbst<br />

alle Verantwortung für diese<br />

Arbeiten trug und sie trotz aller<br />

Enttäuschungen nicht aufgab.» 26<br />

Bayer Archiv Leverkusen<br />

26 27


Nikot<strong>in</strong>säureamid<br />

Schweiz und im benachbarten Frankreich, aber auch <strong>in</strong> Portugal<br />

und <strong>in</strong> Italien, durchführen. Die Ergebnisse dieser kl<strong>in</strong>ischen<br />

Studien fielen jedoch nicht e<strong>in</strong>deutig aus.<br />

Die bei <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Basel tätigen Forscher Bernhard Fust 31<br />

(1910–1973) und Alfred Studer (1917–2005) bestätigten die<br />

Befunde von Chor<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Tierversuch und zeigten, dass Nikot<strong>in</strong>säureamid<br />

<strong>in</strong> hohen Dosen (2.8 Gramm pro Kilogramm<br />

Körpergewicht) die Tuberkulose noch günstiger bee<strong>in</strong>flusst als<br />

Streptomyc<strong>in</strong> oder PAS.<br />

Aber diese hohen notwendigen Dosen bedeuteten für Nikot<strong>in</strong>säureamid<br />

letztlich das «Aus» als potenzielles Tuberkulose-Medikament.<br />

Denn wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Bericht festgehalten wurde,<br />

hätte man, um e<strong>in</strong>en ähnlichen Effekt wie beim Meerschwe<strong>in</strong>chen<br />

zu erzielen, e<strong>in</strong>em 60 Kilogramm schweren Menschen täglich 168<br />

Gramm Wirkstoff verabreichen müssen. 32 Aufgrund des Preises<br />

und der Nebenwirkungen konnte das ke<strong>in</strong> Medikament für <strong>Millionen</strong><br />

von Patienten werden. Allerd<strong>in</strong>gs wurde das «Pellagra-<br />

Vitam<strong>in</strong>» <strong>in</strong> weit ger<strong>in</strong>geren Dosen dennoch <strong>in</strong> seltenen Fällen<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, 1952 zum Beispiel bei e<strong>in</strong>igen der ersten Patienten,<br />

deren Tuberkelbazillen auch e<strong>in</strong>e Resistenz gegen Isoniazid (INH,<br />

Rimifon) entwickelten. 33<br />

Und doch bewirkten die Untersuchungen mit dem B-Vitam<strong>in</strong><br />

Gutes: E<strong>in</strong>e Molekülstruktur des Nikot<strong>in</strong>säureamids, der Pyr<strong>in</strong>d<strong>in</strong>r<strong>in</strong>g,<br />

sollte unverzichtbarer Bestandteil des ersten wirklichen<br />

Tuberkulose-Heilmittels werden.<br />

Robert Julius<br />

Schnitzer (l<strong>in</strong>ks)<br />

und Emanuel<br />

Grunberg testeten<br />

mit ihren<br />

Mitarbeitern <strong>in</strong><br />

Nutley ab 1949<br />

die Wirkung<br />

der bei <strong>Roche</strong><br />

als Antituberkulosemittel<br />

synthetisierten<br />

Substanzen <strong>in</strong><br />

Mäusen.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

31 Der Mediz<strong>in</strong>er Professor Dr. Med. Bernhard<br />

Fust hatte sich bereits während se<strong>in</strong>er<br />

Doktorandenzeit mit Tuberkulose beschäftigt.<br />

1949 wurde er von der F. Hoffmann La<br />

<strong>Roche</strong> & Co. AG als Leiter der Abteilung für<br />

Chemotherapie berufen. Diese Position hatte<br />

er bis 1967 <strong>in</strong>ne und war gleichzeitig Dozent<br />

an der Berner Universität.<br />

32 HAR: PD.3.1.RIM-102670 b N589.<br />

33 Wiesmann E, Wanner J, Tanner E. Erste<br />

Beobachtungen von Rimifon Resistenz.<br />

Schweiz Med Wochenschr. 1952 Aug<br />

2;82(31):785-7.<br />

34 Grunberg E. Schnitzer RJ. The <strong>in</strong> vivo<br />

antitubercular activity of the comb<strong>in</strong>ation<br />

of p-am<strong>in</strong>osalicylic acid, nicot<strong>in</strong>amide<br />

and tibione (Ro-1-6317). Report 6917 to<br />

Management 7.3.1950.<br />

35 HAR: PE1.S-106962a.<br />

Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid (INH):<br />

e<strong>in</strong> Zwischenprodukt wird mehrfach<br />

Kl<strong>in</strong>ik-Kandidat<br />

In den Chemotherapy Laboratories der Hoffmann-La <strong>Roche</strong> Inc.<br />

<strong>in</strong> Nutley, New Jersey, begannen 1949 der deutsche Mediz<strong>in</strong>er<br />

Robert Julius Schnitzer (1894–1987) und der amerikanische Bakteriologe<br />

Emanuel Grunberg (1922–1995) mit der Tuberkulose-<br />

Forschung. Sie testeten Komb<strong>in</strong>ationen von Nikot<strong>in</strong>säureamid,<br />

Conteben und PAS 34 an <strong>in</strong>travenös mit H37Rv <strong>in</strong>fizierten Mäusen.<br />

Wie Domagk hatte Schnitzer zu diesem Zeitpunkt schwere<br />

Jahre h<strong>in</strong>ter sich und wahrsche<strong>in</strong>lich waren sich die beiden vor<br />

dem Krieg sogar e<strong>in</strong>mal begegnet. Geboren <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, hatte Schnitzer<br />

dort von 1913 bis 1918 Mediz<strong>in</strong> studiert. 1919 – als auch <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> die Spanische Grippe wütete – war er Assistent an der Charité<br />

und danach neun Jahre <strong>in</strong> der Abteilung für Chemotherapie<br />

am Berl<strong>in</strong>er Robert Koch-Institut tätig. Ab 1928 war er Leiter der<br />

Abteilung für Chemotherapie der I.G. Farben, Werk Höchst bei<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong>. 35<br />

Schon bei Höchst arbeitete Schnitzer an e<strong>in</strong>er chemotherapeutischen<br />

Behandlung der Tuberkulose. Am 24. August1938 erhielt<br />

er dort als Nichtarier die Kündigung und nur wenig später, am<br />

30. September, entzog man ihm die Approbation. «Er arbeitete<br />

daraufh<strong>in</strong> im Jüdischen Krankenhaus – Clean<strong>in</strong>g the dishes», wie<br />

er später berichtete. 36 Am 12. November desselben Jahres wurde<br />

er <strong>in</strong> das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und im<br />

Januar 1939 von dort mit der schriftlichen Verpflichtung entlassen,<br />

<strong>Deutschland</strong> <strong>in</strong>nerhalb von vier Wochen zu verlassen.<br />

Schnitzer schickte daraufh<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der Muriel und Bertram<br />

mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>dertransport nach Belgien und floh selbst mit se<strong>in</strong>er<br />

Frau und den zehn Reichsmark, die er mitnehmen durfte, nach<br />

Frankreich. Dort fand die Familie wieder zusammen. Schnitzer<br />

arbeitete für e<strong>in</strong>ige Monate bei Rhône Poulenc und bewarb sich<br />

auch bei <strong>Roche</strong>. Die Firma konnte für Schnitzer jedoch nicht<br />

36 L<strong>in</strong>dner M, L<strong>in</strong>dner SH. Das Ende des<br />

«Zauberbergs»: Robert Julius Schnitzer<br />

und die erfolgreiche Bekämpfung<br />

der Tuberkulose. Atemwegs- und<br />

Lungenkrankheiten. 2004 Apr;198-203.<br />

28 29


Die Infektion der Mäuse<br />

erfolgte durch Injektion der<br />

Bakterien <strong>in</strong> die Schwanzvene<br />

der Tiere, hier vorgenommen<br />

von der Assistent<strong>in</strong> Barbara<br />

Lievan. Eigentlich wurden<br />

für Tierversuche <strong>in</strong> der<br />

Tuberkuloseforschung bevorzugt<br />

Meerschwe<strong>in</strong>chen e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Weil deren Haltung schwieriger<br />

war und ausserdem mehr Platz<br />

beanspruchte, der <strong>in</strong> Nutley<br />

nicht vorhanden war, entschied<br />

Schnitzer, die Versuche an<br />

Mäusen durchzuführen.<br />

auch das vom Chemiker Herrman Herbert Fox (wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

geb. 1912) erstmals am 12. August 1949 als Zwischenprodukt<br />

erhaltene Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid (INH), welches von Fox unter<br />

der <strong>in</strong>ternen Präparate-Nummer Ro 2-3973 am 7. Juli 1950 zur<br />

Prüfung auf antituberkulöse Wirkung e<strong>in</strong>gewiesen wurde.<br />

Grunberg und Schnitzer sollte diese Substanz im Sommer<br />

1950 erstmals mit e<strong>in</strong>er ausserordentlichen Aktivität gegenüber<br />

Tuberkelbazillen überraschen. 38 Wieder nutzten sie für ihre Experimente<br />

die mit H37Rv-Tuberkelbazillen <strong>in</strong>fizierten Mäuse. Im<br />

Report Nummer 7273 vom 20. Dezember 1950 berichteten sie<br />

an das Management von <strong>Roche</strong>:<br />

Isoniazid<br />

37 Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum<br />

H<strong>in</strong>schied des Bakteriologen Emanuel<br />

Grunberg: E<strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>al mit Spürs<strong>in</strong>n und<br />

Rückgrat. <strong>Roche</strong> Nachrichten. 1995; 3:7-8.<br />

38 Fust B. Orientierung über das Antituberculoticum<br />

Rimifon <strong>Roche</strong>. Schweiz Med Wochenschr.<br />

1952 Mar 29;82(13):333-5.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

sofort e<strong>in</strong> Visum erwirken. Deshalb g<strong>in</strong>g Schnitzer zunächst für<br />

zwei Jahre nach Kanada und arbeitete im Connaught Laboratory<br />

der Universität Toronto. 1941 kam er dann als Leiter des chemotherapeutischen<br />

Labors zu <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Nutley. Ab 1946 arbeitete<br />

er dort mit dem Bakteriologen Grunberg zusammen. Grunberg<br />

hatte 1946 an der Yale Universität promoviert und arbeitete bei<br />

<strong>Roche</strong> zunächst wie Schnitzer an Sulfonamiden. 37<br />

Als Schnitzer und Grunberg mit der Tuberkulose-Forschung<br />

begannen, fanden sie sehr schnell heraus, dass die Komb<strong>in</strong>ation<br />

von PAS, Nikot<strong>in</strong>säureamid und Conteben die Tuberkulose bei<br />

Mäusen stoppen konnte, auch wenn PAS und Nikot<strong>in</strong>säureamid<br />

<strong>in</strong> Dosen gegeben wurden, die für sich alle<strong>in</strong>e wirkungslos waren.<br />

Die drei Substanzen, so ihre Schlussfolgerung, wirken synergistisch<br />

zusammen. Schnitzer und Grunberg testeten auch viele neue<br />

Substanzen, welche die Chemiker <strong>in</strong> Nutley, ausgehend von der<br />

Struktur des Nikot<strong>in</strong>säureamids und der allgeme<strong>in</strong>en Strukturformel<br />

der Thiosemicarbazone, synthetisierten. Darunter befand sich<br />

«E<strong>in</strong>e Substanz, Ro 2-3973, schien e<strong>in</strong>e ganz besondere<br />

Aktivität aufzuweisen. Obwohl ihre Toxizität im gleichen<br />

Bereich wie die anderer Mitglieder dieser Gruppe lag, war<br />

die Aktivität <strong>in</strong> den mit Tuberkulose <strong>in</strong>fizierten Mäusen<br />

ungewöhnlich hoch, 20-mal höher als die von Streptomyc<strong>in</strong><br />

und mehr als 10-mal höher als die von Tibione…<br />

Ro 2-3973 sche<strong>in</strong>t darüber h<strong>in</strong>aus noch e<strong>in</strong>e weitere ungewöhnliche<br />

Eigenschaft aufzuweisen. Wie allgeme<strong>in</strong> bekannt,<br />

zeigen PAS und Streptomyc<strong>in</strong> im Mäuseversuch e<strong>in</strong>en strikten<br />

bakteriostatischen Effekt. Wie von uns zuvor beschrieben<br />

wurde, entwickeln die mit Tuberkelbazillen <strong>in</strong>travenös <strong>in</strong>fizierten<br />

Tiere gewöhnlich nach Abbruch der effektiven 21-tägigen<br />

Behandlung nach weiteren drei Wochen e<strong>in</strong>e Miliartuberkulose.<br />

In e<strong>in</strong>em ähnlichen Experiment mit Ro 2-3973 wurde gefunden,<br />

dass Mäuse, <strong>in</strong>travenös <strong>in</strong>fiziert mit e<strong>in</strong>er Standarddosis von<br />

M. tuberculosis H37Rv und 21 Tage lang behandelt mit e<strong>in</strong>er<br />

Dosis von 250 mg/kg oder 50 mg/kg, verabreicht mit der<br />

Nahrung, nach drei weiteren Wochen ohne Behandlung<br />

die erwartete Miliartuberkulose nicht entwickelten.»<br />

30 31


Iproniazid (Marsilid)<br />

Im Dezember 1950 wiesen auch die Basler Laboratorien von<br />

<strong>Roche</strong> Ro 2-3973 «zur Prüfung auf tuberculocide [abtötende]<br />

Wirkung» e<strong>in</strong>. Es folgten Untersuchungen von Ro 2-3973 (INH)<br />

und Ro 2-4572 (dem später Marsilid getauften Isopropyl-Derivat<br />

von INH) an mit Tuberkulose <strong>in</strong>fizierten Meerschwe<strong>in</strong>chen und<br />

Affen. Die Verträglichkeiten der Substanzen wurde an Affen,<br />

Hunden, Ratten und Mäusen getestet; und die chronische Toxizität<br />

von INH <strong>in</strong> der Zeit vom Dezember 1950 bis Mai 1951<br />

bestimmt.<br />

INH hatte schon <strong>in</strong> den Kulturversuchen e<strong>in</strong>e deutliche<br />

Überlegenheit gegenüber anderen Derivaten gezeigt. Es konnte<br />

noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verdünnung von 1 : 60 <strong>Millionen</strong> e<strong>in</strong>e antituberkulöse<br />

Wirkung gegenüber H37Rv-Tuberkulosebakterien<br />

entfalten. Zum Vergleich: Das Isopropylderivat wirkte nur<br />

bis zu e<strong>in</strong>er Verdünnung 1 : 600 000 hemmend auf Tuberkulosebakterien.<br />

Trotzdem wurden bei <strong>Roche</strong> weitere ähnliche<br />

Verb<strong>in</strong>dungen synthetisiert und im Labor getestet. Unter den<br />

drei, die schliesslich von Edward He<strong>in</strong>rich Robitzek (1912–1984)<br />

und Irv<strong>in</strong>g J. Selikoff (1915–1992) am Sea View Hospital von<br />

Staten Island, e<strong>in</strong>em Städtischen New Yorker Institut für Tuberkulosekranke,<br />

ab Juni 1951 kl<strong>in</strong>isch getestet wurden, waren<br />

e<strong>in</strong> Glukosyl-Derivat von INH (ab dem 19. Juni 1951), das<br />

Isopropyl-Derivat von INH (Testung ab dem 2. Oktober 1951)<br />

und das INH selbst, welches als letztes erst ab dem 17. Dezember<br />

1951 getestet wurde. 39 39 Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydraz<strong>in</strong>e derivatives<br />

Herrman Herbert Fox synthetisierte<br />

bei <strong>Roche</strong> erstmals am<br />

12. August 1949 Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid<br />

(INH) und wies es<br />

zur Testung als Antituberkulosemittel<br />

e<strong>in</strong>.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Aufzeichungen im Laborjournal<br />

von Herrman Herbert Fox vom<br />

12.8.1949.<br />

Es waren die allerschwersten und hoffnungslosen Tuberkulose-<br />

Fälle, die erstmals e<strong>in</strong>e dieser Substanzen <strong>in</strong> Dosen von zwei bis<br />

vier Milligramm, später auch zehn Milligramm Substanz pro<br />

Kilogramm Körpergewicht, erhielten. Alle anderen Behandlungsmöglichkeiten,<br />

die von strikter Bettruhe und e<strong>in</strong>er medikamentösen<br />

Therapie mit Streptomyc<strong>in</strong> oder Streptomyc<strong>in</strong> und PAS<br />

(bei den meisten Patienten), über chirurgische Resektionen der<br />

Tuberkulose-Herde und bis h<strong>in</strong> zum Pneumothorax (bei e<strong>in</strong>igen<br />

Patienten) reichten, waren ausgeschöpft und erfolglos geblieben.<br />

Die Patienten, zwischen zehn und 70 Jahren, grösstenteils jedoch<br />

zwischen 20 und 39 Jahre alt, waren abgemagert, fiebrig, kraftund<br />

appetitlos und hatten starken Husten. In ihrem Auswurf<br />

wimmelte es nur so von Tuberkulosebakterien.<br />

Bei den meisten der bislang unheilbaren Kranken sank das<br />

Fieber schon nach wenigen Tagen, manchmal sogar schon 36<br />

Stunden nach Behandlungsbeg<strong>in</strong>n. Und schon nach wenigen<br />

Wochen stellte sich auch e<strong>in</strong>e Gewichtszunahme e<strong>in</strong>, so dass<br />

of isonicot<strong>in</strong>ic acid (rimifon, marsilid) <strong>in</strong> the<br />

treatment of active progressive caseouspneumonic<br />

tuberculosis; a prelim<strong>in</strong>ary report.<br />

Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.<br />

32 33


Daniel Murphy, 61, war e<strong>in</strong>er<br />

der todgeweihten Tuberkulose-<br />

Patienten, an denen Isoniazid<br />

erstmals getestet wurde.<br />

Tuberkulosebakterien hatten<br />

sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zunge e<strong>in</strong>genistet,<br />

die so geschwollen war, dass<br />

er nicht mehr essen und fast<br />

nicht mehr sprechen konnte. Bei<br />

se<strong>in</strong>er Ankunft im Spital soll er,<br />

gemäss Dr. Robitzek, mühsam<br />

geäussert haben: «Ich glaube an<br />

nichts mehr, je früher es zu Ende<br />

geht, desto besser.» Während<br />

der ersten Tage im Krankenhaus<br />

wurde er künstlich ernährt. Es<br />

dauerte ungefähr zwei Wochen<br />

bis die Behandlung mit Isoniazid<br />

ansprach; nach e<strong>in</strong>em Monat<br />

konnte er fast ohne Probleme<br />

wieder essen und die Zunge sah<br />

normal aus. Auf dem Bild ist er<br />

mit se<strong>in</strong>er Krankenschwester<br />

Effie K. Whitted zu sehen und hat<br />

offensichtlich se<strong>in</strong>en Lebensmut<br />

wiedergefunden.<br />

alle nach etwa acht Wochen wieder ihr Normalgewicht erreicht<br />

hatten. Manche nahmen <strong>in</strong>nerhalb von neun bis 15 Wochen<br />

Therapie fünf bis 14 Kilo zu! Der Hustenreiz wurde gel<strong>in</strong>dert,<br />

der Auswurf verm<strong>in</strong>dert und der Allgeme<strong>in</strong>zustand der Patienten<br />

beträchtlich gebessert. Bei e<strong>in</strong>igen waren sogar weder im<br />

Magensaft noch im Auswurf Tuberkelbazillen nachweisbar. Die<br />

Substanzen vermochten die Bakterien also wirklich abzutöten –<br />

im Tier wie im Menschen, was bisher weder mit Streptomyc<strong>in</strong><br />

noch mit PAS beobachtet worden war.<br />

Als man <strong>Roche</strong> Firmenchef Emil C. Barell (1874–1953) bei<br />

e<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong> den USA 1951 die ersten Ergebnisse mit INH<br />

präsentierte, soll er gesagt haben:<br />

«Gentlemen, dieses neue <strong>Roche</strong>-Medikament ist e<strong>in</strong><br />

solch bedeutender Beitrag zur Menschlichkeit, dass wir<br />

es zu e<strong>in</strong>em Preis vertreiben sollten, dass auch arme<br />

Menschen überall auf der Welt es ohne Schwierigkeit<br />

erhalten können. In diesem Fall sollten wir uns nicht<br />

über Profite sorgen, sondern uns darauf konzentrieren,<br />

dass genug für Jeden da ist, der es benötigt.» 40<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Diese ritterliche Absicht wurde Wirklichkeit, wenn auch auf<br />

andere Art und Weise, als es sich alle Beteiligten damals wohl<br />

vorstellten. Denn mehrere Firmen brachten das Medikament<br />

1952 auf den Markt. Und so fiel der Preis dafür – schon wegen<br />

der starken Konkurrenz – ziemlich bald sehr moderat aus. INH<br />

<strong>in</strong> Kulturversuchen sowie an Tier und Mensch erforscht hatten<br />

jedoch nur die Firmen <strong>Roche</strong>, Squibb und Bayer.<br />

Die Tuberkulose war e<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>isches Problem ersten Ranges<br />

auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Nachkriegsdeutschland<br />

aber war sie so allgegenwärtig geworden, dass sich beispielsweise<br />

e<strong>in</strong> «Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose <strong>in</strong> der britischen<br />

Zone» gezwungen sah, ärztliche und Fürsorge-Richtl<strong>in</strong>ien<br />

für die Arbeitsvermittlung Lungentuberkulöser» aufzustellen. 41,42<br />

Die Firma Bayer betrieb am Forschungsstandort Elberfeld<br />

nun nicht nur <strong>in</strong>tensiv die Suche nach neuen Tuberkulose-<br />

Mitteln, ab September 1949 hatte die Firma auch das «alte»<br />

Tuberkulose-Medikament PAS als Pasalon im Angebot, seit<br />

Februar 1950 Streptomyc<strong>in</strong> 43 und seit 1950 das von der Firma<br />

selbst entwickelte Conteben. Wie Schnitzer und Grunberg <strong>in</strong><br />

Amerika, testete auch Domagk <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> Komb<strong>in</strong>ationen<br />

bereits vorhandener Tuberkulose-Mittel. Er führte umfangreiche<br />

Experimente mit PAS, Streptomyc<strong>in</strong> und Conteben <strong>in</strong> vitro mit<br />

Tuberkulosebakterien auf verschiedenen Nährböden und <strong>in</strong> vivo<br />

an mit humanen Tuberkelbazillen <strong>in</strong>fizierten Meerschwe<strong>in</strong>chen<br />

sowie an mit Erregern der R<strong>in</strong>dertuberkulose <strong>in</strong>fizierten Kan<strong>in</strong>chen<br />

durch.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Dr. Edward Robitzek im Sea View<br />

Hospital von Staten Island.<br />

In diesem, 30 Meilen von New<br />

York entfernten Gebäude befand<br />

sich das Labor, <strong>in</strong> dem die<br />

antituberkulöse Wirkung von<br />

Isoniazid bei <strong>Roche</strong> entdeckt<br />

wurde.<br />

40 Zobel A. Brief vom 10.7.1979 an Marcus<br />

Tschud<strong>in</strong>, <strong>Roche</strong> Nachrichten, Historisches<br />

Archiv <strong>Roche</strong> PE I.Z-1022291.<br />

41 Bayer Archiv Leverkusen (BAL) 316 003 075<br />

42 Die Aufgaben dieses Zentralkomitees<br />

umfassten neben dem Arbeitse<strong>in</strong>satz und<br />

der Arbeitstherapie von Tuberkulosekranken<br />

auch das Fürsorge- und Heilstättenwesen,<br />

die Asylierung, Dispositions- und<br />

Expositionsprophylaxe, Des<strong>in</strong>fektion,<br />

Forschung und Wissenschaft, Soziologie,<br />

die hygienische Volksaufklärung und<br />

Propaganda sowie die laufende Statistik der<br />

Tuberkulose.<br />

43 Ich danke Frau Monika Gand, Bayer Archiv<br />

Leverkusen für diese Information.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

34 35


44 Domagk G. Lebens er<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong> Bildern<br />

und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995; 55.<br />

45 McDermott W. Isonicot<strong>in</strong>ic acid derivatives<br />

<strong>in</strong> tuberculosis treatment; history of the<br />

development of the drugs. Trans Annu Meet<br />

Natl Tuberc Assoc. 1952;48:421-4.<br />

46 Domagk G, Offe HA, Siefken W. E<strong>in</strong> weiterer<br />

Beitrag zur experimentellen Chemotherapie<br />

der Tuberkulose (Neoteben). Dtsch Med<br />

Wochenschr. 1952 May 2;77(18): 573-8.<br />

47 BAL 3160 003 089: Brief von Offe an<br />

Domagk.<br />

Wie bereits erwähnt, kannte man bei Bayer auch die Arbeiten<br />

mit dem Nikot<strong>in</strong>säureamid. Und so kam man auch dort bald<br />

der antituberkulösen Wirkung von INH auf die Spur. 44 Ausgehend<br />

von den Thiosemicarbazonen wurden systematisch<br />

verschiedene Thiosemicarbazide und Carbonsäurehydrazide<br />

getestet und dabei wohl am 28. März 1951 erstmals das INH. 45<br />

Domagk schilderte die Entdeckung der antituberkulösen Wirkung<br />

der Substanz <strong>in</strong> der Deutschen Mediz<strong>in</strong>ischen Wochenschrift<br />

1952 mit den Worten: «Zu besonders <strong>in</strong>teressanten<br />

Ergebnissen gelangten die weiteren experimentellen Untersuchungen<br />

als mir von Offe (Wissensch. Hauptlaboratorien,<br />

Leverkusen) Substanzen zur Prüfung auf ihre tuberkulostatischen<br />

Eigenschaften zur Verfügung gestellt wurden, von denen<br />

er auf Grund bestimmter Vorstellungen über die Beziehung<br />

zwischen chemischer Konstitution und tuberkulostatischer<br />

Wirksamkeit, über die wir an anderer Stelle berichtet haben,<br />

besondere tuberkulostatische Eigenschaften erwartete. Die<br />

Untersuchung dieser Substanzen erwies sich als sehr lohnend,<br />

da es sich um e<strong>in</strong>e für die Chemotherapie der Tuberkulose<br />

völlig neuartige Stoffgruppe handelte, von der somit u. U. auch<br />

e<strong>in</strong>e andere Wirkungsweise auf den Tuberkelbazillus erwartet<br />

werden konnte als von den bisher bekannten Tuberkulostatizis.<br />

Die umfassende chemische Bearbeitung dieser Gruppe wurde<br />

später geme<strong>in</strong>sam von Offe und Siefken durchgeführt. E<strong>in</strong>e<br />

grosse Anzahl von Säurehydraziden und davon abgeleitete<br />

Hydrazidhydrazone sowie ähnlich gebaute zyklische Verb<strong>in</strong>dungen<br />

– <strong>in</strong>sgesamt über 500 Präparate – wurden geprüft. Mit<br />

e<strong>in</strong>igen Verb<strong>in</strong>dungen dieser neuen Stoffgruppe, <strong>in</strong>sbesondere<br />

dem Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid (Neoteben) sowie mit se<strong>in</strong>en<br />

Hydrazonen, z. B. dem Glukosederivat und den Abkömml<strong>in</strong>gen<br />

von zyklischen und heterozyklischen Oxoverb<strong>in</strong>dungen,<br />

erreicht man im Experiment zum Teil erheblich günstigere<br />

Resultate als mit PAS oder auch dem Streptomyc<strong>in</strong>. Überraschend<br />

war dabei, daß Verb<strong>in</strong>dungen aus der Reihe des<br />

Nikot<strong>in</strong>säurehydrazids unseren Ansprüchen im Tierexperiment<br />

nicht voll genügten, während entsprechende Derivate<br />

der Isonikot<strong>in</strong>säure-Reihe befriedigten.» 46<br />

In den Unterlagen des Historischen Archivs von Bayer <strong>in</strong><br />

Leverkusen f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Brief des Chemikers Hans Albert<br />

Offe (1912–1993) an Domagk vom 3. September 1951. Dar<strong>in</strong><br />

schreibt er über das bei Bayer mit der Präparate-Nummer<br />

OS 711 versehene INH: «Die Ergebnisse Ihrer <strong>in</strong> vitro-Versuche<br />

und e<strong>in</strong>iger Ihrer Tierversuche am Isonikot<strong>in</strong>säure-<br />

hydrazid und se<strong>in</strong>en Derivaten legen den Gedanken nahe,<br />

auch wenigstens e<strong>in</strong>es der Derivate alsbald toxikologisch und<br />

pharmakologisch von Dr. Hecht prüfen zu lassen… Die ersten<br />

3 kg OS 711 s<strong>in</strong>d am 31.7. 1951 zum Tablettieren gegeben<br />

worden, weitere grössere Mengen s<strong>in</strong>d bald fertig, so dass mit<br />

der kl<strong>in</strong>ischen Prüfung im Oktober begonnen werden kann.» 47<br />

Die Chemiker Hans Siefken<br />

(l<strong>in</strong>ks) und Hans Albert Offe<br />

synthetisierten bei Bayer neue<br />

Antituberkulosemittel, unter<br />

ihnen auch Isoniazid.<br />

Bayer Archiv Leverkusen<br />

36 37


«Nur halte ich es für vordr<strong>in</strong>glich, dass wenigstens über<br />

OS 711 und se<strong>in</strong>e Derivate <strong>in</strong> der mit Herrn Prof. Bayer<br />

und Herrn Dr. Offe formulierten Weise e<strong>in</strong>e vorläufige<br />

Mitteilung erfolgt, um unsere Priorität zu wahren und die<br />

Verdienste unserer Firma und unserer Laboratorien herauszustellen,<br />

<strong>in</strong> denen die Pionierarbeit geleistet worden ist,<br />

ehe noch mehr durchsickert und nachgearbeitet wird.» 48<br />

Auf dem XII. International<br />

Congress of Pure and Applied<br />

Chemistry im September 1951<br />

zeigte der bei <strong>Roche</strong> tätige<br />

Chemiker Herbert Herman Fox<br />

erstmals öffentlich die Formel von<br />

Isoniazid (INH), allerd<strong>in</strong>gs nur als<br />

Zwischenprodukt auf dem Weg<br />

zur Synthese e<strong>in</strong>es komplizierter<br />

aufgebauten Thiosemicarbazons,<br />

wie auf diesem Ausschnitt<br />

aus dem Zeitungsband mit<br />

Kurzfassungen der Vorträge<br />

zu erkennen ist. Zu diesem<br />

Zeitpunkt hatte <strong>Roche</strong> INH schon<br />

zur Testung an Tuberkulose-<br />

Patienten e<strong>in</strong>gewiesen.<br />

Domagk schrieb daher am 6. September 1951 an Direktor<br />

Mertens:<br />

Wenige Tage später besuchte Domagk <strong>in</strong> New York die Sitzungen<br />

des XII. International Congress of Pure and Applied Chemistry,<br />

auf welcher der <strong>Roche</strong>-Chemiker Fox gleich drei Vorträge über<br />

synthetische Tuberculostatica hielt. In den veröffentlichten Kurzfassungen<br />

e<strong>in</strong>es dieser Vorträge f<strong>in</strong>det sich auch die Strukturformel<br />

von INH. Allerd<strong>in</strong>gs tauchte die Formel nur als Zwischenprodukt<br />

e<strong>in</strong>er Synthese auf, die zu e<strong>in</strong>em Thiosemicarbazon-Derivat<br />

von INH führte. 49<br />

Warum war Fox das Risiko e<strong>in</strong>gegangen, INH zu zeigen?<br />

Vermutlich, weil es für ihn gar ke<strong>in</strong>es war. Die Substanz INH<br />

an sich liess sich nicht mehr patentieren, denn sie war schon<br />

1911 von Hans Meyer und Josef Mally an der Karls-Universität<br />

<strong>in</strong> Prag synthetisiert, aber nicht weiter h<strong>in</strong>sichtlich ihrer biologischen<br />

Eigenschaften untersucht worden. 50 Nahm Fox trotz<br />

der überaus klaren Ergebnisse der mikrobiologischen Testung<br />

im Labor die nicht patentierbare Substanz zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht als das Heilmittel ernst, welches es werden sollte? INH<br />

war zwar, wie bereits erwähnt, von <strong>Roche</strong> mit zwei weiteren<br />

Derivaten schon zur kl<strong>in</strong>ischen Testung e<strong>in</strong>gewiesen, aber die<br />

patentierbaren INH-Derivate hatten dabei Vorrang. INH aus<br />

den Laboratorien von <strong>Roche</strong> wurde erst im Dezember 1951 bei<br />

Tuberkulose-Patienten getestet.<br />

Was mag <strong>in</strong> Domagk vorgegangen se<strong>in</strong>, als er den Foxschen<br />

Kurzbeitrag las und dar<strong>in</strong> die Formel von INH als Zwischenprodukt<br />

e<strong>in</strong>er Synthese sah? In se<strong>in</strong>en überlieferten Tagebuch-Aufzeichnungen<br />

f<strong>in</strong>det sich darüber nichts. Dar<strong>in</strong> hielt er lediglich<br />

fest, dass er auf dieser Konferenz dazu e<strong>in</strong>geladen wurde, aus<br />

dem Stegreif e<strong>in</strong>en 15-m<strong>in</strong>ütigen Vortrag über Tuberkulose-<br />

Mittel zu halten, da der Vortrag e<strong>in</strong>es Italieners ausfiel. «Es war<br />

me<strong>in</strong> erster unvorbereiteter Vortrag <strong>in</strong> englischer Sprache»,<br />

schrieb er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht über die Amerika-Reise. 51 Domagk<br />

berichtete <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em improvisierten Vortrag ebenfalls über die<br />

antituberkulöse Wirkung von Thiosemicarbazonen sowie über<br />

die von Hydrazonen. Die Formel von INH zeigte er nicht.<br />

Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr nach <strong>Deutschland</strong> Anfang Oktober<br />

veranlasste Domagk jedoch umgehend die E<strong>in</strong>weisung von OS<br />

711 zur kl<strong>in</strong>ischen Prüfung bei Tuberkulose-Patienten durch<br />

Professor Philipp Klee (1884–1978) von der Mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Kl<strong>in</strong>ik der Städtischen Krankenanstalten Wuppertal-Elberfeld. 52<br />

In Klees Kl<strong>in</strong>ik nannte man das Präparat Novoteben. Am 20.<br />

Februar 1952 taufte Bayer OS 711 <strong>in</strong> «Neoteben» um. Dabei<br />

handelte es sich um e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>getragene Warenbezeichnung, die<br />

schon e<strong>in</strong>mal kurzfristig für e<strong>in</strong>e andere, später wieder aufgegebene<br />

Thiosemicarbazon-Verb<strong>in</strong>dung von Bayer genutzt worden<br />

war, was noch zu e<strong>in</strong>igen Missverständnissen führen sollte.<br />

Domagk muss bereits im Dezember 1951 vom aussergewöhnlichen<br />

Potenzial von OS 711 überzeugt gewesen se<strong>in</strong>, denn er<br />

schrieb an den Leiter des wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums<br />

der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, Professor Dr. Otto Bayer,<br />

am 4. Dezember 1951: «Ich b<strong>in</strong> begründet «optimistisch» und<br />

würde es für richtig halten, wenn OS 711 und OF 807 schon heute<br />

im Grossen hergestellt würden, auch wenn noch ke<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>ischen<br />

Ergebnisse vorliegen, ausser der Tatsache, dass selbst OS 711,<br />

48 BAL 316 003 089: Brief von Domagk an<br />

Direktor Mertens vom 6.9.1951.<br />

49 Fox HH. Synthetic tuberculostats: III.<br />

Isonicot<strong>in</strong>aldehyde thiosemicarbazone<br />

and some related compounds. XIIth<br />

International Congress of Pure and Applied<br />

Chemistry.1951 Sept 9–13; Abstract of<br />

Papers. 299.<br />

50 Meyer H. Mally J. Hydraz<strong>in</strong>e derivatives of<br />

pyrid<strong>in</strong>ecarboxylic acids. Monatshefte für<br />

Chemie. 1912; 33:393-414.<br />

51 BAL 316/236.<br />

52 Brief an Professor Dr. A. Butenandt, Max<br />

Planck Institut für Biochemie, Tüb<strong>in</strong>gen vom<br />

24.4.1952.<br />

38 39


53 BAL 316 003 089.<br />

54 Bei OF 807 handelte es sich nach<br />

Unterlagen im Bayer Archiv Leverkusen<br />

um e<strong>in</strong> INH-Derivat, das Benzol-isonikot<strong>in</strong>säurehydrazon.<br />

55 Kauffman GB. Isoniazid – Destroyer of the<br />

white plague. J Chem Educ. 1978;55(7):448-9.<br />

56 Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum<br />

H<strong>in</strong>schied des Bakteriologen Emanuel<br />

Grunberg: E<strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>al mit Spürs<strong>in</strong>n und<br />

Rückgrat. <strong>Roche</strong> Nachrichten. 1995; 3:7-8.<br />

57 Lawrence Davis Barney war von 1944 bis<br />

1965 President and Chairman of the Board<br />

von Hoffmann-La <strong>Roche</strong> Inc., Nutley.<br />

das die Pharmakologen als schlecht verträglich beurteilen, doch<br />

beim Menschen überraschend gut verträglich ist. An der PAS<br />

überlegenen Wirkung auch <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik kann nach unseren experimentellen<br />

Ergebnissen überhaupt ke<strong>in</strong> Zweifel mehr bestehen<br />

und es wäre schade, wenn wir durch die kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen<br />

allzu viel Zeit verlören. Nur wenn bald soviel OS 711 vorrätig ist,<br />

dass Sie allen Ansprüchen genügen, können Sie das Weltgeschäft<br />

von PAS übernehmen und PAS aus dem Sattel heben.» 53,54<br />

Im Squibb-Institut für mediz<strong>in</strong>ische Forschung der amerikanischen<br />

Firma E.R. Squibb und Sons, welches ebenfalls <strong>in</strong> New<br />

Jersey, <strong>in</strong> New Brunswick, nur rund e<strong>in</strong>e halbe Auto-Stunde<br />

vom <strong>Roche</strong>-Forschungsstandort entfernt, angesiedelt war, fand<br />

man 1951 ebenfalls die antituberkulöse Wirkung von INH. Die<br />

Forscher von Squibb und <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> New Jersey kannten e<strong>in</strong>ander.<br />

Inwieweit dies die fast zeitgleiche Entdeckung von INH gefördert<br />

hat, darüber kann heute, 60 Jahre später, nur spekuliert werden.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Artikel aus dem Jahr 1978 waren damals 40%<br />

der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Squibb-Institutes <strong>in</strong> die<br />

Suche nach oral verfügbaren Tuberkulose-Medikamenten e<strong>in</strong>gebunden.<br />

E<strong>in</strong>e Mannschaft von 24 Forschern testete mehr als<br />

8000 Substanzen. Und auch bei Squibb war es wohl so, dass e<strong>in</strong><br />

Chemiker, Harry L. Yale, im Sommer 1951 INH (SQ 7425) «nur»<br />

als Zwischenprodukt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sechsstufigen Syntheseprozess zu<br />

e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlichen Tuberkulose-Mittel, dem Isonikot<strong>in</strong>säurealdehyd-Thiosemicarbazon,<br />

synthetisierte. Er gab das Zwischenprodukt<br />

lediglich deshalb se<strong>in</strong>en Kollegen zum Testen, weil dies<br />

so vorgeschrieben war. 55<br />

«Am Silvestertag des Jahres 1951 stellte sich heraus, dass die<br />

Forscher der amerikanischen Firma Squibb zur selben Zeit die<br />

gleiche Substanz testeten», er<strong>in</strong>nerten sich <strong>Roche</strong>-Forscher Jahre<br />

später <strong>in</strong> den <strong>Roche</strong>-Nachrichten. 56<br />

Eile war geboten. Am 15. Januar 1952 trafen sich Vertreter der<br />

Firmen <strong>Roche</strong> und Squibb und fanden dabei ganz offiziell heraus,<br />

dass es sich <strong>in</strong> beiden Firmen bei dem verheissungsvollen Kl<strong>in</strong>ik-<br />

Kandidaten für e<strong>in</strong> Tuberkulose-Medikament um INH handelte.<br />

Der Leiter der amerikanischen Niederlassung von <strong>Roche</strong>, Lawrence<br />

Davis Barney, 57 schrieb am 16. Januar 1952 an Barell:<br />

«Während es zunächst unglaublich kl<strong>in</strong>gt, dass zwei Firmen<br />

unabhängig vone<strong>in</strong>ander auf diese Substanz kommen würden,<br />

ist es bei weiterer Betrachtung durchaus plausibel. Der<br />

Grund dafür ist, das Squibb <strong>in</strong> den vergangenen fünf Jahren<br />

e<strong>in</strong> aktives Tuberkulose-Screen<strong>in</strong>g-Labor hatte, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong><br />

dieser Zeit über 5000 chemische Verb<strong>in</strong>dungen getestet<br />

wurden. Die Hälfte davon wurde <strong>in</strong> ihren eigenen Laboratorien<br />

getestet… Wir haben weiterh<strong>in</strong> erfahren, dass Squibb<br />

seit 1950 auf dem Gebiet Isonikot<strong>in</strong>säure arbeitet.» 58<br />

Ende Januar 1952 e<strong>in</strong>igten sich beide Firmen nach e<strong>in</strong>igem H<strong>in</strong><br />

und Her darauf, gleichzeitig mit der Meldung über die erstaunliche<br />

Heilkraft von INH an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sollte<br />

«<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er führenden mediz<strong>in</strong>ischen Zeitschrift zuerst mitgeteilt<br />

und dann auf e<strong>in</strong>em öffentlichen Symposium New Yorker Ärzte<br />

am 1. April 1952 <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>zelheiten diskutiert werden…». 59 Die<br />

Presse sollte am kommenden Tag, dem 2. April 1952, <strong>in</strong>formiert<br />

werden.<br />

E<strong>in</strong>e Sensationsmeldung geht um die Welt<br />

Es kam anders: Der Leiter aller Städtischen Krankenhäuser New<br />

Yorks, Dr. Marcus D. Kogel, wollte und konnte vielleicht auch<br />

angesichts der spektakulären Heilerfolge und der «Pyjama-Parties»<br />

auf den Tuberkulose-Stationen, nicht warten. Ohne Rücksprache<br />

mit <strong>Roche</strong> beraumte er am Abend des 20. Februar 1952<br />

e<strong>in</strong>e Sonderpressekonferenz an, auf der von der antituberkulösen<br />

Wirkung von Rimifon (INH), Marsilid (Isopropyl-Derivat) und<br />

dem Glukose-Derivat von INH berichtet wurde.<br />

«Infolge Indiskretion Kogel br<strong>in</strong>gt amerikanische Presse Artikel<br />

Rimifon was uns zu entsprechenden Massnahmen zw<strong>in</strong>gt»,<br />

telegraphierte <strong>Roche</strong> Nutley am 21. Februar 1951 um 11.50 Uhr<br />

nach Basel. Noch am selben Tag g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Meldung der Konzernzentrale<br />

an die Schweizer Depeschenagentur:<br />

58 HAR: Brief von L.D. Barney an E.C. Barell<br />

vom 16.1.1952<br />

59 «Rimifon» die neue Hoffmann-La <strong>Roche</strong>-<br />

Erf<strong>in</strong>dung, Abendblatt 26.2.1952.<br />

40 41


«Im Verlaufe langjähriger Forschung ist es der Firma<br />

Hoffmann-La <strong>Roche</strong> gelungen, e<strong>in</strong> neues Heilmittel<br />

gegen die menschliche Tuberkulose aufzuf<strong>in</strong>den.<br />

Die Substanz, «Rimifon» genannt, hat sich im Verlaufe<br />

gross angelegter Versuche <strong>in</strong> Spitälern und Sanatorien<br />

als wirksamer und verträglicher als die bisherigen<br />

Mittel erwiesen. Die Behandlungskosten werden mit<br />

Hilfe des neuen Präparates ganz wesentlich gesenkt<br />

werden. Es wird weiter geprüft und soll sobald möglich<br />

allgeme<strong>in</strong> zugänglich gemacht werden.»<br />

Rimifon «<strong>Roche</strong>» e<strong>in</strong> neues Antituberculoticum<br />

Ebenso wurden die Niederlassungen von <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Montreal,<br />

Johannesburg, Stockholm, Wien, Grenzach, Buenos Aires, Paris,<br />

Mailand, Lissabon, Madrid und Montevideo mit dieser Mitteilung<br />

und e<strong>in</strong>em längeren Text für die Redaktionen mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Zeitschriften versorgt, der «<strong>in</strong> diesem aussergewöhnlichen Fall als<br />

Annonce» 60 geschaltet wurde:<br />

In geme<strong>in</strong>samer Forschungsarbeit der Laboratorien der<br />

Firma Hoffmann-La <strong>Roche</strong> wurde e<strong>in</strong> neues Heilmittel gegen<br />

die Tuberkulose aufgefunden. Von e<strong>in</strong>er Reihe von Pyrid<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dungen<br />

erwies sich Isonicot<strong>in</strong>säurehydrazid, das unter<br />

der Bezeichnung Rimifon <strong>in</strong> den Handel gebracht wird,<br />

sowohl im Reagenzglas als auch bei experimenteller Meerschwe<strong>in</strong>chen-<br />

und Mäusetuberkulose als besonders wirksam.<br />

Im Gegensatz zu den bisher <strong>in</strong> die Kl<strong>in</strong>ik e<strong>in</strong>geführten<br />

Antituberculotica, die im Organismus vorwiegend die Vermehrung<br />

der Tuberkelbazillen hemmen, ist Rimifon ansche<strong>in</strong>end<br />

auch im Stande, die Krankheitserreger abzutöten.<br />

Die kl<strong>in</strong>ischen Vorprüfungen ergaben ungewöhnlich<br />

günstige Resultate. Febrile Patienten mit doppelseitiger käsiger<br />

Pneumonie, positivem Sputumbefund und hochgradiger<br />

Asthenie, deren Zustand hoffnungslos erschien und durch<br />

längere Kuren mit Streptomyc<strong>in</strong> und p-Am<strong>in</strong>osalizylsäure<br />

kaum oder nicht bee<strong>in</strong>flusst werden konnte, wurden unter<br />

Rimifon <strong>in</strong> wenigen Tagen dauerhaft fieberfrei. Der Appetit<br />

nahm <strong>in</strong> erstaunlicher Weise zu, sodass das Körpergewicht<br />

im Laufe von 9-15 Wochen um 5-14 kg anstieg. Die für<br />

Schwertuberkulöse charakteristische Apathie verschwand,<br />

der Hustenreiz wurde gel<strong>in</strong>dert, die Expectoration hörte<br />

nach mehreren Wochen auf und bei e<strong>in</strong>igen Patienten<br />

liessen sich weder im Sputum noch im Magensaft Tuberkelbazillen<br />

nachweisen. Nebenwirkungen (Obstipation, Hyperreflexie,<br />

Schw<strong>in</strong>del) waren selten, flüchtig und harmlos.<br />

Die systematische Untersuchung wird <strong>in</strong> gros sem<br />

Masstab fortgesetzt. Die Hersteller s<strong>in</strong>d bereit, im Rahmen<br />

des Möglichen Versuchsmengen an Interessenten<br />

abzugeben.» 61<br />

Im amerikanischen Nutley glühten derweil die Telefondrähte<br />

heiss: «Die vergangenen drei Tage waren, milde ausgedrückt,<br />

hektisch ….» schrieb am Sonntag, den 24. Februar 1952, Barney<br />

an Barell und etwas weiter im Brief: «Dr. Kogels Mittwochnacht-<br />

Pressekonferenz startete e<strong>in</strong>e Kettenreaktion von Telefonanrufen<br />

die ganze Nacht h<strong>in</strong>durch, die seither die meiste Zeit tags- und<br />

nachtsüber anhalten. Radio-, Presse-, Magaz<strong>in</strong>- und andere<br />

Schreiber ersuchen uns um Informationen…. Heute Mittag<br />

treffen wir uns mit Vertretern der Nationalen Tuberkulose-<br />

Vere<strong>in</strong>igung, um ihnen zu erklären, dass Dr. Kogel auf eigene<br />

Faust und ohne unsere Erlaubnis handelte…» 62 Barney konnte der<br />

60 HAR: LG.DE-101859p.<br />

61 HAR: PD 31.RIM-102670.<br />

62 HAR: Brief von L.D. Barney an Emil Barell<br />

vom 24.2.1952.<br />

42 43


Sache allerd<strong>in</strong>gs auch etwas Gutes abgew<strong>in</strong>nen: «Dieses verfrühte<br />

Bekanntwerden kann <strong>Roche</strong> aber auch zum Vorteil gereichen.<br />

Am Montagmorgen wird Dr. Sevr<strong>in</strong>ghaus die zwei Topleute der<br />

Food and Drug Adm<strong>in</strong>istration mit zum Sea View nehmen, für<br />

e<strong>in</strong>e erste Inspektion der kl<strong>in</strong>ischen Fälle …. Dies könnte unser<br />

Gesuch auf Zulassung und die Erteilung derselben bei der FDA<br />

beschleunigen.»<br />

Prioritätenstreit<br />

Während man bei Squibb eher gelassen erstaunt über die nahezu<br />

zeitgleiche Entdeckung des INH reagiert hatte 63 , war man bei Bayer<br />

mehr als überrascht über diese Neuigkeit. So sagte der Direktor<br />

der Bayer-Werke Leverkusen, Dr. Mertens, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview<br />

mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk am 28. Februar 1952:<br />

«Die sensationell aufgemachte Mitteilung der amerikanischen<br />

Presse, <strong>in</strong>sbesondere der «New York Times», über<br />

die Wirksamkeit und die chemische Zusammensetzung<br />

des neuen amerikanischen Tuberkulosemittels zw<strong>in</strong>gt<br />

uns, aus unserer bisher geübten Reserve herauszutreten.<br />

Überraschenderweise stellt sich nun heraus, dass die<br />

neuen amerikanischen Präparate chemisch völlig identisch<br />

mit den Tuberkulosemitteln s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> den letzten Jahren<br />

<strong>in</strong> den Farbenfabriken Bayer entwickelt worden s<strong>in</strong>d. Wir<br />

können beim besten Willen nicht entscheiden, wie diese<br />

Duplizität der Erf<strong>in</strong>dungen zustande gekommen ist…..»<br />

63 Im Historischen Archiv <strong>Roche</strong> bef<strong>in</strong>det<br />

sich e<strong>in</strong>e Aktennotiz vom 7./8.2.1952: «Herr<br />

Dr. Barell berichtete über den Besuch des<br />

Präsidenten von Squibb. Letzterer kam doch<br />

auf die Tuberkulose-Sache zu sprechen und<br />

bemerkte, es sei eigenartig, dass zwei Firmen<br />

gleichzeitig dasselbe Präparat gefunden<br />

hätten, er lobte bei dieser Gelegenheit die<br />

faire Handlungsweise von Nutley.»<br />

Es blieb nicht bei diesem Interview, wie die deutsche Niederlassung<br />

von <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Grenzach Mitte März an die Konzernzentrale<br />

<strong>in</strong> Basel berichtete, «Die Reaktion der Farbenfabriken Bayer auf<br />

die ersten Mitteilungen über Rimifon aus den USA ist derart, dass<br />

wir u. E. hierzu Stellung nehmen müssen. Der zweckmässigste<br />

Weg dürfte se<strong>in</strong>, sich hier mit den <strong>in</strong> Frage kommenden Herren<br />

der Farbenfabriken Bayer zu unterhalten und e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same<br />

Erklärung herauszugeben…<br />

Es wird beispielsweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bebilderten Artikel im «Quick»<br />

Nr. 11 v. 16.3. angegeben, daß aus den Panzerschränken der I.G.<br />

Farben bei der Besetzung im Jahre 1945 Forschungsergebnisse von<br />

der Besatzungsmacht erbeutet wurden, die den «amerikanischen<br />

Firmen Squibb und Hoffmann La <strong>Roche</strong>» zugänglich gemacht<br />

wurden und ihnen die Grundlage für ihre jetzigen günstigen<br />

Ergebnisse lieferten….»<br />

In der Folge e<strong>in</strong>igten sich im Juni 1952 beide Firmen darauf,<br />

folgende geme<strong>in</strong>same Erklärung <strong>in</strong> deutschen und schweizerischen<br />

Fachzeitschriften 64 zu veröffentlichen:<br />

Tuberkulosebazillen im Auswurf<br />

(Sputum).<br />

«Die unterzeichneten Firmen stellen nach gegenseitiger<br />

E<strong>in</strong>sichtnahme <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>schlägigen Akten fest, dass<br />

sie im Rahmen e<strong>in</strong>er vone<strong>in</strong>ander völlig unabhängigen<br />

Forschung auf dem Gebiet Tuberkulose das Hydrazid<br />

der Isonikot<strong>in</strong>säure als Mittel zur Bekämpfung der<br />

Tuberkulose erkannt haben. Das Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid<br />

wurde von beiden Firmen unabhängig vone<strong>in</strong>ander im<br />

Jahre 1951 <strong>in</strong> die kl<strong>in</strong>ische Erprobung e<strong>in</strong>gewiesen.»<br />

F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> & Co., Aktiengesellschaft, Basel, den 8. August 1952<br />

Farbenfabriken Bayer, Leverkusen, den 8. August 1952 65<br />

Bayer Archiv Leverkusen Nachlass Professor Gerhard Domagk<br />

44 45


Betrifft Rimifon<br />

War die Forschung wirklich völlig unabhängig vone<strong>in</strong>ander?<br />

Ne<strong>in</strong>, denn <strong>in</strong> renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften<br />

waren Artikel über die antituberkulöse Wirkung des Nikot<strong>in</strong>säureamids<br />

und der Thiosemicarbazone und verwandter Verb<strong>in</strong>dungen<br />

erschienen. Schon e<strong>in</strong> Blick auf die Struktur dieser Substanzen<br />

lässt ahnen, dass wenn Chemiker ausgehend von diesen Strukturen<br />

mit Molekül-Bauste<strong>in</strong>en jonglieren, sie e<strong>in</strong>es Tages auch das<br />

INH <strong>in</strong> den Händen halten werden. In allen drei Firmen wurde,<br />

ausgehend von Nikot<strong>in</strong>säureamid und den Thiosemicarbazonen,<br />

<strong>in</strong>tensiv nach Tuberkulose-Medikamenten gesucht. Dabei wurde<br />

– eher als Zwischenprodukt – auch INH synthetisiert und als<br />

mögliches Tuberkulose-Mittel <strong>in</strong> die mikrobiologische Testung<br />

e<strong>in</strong>gewiesen. Und so nahmen die D<strong>in</strong>ge ihren Lauf.<br />

Patente und Preise<br />

Die verfrühte und überstürzte Mitteilung an die Laienpresse<br />

bescherte <strong>Roche</strong> <strong>in</strong>des nicht nur Probleme mit Bayer. Die Firma<br />

stand nun unter enormem Druck, die Wundermittel Rimifon und<br />

Marsilid sowie entsprechende Informationen zur Dosierung und<br />

Verträglichkeit auch liefern zu können. Allen Vorgängen, die mit<br />

der Testung und Fabrikation von Rimifon zu tun hatten, wurde<br />

erste Priorität e<strong>in</strong>geräumt. In e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen Mitteilung wies Firmenchef<br />

Barell am 28. Februar 1952 zehn Abteilungen <strong>in</strong> Basel an:<br />

«In Anbetracht der äussersten Dr<strong>in</strong>glichkeit bitte ich<br />

Sie, alle Arbeiten im Zusammenhang mit Rimifon mit<br />

allen Mitteln zu beschleunigen und dabei auch nicht vor<br />

Samstags- oder Sonntagsarbeit zurückzuschrecken.» 66<br />

64 Gemäss den Unterlagen im Historischen<br />

Archiv <strong>Roche</strong> erschien die Erklärung <strong>in</strong><br />

folgenden Fachzeitschriften: Deutsche<br />

Apotheker-Zeitung, Deutsche Mediz<strong>in</strong>ische<br />

Wochenschrift, Münchener Mediz<strong>in</strong>ische<br />

Wochenschrift, Pharmazeutische Industrie<br />

und Arzneimittelforschung, Experientia,<br />

Schweizerische Apotheker-Zeitung,<br />

Schweizer Mediz<strong>in</strong>ische Wochenschrift und<br />

Helvetica Medica Acta.<br />

65 Separatum Experientia. Vol.VIII/9 Basel:<br />

Verlag Birkhäuser; 1952; 364.<br />

66 HAR: N 589 PD3.1. RIM-102670.<br />

Es gab viel zu tun. Informiert werden mussten ja neben den Standorten<br />

von <strong>Roche</strong> und den Redaktionen <strong>in</strong> aller Welt, vor allem<br />

die Tuberkulose-Spezialisten, und besonders jene, die das Mittel<br />

noch testen sollten. Mit Squibb hatte man sich darauf gee<strong>in</strong>igt,<br />

welche Firma mit welchen Prüfärzten zusammen arbeiten würde,<br />

mit Bayer wohl nicht. Auch musste das Medikament ja erst noch<br />

zugelassen werden. Und nicht zuletzt sollte es jetzt <strong>in</strong> grossem<br />

Ausmass produziert werden.<br />

Vier preisgünstige Varianten standen für die Synthese von<br />

INH zur Verfügung. Die Verfügbarkeiten der dafür benötigten<br />

Ausgangsmaterialien auf dem Weltmarkt waren zu prüfen, denn<br />

es war klar, dass man mit Wettbewerbern – zum<strong>in</strong>dest mit den<br />

beiden nun schon bekannten – um e<strong>in</strong>ige Ausgangsmaterialien<br />

für die Synthesen konkurrieren würde.<br />

Wie sich bald herausstellen sollte, konkurrierten um die Ausgangsstoffe<br />

auch andere Firmen. Trotzdem kam wohl niemand<br />

bei <strong>Roche</strong> auf die Idee, wegen der zu erwartenden Konkurrenz<br />

INH und dessen Isopropylderivat (Marsilid) nicht auf den Markt<br />

zu br<strong>in</strong>gen. Es gibt auch ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise darauf, dass Zweifel<br />

bestanden hätten, den Bedarf an den Medikamenten decken zu<br />

können. Denn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Medienmitteilung vom Februar 1952<br />

heisst es:<br />

«Die Hoffmann-La <strong>Roche</strong> Gesellschaft erklärt, dass<br />

ausreichende Mengen der Medikamente verfügbar<br />

se<strong>in</strong> werden, sobald die Massenproduktion <strong>in</strong>s Rollen<br />

kommt. Es wird damit gerechnet, dass dieser Zeitpunkt<br />

bereits im Mai dieses Jahres se<strong>in</strong> wird.» 67<br />

Klar aber war den Verantwortlichen bei <strong>Roche</strong>, dass sie schneller<br />

se<strong>in</strong> mussten als alle anderen, um der Welt zu zeigen: INH, das<br />

ist das Medikament Rimifon von <strong>Roche</strong>.<br />

Im März 1952 produzierte <strong>Roche</strong> INH an vier verschiedenen<br />

Standorten der Firma nach drei verschiedenen Verfahren:<br />

In amerikanischen Nutley wurde es ausgehend von γ-Picol<strong>in</strong><br />

aus Ste<strong>in</strong>kohlenteer, <strong>in</strong> Basel aus Zitronensäure und im deutschen<br />

Grenzach sowie im britischen Welwyn aus Pyrid<strong>in</strong> hergestellt.<br />

Das hatte den Vorteil, nicht auf e<strong>in</strong>en Ausgangsstoff<br />

angewiesen zu se<strong>in</strong>. Mangel und Preistreiberei an e<strong>in</strong>em der<br />

Ausgangsstoffe für die Synthese von INH konnte so entgegen<br />

gewirkt werden.<br />

Am 5. März 1952 brachte <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> der Schweiz INH als<br />

Rimifon auf den Markt. Bereits ab dem 6. März 1952 wurden<br />

Rimifon-Tabletten <strong>in</strong> alle Welt geliefert: zum Verkauf und für<br />

kl<strong>in</strong>ische Studien. Bis zum 19. September 1952 wurden mehr als<br />

137 <strong>Millionen</strong> Tabletten mit je 50 Milligramm INH ausgeliefert,<br />

das heisst <strong>in</strong> diesem Zeitraum wurden bei <strong>Roche</strong> m<strong>in</strong>destes 7000<br />

Kilogramm Wirkstoff INH zu Tabletten verarbeitet. Im Juni<br />

1952 gab das «Pharmacopoeia Committee» <strong>in</strong> den USA INH<br />

den Substanznamen Isoniazid. 68<br />

67 Pressemitteilung der <strong>Roche</strong> vom Februar<br />

1952: Zwei Medikamente «stoppen<br />

Tuberkulose».<br />

68 HAR: PD.3.1. RIM-102670a; Brief von<br />

P.J. Card<strong>in</strong>al vom 19.6.1952 an <strong>Roche</strong><br />

46 47


69 In e<strong>in</strong>em Schreiben vom 26.6.1952 wurde<br />

festgehalten, dass «Marsilid jetzt neben<br />

Rimifon <strong>in</strong> den U.S.A. dem Handel übergeben<br />

wurde.»<br />

70 HAR: PD.1.1.3.-101335.<br />

71 Herman Herbert Fox, Passaic, N.J. assignor<br />

to Hoffmann-La <strong>Roche</strong> Inc., <strong>Roche</strong> Park,<br />

Nutley, N.J. a corporation of New Jersey:<br />

Compositions for combat<strong>in</strong>g tuberculosis.<br />

US Patent 2,596,069.<br />

72 HAR: Brief von Dr. E.C. Barell and Mr.<br />

L.D. Barney bezüglich Licenses under<br />

prospectives use – patents for isonicot<strong>in</strong>ylhydraz<strong>in</strong>e<br />

– <strong>Roche</strong> /Squibb vom 8.4.1952.<br />

73 HAR: Brief von L.D. Barney, Hoffmann La<br />

<strong>Roche</strong> Nutley an Dr. Emil C. Barell vom<br />

9.5.1952.<br />

Das Isopropyl-Derivat mit dem <strong>Roche</strong> Handelsnamen Marsilid<br />

erhielt später den Substanznamen Iproniazid. Es kam im<br />

Juni1952 auf den Markt. 69 Wie sich später zeigte, sorgte Marsilid<br />

für e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Stimmungsaufhellung bei den Patienten.<br />

Es wurde daher 1957 auch als Antidepressivum zugelassen.<br />

Die Aufklärung des zugrunde liegenden Wirkmechanismus<br />

wies den Weg zu e<strong>in</strong>er neuen Klasse von Antidepressiva: den<br />

Hemmstoffen der Monoam<strong>in</strong>oxidase. Aufgrund se<strong>in</strong>er leberschädigenden<br />

Wirkung wurde Marsilid jedoch zum 1. Mai 1963<br />

von <strong>Roche</strong> aufgegeben. 70<br />

Bayer liess INH <strong>in</strong> deutschen Tuberkulose-Heilstätten prüfen<br />

und brachte es ebenfalls Anfang März 1952 unter dem Handelsnamen<br />

Neoteben <strong>in</strong> den Handel.<br />

Zusätzlich zu den erwähnten Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen<br />

<strong>Roche</strong> und Bayer wurde von dritter Seite das Gerücht gestreut,<br />

erst nach der Bekanntgabe der Heilwirkung des INH hätte Bayer<br />

mit der Testung des Mittels begonnen. Dieses Gerücht konnte<br />

entstehen, da der Name Neoteben, wie schon erwähnt, zuerst<br />

e<strong>in</strong>em anderen Präparat von Bayer zugedacht war. Bayer konnte<br />

nachweisen, dass diese Vorwürfe haltlos waren. Dies brachte aber<br />

nicht nur für Bayer, sondern auch für <strong>Roche</strong> viel Aufregung mit<br />

sich. Firmenchef Barell sah sich gezwungen, gegenüber Bayer<br />

richtigzustellen, dass <strong>Roche</strong> nicht Urheber dieser Gerüchte war.<br />

Liess sich auch die Substanz INH an sich nicht patentieren,<br />

so konnte der <strong>Roche</strong>-Chemiker Herman Herbert Fox am 7. März<br />

1952 <strong>in</strong> den USA doch wenigstens e<strong>in</strong> Verwendungspatent e<strong>in</strong>reichen.<br />

Es trug den Titel «Zusammensetzungen zur Bekämpfung<br />

von Tuberkulose» und wurde am 6. Mai 1952 erteilt. Patentiert<br />

wurden «Kompositionen», die neben INH (oder den Salzen dieser<br />

Substanz, wie dem Monohydrochlorid) steriles Wasser (zwecks<br />

Injektion der Substanz) oder Hilfsstoffe für die Tablettenherstellung<br />

wie Milchzucker, Stärkemehl, Talk, Stear<strong>in</strong>säure und<br />

ähnliches enthielten. 71<br />

E<strong>in</strong> solches Verwendungspatent für das INH hielt <strong>Roche</strong> nur<br />

für die USA, da man <strong>in</strong> Basel wohl mit Recht davon ausg<strong>in</strong>g, solche<br />

«use-patents» seien nur etwas für den amerikanischen Markt.<br />

Mit Squibb hatte man sich darauf gee<strong>in</strong>igt, dass weder <strong>Roche</strong> der<br />

Firma Squibb noch Squibb der Firma <strong>Roche</strong> Lizenzgebühren zu<br />

zahlen hatte. 72 Die Firmen e<strong>in</strong>igten sich sogar darauf, dass diejenige<br />

der beiden Firmen, welche die Patentrechte erhalten würde,<br />

die andere zu 50% an den anfallenden Lizenzgebühren beteiligen<br />

würde. 73 Auch die Firma Squibb, welche INH als Nydrazid auf den<br />

Markt brachte, hatte e<strong>in</strong>e Art Verwendungspatent e<strong>in</strong>gereicht,<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Isoniazid, das erste «Spezifikum»<br />

gegen Tuberkulose, wurde<br />

von <strong>Roche</strong> 1952 mit dem<br />

Handelsnamen Rimifon auf den<br />

Markt gebracht.<br />

Das Isopropylderivat von Isoniazid, Iproniazid,<br />

wurde unter dem Handelsnamen Marsilid ebenfalls<br />

1952 von <strong>Roche</strong> auf den Markt gebracht. Es war<br />

100fach weniger wirksam gegen Tuberkulose-<br />

Bakterien als Isoniazid, dafür aber sehr wirksam<br />

gegen Depressionen, e<strong>in</strong>e Indikation, für die es<br />

1957, <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geren Dosen, zugelassen wurde.<br />

Bayer brachte Isoniazid ebenfalls 1952 auf den<br />

Markt, unter dem Namen Neoteben.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Bayer Archiv Leverkusen<br />

48 49


sogar schon im Januar 1952. Aber Squibb war mit der Testung<br />

der Substanz am Menschen noch nicht so weit fortgeschritten.<br />

Deshalb wurden <strong>Roche</strong> die Patentrechte erteilt. Die E<strong>in</strong>igung<br />

der beiden Firmen war dennoch zu beiderseitigem Vorteil, denn<br />

ohne sie hätte sich die Erteilung des Patents über Jahre h<strong>in</strong>ziehen<br />

können.<br />

Im weiteren Verlaufe des Jahres 1952 brachten, trotz des<br />

amerikanischen Verwendungspatents von <strong>Roche</strong>, neben Squibb<br />

und Bayer gleich fünf weitere Firmen Isoniazid auf den Markt.<br />

Es folgte was folgen musste: e<strong>in</strong> drastischer Preisverfall schon<br />

im ersten Jahr. Kostete anfangs e<strong>in</strong> Kilo INH noch 5000 Dollar,<br />

so brachte es schon kurze Zeit später <strong>in</strong> Pillenform nur noch e<strong>in</strong><br />

Zehntel davon e<strong>in</strong>. Als Wirkstoff kostete INH sogar nur noch<br />

200 bis 300 Dollar pro Kilo. Und alles deutete auf e<strong>in</strong>en weiteren<br />

Preisverfall h<strong>in</strong>, der irgendwo bei 18 Dollar pro Kilo für die Substanz<br />

und etwa dem doppelten Preis für INH <strong>in</strong> Tablettenform<br />

angesiedelt wurde. 74<br />

Gab es Bedenken h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er Unwirtschaftlichkeit?<br />

In e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Bericht bei <strong>Roche</strong> vom 23. Juli 1952 über<br />

e<strong>in</strong> Treffen e<strong>in</strong>es <strong>Roche</strong>-Mitarbeiters mit dem kaufmännischen<br />

Chef der pharmazeutischen Abteilung von Bayer <strong>in</strong> Leverkusen<br />

heisst es:<br />

«Bayer wisse, dass e<strong>in</strong>e Unzahl von Unternehmungen<br />

mit dieser Fabrikation beschäftigt seien. Es würden<br />

nur wenige davon übrig bleiben. Je grösser die Fabrikation<br />

des E<strong>in</strong>zelnen sei, desto günstiger der Preis.<br />

Ob wir nicht daran <strong>in</strong>teressiert wären, unsere Substanz<br />

doch endgültig von Leverkusen zu beziehen?»<br />

74 Anonym: The TB drug - A case for<br />

commercial chemical development.<br />

Chemonomics. 1952; Spr<strong>in</strong>g;3(3).<br />

<strong>Roche</strong> blieb bei der eigenen Produktion. «Wir dürfen sicher se<strong>in</strong>,<br />

im Rimifon e<strong>in</strong> Tuberkulostatikum zu besitzen, das die wenigen<br />

bisherigen Tuberkulosemittel nicht nur aufs wertvollste ergänzen,<br />

sondern wahrsche<strong>in</strong>lich mit der Zeit verdrängen wird», heisst<br />

es vorsichtig optimistisch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Bericht bei <strong>Roche</strong><br />

aus dem Jahr 1952. Wer immer diese Zeilen auch geschrieben<br />

haben mag, er sollte Recht behalten. INH ist bis heute das Mittel<br />

Nummer 1 <strong>in</strong> der Tuberkulosebehandlung geblieben. Der Wirkstoff<br />

bereitete, wie es e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>historiker e<strong>in</strong>mal reimte, «dem<br />

Rimifon Umsätze<br />

Umsatz 20<br />

(Mio. CHF)<br />

18<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

Jahr 1950 1955 1969 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000<br />

Sterben auf den Zauberbergen e<strong>in</strong> Ende» und rettet(e) <strong>Millionen</strong><br />

Tuberkulose-Patienten das Leben. Und er war und ist billig. 1953<br />

kosteten 100 Tabletten mit 50 Milligramm INH 3.75 Franken.<br />

Der Stundenlohn e<strong>in</strong>es Betriebsarbeiters betrug damals 3.05<br />

Franken. 75 Zum Vergleich: Zur erfolgreichen Tuberkulose-<br />

Behandlung mit Streptomyc<strong>in</strong> mussten pro Tag e<strong>in</strong> bis drei<br />

Gramm des Antibiotikums e<strong>in</strong>gesetzt werden 76 und 1952 kosteten<br />

fünf Gramm Streptomyc<strong>in</strong> 2.20 Dollar. 77 In der Schweiz<br />

dürften die meisten Tuberkulose-Patienten diese Kosten damals<br />

aber nicht selbst getragen haben und nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen oder<br />

gar ke<strong>in</strong>en Selbstkostenanteil gezahlt haben. Denn seit «dem<br />

1.1.1931 leistete der Bund Beiträge an Krankenkassen, die e<strong>in</strong>e<br />

Zusatzversicherung für Tuberkulose anboten. Die Tuberkuloseversicherung<br />

bestand aus e<strong>in</strong>er Krankengeldversicherung, die<br />

Taggelder ausbezahlte, und e<strong>in</strong>er Krankenpflegeversicherung,<br />

welche die Behandlung, die Medikamentation und e<strong>in</strong>en Teil der<br />

Kurkosten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zugelassenen Heilstätte übernahm.» 78 1953<br />

hatten über 90% der Wohnbevölkerung <strong>in</strong> Basel Anspruch auf<br />

Leistungen der Tuberkuloseversicherung.<br />

INH setzte <strong>in</strong>des nicht nur dem Sterben <strong>in</strong> den Tuberkulose-<br />

Sanatorien e<strong>in</strong>e Ende, dieses Medikament läutete auch das Ende<br />

dieser Heilstätten e<strong>in</strong>. Nicht zuletzt bedeutete dieses Medikament<br />

damit auch e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle Entlastung der Krankenkassen, denn<br />

die Kosten für die Sanatoriumsbehandlung waren viel höher als<br />

75 Für diese Information danke ich Bruno Halm<br />

vom Historischen Archiv <strong>Roche</strong>. HAR: PO.7-<br />

102384 und MV.51-104544.<br />

76 H<strong>in</strong>shaw HC, Feldmann WH, Pfuetze KH.<br />

Treatment of tuberculosis with streptomyc<strong>in</strong>;<br />

a summary of observations on one hundred<br />

cases. J Am Med Ass 1946; 132 (13):778-782.<br />

77 Für diese Information danke ich Pamela<br />

Eisele, Global Media Relations, Merck & Co.,<br />

Inc.<br />

78 Gredig D. Die Entwicklung der Tuberkulosefürsorge<br />

1930 bis 1961 In Gredig D.<br />

Tuberkulosefürsorge <strong>in</strong> der Schweiz. Verlag<br />

Haupt, Bern, 2000.<br />

Bruno Halm, Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

50 51


die für INH. Die Basler Heilstätte beispielsweise stellte damals<br />

4.50 Franken pro Tag <strong>in</strong> Rechnung und im Jahr 1952 garantierte<br />

die Basler Oeffentliche Krankenkasse ihren Versicherten e<strong>in</strong>e<br />

Kurdauer von 1080 Tagen. 79<br />

1975 kostete die Jahresbehandlung mit INH bei e<strong>in</strong>er täglichen<br />

Dosis von 300 Milligramm nur zwei bis drei englische<br />

Pfund. 80<br />

Bis Mitte der 1990er Jahre wurde INH unter dem Handelsnamen<br />

Rimifon von <strong>Roche</strong> vertrieben. 1999 verkaufte <strong>Roche</strong><br />

die Marke an die Firma Laboratoires Laphal SA <strong>in</strong> Frankreich. 81<br />

Es hört niemals auf: resistente Keime<br />

Aber auch gegen das INH alle<strong>in</strong> werden Tuberkulosebakterien <strong>in</strong><br />

der Regel nach zwei bis drei Monaten resistent. Schon im Sommer<br />

1952 erhielt Domagk auf se<strong>in</strong>en Wunsch h<strong>in</strong> aus vielen Teilen<br />

<strong>Deutschland</strong>s Tuberkulosestämme zugesandt, die von Patienten<br />

isoliert wurden, bei denen INH nichts mehr ausrichten konnte.<br />

So erhielt er am 20. Juni 1952 Post aus der Hansestadt Hamburg:<br />

«Auf Wunsch Ihres wissenschaftlichen Vertreters <strong>in</strong> Hamburg,<br />

Herrn Dr. Schürmann, übersenden wir Ihnen e<strong>in</strong>en<br />

Tuberkulosestamm, den wir bei unseren Neotebenversuchen<br />

gewonnen haben und der sich im Tierversuch auf festen<br />

Nährböden nach Hohn als resistent gegen 1g Neoteben<br />

erwiesen hat… Der besagte Stamm wurde nach e<strong>in</strong>er<br />

21tägigen Neoteben-Behandlung mit 150 bis e<strong>in</strong>schliesslich<br />

400 mg Neoteben pro Tag isoliert. Leider konnten wir vor<br />

Beg<strong>in</strong>n der Therapie noch ke<strong>in</strong>en Resistenzversuch ansetzen,<br />

da uns die Ausgangssubstanz fehlte. Wir können deshalb<br />

nicht entscheiden, ob der Stamm schon primär diesen<br />

Resistenzgrad hatte… Der kl<strong>in</strong>ische Verlauf der Tuberkulose<br />

zeigte bei dieser Patient<strong>in</strong> trotz Verabfolgung von <strong>in</strong>sgesamt<br />

etwa 19 g Nikot<strong>in</strong>säurehydrazid ke<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>flussung.» 82<br />

Bayer brachte 1953 Komb<strong>in</strong>ationspräparate von INH und<br />

Streptomyc<strong>in</strong> auf den Markt, Orthomyc<strong>in</strong> und Orthomyc<strong>in</strong><br />

«forte». 83 Mit der Dreierkomb<strong>in</strong>ationen von PAS, INH und Streptomyc<strong>in</strong><br />

wurde 1952/1953 e<strong>in</strong>e Heilung <strong>in</strong> 93% der Fälle erreicht,<br />

wenn acht bis zehn Monate täglich INH verabreicht wurde. 1955<br />

waren Dreierkomb<strong>in</strong>ationen von PAS, INH und Streptomyc<strong>in</strong><br />

oder Zweierkomb<strong>in</strong>ationen von Streptomyc<strong>in</strong> und INH oder<br />

PAS und INH gängige Praxis der Tuberkulosetherapie. 84 Um<br />

es gleich vorwegzunehmen: Die «Dreifachtherapie» mit PAS,<br />

INH und Streptomyc<strong>in</strong> sollte <strong>in</strong> den kommenden 15 Jahren die<br />

Standardtherapie für alle Tuberkuloseformen bleiben, erforderte<br />

aber Behandlungszeiträume von bis zu zwei Jahren. 85 Erst als<br />

Mitte der 1960er Jahre Rifampic<strong>in</strong> entdeckt worden war, konnten<br />

unter E<strong>in</strong>beziehung von Pyraz<strong>in</strong>amid Tuberkulose-Therapien<br />

kürzerer Dauer entwickelt werden. Diese komb<strong>in</strong>ierten dann<br />

aber auch mehr als drei unterschiedliche Medikamente um der<br />

Resistenzbildung zuvorzukommen.<br />

Taktieren und Paktieren<br />

Aber begeben wir uns zurück <strong>in</strong> die 1950er Jahre: Sowohl bei <strong>Roche</strong><br />

als auch bei Bayer wurden ab 1952 etliche Isonikot<strong>in</strong>säure-Derivate<br />

synthetisiert und zum Patent angemeldet. So erteilte das deutsche<br />

Patentamt am 29. April 1954 Herbert Herman Fox das Patent Nr.<br />

910298 mit dem Titel «Verfahren zur Herstellung von Isonikot<strong>in</strong>säurederivaten»<br />

auf dem Gebiete der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>. 86<br />

«Die Farbenfabriken Bayer stellten 1955 Tuberkuloseärzten<br />

mit Nicoteben comp e<strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ationspräparat aus zwei tuberkulostatischen<br />

Komponenten, dem Isonicot<strong>in</strong>säurehydrazid (INH)<br />

und dem Isonicot<strong>in</strong>aldehyd-thiosemicarbazon zur Verfügung.<br />

Jede 0.1 g schwere Tablette enthielt 8 Teile INH und 2 Teile des<br />

Thiosemicarbazons.» 87<br />

«Unsere beiden Firmen entfalten auf dem Gebiet des Isoniazids<br />

bzw. se<strong>in</strong>er Derivate e<strong>in</strong>e rege Tätigkeit. Dabei hat es sich<br />

natürlicherweise ergeben, dass sich diese Tätigkeit auf gleiche<br />

oder ähnliche Verb<strong>in</strong>dungen erstreckt. Dieser Umstand hat<br />

dann auch dazu geführt, dass sich Kollisionen zwischen den<br />

beiderseitigen Patentanmeldungen entwickelt haben, und es<br />

muss wohl erwartet werden, dass noch weitere solche Kollisionen<br />

entstehen. Die Bearbeitung solcher Fälle verlangt jeweils<br />

von beiden Parteien grossen Aufwand, und überdies führt die<br />

Erledigung von Streitverfahren durch behördliche Entscheidung<br />

oft zu e<strong>in</strong>er Durchlöcherung des geme<strong>in</strong>samen Patentbesitzes,<br />

79 Gredig D. Die Tätigkeiten der<br />

Tuberkulosefürsorge 1930 bis 1961. In:<br />

Gredig D. Tuberkulosefürsorge <strong>in</strong> der<br />

Schweiz. Verlag Haupt, Bern, 2000.<br />

80 Spr<strong>in</strong>gett VH. The treatment of tuberculosis.<br />

Practitioner. 1975 Oct;215(1288):480-6.<br />

81 Für diese Auskunft danke ich dem Leiter des<br />

Historischen Archivs bei <strong>Roche</strong>, Alexander<br />

Bieri.<br />

82 BAL 316 003 082.<br />

83 BAL Geschäftsbericht für das Jahr 1953<br />

Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft<br />

Leverkusen.<br />

84 Hupe W: Über den gegenwärtigen Stand<br />

der Chemotherapie der Tuberkulose. Das<br />

deutsche Gesundheitswesen 10 1145, 1955.<br />

85 Murray JF: A century of tuberculosis. Am J<br />

Respir Crit Care med 169, 1181-1186, 2004.<br />

86 Patentanmeldung bekannt gemacht am<br />

20.8.1953, Patenterteilung bekannt gemacht<br />

am 25.3.1954, patentiert im Gebiet der<br />

Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> vom 15.12.1951<br />

an. Die Priorität der Anmeldung <strong>in</strong> den<br />

V.St.v.A. vom 18.1.1951 war <strong>in</strong> Anspruch<br />

genommen im Pat.No.2685580 = (ser.<br />

No.206,732).<br />

87 Von Arnim HH. Vorläufige Erfahrungen<br />

<strong>in</strong> der Tuberkulosebehandlung mit dem<br />

Komb<strong>in</strong>ationspräparat Nicoteben® comp.<br />

Beitr Kl<strong>in</strong> Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch.<br />

1957;116(7):575-86.<br />

52 53


so dass Dritten die Ausnützung von <strong>in</strong>s Freie fallenden Teilen<br />

der Forschungsergebnisse der Orig<strong>in</strong>albearbeiter leicht möglich<br />

wird. Es ist daher bei uns der Gedanke aufgetaucht, ob es nicht<br />

zweckmässiger wäre, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Besprechung mit<br />

Ihnen den Versuch zu machen, e<strong>in</strong>e direkte Verständigung über<br />

das Kollisionsgebiet herbeizuführen. Wir erlauben uns daher,<br />

Sie heute anzufragen, ob auch Sie e<strong>in</strong>e solche Besprechung für<br />

nützlich halten?», fragte die Basler Patentabteilung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief<br />

vom 4. Februar 1955 bei Bayer an. 88 Nachdem man sich gegenseitig<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> sämtliche Patente und Patentanmeldungen<br />

gewährt hatte, wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Besprechung am 24. Juni 1955 <strong>in</strong><br />

Basel «folgendes vere<strong>in</strong>bart:<br />

1. Die Parteien fechten ihre Schutzrechte nicht an.<br />

2. Die Parteien erteilen sich gegenseitig ke<strong>in</strong>e Lizenz auf solche<br />

Schutzrechte, bei denen ke<strong>in</strong>e Kollisionen mit den Schutzrechten<br />

des anderen Partners bestehen.<br />

3. In den Fällen, <strong>in</strong> denen beide Parteien Patentanmeldungen<br />

e<strong>in</strong>gereicht haben, die sich gegenseitig überschneiden,<br />

gewähren sie sich gegenseitig e<strong>in</strong>e Option auf e<strong>in</strong>e Lizenz zu<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, die noch vere<strong>in</strong>bart werden müssen.<br />

4. Bei denjenigen Schutzrechten, wo die sachlichen Überschneidungen<br />

so stark s<strong>in</strong>d, dass sich praktisch e<strong>in</strong>e Trennung nicht<br />

durchführen lässt, gewähren sich die Parteien gegenseitig<br />

Freilizenzen.» 89<br />

E<strong>in</strong> entsprechender, mehrseitiger, von <strong>Roche</strong> aufgesetzter<br />

Vertrag wurde aber erst nach zähem R<strong>in</strong>gen im Januar 1956<br />

unterzeichnet.<br />

Isoniazid-Nachfolger<br />

Ironie der Geschichte: Bei den nachfolgenden Tuberkulose-<br />

Mitteln handelte es sich nicht um INH-Derivate. Warum denn<br />

auch, die im Körper aktive Substanz e<strong>in</strong>es INH-Derivates war ja<br />

letztlich doch immer das INH selbst. Und zum<strong>in</strong>dest dies war den<br />

Forschern damals nicht ganz unbekannt, hatte doch der <strong>Roche</strong>-<br />

Forscher Bernhard Fust schon 1952 geschrieben:<br />

«Die Kondensationsprodukte des Isonikot<strong>in</strong>säure hydrazids<br />

mit Aldehyden s<strong>in</strong>d alle mehr oder weniger wirksam, was bei<br />

ihrem glatten Zerfall im Organismus unter Entstehung des<br />

freien Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazids nicht verwunderlich ist.» 90<br />

Bei der nächsten Substanz, die <strong>in</strong> den Reigen der auch heute noch<br />

e<strong>in</strong>gesetzten Tuberkulose-Medikamente aufgenommen wurde,<br />

handelte es sich jedoch wieder um e<strong>in</strong>e Substanz, die grosse<br />

Ähnlichkeit mit dem B-Vitam<strong>in</strong> Nikot<strong>in</strong>säureamid hatte. Beim<br />

1952 erstmals an Tuberkulose-Patienten erprobten Pyraz<strong>in</strong>amid<br />

(PZA) ist lediglich e<strong>in</strong> Kohlenstoffatom im aromatischen R<strong>in</strong>g<br />

von Nikot<strong>in</strong>säureamid durch e<strong>in</strong> Stickstoffatom ersetzt worden<br />

(siehe Formeln auf Seite 56).<br />

Die Aufklärung der tuberkelkillenden Wirkmechanismen von<br />

INH und PZA sollte noch Jahrzehnte <strong>in</strong> Anspruch nehmen und<br />

Heerscharen von Wissenschaftlern <strong>in</strong> Forschungse<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>in</strong> aller Welt beschäftigen. Im Jahr 2003 erschien e<strong>in</strong>e Arbeit, <strong>in</strong><br />

der für PZA folgender Wirkmechanismus vorgeschlagen wurde:<br />

Die Substanz dr<strong>in</strong>gt als so genanntes Prodrug, das heisst als e<strong>in</strong>e<br />

Vorstufe der eigentlichen Wirksubstanz, durch passive Diffusion<br />

und möglicherweise auch aktiven Transport <strong>in</strong> die Bazillen<br />

e<strong>in</strong>. Dort wird sie durch e<strong>in</strong> Nikot<strong>in</strong>amidase/Pyraz<strong>in</strong>amidase<br />

Testung von Neoteben im<br />

Kulturversuch.<br />

88 Brief der F. Hoffmann La <strong>Roche</strong><br />

Aktiengesellschaft Chemische Fabrik Basel<br />

Abteilung VIII Patentabteilung an die<br />

Farbenfabriken Bayer, Aktiengesellschaft,<br />

Leverkusen Bayerwerk betreffend Patente<br />

und Patentanmeldungen betr. Isoniazid-<br />

Derivate. BAL: 367-025.<br />

89 Aktennotiz über die Besprechung mit<br />

Hoffmann-La <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Basel am 24.6.1955,<br />

Leverkusen den 28.6.1955. BAL 367-026.<br />

90 Fust B. Die Entstehungsgeschichte von<br />

Rimifon »<strong>Roche</strong>». Sonderabdruck aus:<br />

Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft<br />

für <strong>in</strong>nere Mediz<strong>in</strong>. 58. Kongress 1952.<br />

Nachlass Professor Gerhard Domagk, Bayer Archiv Leverkusen<br />

54 55


Pyraz<strong>in</strong>amid<br />

(PZAase) genanntes Enzym <strong>in</strong> Pyraz<strong>in</strong>säure umgewandelt, welche<br />

aus den Bazillen herausdiffundiert. Herrscht <strong>in</strong> der Umgebung<br />

der Bazillen e<strong>in</strong> stark saurer pH-Wert, so wird diese Pyraz<strong>in</strong>säure<br />

protoniert und kann <strong>in</strong> dieser Form die Bakterienwand viel<br />

schneller wieder <strong>in</strong> Richtung Bakterien<strong>in</strong>neres durchdr<strong>in</strong>gen, als<br />

die ursprüngliche Form von PZA. Die Pyraz<strong>in</strong>säure br<strong>in</strong>gt so aber<br />

auch Protonen mit <strong>in</strong> die Bazillen, was zu e<strong>in</strong>er Übersäuerung von<br />

deren Zytoplasma und damit zu deren Absterben führt. Dies geht<br />

so lange gut, bis Mutationen die PZAase-Aktivität bee<strong>in</strong>trächtigen<br />

und damit die Tuberkelulosebakterien auch gegen PZA resistent<br />

werden lassen; und es funktioniert so lange, wie e<strong>in</strong> saurer pH-<br />

Wert <strong>in</strong> der Umgebung der Bazillen herrscht. 91<br />

Im Menschen wirkt PZA nur während der ersten zwei Monate<br />

der Therapie. Es wird vermutet, dass Entzündungen zu Beg<strong>in</strong>n<br />

der Infektion dafür sorgen, dass <strong>in</strong> der Umgebung der Bazillen<br />

e<strong>in</strong> saures Milieu entsteht, welches – wie erwähnt – notwendig<br />

ist, damit PZA se<strong>in</strong>e Wirkung entfalten kann. Soviel zum Wirkmechanismus<br />

von PZA. Wie aber wirkt nun INH?<br />

Die Tuberkulose<br />

und Massnahmen<br />

zu ihrer Bekämpfung<br />

im Zeitraffer<br />

Nikot<strong>in</strong>säureamid<br />

91 Zhang Y, Mitchison D. The curious<br />

characteristics of pyraz<strong>in</strong>amide: a review. Int<br />

J Tuberc Lung Dis. 2003 Jan;7(1):6-21.<br />

56


Hippokrates<br />

(460–370 v.Chr.)<br />

liefert die erste<br />

Beschreibung der<br />

Lungentuberkulose als<br />

Phtisis = Auszehrung<br />

und empfiehlt<br />

diätische und<br />

hygienische<br />

Massnahmen.<br />

René Théophile<br />

Hyac<strong>in</strong>the Laënnec<br />

(1781–1826) erf<strong>in</strong>det<br />

das Stethoskop,<br />

beschreibt die<br />

physischen Zeichen<br />

der Tuberkulose <strong>in</strong><br />

verschiedenen Stadien,<br />

deren geme<strong>in</strong>sames<br />

Merkmal die Tuberkel<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Johann Lukas<br />

Schönle<strong>in</strong><br />

(1793–1864)<br />

prägt den<br />

Begriff<br />

«Tuberkulose».<br />

Hermann Brehmer<br />

(1826–1889)<br />

beg<strong>in</strong>nt mit der<br />

systematischen<br />

Freilufttherapie<br />

der Tuberkulose <strong>in</strong><br />

Görbersdorf (damals<br />

<strong>Deutschland</strong>, heute<br />

Polen). 1862 konnte<br />

er e<strong>in</strong> grösseres<br />

Sanatorium eröffnen,<br />

se<strong>in</strong>e «Heilanstalt»,<br />

die 1904 die grösste<br />

derartige E<strong>in</strong>richtung<br />

mit 300 Betten war.<br />

Robert Koch<br />

(1843–1910)<br />

entdeckt den<br />

bakteriellen<br />

Erreger der<br />

Tuberkulose.<br />

Carlo Forlan<strong>in</strong>i<br />

(1847-1918)<br />

wendet erstmals<br />

den künstlichen<br />

Pneumothorax,<br />

den er bereits<br />

1882 theoretisch<br />

beschrieben hatte,<br />

zur chirurgischen<br />

Behandlung der<br />

Lungentuberkulose an.<br />

Conrad Wilhelm<br />

Röntgen<br />

(1845–1923)<br />

entdeckt die<br />

X-Strahlen,<br />

die e<strong>in</strong>e frühe<br />

Diagnose<br />

der Lungentuberkulose<br />

ermöglichen.<br />

Erste erfolgreiche<br />

Anwendung der von<br />

Albert Calmette<br />

(1863–1933)<br />

und Camille Guér<strong>in</strong><br />

(1872–1961)<br />

seit 1906 entwickelten<br />

BCG (Bacille-Calmette-<br />

Guér<strong>in</strong>) Schutzimpfung<br />

mit abgeschwächten<br />

(R<strong>in</strong>der-)<br />

Tuberkelbakterien<br />

<strong>in</strong> Frankreich, die<br />

Wirksamkeit ist<br />

umstritten.<br />

Albert Schatz<br />

(1920–2005)<br />

l<strong>in</strong>ks im Bild, e<strong>in</strong><br />

Mitarbeiter von Selman<br />

Waksman<br />

(1888–1973),<br />

rechts, isoliert das erste<br />

gegen Tuberkelbazillen<br />

wirksame Antibiotikum<br />

aus Streptomyces<br />

griseus Bodenbakterien:<br />

Streptomyc<strong>in</strong>.<br />

Gerhard Domagk<br />

(1895–1964) entdeckt<br />

bei Bayer die<br />

antituberkulöse<br />

Wirkung der<br />

Thiosemicarbazone.<br />

Die antituberkulöse<br />

Wirkung des<br />

Pyraz<strong>in</strong>amids<br />

wird entdeckt.<br />

Die Tuberkulose-<br />

Therapie erfolgt<br />

<strong>in</strong> der Regel mit<br />

INH, Rifampic<strong>in</strong>,<br />

Etahmbutol und<br />

Pyraz<strong>in</strong>amid. Die<br />

multiresistenten<br />

Tuberkulose-Fälle,<br />

bei denen m<strong>in</strong>destens<br />

die zwei derzeit<br />

potentesten<br />

Antituberkulotika,<br />

INH und Rifampic<strong>in</strong>,<br />

wirkungslos<br />

waren, und die<br />

extensiv resistenten<br />

Tuberkulose-<br />

Erkrankungen, bei<br />

denen zusätzlich<br />

drei und mehr der<br />

nachfolgend e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Zweitrangantituberkulotika<br />

versagen,<br />

nehmen zu.<br />

um 400 v.Chr.<br />

1679<br />

1819<br />

um 1830<br />

1849<br />

1854<br />

1882<br />

1865<br />

1888<br />

1890<br />

1895<br />

1895<br />

1921<br />

1930<br />

1943<br />

1944<br />

1946/47<br />

1950/1951<br />

1952<br />

1961<br />

1966<br />

1993<br />

heute<br />

François de le Boë<br />

(Sylvius)<br />

(1614–1672)<br />

veröffentlicht se<strong>in</strong>e Schrift<br />

«De Phtisi» und beschreibt<br />

Knötchen <strong>in</strong> der Lunge,<br />

welche die Lungenschw<strong>in</strong>dsucht<br />

verursachen,<br />

wenn sie nicht<br />

vernarben.<br />

C.J.B. Williams<br />

berichtet über<br />

Heilerfolge bei<br />

Tuberkulose mit<br />

hohen Dosen<br />

Lebertran, das<br />

bedeutet mit hohen<br />

Dosen Vitam<strong>in</strong> D.<br />

Jean Anto<strong>in</strong>e<br />

Villem<strong>in</strong><br />

(1827–1892)<br />

beweist mit<br />

Tierexperimenten<br />

die <strong>in</strong>fektiöse<br />

Natur der<br />

Tuberkulose bei<br />

Mensch und<br />

R<strong>in</strong>d.<br />

Koch entwickelt<br />

das Tuberkul<strong>in</strong><br />

(Filtrat e<strong>in</strong>er<br />

Tuberkelbazillen-<br />

Kultur), welches sich<br />

später als Diagnoseaber<br />

nicht als<br />

Heilmittel erweist.<br />

Niels Ryberg F<strong>in</strong>sen<br />

(1860–1904)<br />

entwickelt e<strong>in</strong>e<br />

systematische<br />

Lichttherapie zur<br />

Behandlung der<br />

Hauttuberkulose.<br />

Lübecker<br />

Impfunglück<br />

76 K<strong>in</strong>der sterben<br />

durch ungenügend<br />

<strong>in</strong>aktivierte<br />

Tuberkelbazillen<br />

der BCG-Impfung.<br />

Jørgen Lehmann<br />

(1898–1989)<br />

entdeckt das<br />

erste chemische<br />

Medikament gegen<br />

Tuberkulose:<br />

Para-Am<strong>in</strong>o-<br />

Salizylsäure (PAS).<br />

Das erste chemische<br />

Spezifikum gegen<br />

Tuberkelbazillen mit hoher<br />

Wirksamkeit:<br />

Isoniazid (INH) wird<br />

gleichzeitig und nahezu<br />

unabhängig vone<strong>in</strong>ander<br />

von Forschern <strong>in</strong> den drei<br />

Firmen <strong>Roche</strong>, Bayer und<br />

Squibb entdeckt.<br />

Ethambutol,<br />

e<strong>in</strong> Antibiotikum<br />

mit antituberkulöser<br />

Wirkung wird<br />

entdeckt.<br />

Die antituberkulöse<br />

Wirkung des<br />

Antibiotikums<br />

Rifampic<strong>in</strong><br />

wird entdeckt.<br />

Aufgrund der starken<br />

Zunahme der<br />

Tuberkulose<br />

ruft die WHO den<br />

globalen Gesundheitsnotfall<br />

aus.


Erste Untersuchungen zum Wirkmechanismus<br />

von Isoniazid<br />

«Sicher steht nur, dass die Tuberkelbazillen unter dem E<strong>in</strong>fluss<br />

genügender Rimifon-Mengen ihre Vermehrung e<strong>in</strong>stellen; gemäss<br />

elektronenmikroskopischer Untersuchungen teilen sich zwar die<br />

Kernäquivalente der Bakterienzellen noch, aber die protoplasmatische<br />

Zellteilung sistiert dann. Infolge noch unbekannter<br />

Stoffwechselveränderungen unter dem E<strong>in</strong>fluss des Isoniazid<br />

kommt es zu morphologischen Veränderungen und Verkümmerungen<br />

des Bakterienleibes, der schliesslich den Abwehrkräften<br />

des Wirtsorganismus zum Opfer fällt. Ob hierbei e<strong>in</strong>e Vitam<strong>in</strong>-<br />

Verdrängung oder E<strong>in</strong>griffe im Fermentsystem e<strong>in</strong>e Rolle spielen,<br />

steht noch ke<strong>in</strong>eswegs fest,» 92 hiess es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Bericht<br />

von <strong>Roche</strong> zum Stand der Erfahrungen mit Rimifon aus dem<br />

Jahr 1952.<br />

E<strong>in</strong>es aber stand 1953 ganz gewiss fest:<br />

«Andere Bakterien, Pilze, Protozoen und Virusarten<br />

werden durch Isoniazid wenig oder nicht bee<strong>in</strong>flusst.<br />

Isoniazid darf daher praktisch wohl als Spezifikum<br />

gegen die Tuberkulose bezeichnet werden.» 93<br />

E<strong>in</strong>er der die Wirkung von INH und Iproniazid sowohl auf die<br />

Tuberkulose-Bakterien als auch auf die behandelten Menschen<br />

besser verstehen wollte, arbeitete <strong>in</strong> der Abteilung für Biochemie<br />

und Bakteriologie an der Northwestern University Medical School<br />

(Chicago): der Biochemiker Ernst Albert Zeller (1907–1987).<br />

Er testete mit se<strong>in</strong>en Kollegen 1952 den E<strong>in</strong>fluss von INH und<br />

Iproniazid auf Enzyme von Bakterien und Säugetieren. Genauer<br />

gesagt: Sie untersuchten die Wirkung auf die Aktivität der bakteriellen<br />

Diam<strong>in</strong>oxidase und Guanid<strong>in</strong>deamid<strong>in</strong>ase sowie der<br />

Diam<strong>in</strong>oxidase und der Monoam<strong>in</strong>oxidase (MAO) von Säugetieren,<br />

weil zu jener Zeit bekannt war, dass alle basischen Antibiotika<br />

und basischen tuberkulostatischen Chemotherapeutika<br />

die Aktivität der bakteriellen Diam<strong>in</strong>oxidase hemmen. 94 «Die<br />

beiden neuen Tuberkuloseheilmittel wirken auch auf e<strong>in</strong>e gere<strong>in</strong>igte<br />

Diam<strong>in</strong>oxydase aus Schwe<strong>in</strong>enierer<strong>in</strong>de…Auffallend stark<br />

ist die Hemmung der Monoam<strong>in</strong>oxydase der Mitochondria aus<br />

Rattenleber durch Iproniazid…» 95 , so ihr Ergebnis.<br />

92 HAR:PD.3.1.RIM-105429 Derzeitiger Stand<br />

der Erfahrungen mit Rimifon.<br />

93 Fust B: Die Therapie der Tuberkulose<br />

mit Isoniazid [Rimifon]; Sonderdruck<br />

aus: Therapie der Lungentuberkulose<br />

Lieferung 4 des Handbuches der Therapie<br />

<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zeldarstellungen. Bern: Verlag Hans<br />

Huber; 1953.<br />

94 López-Muñoz F, Alamo C. Monoam<strong>in</strong>ergic<br />

neurotransmission: the history of the<br />

discovery of antidepressants from 1950s until<br />

today. Curr Pharm Des. 2009;15(14):1563-86.<br />

95 Zeller EA, Barsky J, Fouts JR, Kirchheimer<br />

WF, Van Orden LS. Influence of isonicot<strong>in</strong>ic<br />

acid hydrazide (INH) and 1-isonicot<strong>in</strong>ic-<br />

2-isopropyl-hydrazide (IIH) on bacterial<br />

and mammalian enzymes. Experientia.<br />

1952;8:349-50.<br />

65


96 Healy D. Max Lurie – The enigma of Isoniazid.<br />

The Psychopharmacologists II. London:<br />

Arnold (a member of the Hodder Headl<strong>in</strong>e<br />

Group); 1999; 119-34.<br />

97 Salzer HM, Lurie ML. Anxiety and depressive<br />

states treated with isonicot<strong>in</strong>yl hydrazide<br />

(Isoniazid). AMA Arch Neurol Psychiatry.<br />

1953 Sep;70(3):317-24.<br />

98 Zu den auffallendsten Nebenwirkungen<br />

zählten die Ärzte damals: «orthostatischen<br />

Blutdruckabfall, fibrilliäres Muskelzittern,<br />

Rigidität, Schwitzen, Obstipation,<br />

Miktionsstörungen, Pulsverlangsamung<br />

und Schläfrigkeit. siehe: Viollier, G, Quir<strong>in</strong>g<br />

E, Staub H. E<strong>in</strong>fluss von oral verabreichtem<br />

Isonikot<strong>in</strong>säurehydrazid und dessen<br />

Isopropylderivat auf den Enzymhaushalt der<br />

weissen Ratte. Helvetica Chimica Acta. 1953<br />

Vol XXXVI Fasciculus III No. 92 724-30.<br />

99 Salzer HM, Lurie ML. Depressive states<br />

treated with isonicot<strong>in</strong>yl hydrazide<br />

(Isoniazide); a follow-up study. Ohio Med.<br />

1955 May;51(5):437-41.<br />

100 Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydraz<strong>in</strong>e derivates<br />

of isonicot<strong>in</strong>ic acid (rimifon, marsilid) <strong>in</strong> the<br />

treatment of active progressive caseouspneumonic<br />

tuberculosis; a prelim<strong>in</strong>ary report.<br />

Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.<br />

Später er<strong>in</strong>nerte sich Zeller, dass INH die Diam<strong>in</strong>oxidase wie<br />

erwartet hemmte, <strong>in</strong> der gleichen Konzentration aber ke<strong>in</strong>e<br />

bemerkenswerte Wirkung auf die MAO hatte. Iproniazid dagegen<br />

erwies sich als e<strong>in</strong> so starker Hemmstoff für MAO wie ke<strong>in</strong>e<br />

andere Substanz zuvor. 96<br />

Bakterienkiller gegen Depressionen<br />

Im Herbst 1952 hatten die beiden am C<strong>in</strong>c<strong>in</strong>nati General Hospital<br />

tätigen Psychiater Harry Salzer und Max Lurie begonnen, die<br />

stimmungsaufhellende Wirkung von INH bei Patienten ohne<br />

Tuberkulose, aber mit schweren chronischen, das heisst oft schon<br />

jahrelang bestehenden Depressionen, zu erproben. «Psychiater<br />

suchen immer neue und effektivere Chemotherapeutika für psychische<br />

Störungen», so ihre Motivation. 97 Die als Nebenwirkung<br />

beschriebene euphorisierende Wirkung des neuen Tuberkulose-<br />

Mittels schien ihnen denn doch etwas über die Freude h<strong>in</strong>auszugehen,<br />

die zu erwarten ist, wenn Patienten von e<strong>in</strong>er als unheilbar<br />

geltenden Krankheit genesen.<br />

E<strong>in</strong>ige ihrer depressiven Patienten waren zuvor erfolglos mit<br />

«chemischen Mitteln» gegen Depressionen behandelt worden. Zu<br />

diesen zählten damals Amphetam<strong>in</strong>, Barbiturate, andere Sedativa,<br />

Vitam<strong>in</strong>e und die Subkoma-Insul<strong>in</strong>-Therapie. E<strong>in</strong> gutes Drittel<br />

der Patienten hatte zuvor auch mehrere, bis zu 19 Elektroschock-<br />

Therapien über sich ergehen lassen müssen, die bei schweren<br />

Depressionen oft wirksam s<strong>in</strong>d – allerd<strong>in</strong>gs nur für e<strong>in</strong>e begrenzte<br />

Zeit.<br />

Diesen Patienten wurde nun dreimal pro Tag je 50 Milligramm<br />

INH verabreicht, denn bei dieser Dosis waren noch<br />

ke<strong>in</strong>e Nebenwirkungen 98 zu erwarten. Schwere Fälle erhielten<br />

dreimal 100 Milligramm pro Tag. Von den 41 behandelten Patienten<br />

konnten die beiden Psychiater 28 von ihren Depressionen<br />

befreien, und dies <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong>nerhalb von sechs Monaten. Die<br />

Schlaf-, Appetit- und Antriebslosigkeit der Patienten verschwand.<br />

«Aber der exakte ‘modus operandi’ muss noch gezeigt werden»,<br />

stellten sie 1954 fest. 99<br />

Lurie und Salzer hatten jedoch wohl übersehen, dass die<br />

Ergebnisse der ersten kl<strong>in</strong>ischen Studien von <strong>Roche</strong> an Tuberkulose-Patienten<br />

mit INH und se<strong>in</strong>en Derivaten hauptsächlich<br />

mit Iproniazid durchgeführt worden waren. 100 Dieses Präparat<br />

war 87 der <strong>in</strong>sgesamt 97 Patienten verabreicht worden. Zunächst<br />

fiel auch nicht auf, dass die Versuche mit INH alle<strong>in</strong> nicht die<br />

gleiche euphorisierende Wirkung hervorriefen. Ende 1952 wies<br />

dann der Orthopäde David M. Bosworth, der beide Medikamente<br />

zur Behandlung der Knochentuberkulose testete, darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass Iproniazid «neben se<strong>in</strong>er bakteriostatischen Kontrolle<br />

von Mycobacterium tuberculosis e<strong>in</strong>en bemerkenswerten Effekt<br />

auf Gewebe hat.» 101<br />

«Von da an entwickelten sich beide Präparate <strong>in</strong> ihrer kl<strong>in</strong>ischen<br />

Verwendung nach verschiedenen Richtungen», hiess es <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Ende der 1950er Jahre erschienenen Werbebroschüre von<br />

<strong>Roche</strong>. 102 Während das noch heute als Tuberkulose-Mittel e<strong>in</strong>gesetzte<br />

INH (leider) nicht weiter als Antidepressivum untersucht<br />

und genutzt wurde, machte Iproniazid für wenige Jahre Karriere<br />

als erstes wirkliches Antidepressivum.<br />

Vielleicht lag es daran, dass für INH ke<strong>in</strong> Patentschutz<br />

bestand, vielleicht aber auch daran, dass Iproniazid viel öfter<br />

und ausgeprägter «neuropsychiatrische Nebenwirkungen» bei<br />

den Tuberkulose-Patienten hervorrief als INH. Nicht zuletzt<br />

waren es diese Psychose erzeugenden Nebenwirkungen, die das<br />

«Aus» von Iproniazid als Tuberkulose-Medikament bedeuteten.<br />

Aber es hatte damit den Psychiatern angezeigt: Es wirkt auch im<br />

Gehirn und könnte dort «Mechanismen <strong>in</strong> Gang setzen, welche<br />

zur Korrektur oder Anomalie mentaler Prozesse führen.» 103<br />

Iproniazid wirkte – wie die Experten es damals nannten –<br />

als «psychischer Energizer» bei Patienten mit Depressionen. Es<br />

erzeugte Gefühle des Wohlbef<strong>in</strong>dens, steigerte ganz beträchtlich<br />

den Appetit, gab Energie und verm<strong>in</strong>derte das Schlafbedürfnis.<br />

E<strong>in</strong>e typische Äusserung damaliger Patienten lautete: «Ich habe<br />

mich seit Jahren nicht so gut gefühlt.» 104<br />

1956 fanden dann Forscher, darunter auch e<strong>in</strong> späterer Forschungsleiter<br />

von <strong>Roche</strong>, der Schweizer Alfred Pletscher (1916-<br />

2006), heraus, dass Iproniazid im Gehirn e<strong>in</strong>en Anstieg des Seroton<strong>in</strong>-<br />

und Noradrenal<strong>in</strong>-Spiegels bewirkt. 105 Beide Stoffe wirken<br />

als Neurotransmitter, s<strong>in</strong>d biogene Am<strong>in</strong>e und werden durch<br />

MAO abgebaut. Seroton<strong>in</strong> wird aufgrund se<strong>in</strong>er stimmungsaufhellenden<br />

Wirkung auch als Glückshormon bezeichnet.<br />

E<strong>in</strong> Jahr später, 1957, postulierten Nathan S. Kl<strong>in</strong>e (1916–<br />

1983) und se<strong>in</strong>e Mitarbeiter, dass diese antidepressive Wirksamkeit<br />

von Iproniazid wahrsche<strong>in</strong>lich auf die von Zeller gefundene<br />

MAO-Hemmung zurückzuführen sei. 106 Dies bestätigten weitere<br />

Experimente mit anderen MAO-Hemmstoffen, die ebenfalls<br />

Depressionen bekämpfen konnten; e<strong>in</strong>ige davon waren auch bei<br />

<strong>Roche</strong> synthetisiert worden.<br />

Im März 1955 hatte die FDA Marsilid zur Behandlung von<br />

Tuberkulose <strong>in</strong> Dosen von zwei bis vier Milligramm pro Kilo-<br />

101 5. Bosworth DM, Wright HA, Field<strong>in</strong>g JW.<br />

The treatment of bone and jo<strong>in</strong>t tuberculosis;<br />

effect of 1-isonicot<strong>in</strong>yl-2-isopropylhydraz<strong>in</strong>e;<br />

a prelim<strong>in</strong>ary report. J Bone Jo<strong>in</strong>t Surg Am.<br />

1952 Oct; 34 A(4):761-71.<br />

102 HAR PD.3.1.MAS-103620a Dossier über<br />

Marsilid F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> & Co. A.G.<br />

Basel.<br />

103 Crane GE. Further studies on iproniazid<br />

phosphate; isonicot<strong>in</strong>il-isopropyl-hydraz<strong>in</strong>e<br />

phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956<br />

Sep; 124(3):322-31.<br />

104 Crane GE. Further studies on iproniazid<br />

phosphate; isonicot<strong>in</strong>il-isopropyl-hydraz<strong>in</strong>e<br />

phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956<br />

Sep; 124(3):322-31.<br />

105 Pletscher A. Wirkung von<br />

Isonikot<strong>in</strong>säurehydraziden auf den<br />

5-Hydroxytryptam<strong>in</strong>stoffwechsel <strong>in</strong> vivo.<br />

Experientia. 1956 Dec 15;12(12):479-80.<br />

106 Loomer HP, Saunders JC, Kl<strong>in</strong>e NS:<br />

A cl<strong>in</strong>ical and pharmacodynamic evaluation<br />

of iproniazid as a psychic energizer.<br />

Psychiatri Res Rep Am Psychiatr Assoc. 1957<br />

Dec; 8: 129-41.<br />

66 67


107 HAR: Fo32-102118<br />

108 Wall Street Journal Staff reporter: Hoffmann-<br />

La <strong>Roche</strong> Discovers new Drug for Mental<br />

patients, The Wall Street Journal, Monday<br />

April 8, 1957.<br />

109 Emma Harrison: TB drug is tried <strong>in</strong> mental<br />

cases. Use of Iproniazid at Rockland<br />

<strong>in</strong>dicates Energiz<strong>in</strong>g effect <strong>in</strong> case of<br />

depression. The New York Times April 7, 1957.<br />

110 Earl Ubell: Promise seen for Depressed TB<br />

drug tested for mental ills. New York Herald<br />

Tribune, Sunday April 7, 1957.<br />

111 HAR: Fo32-102118.<br />

112 Bailey SD, Bucci L. Gosl<strong>in</strong>e E, Kl<strong>in</strong>e NS, Park<br />

IH, Rochl<strong>in</strong> D, Saunders JC, Vaisberg M:<br />

Comparison of iproniazid with other am<strong>in</strong>e<br />

oxidase <strong>in</strong>hibitors, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g W-1544, JB-516,<br />

RO 4-1018, and RO 5-0700. ANN N Y Acad<br />

Sci 1959 Sep 17;80:652-68.<br />

gramm Körpergewicht zugelassen. Im März 1957 erfolgte die<br />

Zulassung auch für die Behandlung von Depressionen, allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geren Dosen bis zu maximal 150 Milligramm täglich. Die<br />

Packungsbeilage enthielt die Warnung: «Dies ist e<strong>in</strong> potentes<br />

Arzneimittel, welches nur unter ärztlicher Kontrolle angewandt<br />

werden soll.» 107<br />

E<strong>in</strong> Tuberkulose-Mittel als neuartiges Medikament gegen<br />

Depressionen: Das war den Redakteuren grosser amerikanischer<br />

Zeitungen wie dem Wall Street Journal, der New York Times und<br />

der New York Herald Tribune Anfang April 1957 den Besuch<br />

e<strong>in</strong>er Pressekonferenz von <strong>Roche</strong> und e<strong>in</strong>e Meldung wert. 108,109,110<br />

Dies wohl auch, weil es New Yorker Ärzte waren, welche die Substanz<br />

nicht nur bei Patienten mit Depressionen erprobten, sondern<br />

auch die antidepressive Wirkung mit der MAO-Hemmung <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung brachten. Am 6. April 1957 hatten die New Yorker<br />

Experten unter der Leitung von Kl<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>er Psychiater-Tagung<br />

<strong>in</strong> Syracuse (New York) darüber berichtet. Allerd<strong>in</strong>gs erschienen<br />

diese Artikel <strong>in</strong> der amerikanischen Tagespresse eher auf den<br />

h<strong>in</strong>teren Seiten.<br />

In der Schweiz wurden 1957 noch kl<strong>in</strong>ische Versuche mit<br />

Marsilid für die neue Indikation durchgeführt. Am 27. Mai 1958<br />

war es dann aber auch hier soweit. Die Schweizerische Interkantonale<br />

Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) <strong>in</strong> Bern genehmigte die<br />

neuen Verwendungsempfehlungen für Marsilid zur Bekämpfung<br />

depressiver Verstimmungszustände. 111<br />

«Zusätzlich zu dem bedeutenden therapeutischen Fortschritt,<br />

der sich dar<strong>in</strong> widerspiegelt, dass seit ihrer E<strong>in</strong>führung<br />

vor anderthalb Jahren über e<strong>in</strong>e halbe Million Patienten mit<br />

solchen Wirkstoffen behandelt wurden, glauben wir, dass der<br />

Fortschritt bezüglich des Verstehens der Biochemie psychischer<br />

Erkrankungen grössere Bedeutung hat», schrieben Kl<strong>in</strong>e und<br />

se<strong>in</strong>e Co-Autoren nicht wenig stolz 1959. 112<br />

Isoniazid: so e<strong>in</strong>fach das Molekül,<br />

so komplex die Wirkung<br />

Es gibt wohl nichts komplexeres als das menschliche Gehirn. Und<br />

so mutet es schon e<strong>in</strong> wenig paradox an, dass die Aufklärung des<br />

Mechanismus der antidepressiven Wirkung e<strong>in</strong>es INH-Derivates<br />

im Gehirn nur fünf Jahre <strong>in</strong> Anspruch nahm, die Aufklärung der<br />

Ursachen der antituberkulösen Wirkung von INH dagegen mehr<br />

als 50 Jahre. Es entbehrt auch nicht e<strong>in</strong>er gewissen Tragik, dass<br />

es allen an der Auff<strong>in</strong>dung von INH beteiligten Akteuren nicht<br />

New York Herald Tribune<br />

7. April 1957<br />

E<strong>in</strong> Tuberkulose-Mittel als<br />

neuartiges Medikament<br />

gegen Depressionen:<br />

Das war den Redakteuren<br />

grosser amerikanischer<br />

Tageszeitungen im April<br />

1957 e<strong>in</strong>e Meldung wert.<br />

Wall Street Journal<br />

8. April 1957<br />

68 69


113 Middlebrook G: Isoniazid-resistance<br />

and catalase activity of tubercle bacilli;<br />

a prelim<strong>in</strong>ary report. American review of<br />

tuberculosis 1954;69(3):471-472<br />

114 W<strong>in</strong>der F: Catalase and peroxidase <strong>in</strong><br />

mycobacteria. Possible relationship to the<br />

mode of action of isoniazid. Am Rev Respir<br />

Dis 1960; 81: 68-78.<br />

115 Der <strong>Roche</strong>-Mitarbeiter Jörg Benz hat diese<br />

Abbildung mit InhA <strong>in</strong> Bänderdarstellung<br />

basiernd auf den Daten von 1ZID mit dem<br />

Programm PyMol Molecular Graphic System<br />

erstellt. NADH ist die Abkürzung für NAD <strong>in</strong><br />

der reduzierten Form.<br />

116 Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of<br />

Isonziad Kill<strong>in</strong>g: Clarity through the scope of<br />

Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.<br />

vergönnt se<strong>in</strong> sollte, zu erfahren, warum INH letztlich Tuberkelbakterien<br />

wirklich abzutöten vermag.<br />

Dabei handelt es sich auch bei der tötenden Wirkung von<br />

INH auf Tuberkelbakterien schlussendlich wieder um die Hemmung<br />

e<strong>in</strong>es Enzymes. Aber, und dies macht die Sache etwas<br />

komplizierter und erforderte den E<strong>in</strong>satz gentechnologischer<br />

Untersuchungsmethoden zur Aufklärung des Wirkmechanismus,<br />

es ist nicht das INH selbst, welches als Enzymhemmstoff auftritt,<br />

sondern e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Tuberkelbakterien aus INH gebildetes so<br />

genanntes Addukt.<br />

Schon 1953 hatte der amerikanische Mikrobiologe Gardner<br />

Middlebrook (um 1915–1986), durch Untersuchung mit INHresistenten<br />

Tuberkelbakterien herausgefunden, dass diese e<strong>in</strong>e<br />

ger<strong>in</strong>ge oder ke<strong>in</strong>e Aktivität des Enzymes Katalase aufwiesen. 113<br />

Katalasen s<strong>in</strong>d Enzyme, die im Stoffwechsel anfallendes, für die<br />

Zelle giftiges Wasserstoffperoxid zu Sauerstoff und Wasser umsetzen.<br />

Middlebrook hatte übrigens wie viele andere Tuberkulose-<br />

Forscher e<strong>in</strong>en ganz besonderen Grund für se<strong>in</strong>e wissenschaftlichen<br />

Arbeiten auf dem Tuberkulose-Gebiet. Se<strong>in</strong> Antrieb: Er<br />

hatte selbst an e<strong>in</strong>er Lungentuberkulose gelitten.<br />

Die Katalase-Aktivität spielte also e<strong>in</strong>e Rolle. Aber welche? Im<br />

Jahr 1960 hatte Frank W<strong>in</strong>der die Hypothese aufgestellt, dass aus<br />

INH freie Radikale gebildet werden, die für die bakterientötenden<br />

Eigenschaften notwendig seien. 114 1970 wurde herausgefunden,<br />

dass INH die Synthese von den für Tuberkelbakterien lebensnotwendigen<br />

Bestandteilen der Zellwand hemmen kann. Dabei<br />

handelt es sich um langkettige Fettsäuren, sog. Mykolsäuren. Biochemische<br />

Untersuchungen bestätigten dann, dass INH eigentlich<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>aktive Vorstufe ist, die erst <strong>in</strong> den Tuberkelbakterien durch<br />

e<strong>in</strong>e Katalase <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Isonicot<strong>in</strong>yl-Radikal umgewandelt wird, welches<br />

dann wohl die Mykolfettsäuren-Synthese hemmt und damit<br />

den Zelltod bewirkt.<br />

1987 hatte man dann die Werkzeuge <strong>in</strong> der Hand, das Genmaterial<br />

von Tuberkelbakterien gezielt zu verändern. Durch<br />

Manipulationen des genetischen Bauplanes e<strong>in</strong>zelner Enzyme<br />

konnten die identifziert werden, die aktiv se<strong>in</strong> mussten, sollte INH<br />

se<strong>in</strong>e Wirksamkeit entfalten. Es waren, wie <strong>in</strong> den 1990er Jahren<br />

gefunden wurde, das Katalase-Peroxidase Enzym KatG und die<br />

NADH-abhängige Enoyl-ACP (Acyl carrier Prote<strong>in</strong>) Reduktase<br />

InhA, welche <strong>in</strong> die Mykolsäurebiosynthese <strong>in</strong>volviert ist.<br />

1998 stellte sich dann heraus, dass das INH-Radikal nicht<br />

direkt an InhA b<strong>in</strong>det, sondern erst e<strong>in</strong>e kovalente B<strong>in</strong>dung mit<br />

Nikot<strong>in</strong>säureamid-Aden<strong>in</strong>-D<strong>in</strong>ukleotid (NAD) e<strong>in</strong>gehen muss.<br />

NAD ist e<strong>in</strong> so genanntes Koenzym, das an zahlreichen Reaktionen<br />

im Stoffwechsel beteiligt ist.<br />

Was für e<strong>in</strong> Wirkmechanismus! E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Molekül, das die<br />

wachsartige, für Mykobakterien charakteristische Zellwand von<br />

Tuberkulosebakterien durch passive Diffusion durchdr<strong>in</strong>gen kann,<br />

wird <strong>in</strong> den Bakterien durch das Enzym KatG zum Radikal, formt<br />

mit e<strong>in</strong>em weiteren (Ko)-Enzym, NAD, e<strong>in</strong> Addukt und hemmt<br />

so e<strong>in</strong> drittes Enzym, InhA, welches Bestandteile der e<strong>in</strong>zigartigen<br />

Membran der Tuberkelbakterien synthetisiert. Diese Hemmung<br />

der Mykolsäure-Synthese bedeutet dann den Zelltod. Wenn alles<br />

gut geht, s<strong>in</strong>d die Forscher heute <strong>in</strong> der Lage, solche Wirkmechanismen<br />

von Medikamenten aufzuklären. Arzneimittel mit solchen<br />

Wirkmechanismen über drei Stufen gezielt von vornhere<strong>in</strong> zu<br />

entwerfen und nicht durch e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g der antibakteriellen Wirkung<br />

von Substanzen an Erregerkulturen und <strong>in</strong>fizierten Tieren<br />

zu f<strong>in</strong>den, ist aber auch heute noch nahezu unmöglich.<br />

Mit genetischen Methoden wurden e<strong>in</strong>ige Mechanismen der<br />

INH-Resistenz aufgeklärt. E<strong>in</strong>er besteht zum Beispiel dar<strong>in</strong>, dass<br />

die Tuberkelbakterien das Enzym InhA häufiger bilden. E<strong>in</strong>e<br />

Mutation <strong>in</strong> der Steuersequenz des Gens, welches den Bauplan<br />

für das Enzym InhA trägt, sorgt dafür, dass 20-mal häufiger <strong>in</strong>hA<br />

mRNA gebildet wird. 116 Die mRNA schleust den Bauplan für<br />

e<strong>in</strong> Prote<strong>in</strong> aus dem Zellkern zu den Eiweiss-Fabriken der Zelle.<br />

Regeln Bakterien solcherart die Bildung e<strong>in</strong>es Enzymes h<strong>in</strong>auf,<br />

kann ihnen e<strong>in</strong>e Hemmung desselben nicht mehr viel anhaben.<br />

Isoniazid (INH) formt mit<br />

dem Koenzym NADH e<strong>in</strong>en<br />

Komplex, der das Enzym InhA<br />

hemmen kann. InhA spielt<br />

e<strong>in</strong>e Rolle <strong>in</strong> der Synthese<br />

von Mykolsäuren, wichtigen<br />

Zellwand-Bestandteilen von<br />

Tuberkulosebakterien. 115<br />

70 71


Denn auch wenn der Resistenzmechanismus bekannt se<strong>in</strong> sollte,<br />

kann die Dosis e<strong>in</strong>es Medikamentes <strong>in</strong> der Regel aufgrund der<br />

Nebenwirkungen nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Ausmass gesteigert<br />

werden.<br />

Die antituberkulöse Wirksamkeit von INH beschäftigt die<br />

Forscher nach wie vor, besonders natürlich weil man die Resistenzbildungen<br />

besser verstehen und Angriffspunkte für neue<br />

Antituberkulose-Mittel f<strong>in</strong>den möchte. Vorschläge für weitere<br />

Wirkmechanismen von INH wurden gemacht. Aber noch im<br />

Jahr 2010 erschien e<strong>in</strong>e Publikation, die e<strong>in</strong>en für wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

gehaltenen Wirkmechanismus wieder <strong>in</strong> Zweifel stellte. 117<br />

117 Wang F, Ja<strong>in</strong> P, Gulten G, Liu Z, Feng<br />

Y, Ganesula K, et al. Mycobacterium<br />

tuberculosis dihydrofolate reductase is not a<br />

target relevant to the antitubercular activity<br />

of isoniazid. Antimicrob Agents Chemother.<br />

2010 Sep;54(9):3776-82.<br />

118 Wang L. Isoniazid. Chemical and Eng<strong>in</strong>eer<strong>in</strong>g<br />

News June 20. 2005, 76.<br />

119 NIAID is a component of the National<br />

Institutes of Health, which is part of the<br />

U.S. Department of Health and Human<br />

Services.<br />

120 Porter, R. Die Kunst des Heilens. E<strong>in</strong>e<br />

mediz<strong>in</strong>ische Geschichte der Menschheit<br />

von der Antike bis heute Spektrum. Berl<strong>in</strong>,<br />

Heidelberg: Akademischer Verlag, 2000; 492.<br />

Tuberkulose heute: wieder e<strong>in</strong>e gefürchtete<br />

Infektionskrankheit<br />

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) s<strong>in</strong>d heute zwei<br />

Milliarden Menschen mit Tuberkulose-Erregern <strong>in</strong>fiziert – e<strong>in</strong><br />

Drittel der Weltbevölkerung. Im Jahr 2010 steckten sich 8.8<br />

<strong>Millionen</strong> Menschen neu an, rund 1.4 <strong>Millionen</strong> Menschen<br />

starben an Tuberkulose und 5.7 <strong>Millionen</strong> Menschen wurden<br />

dagegen behandelt. Die überwiegende Mehrheit dieser Menschen<br />

schluckte <strong>in</strong> ihrem Medikamentencocktail auch INH. «Für die<br />

Menschen, die e<strong>in</strong>e Tuberkulose haben, die sich mit Arzneimitteln<br />

noch behandeln lässt, ist die E<strong>in</strong>nahme von INH oft e<strong>in</strong>e<br />

lebensrettende Massnahme» 118 , lautet das Urteil von Christ<strong>in</strong>e<br />

F. Sizemore, Leiter<strong>in</strong> der Abteilung für Tuberkulose, Lepra und<br />

andere durch Mykobakterien hervorgerufene Erkrankungen<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Division Mikrobiologie und Infektionskrankheiten<br />

des National Institute of Allergy and Infectious Diseases. 119<br />

In den westlichen Wohlstandsländern wie der Schweiz, mit<br />

nur 500 neuen Tuberkulosefällen pro Jahr, ist man sich der<br />

Herausforderung der Menschheit durch diese Krankheit kaum<br />

bewusst. Aber die Tuberkulose gehört noch immer zu den tödlichsten<br />

und mit Recht zu den am meisten gefürchteten Infektionskrankheiten<br />

des Menschen. Wie e<strong>in</strong>st breitet sie sich aus, wenn<br />

Not und Elend sowie Zusammenleben auf engstem Raum den<br />

Anstieg von übertragbaren Erkrankungen fördern. H<strong>in</strong>zu kommt,<br />

dass die Immunschwäche-Krankheit AIDS seit den 1980er Jahren<br />

zu e<strong>in</strong>em Wiederanstieg der Tuberkulose beiträgt. «Von 1985 bis<br />

1991 nahm die Tuberkulose <strong>in</strong> den USA um 12% und <strong>in</strong> Europa<br />

um 30% zu. In jenen Regionen Afrikas aber, wo Tuberkuloseund<br />

HIV-Infektionen oft zusammen auftraten, stieg die Zahl der<br />

Kranken um 300%.» 120<br />

Beispiel Indien: Isoniazid zur Prophylaxe<br />

und Therapie<br />

Indien ist e<strong>in</strong>es der am stärksten von Tuberkulose betroffenen<br />

Länder. Jedes Jahr stecken sich auf dem Subkont<strong>in</strong>ent 1.98 <strong>Millionen</strong><br />

Menschen neu mit Tuberkulose an. Im Jahr 2010 starben <strong>in</strong><br />

Indien rund 320 000 Menschen daran. 121 Die Seuche ist die häufigste<br />

Infektionskrankheit <strong>in</strong> dem Schwellenland mit 1.21 Milliarden<br />

E<strong>in</strong>wohnern und hat epidemische Ausmasse angenommen.<br />

Die hohe Anzahl von Tuberkulosefällen dort ist sicherlich nicht<br />

zuletzt auf die hohe Bevölkerungsdichte und die grosse Armut<br />

weiter Bevölkerungsschichten zurückzuführen.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Grund ist aber auch, dass es oft zu lange dauert,<br />

bevor die exakte Diagnose gestellt wird. So kann e<strong>in</strong> Mensch mit<br />

offener Tuberkulose <strong>in</strong> Indien sogar bis zu 15 andere Menschen<br />

anstecken.<br />

»Indien ist e<strong>in</strong> Land, <strong>in</strong> dem die Kosten für die Behandlung<br />

von Krankheiten nicht rückerstattet werden. E<strong>in</strong>e Ausnahme s<strong>in</strong>d<br />

die nationalen Gesundheitsfürsorge-Programme der Regierung<br />

oder jene für Angestellte der Regierung und e<strong>in</strong>ige wenige Personen,<br />

die e<strong>in</strong>e Versicherung bis zu e<strong>in</strong>er bestimmten Grenze<br />

haben», erklärt Girish Telang, General Manager von <strong>Roche</strong> Products<br />

<strong>in</strong> Indien und weiter: »Die Bekämpfung der Tuberkulose<br />

erfolgt im Rahmen e<strong>in</strong>es solchen nationalen Programmes, aber<br />

die diagnostischen und therapeutischen Massnahmen <strong>in</strong> den<br />

Wo immer Menschen dicht<br />

gedrängt unter schlechten<br />

hygienischen Verhältnissen<br />

leben, breiten sich Krankheiten<br />

wie die Tuberkulose schnell<br />

aus.<br />

121 Tuberculosis country profiles. World Health<br />

Organization [zitiert: 24.2.2012]. abrufbar<br />

unter: http://www.who.<strong>in</strong>t/tb/country/data/<br />

download/en/<strong>in</strong>dex.html.<br />

Foto: Catja Bruckmann<br />

72 73


staatlichen Institutionen unterscheiden sich von denen <strong>in</strong> privaten<br />

E<strong>in</strong>richtungen. In staatlichen Institutionen wird e<strong>in</strong>e Tuberkulose<br />

bei den Betroffenen anhand kl<strong>in</strong>ischer Symptome sowie<br />

grundlegender Untersuchungen wie Röntgenaufnahmen des<br />

Brustkorbes, Untersuchungen des Sputums (Auswurf) und dem<br />

Nachweis von Entzündungsmarkern diagnostiziert. Im privaten<br />

Bereich dagegen kommen, wenn erforderlich, zusätzlich zu diesen<br />

Basis-Untersuchungen auch bildgebende Untersuchungsmethoden<br />

wie die Magnetresonanz-Tomographie (MRT), Positronen-<br />

Emissions-Tomographie (PET) und Computer-Tomographie<br />

(CT) zum E<strong>in</strong>satz. In-vitro-Diagnostika, basierend auf der<br />

Polymerase-Kettenreaktion (PCR) zum Nachweis des genetischen<br />

Materials von Tuberkulosebakterien, werden hier ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, je nach Anforderung und Bezahlbarkeit durch den<br />

Patienten. Die Tuberkulosebehandlung wird im Rahmen des<br />

nationalen Programmes von der Regierung bezahlt und schliesst<br />

nicht nur die Medikamente, sondern auch Untersuchungen zum<br />

Management der Tuberkulose <strong>in</strong> staatlichen Gesundheitse<strong>in</strong>richtungen<br />

e<strong>in</strong>. Werden die Patienten dagegen <strong>in</strong> privaten Kl<strong>in</strong>iken<br />

und Institutionen behandelt, müssen sie für alle im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er Tuberkulose-Behandlung anfallenden Untersuchungen<br />

und Medikamente selbst aufkommen.»<br />

Dr. Ashok Mahashur, Lungenarzt am P.D. H<strong>in</strong>duja National<br />

Hospital & Medical Research Center ist davon übezeugt, dass<br />

»wahrsche<strong>in</strong>lich jeder Inder e<strong>in</strong>en Primärkomplex <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Lunge<br />

oder <strong>in</strong> den angrenzenden Lymphknoten hat.” Se<strong>in</strong>e Patienten<br />

können die 10 000 Rupien zahlen, die e<strong>in</strong>e PET-Untersuchung<br />

kostet. Jede Woche sieht er drei bis vier Patienten, die sich neu<br />

mit Tuberkulose angesteckt haben und 10 bis 15 Patienten,<br />

bei denen die Tuberkulose-Infektion schon länger bekannt ist.<br />

Normalerweise erkranken nur 10% der Infizierten, meist solche<br />

mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>geschränkten Funktion ihres Immunsystems. Weil<br />

die Tuberkulose <strong>in</strong> Indien so häufig ist, gibt er INH prophylaktisch<br />

auch all jenen Patienten, die mehr als sechs Monate mit<br />

Kortikosteroiden behandelt werden. Meist s<strong>in</strong>d das Patienten,<br />

die an schwerwiegenden Autoimmunerkrankungen wie Lupus<br />

erythematodes oder rheumatoider Arthritis leiden.<br />

Die unheilvolle Allianz der Immunschwäche-Krankheit AIDS<br />

und der Tuberkulose charakterisiert der <strong>in</strong>dische Epidemiologe<br />

und Tuberkulose-Forscher Madhukar Pai, Associate Professor an<br />

der MC Gill University Montreal, so: »HIV-Patienten mit e<strong>in</strong>em<br />

positiven Tuberkulose-Test haben e<strong>in</strong> um das Zehnfache erhöhtes<br />

Risiko, das Krankheitsbild e<strong>in</strong>er Tuberkulose zu entwickeln.»<br />

Deshalb empfiehlt die WHO für mit HIV <strong>in</strong>fizierte Jugendliche<br />

und Erwachsene e<strong>in</strong>e Tuberkulose-Prophylaxe-Therapie mit 300<br />

Milligramm INH täglich für die Dauer von m<strong>in</strong>destens sechs<br />

Monaten. Laut WHO-Report wurden im Jahr 2009 weltweit<br />

80 000 Menschen mit HIV prophylaktisch mit INH behandelt.<br />

In Indien s<strong>in</strong>d schätzungsweise 2.3 <strong>Millionen</strong> Menschen mit<br />

HIV <strong>in</strong>fiziert. Erhalten diese Menschen alle INH zur Prophylaxe?<br />

Er ist mit HIV und dem<br />

Tuberkulose-Erreger <strong>in</strong>fiziert<br />

und hatte zahlreiche<br />

Tuberkuloseherde im Gehirn<br />

(Tuberculoma) und <strong>in</strong> der Lunge<br />

(beidseitiger Befall). Se<strong>in</strong><br />

physisches Ersche<strong>in</strong>ungsbild<br />

zeigte die für Tuberkulose<br />

typische Auszehrung. Mit vier<br />

Medikamenten konnte se<strong>in</strong>e<br />

Tuberkulose bekämpft werden.<br />

Quelle: Professor Dr.<br />

Alaka Deshpande,<br />

Direktor<strong>in</strong> des<br />

Centre of Excellence<br />

<strong>in</strong> HIV care <strong>in</strong> Grant<br />

Med. College & Sir<br />

JJ Group of Govt.<br />

Hospital <strong>in</strong> Mumbai<br />

74 75


Wo steckt der Tuberkuloseherd?<br />

Untersuchungen mit der Positronen-Emissions-Tomographie<br />

Bei den hier mit der PET<br />

aufgespürten aktiven Herden<br />

im Nacken- und Brustbereich<br />

könnte es sich um e<strong>in</strong> Lymphom<br />

oder e<strong>in</strong>e Tuberkulose handeln.<br />

Wie die Biopsie ergab, war es<br />

e<strong>in</strong>e Tuberkulose. Die Patient<strong>in</strong><br />

erhielt e<strong>in</strong>e medikamentöse<br />

Therapie und überlebte.<br />

Die starke Signalgebung<br />

(Schwärzung) im Gehirn ist<br />

nicht auf Tuberkulose- oder<br />

Tumorherde dort zurückzuführen,<br />

sondern physiologisch bed<strong>in</strong>gt.<br />

Das Gehirn nimmt sehr viel<br />

Glukose auf.<br />

Auch dieser Patient überlebte<br />

dank medikamentöser Therapie<br />

se<strong>in</strong>e Tuberkulose-Erkrankung.<br />

Die Bilder <strong>in</strong> der oberen Reihe<br />

zeigen den Patienten nach, <strong>in</strong> der<br />

unteren Reihe vor der Therapie.<br />

122 Harkirat S, Anand SS, Indrajit IK, Dash AK.<br />

Pictorial essay: PET/CT <strong>in</strong> tuberculosis.Indian<br />

J Radiol Imag<strong>in</strong>g 2008;18:141-47.<br />

Dr. Ujwal Bhure Mumbai, SRL-Jankharia Imag<strong>in</strong>g<br />

Dr. Ujwal Bhure Mumbai, SRL-Jankharia Imag<strong>in</strong>g<br />

Seit dem Jahr 2008 wird auch die Positronen-Emissions-Tomographie<br />

(PET) zur Tuberkulose-Diagnostik<br />

e<strong>in</strong>gesetzt. 122 Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong> bildgebendes<br />

Verfahren unter E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er radioaktiv markierten<br />

Substanz, welches meist mit der Computer-<br />

Tomographie komb<strong>in</strong>iert wird (PET/CT). Wie bei der<br />

Krebsdiagnostik mit PET, wird auch bei der Tuberkulose-Diagnostik<br />

e<strong>in</strong> mit radioaktivem Fluor markierter<br />

Zucker (Glukose) e<strong>in</strong>gesetzt, Fluor-18-Deoxyglukose<br />

(18-FDG). Entzündungszellen, aber auch entartete<br />

Zellen haben e<strong>in</strong>en hohen Glukoseverbrauch. Deshalb<br />

reichert sich 18-FDG <strong>in</strong> Tumoren, aber auch<br />

<strong>in</strong> Entzündungs- und Tuberkuloseherden an. E<strong>in</strong>e<br />

Unterscheidung zwischen Tumor- und Tuberkuloseherd<br />

ist derzeit mit PET nicht sicher möglich. Aber<br />

dieses Verfahren, bei dem der ganze Körper untersucht<br />

wird, hilft dabei, die Krankheitsherde aufzuspüren,<br />

die bei Tumor- und Tuberkulosefällen oft überall<br />

im Körper versteckt se<strong>in</strong> können. E<strong>in</strong>e Biopsie, das<br />

heisst e<strong>in</strong>e Entnahme von Material aus e<strong>in</strong>em der aktivsten<br />

so gefundenen Herde führt dann zur richtigen<br />

Diagnose. «Wenn die Diagnose Infektion (wie Tuberkulose)<br />

oder maligner Tumor e<strong>in</strong>mal gestellt und mit<br />

e<strong>in</strong>er Therapie begonnen wurde, kann die Untersuchung<br />

mit PET/CT und 18-FDG gut zur Therapieverlaufskontrolle<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden, weil sich der Erfolg<br />

anhand der Stoffwechselveränderungen eher ablesen<br />

lässt, als anhand der anatomischen Veränderungen.<br />

Manchmal ändert sich die Grösse der Läsionen<br />

nicht, aber die Stoffwechselaktivität nimmt beträchtlich<br />

ab, weil die aktiven kranken Zellen abgestorben<br />

s<strong>in</strong>d», erklärt Dr. Ujwal Bhure, e<strong>in</strong> PET-Spezialist aus<br />

Mumbai, und dass «Entzündungs- und Infektionsherde<br />

mit grosser Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>e verr<strong>in</strong>gerte<br />

18-FDG-Anreicherung <strong>in</strong> PET-Aufnahmen zeigen,<br />

die 60 bis 90 M<strong>in</strong>uten nach Injektion des Radiotracers<br />

aufgenommen werden, während sich 18-FDG<br />

<strong>in</strong> Tumorzellen mit der Zeit immer mehr anreichert.»<br />

Anhand der Intensitäten von Aufnahmen nach e<strong>in</strong>em<br />

längeren Zeitraum erhalte man somit schon e<strong>in</strong>en<br />

ersten H<strong>in</strong>weis.<br />

76<br />

77


Professor Dr. Alaka Deshpande,<br />

Mumbai: «Die Resistenz<br />

der Tuberkelbakterien<br />

gegen INH steigt <strong>in</strong> der<br />

Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung an.»<br />

«Ne<strong>in</strong>», sagt Frau Professor Dr. Alaka Deshpande, Leiter<strong>in</strong> des<br />

Grant Medical College and Sir J J Gr. of Govt. Hospitals, e<strong>in</strong>es<br />

von der Regierung f<strong>in</strong>anzierten Krankenhauses <strong>in</strong> Mumbai für<br />

die mittleren und unteren E<strong>in</strong>kommensgruppen, <strong>in</strong> dem die Patienten<br />

kostenfrei behandelt werden. Und sie führt weiter aus: «Es<br />

gibt ke<strong>in</strong>e kontrollierten Studien dafür und ausserdem steigt die<br />

Resistenz der Tuberkelbakterien gegen INH <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung<br />

an. Daher bevorzugen es die Ärzte hier die Tuberkulose<br />

erst zu behandeln, wenn sie ausbricht. Es dauert acht bis 10 Jahre<br />

bis sich aus e<strong>in</strong>er HIV-Infektion das Vollbild AIDS entwickelt.<br />

Während dieser Jahre erleben die HIV-Infizierten zwei- bis<br />

dreimal den Ausbruch e<strong>in</strong>er Tuberkulose-Erkrankung. In den<br />

frühen Stadien, wenn die CD4-Zahl stabil ist, entwickelt der HIV-<br />

Patient e<strong>in</strong>e Lungentuberkulose. Wenn die Immunschwäche dann<br />

zunimmt, entwickeln die Patienten e<strong>in</strong>e extrapulmonale oder<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> mehreren Organen auftretende Tuberkulose. Nach dem<br />

überarbeiteten nationalen Programm zur Tuberkulose-Kontrolle<br />

Foto: Sab<strong>in</strong>e Päuser<br />

werden die an Tuberkulose Erkrankten <strong>in</strong> Katergorien nach den<br />

Richtl<strong>in</strong>ien der WHO e<strong>in</strong>geteilt und mit DOTs (Directly observed<br />

therapy, short course) behandelt. Neu diagnostizierte Fälle werden<br />

<strong>in</strong> die Kategorie 1 e<strong>in</strong>geteilt und erhalten für zwei Monate e<strong>in</strong>e<br />

Komb<strong>in</strong>ationsbehandlung aus INH, Rifampic<strong>in</strong>, Ethambutol und<br />

Pyraz<strong>in</strong>amid gefolgt von e<strong>in</strong>er viermonatigen Therapie mit INH<br />

und Rifampic<strong>in</strong>. Erleidet der Patient e<strong>in</strong>en Rückfall oder lassen<br />

sich nach zwei Monaten Therapie immer noch Erreger im Auswurf<br />

nachweisen, wird ihm zusätzlich <strong>in</strong>travenös Streptomyc<strong>in</strong><br />

verabreicht.»<br />

Aber auch Professor Deshpande setzt <strong>in</strong> vere<strong>in</strong>zelten Fällen<br />

INH prophylaktisch e<strong>in</strong>: Wenn e<strong>in</strong>e an Tuberkulose erkrankte<br />

Mutter therapiert wird, bekommt der von ihr gestillte Nachwuchs<br />

während sechs Monaten ebenfalls prophylaktisch INH. Wenn<br />

Patienten mit B<strong>in</strong>degewebs- und Knochenerkrankungen über<br />

lange Zeit Steroide nehmen müssen, erhalten auch sie prophylaktisch<br />

INH.<br />

Wie Professor Deshpande berichtet, ruft Rifampic<strong>in</strong> oft e<strong>in</strong>e<br />

INH-<strong>in</strong>duzierte Gelbsucht hervor. Wenn e<strong>in</strong> Patient e<strong>in</strong>e solche<br />

Arzneimittel-bed<strong>in</strong>gte Gelbsucht entwickelt, wird die medikamentöse<br />

Anti-Tuberkulose-Therapie so lange ausgesetzt, bis die<br />

Gelbsucht verschw<strong>in</strong>det. Erst dann wird wieder schrittweise damit<br />

begonnen: erst mit INH und Ethambutol, nach e<strong>in</strong>er Woche mit<br />

Rifampic<strong>in</strong> und dann mit Pyraz<strong>in</strong>amid. Erstaunlicherweise tritt<br />

e<strong>in</strong>e Gelbsucht dann nicht mehr auf.<br />

In Professor Deshpandes Krankenhaus erhalten mittellose<br />

Tuberkulose-Patienten INH kostenfrei. Wer <strong>in</strong> Indien se<strong>in</strong>e<br />

Medikamente selber zahlen muss, legt für 100 Tabletten mit je<br />

300 Milligramm INH etwa 100 <strong>in</strong>dische Rupien an, das entspricht<br />

ungefähr zwei Dollar und dem Tagesverdienst e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>fachen<br />

Arbeiters. H<strong>in</strong>zu kommen dann allerd<strong>in</strong>gs noch die Kosten für<br />

die Arztkonsultationen, die mit je 25 bis 100 Rupien für den<br />

Besuch beim Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>er bis h<strong>in</strong> zu 500 bis 3000 Rupien<br />

beim Lungenspezialisten zu Buche schlagen können, wie von Anil<br />

Kukreja, Direktor Medical Affairs bei <strong>Roche</strong> Products <strong>in</strong> Indien<br />

zu erfahren ist.<br />

Die Tuberkulose war und ist e<strong>in</strong>e Krankheit der Armut. Aber<br />

bakterielle Infektionskrankheiten, die mit der Luft verbreitet<br />

werden, machen nicht Halt vor Palasttüren. »Wir müssen<br />

bedenken, dass die Tuberkulose auf dem Luftweg übertragen<br />

wird. Wenn Sie also beispielsweise <strong>in</strong> Mumbai, der <strong>in</strong>dischen<br />

Hochburg multiresistenter Tuberkulose, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Taxi steigen<br />

und der Fahrer hustet, können Sie nicht wissen, ob er e<strong>in</strong>e<br />

78 79


Erkältung hat oder e<strong>in</strong>e Tuberkulose. Und die Klimaanlage<br />

bläst die Keime vom Fahrer auf dem Vordersitz zu den Gästen<br />

auf den Rücksitzen. Diese Ansteckungsgefahr ist <strong>in</strong> den überfüllten<br />

Bussen, die über das Land fahren, nicht weniger ger<strong>in</strong>g.<br />

Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass sich Menschen anstecken,<br />

wenn sie lange, für mehrere Stunden, <strong>in</strong> der Nähe von<br />

Personen mit offener Tuberkulose reisen. Wir alle sollten uns<br />

unserer Verantwortung für die Tuberkulose bewusst se<strong>in</strong>, denn<br />

sie wird mit der Luft übertragen, die wir e<strong>in</strong>atmen», mahnt<br />

Lucica Ditiu von der im Jahr 2001 gegründeten Organisation<br />

Stop TB Partnership.<br />

Anjali Nayyar, Senior Vizepräsident<strong>in</strong> der Global Health Strategies<br />

Company <strong>in</strong> New Delhi drückt es noch klarer aus:<br />

«Etwas muss <strong>in</strong> Indien geschehen. Es ist dr<strong>in</strong>gend.»<br />

123 WHO report 2010 Global Tuberculosis Control<br />

Der Arzt Dr. Hemant P. Thacker, Spezialist für Herz- und Stoffwechselerkrankungen<br />

am Bhatia Hospital <strong>in</strong> Mumbai, e<strong>in</strong>em<br />

Krankenhaus für die Mittelklasse, konkretisiert dies: «Neue<br />

Arzneimittel werden gebraucht und schnelle diagnostische<br />

Testverfahren, ke<strong>in</strong>e Testverfahren mit Antikörpern, sondern<br />

PCR-basierte.» Er sieht 20 bis 30 Patienten am Tag, fünf bis sieben<br />

davon haben e<strong>in</strong>e Tuberkulose!<br />

Gebraucht wird <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong> billiger und schneller patientennaher<br />

Tuberkulose-Test (po<strong>in</strong>t of care test). Und dieser Test sollte<br />

<strong>in</strong> Indien entwickelt werden, darüber waren sich die Experten<br />

e<strong>in</strong>ig, die sich am 25. und 26. August 2011 <strong>in</strong> Bangalore auf der<br />

Konferenz «TB-Diagnostik <strong>in</strong> Indien: Von Import und Imitation<br />

zu Innovation» trafen. «Wir erkennen kaum 60% der Fälle, und<br />

die undiagnostizierten Tuberkulose-Patienten s<strong>in</strong>d neue Infektionsquellen.<br />

Die Fehldiagnosen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> weiteres Problem – es<br />

gibt Dutzende fehlerhafter Bluttests zum Nachweis e<strong>in</strong>er aktiven<br />

Tuberkulose», so Madhukar Pai, der auch Co-Chairman der<br />

neuen Arbeitsgruppe Diagnostika von Stop TB Partnership ist.<br />

Akkuratere Testverfahren zum schnellen Nachweis der<br />

Tuberkulose-Erreger werden also gebraucht, besonders solche,<br />

die die medikamentenresistenten feststellen können. «Weltweit<br />

führend im Bereich In-vitro Diagnostika hat <strong>Roche</strong> <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Sparte <strong>Roche</strong> Applied Science die Mittel, um genomweite<br />

Analysen verschiedener neuer medikamentenresistenter M. tuberculosis-Stämme<br />

vorzunehmen. <strong>Roche</strong> könnte so die Forschung<br />

unterstützen, um die für e<strong>in</strong>e Arzneimittel-Resistenz spezifischen<br />

Gensequenzen von Tuberkulosebakterien zu f<strong>in</strong>den», kommentiert<br />

Bhuwnesh Agrawal, der von 2007 bis 2012 General Manager<br />

von <strong>Roche</strong> Diagnostics <strong>in</strong> Indien war.<br />

Ausblick<br />

Angesichts der hohen Anzahl mit Mycobacterium tuberculosis <strong>in</strong>fizierter<br />

Menschen und des Verhaltens des Erregers, jahrzehntelang<br />

im tierischen und menschlichen Organismus ruhend an Orten zu<br />

persistieren, an denen Immunzellen ihn nicht aufspüren können,<br />

sche<strong>in</strong>t es fraglich, ob die Tuberkulose jemals ausgerottet werden<br />

kann – was euphorisch im 20. Jahrhundert noch für möglich<br />

gehalten, und mit grossen Anstrengungen auch versucht wurde.<br />

Die Tuberkulose kann auch heute noch, unbehandelt, <strong>in</strong>nerhalb<br />

von fünf Jahren zum Tod führen.<br />

Von 1995 bis zum Jahr 2009 wurden weltweit 41 <strong>Millionen</strong><br />

Tuberkulose-Patienten <strong>in</strong>nerhalb von DOTs-Programmen<br />

mit INH behandelt und sechs <strong>Millionen</strong> Leben gerettet, zwei<br />

<strong>Millionen</strong> davon waren Frauen und K<strong>in</strong>der. 123 Noch ist das vor<br />

60 Jahren entwickelte INH also <strong>Lebensretter</strong> für <strong>Millionen</strong> von<br />

Tuberkulose-Patienten.<br />

Im Jahr 2009 hatten weltweit schätzungsweise 250 000 Tuberkulose-Patienten<br />

e<strong>in</strong>e multiresistente Tuberkulose, das heisst<br />

m<strong>in</strong>destens die zwei derzeit potentesten Antituberkulotika, INH<br />

und Rifampic<strong>in</strong>, waren bei ihnen wirkungslos. Nur 12% dieser<br />

Dichtgedrängt, stundenlang <strong>in</strong><br />

öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

unterwegs – dies ist bei<br />

Infektionskrankheiten, deren<br />

Erreger, wie bei der Tuberkulose,<br />

mit der Luft übertragen werden,<br />

immer e<strong>in</strong>e Gefahr.<br />

Foto: Sab<strong>in</strong>e Päuser<br />

80 81


Fälle wurden auch diagnostiziert. 124 Und die extensiv resistenten<br />

Tuberkulose-Erkrankungen, bei denen zusätzlich drei und<br />

mehr der nachfolgend e<strong>in</strong>gesetzten Zweitrangantituberkulotika<br />

versagen, nehmen zu. 125 «Niemand <strong>in</strong> Europa ist 100% sicher<br />

vor medikamentenresistenter Tuberkulose», so e<strong>in</strong> Vertreter der<br />

WHO. Im September 2011 hat die WHO deshalb e<strong>in</strong>en neuen<br />

Plan zur Bekämpfung der Tuberkulose <strong>in</strong> Europa verabschiedet.<br />

Das Ziel: Bis Ende 2015 sollen 85% aller Patienten diagnostiziert<br />

und m<strong>in</strong>destens 75% von ihnen behandelt werden. Derzeit s<strong>in</strong>d<br />

nur 32% aller Patienten mit medikamentenresistenter Tuberkulose<br />

<strong>in</strong> Westeuropa diagnostiziert und viele brechen ihre Therapie<br />

vorzeitig ab, was die Entwicklung resistenter Keime fördert. 126<br />

Dank<br />

Leider ist heute, 60 Jahre nach der Entdeckung von Isoniazid<br />

(INH), ke<strong>in</strong>er der beteiligten Akteure mehr am Leben. Umso<br />

dankbarer b<strong>in</strong> ich all Jenen, die mir bei der Spurensuche <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit geholfen haben: allen voran Alexander Bieri und<br />

se<strong>in</strong>en Mitarbeitern Bruno Halm und Dr. Lionel Löw vom Historischen<br />

Archiv <strong>Roche</strong>, aber auch den Mitarbeitern des Historischen<br />

Archivs der Firma Bayer, besonders Hans Herrmann Pogarell.<br />

Me<strong>in</strong> Dank gilt den Mitarbeitern des wissenschaftlichen Informationsdienstes<br />

von <strong>Roche</strong>, im Besonderen den Basler Mitarbeitern<br />

Re<strong>in</strong>hard Bassermann und Carola Lefrank, die mir halfen, der <strong>in</strong><br />

den Datenbanken und der Literatur gefundenen Quellen, auch<br />

wirklich habhaft zu werden und der Kolleg<strong>in</strong> Sandra Digiacomo<br />

aus Nutley, die dort die zitierten <strong>in</strong>ternen Forschungsberichte von<br />

Herbert Herman Fox sowie Robert Julius Schnitzer und Emanuel<br />

Grunberg «ausgrub».<br />

Für die aktuellen MR-Bilder der Knochentuberkuloseherde <strong>in</strong><br />

der Wirbelsäule e<strong>in</strong>es 34-jährigen Immigranten danke ich herzlich<br />

Dr. Marius Schmid vom Mediz<strong>in</strong>isch Radiologischen Institut <strong>in</strong><br />

Zürich. Für den Kontakt zu Dr. Schmid danke ich Oberarzt Dr.<br />

Jan Fehr, Kl<strong>in</strong>ik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des<br />

Universitätsspitals Zürich, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag auf solche Fälle<br />

aufmerksam machte.<br />

Me<strong>in</strong> herzlicher Dank gilt auch Dr. Silvia Gatti-McArthur,<br />

von der ich wertvolle H<strong>in</strong>weise zur antidepressiven Wirkung<br />

von INH erhielt sowie Dr. Niggi Iberg und Dr. Gottlieb Keller,<br />

die mich mit aktuellen Zeitungsberichten zur weltweiten Tuberkulose-Situation<br />

unterstützten. Herrn Dr. Gottlieb Keller danke<br />

ich zudem für die Möglichkeit, <strong>in</strong> Indien vor Ort recherchieren<br />

zu können. Den <strong>in</strong>dischen Kollegen Dr. Girish Telang und Dr.<br />

Anil Kukreja danke ich für ihre wertvolle Hilfe beim F<strong>in</strong>den von<br />

Interviewpartnern <strong>in</strong> Mumbai.<br />

124 Siehe Anm. 123<br />

125 Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of<br />

Isonziad Kill<strong>in</strong>g: Clarity through the scope of<br />

Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.<br />

126 Associated Press: Drug-resistant tuberculosis<br />

spread<strong>in</strong>g fast across Europe, WHO issues<br />

new plan to fight disease. 14.9.2011.<br />

82 83


Bactrim<br />

Christoph Mörgeli 1<br />

1 Prof. Dr. Christoph Mörgeli, Mediz<strong>in</strong>historisches<br />

Institut und Museum der<br />

Universität Zürich, Hirschengraben 82,<br />

CH-8001 Zürich, cmoergel@mhiz.uzh.ch.<br />

Ganz herzlich danke ich Herrn Dr. Gottlieb<br />

Keller, General Counsel der <strong>Roche</strong><br />

Hold<strong>in</strong>g AG, sowie den Mitarbeitern des<br />

Historischen Archivs der F. Hoffmann-<br />

La <strong>Roche</strong> AG <strong>in</strong> Basel, Alexander L. Bieri,<br />

Bruno Halm, Dr. Lionel Loew wie auch<br />

Reg<strong>in</strong>e Pötzsch für ihre kompetente und<br />

freundliche Unterstützung.<br />

84


Sulfamethoxazol<br />

Trimethoprim<br />

2 «Bactrim» <strong>Roche</strong>. Bakterizides Breitband-<br />

Therapeutikum. Hg. von der F. Hoffmann-La<br />

<strong>Roche</strong> & Co. A.G., Basel o. J. [1969].<br />

3 WHO Model Lists of Essential Medic<strong>in</strong>es.<br />

Siehe www.who.<strong>in</strong>t/selection_medic<strong>in</strong>es/<br />

committees/expert/18/applications/FDC_622.<br />

pdf<br />

4 Bactrim Patient Exposure, 1969-31 March<br />

2011. F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> AG.<br />

5 Bactrim-Umsätze 1969-2010. Historisches<br />

Archiv <strong>Roche</strong>, im Folgenden abgekürzt HAR<br />

FR.2.3.5 – 107395.<br />

Die Substanz Cotrimoxazol – seit 1969 von der<br />

Firma F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong> AG als «Bactrim»,<br />

von der Firma Burroughs Wellcome & Co. als<br />

«Septr<strong>in</strong>» entwickelt, produziert und vertrieben<br />

– gehört zu den wirksamsten und erfolgreichsten<br />

Heilmitteln der bisherigen Mediz<strong>in</strong>geschichte<br />

überhaupt. Die Komb<strong>in</strong>ation der beiden antibiotisch<br />

wirksamen Arzneistoffe Sulfamethoxazol<br />

und Trimethoprim im Dosis-Verhältnis fünf zu<br />

e<strong>in</strong>s bildete e<strong>in</strong>en Welterfolg im Kampf gegen die Infektionskrankheiten.<br />

Beide sich gegenseitig potenzierenden Komponenten greifen<br />

gleichzeitig, aber <strong>in</strong> unterschiedlicher Weise <strong>in</strong> den Bakterienstoffwechsel<br />

e<strong>in</strong> und bewirken e<strong>in</strong>en erstaunlich <strong>in</strong>tensiven bakterientötenden<br />

Effekt. Bactrim erzeugt e<strong>in</strong>e gleichzeitige Blockade zweier<br />

Enzyme <strong>in</strong>nerhalb derselben Reaktionskette im Mikroorganismus.<br />

Diese Enzymblockade bewirkt e<strong>in</strong>e Hemmung der Pur<strong>in</strong>synthese<br />

sowie von Thymid<strong>in</strong> und verunmöglicht daher<br />

die Produktion von Desoxyribonukle<strong>in</strong>säure<br />

(DNS) und Ribonukle<strong>in</strong>säure (RNS). Der damals<br />

neuartige Doppeleffekt bee<strong>in</strong>druckte im Laborexperiment<br />

wie <strong>in</strong> der kl<strong>in</strong>ischen Anwendung am<br />

Menschen durch e<strong>in</strong>e Wirkungssteigerung im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Potenzierung, nicht bloss e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen<br />

Addition. 2 Die beiden Wirkstoffe zeigen<br />

sich auch darum als gute Komb<strong>in</strong>ationspartner,<br />

weil sie über e<strong>in</strong>e ähnliche Halbwertszeit verfügen und <strong>in</strong> bequemen<br />

Intervallen von zwölf Stunden morgens und abends verabreicht<br />

werden können. Zudem erweisen sich die Nebenwirkungen als<br />

ger<strong>in</strong>g, und bakteriell <strong>in</strong>fizierte Patienten können Cotrimoxazol<br />

fast immer <strong>in</strong> Tablettenform e<strong>in</strong>nehmen.<br />

Fast zwei Milliarden Menschen behandelt<br />

Das im Jahr 1969 e<strong>in</strong>geführte Heilmittel Bactrim von <strong>Roche</strong> fand<br />

1977 Aufnahme <strong>in</strong> die von der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO herausgegebene Liste der unentbehrlichen Medikamente. 3<br />

Bis zum 31. März 2011 wurden 1,884 Milliarden Menschen – es<br />

s<strong>in</strong>d auch wiederholte Therapien möglich – mit Bactrim behandelt.<br />

4 Bei annähernd zwei Milliarden Menschen heilte Cotrimoxazol<br />

Infektionskrankheiten der oberen und unteren Atemwege, der<br />

Nieren und Harnwege, der Geschlechtsorgane und des Magen-<br />

Darm-Trakts oder es brachte doch <strong>in</strong> den allermeisten Fällen<br />

zum<strong>in</strong>dest erhebliche Besserung.<br />

Schematische Darstellung des Wirkmechanismus von Bactrim<br />

SMZ<br />

Para-am<strong>in</strong>obenzoic<br />

acid<br />

+<br />

Dihydropterid<strong>in</strong><br />

Dihydrofolic acid<br />

synthetase<br />

Dihydrofolic acid<br />

reductase<br />

Nach der Markte<strong>in</strong>führung wurde Bactrim zu e<strong>in</strong>em wichtigen<br />

Präparat für <strong>Roche</strong> und erzielte bis 2011 e<strong>in</strong>en Gesamtumsatz<br />

von be<strong>in</strong>ahe 10 Milliarden Franken. 5 Für den Basler Pharmakonzern<br />

bedeutete das Medikament damit kommerziell e<strong>in</strong><br />

Produkt von mittlerer Bedeutung. Was h<strong>in</strong>gegen die segensreichen<br />

Auswirkungen auf die gesamte Weltbevölkerung betrifft,<br />

so gehört Bactrim zu den ganz grossen Produkten: Mit ihm<br />

gelang es den Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzten <strong>in</strong> den letzten gut vierzig<br />

Jahren, mehr Menschen vor dem Tode zu bewahren, als sämt-<br />

TM<br />

Dihydrofolic acid<br />

Tetrahydrofolic<br />

acid<br />

SMZ = sulfamethoxazole<br />

TM = trimethoprim<br />

Synthesis of<br />

pur<strong>in</strong>es<br />

DNA<br />

Wie unentbehrlich anti<strong>in</strong>fektive Mittel s<strong>in</strong>d, zeigt die<br />

Tatsache, dass heute noch immer e<strong>in</strong> Drittel der<br />

Weltbevölkerung an Infektionskrankheiten stirbt.<br />

RNA<br />

86 87


liche Kriege der Weltgeschichte an Opfern gefordert haben<br />

(siehe Geleitwort).<br />

Wenn wir den Umsatz mit der Anzahl Behandlungen <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung setzen, so kostete e<strong>in</strong>e durchschnittliche<br />

Therapie mit Bactrim etwa fünf Schweizer Franken –<br />

wahrlich e<strong>in</strong> bescheidener Preis im Vergleich mit der<br />

Rettung von vielen hundert <strong>Millionen</strong> Menschenleben.<br />

Werbeanzeige aus der<br />

Ärztezeitschrift «Image<br />

<strong>Roche</strong>» für Gantris<strong>in</strong> <strong>Roche</strong><br />

(Wirkstoff Sulfisoxazol). Das<br />

Bild demonstriert die leichte<br />

Löslichkeit des besonders bei<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fekten e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Medikaments, 1969<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Gerhard Domagk,<br />

1920er Jahre<br />

Auch wenn wir heute den noch <strong>in</strong> den 1970er und 1980er gehegten<br />

therapeutischen Optimismus bezüglich der Überw<strong>in</strong>dung aller<br />

Infektionskrankheiten nicht mehr teilen können, bildete Bactrim<br />

doch e<strong>in</strong>e entscheidende Wegmarke zu deren Bekämpfung.<br />

Exemplarisch zeigen Entwicklung, Produktion und Vertrieb<br />

von Bactrim beziehungsweise Septr<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e erfolgreiche Kooperation<br />

mit dem britischen Pharmaunternehmen Burroughs<br />

Wellcome 6 ; die erfreuliche Zusammenarbeit zum Nutzen beider<br />

Partner funktionierte dank ähnlicher Interessen, Strukturen<br />

und – trotz kle<strong>in</strong>erer Reibereien und Unstimmigkeiten im schon<br />

damals hart umkämpften globalen Pharmamarkt – bemerkenswert<br />

<strong>in</strong>tensiver und letztlich fairer Absprachen.<br />

Sir Alexander<br />

Flem<strong>in</strong>g<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Später E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die Chemotherapie<br />

6 1880 von Silas Burroughs und Henry<br />

Wellcome gegründet, seit 1995 Glaxo<br />

Wellcome, heute GlaxoSmithKl<strong>in</strong>e.<br />

7 1896 von Fritz Hoffmann-La <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Basel<br />

gegründet.<br />

8 Die von <strong>Roche</strong> e<strong>in</strong>geführten antibakteriellen<br />

Präparate heissen: Sulfa Mesarco,<br />

PerOsCill<strong>in</strong>, Gantris<strong>in</strong>, Madribon, Gantanol,<br />

Fanasil, Rimifon, Cycloser<strong>in</strong> <strong>Roche</strong>, Bactrim,<br />

Nibris<strong>in</strong>, Roceph<strong>in</strong>, Tibirox, Lorec<strong>in</strong>, Coact<strong>in</strong>,<br />

Trimpex, Globocef, Qu<strong>in</strong>odis, Marbofloxac<strong>in</strong>.<br />

<strong>Roche</strong> 7 ist vergleichsweise spät <strong>in</strong> die Chemotherapie zur Behandlung<br />

bakteriologischer Krankheiten e<strong>in</strong>gestiegen. Dennoch vermochte<br />

der Konzern <strong>in</strong> Basel und <strong>in</strong> Nutley/New Jersey nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg e<strong>in</strong>e stattliche Anzahl wichtiger antibakterieller<br />

Präparate zu entwickeln. 8 Die Sulfonamide als synthetisches<br />

chemisches Arzneimittel haben allerd<strong>in</strong>gs andere Firmen <strong>in</strong> die<br />

Behandlung e<strong>in</strong>geführt. 1935 entdeckte der deutsche Pathologe<br />

und Bakteriologe Gerhard Domagk die bakterienschädigende<br />

Wirkung des «Prontosil» rubrum, e<strong>in</strong>es Sulfonamid-Farbstoffs. 9<br />

Domagk forschte <strong>in</strong> der Bayer AG 10 <strong>in</strong>nerhalb der Firma I.G.<br />

Farben <strong>in</strong> Wuppertal-Elberfeld.<br />

Die Entwicklung der natürlich gebildeten Antibiotika als<br />

Stoffwechselprodukte von Pilzen oder Bakterien begann bereits<br />

1929 mit der Entdeckung des Penicill<strong>in</strong>s durch den schottischen<br />

Bakteriologen Alexander Flem<strong>in</strong>g <strong>in</strong> London. 11 Grossbritannien,<br />

die Vere<strong>in</strong>igten Staaten und ihre Alliierten haben dieses bedeutende<br />

antibakterielle Heilmittel gegen Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

e<strong>in</strong>gesetzt; <strong>Roche</strong> hatte auf diesem Markt kaum grosse Forschungschancen.<br />

Dennoch wurden <strong>in</strong> der Niederlassung Nutley<br />

auf Wunsch der US-Regierung seit 1943 neben der florierenden<br />

Vitam<strong>in</strong>-Produktion grosse Mengen von Penicill<strong>in</strong> hergestellt.<br />

Nach 1945 zeigte sich aber rasch e<strong>in</strong>e Übersättigung des Marktes,<br />

so dass <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> den USA die Produktion wieder e<strong>in</strong>stellte.<br />

Lediglich das oral e<strong>in</strong>zunehmende Präparat «PerOsCill<strong>in</strong>» konnte<br />

sich noch e<strong>in</strong>e gewisse Zeit halten.<br />

Trotz solcher Enttäuschungen wurde im Bereich Anti<strong>in</strong>fektiva<br />

<strong>in</strong>tensiv weitergearbeitet; <strong>in</strong> Nutley an den fermentativen Prozes-<br />

9 Domagk, Gerhard: E<strong>in</strong> Beitrag zur<br />

Chemotherapie der bakteriellen Infektionen.<br />

In: Deutsche Mediz<strong>in</strong>ische Wochenschrift 61<br />

(1935), S. 241-251. – Siehe auch Grundmann,<br />

Ekkehard: Gerhard Domagk. The first man<br />

to triumph over <strong>in</strong>fectous diseases. Münster<br />

2004.<br />

10 1863 von Friedrich Bayer und Johann<br />

Friedrich Weskott <strong>in</strong> Barmen gegründet.<br />

11 Hobby, Gladys L.: Penicill<strong>in</strong>. Meet<strong>in</strong>g the<br />

Challenge. New Haven / London 1985. –<br />

MacFarlane, Gwyn: Alexander Flem<strong>in</strong>g. The<br />

Man and the Myth. Cambridge/Mass. 1984.<br />

88 89


Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Hans Spiegelberg,<br />

<strong>Roche</strong> Basel, 1966<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Robert J. Schnitzer,<br />

<strong>Roche</strong> Nutley<br />

sen, also an der Stoffumwandlung durch Gärung, <strong>in</strong> Basel an den<br />

Synthesen antibiotischer Substanzen. <strong>Roche</strong> Basel verkaufte die<br />

unter Hans Spiegelberg fabrikationsreif entwickelte Synthese des<br />

Breitbandantibiotikums Chloramphenicol. Zusammenfassend ist<br />

aber festzuhalten, dass die grossen Forschungsanstrengungen im<br />

Bereich Antibiotika im Gegensatz zu den Sulfonamiden wenig<br />

Früchte getragen haben. 12<br />

Dabei g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> den ersten Jahren auch <strong>in</strong> der Sulfonamidforschung<br />

von <strong>Roche</strong> eher schleppend voran. Domagks «Prontosil»<br />

konnte entgegen <strong>in</strong> Basel und Nutley gehegter Hoffnungen nicht<br />

rasch durch e<strong>in</strong> besseres Produkt verdrängt werden. 13 Doch im<br />

Jahr 1949 gelang es der Firma, mit «Gantris<strong>in</strong>» e<strong>in</strong> neuartiges<br />

Sulfonamid anzubieten und damit künftig den Sulfonamidmarkt<br />

wesentlich mitzugestalten. Es war dem aus <strong>Deutschland</strong> vertriebenen<br />

Chemiker Max Hoffer, zusammen mit He<strong>in</strong>z Moritz Wüest,<br />

schon 1944 <strong>in</strong> Nutley gelungen, den Wirkstoff Sulfisoxazol herzu-<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

He<strong>in</strong>z Moritz Wüest (l<strong>in</strong>ks) und<br />

John J. Aeschlimann (rechts) im<br />

Gespräch, <strong>Roche</strong> Nutley, 1942<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

stellen. 14 Gantris<strong>in</strong> bedeutete e<strong>in</strong>e Wegmarke <strong>in</strong> der Chemotherapie<br />

und wird noch heute – trotz seitheriger Resistenzentwicklung<br />

– wegen se<strong>in</strong>er guten Verträglichkeit <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>derheilkunde und<br />

bei Harnwegs<strong>in</strong>fekten e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

1952 führte <strong>Roche</strong> das von H. Herbert Fox synthetisierte und<br />

von Emanuel Grunberg und Robert J. Schnitzer als Antituberkulosemittel<br />

erkannte Isonicot<strong>in</strong>säurehydrazid als «Rimifon» e<strong>in</strong><br />

– damals e<strong>in</strong> Markste<strong>in</strong> <strong>in</strong> der weltweiten Tuberkulosebekämpfung.<br />

1956 folgte mit dem D-Cycloser<strong>in</strong> e<strong>in</strong> weiterer antibiotisch<br />

wirksamer Arzneistoff gegen die noch immer grassierende Volkskrankheit<br />

Tuberkulose, an dem auch Forscher anderer Firmen<br />

mitwirkten. Aufgrund se<strong>in</strong>er Toxizität wird D-Cycloser<strong>in</strong> jedoch<br />

nur als Mittel zweiter Wahl bei Resistenz gegen andere Antibiotika<br />

e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

An Gantris<strong>in</strong> wurde, wie überhaupt an den Sulfonamiden,<br />

<strong>in</strong> den 1950er Jahren bei <strong>Roche</strong> weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiv geforscht und<br />

so das isomere, so genannte «Iso-Gantris<strong>in</strong>» gefunden. 1956<br />

entdeckte man das «Azo-Gantris<strong>in</strong>». Aufgrund der Studien des<br />

Innsbrucker Chemieprofessors Hermann Bretschneider brachte<br />

<strong>Roche</strong> 1959 das Sulfadimethox<strong>in</strong> «Madribon» auf den Markt,<br />

das vor allem <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>derheilkunde e<strong>in</strong> breites Spektrum mit<br />

guter Verträglichkeit und langer Wirkungsdauer verband. Die<br />

Ärztefaltblatt «Madribon –<br />

Ambulante Langzeittherapie»,<br />

1960er Jahre<br />

12 Fehr, Hans: 3 mal 25 Jahre, Fragmente aus<br />

der <strong>Roche</strong>-Geschichte, Sondernummer der<br />

«<strong>Roche</strong>-Zeitung», Basel 1970, S. 70f.<br />

13 Peyer, Hans Conrad: <strong>Roche</strong>. Geschichte<br />

e<strong>in</strong>es Unternehmens 1896-1996. Mit e<strong>in</strong>em<br />

Geleitwort von Paul Sacher. Basel 1996,<br />

S. 137.<br />

14 Rürup, Re<strong>in</strong>hard: Schicksale und<br />

Karrieren. Gedenkbuch für die von den<br />

Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-<br />

Gesellschaft vertriebenen Forscher<strong>in</strong>nen<br />

und Forscher. Unter Mitwirkung von Michael<br />

Schür<strong>in</strong>g. Gött<strong>in</strong>gen 2008, besonders S. 230-<br />

231.<br />

90 91


Arbeitsbesprechung <strong>in</strong> den<br />

1960er Jahren.<br />

Mit dem Gesicht zur Kamera,<br />

v.l.n.r.: O. Isler, A. Pletscher,<br />

O. Schnider, H. Spiegelberg,<br />

M. Montavon, E. Böhni<br />

Bezeichnung «Madribon» stammte übrigens von e<strong>in</strong>em früheren,<br />

nicht realisierten Vitam<strong>in</strong>präparat. 15 Bei der systematischen Prüfung<br />

aller Isomeren des «Madribon» fand Bretschneider auch das<br />

lange wirksame Sulfadox<strong>in</strong> «Fanasil» für die Tropenmediz<strong>in</strong>, das<br />

mittels E<strong>in</strong>nahme e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Tablette e<strong>in</strong>e Woche lang wirkte.<br />

Gantanol – <strong>in</strong> Japan entwickelt<br />

Das 1962 e<strong>in</strong>geführte neue Sulfonamid «Gantanol», das für die<br />

spätere Entwicklung von Bactrim so entscheidend werden sollte,<br />

war vorerst ke<strong>in</strong>e Forschungsleistung von <strong>Roche</strong>. Vielmehr hatte<br />

die Firma, <strong>in</strong> zweifellos rationaler Zukunftsplanung, aber auch<br />

mit dem nötigen Quentchen Glück, den Wirkstoff Sulfamethoxazol<br />

der japanischen Pharmaunternehmung Shionogi & Co., Ltd. 16<br />

abgekauft. In den Laboratorien von Shionogi <strong>in</strong> Osaka war 1958<br />

das «S<strong>in</strong>om<strong>in</strong>» (Sulfamethoxazol) entwickelt worden. Es handelte<br />

sich bei S<strong>in</strong>om<strong>in</strong> beziehungsweise Gantanol um e<strong>in</strong>e Abwandlung<br />

des Gantris<strong>in</strong>s (nor-iso Analoges) mit mittlerer Wirkungsdauer<br />

(vier Tabletten pro Tag). Sulfamethoxazol kam mit beträchtlichem<br />

Erfolg gegen Harnwegs<strong>in</strong>fekte und Lungenentzündungen<br />

zum E<strong>in</strong>satz. 17 Noch spezifischer im Unterleib wirkte das Nachfolgeprodukt<br />

«Uro Gantanol». 18<br />

Die für längere Zeit letzte Entwicklungsstufe <strong>in</strong> der Chemotherapie<br />

gegen bakterielle Infektionskrankheiten erreichte man<br />

1968 durch das zusammen mit Burroughs Wellcome entwickelte<br />

Komb<strong>in</strong>ationspräparat Bactrim. 19 Dieses Breitbandtherapeutikum<br />

sollte sich auf dem Heilmittelmarkt der 1970er und 1980er<br />

Jahre als e<strong>in</strong>es der wichtigsten <strong>Roche</strong>-Präparate bewähren. Voraussetzung<br />

für die Entdeckung des Bactrims war die vorgängige<br />

Firmengeschichte: Die Beruhigungsmittel Librium (1960) und<br />

Valium (1963) erzielten spektakuläre mediz<strong>in</strong>ische und geschäftliche<br />

Erfolge. Sie waren von dem <strong>in</strong> Nutley forschenden Chemiker<br />

Leo Sternbach synthetisiert worden und prägten <strong>Roche</strong> während<br />

der ersten Hälfte der 1960er Jahre. 20 Dank dieser Benzodiazep<strong>in</strong>e<br />

flossen der Firma wesentlich mehr Mittel zu, als durch die 1933<br />

e<strong>in</strong>geführten synthetischen Vitam<strong>in</strong>e. Hatte der Umsatz 1946<br />

noch 221 <strong>Millionen</strong> Franken betragen, wuchs er bis 1965 auf über<br />

zwei Milliarden Franken. 21 Dies war neben der grossen Nachfrage<br />

nach den neuen Produkten auch e<strong>in</strong>e Folge des allgeme<strong>in</strong>en<br />

wirtschaftlichen Aufschwungs und des Ausbaus des Krankenversicherungswesens<br />

<strong>in</strong> den westlichen Staaten. Die so erlangten<br />

Ärztefaltblatt «Uro-Gantanol»,<br />

1960er Jahre<br />

15 Peyer (1996), S. 185.<br />

16 1878 von Gisaburo Shiono <strong>in</strong> Osaka<br />

gegründet.<br />

17 «Gantanol» <strong>Roche</strong>: sulfamide moderne,<br />

d’action de durée moyenne, doué de toutes<br />

les propriétés des produits supérieurs.<br />

Bâle 1968.<br />

18 Fehr (1970), S. 63.<br />

19 Ibid.<br />

20 Baenn<strong>in</strong>ger, Alex: The life and legacy<br />

of valium <strong>in</strong>ventor Leo Sternbach. New<br />

York 2004. – Sternbach, Leo H.: Die<br />

Benzodiazep<strong>in</strong>-Story. Basel 1986.<br />

21 Bürgi, Michael: Pharmaforschung im<br />

20. Jahrhundert. Arbeit an der Grenze<br />

zwischen Hochschule und Industrie.<br />

Zürich 2011, S. 34.<br />

92 93


Leo H. Sternbach mit Max Hoffer<br />

im Labor Bau 25 <strong>in</strong> Nutley,<br />

1940er Jahre<br />

22 Stauffacher, Werner: Alfred Pletscher (1917-<br />

2006). In: Jahresbericht der Akademie der<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Wissenschaften. Basel 2006,<br />

S. 20.<br />

23 Peyer (1996), S. 213-273.<br />

24 1946 <strong>in</strong> Stolberg gegründet von Hermann<br />

Wirtz, Sitz <strong>in</strong> Aachen.<br />

25 Freitag, Walburga: Contergan: e<strong>in</strong>e<br />

genealogische Studie des Zusammenhangs<br />

wissenschaftlicher Diskurse und<br />

biographischer Erfahrungen. Münster 2005.<br />

26 Peyer (1996), S. 187-188. – Bürgi (2011),<br />

S. 129-130.<br />

27 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht 1966, Beilage zur <strong>Roche</strong>-<br />

Zeitung 1966/2, o. S. [4].<br />

f<strong>in</strong>anziellen Möglichkeiten des Unternehmens führten vor allem<br />

<strong>in</strong> Basel und Nutley zu e<strong>in</strong>er expansiven Bautätigkeit, zu der<br />

Suche nach neuen Arbeitsgebieten, vor allem aber auch zu e<strong>in</strong>em<br />

massiven Ausbau der Forschungsmöglichkeiten. Seit 1956 koord<strong>in</strong>ierte<br />

die <strong>Roche</strong> Research Management Group (RRMG) die gesamte<br />

Forschungsorganisation, die 1967 über e<strong>in</strong>en Forschungsetat von<br />

134 <strong>Millionen</strong> Franken verfügte. Verschiedene Projektgruppen<br />

vere<strong>in</strong>igten die Vertreter der e<strong>in</strong>zelnen Forschungsgruppen zur<br />

Bearbeitung e<strong>in</strong>es bestimmten Vorhabens. Als mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Forschungsleiter von Basel präsidierte der Arzt Professor Alfred<br />

Pletscher 22 auch se<strong>in</strong>e Kollegen im amerikanischen Nutley und<br />

im englischen Welwyn. Pletscher führte se<strong>in</strong>e Mitarbeiter an der<br />

langen Le<strong>in</strong>e, hegte aber ähnlich ehrgeizige Zukunftsvisionen wie<br />

der neue operative Gesamtleiter, der Urner Arztsohn und Jurist<br />

Adolf Walter Jann. 23<br />

Zunehmende Auflagen für Prüfverfahren<br />

Die Basler Abteilung für experimentelle Mediz<strong>in</strong> gliederte sich <strong>in</strong><br />

Pharmakologie, Biochemie, Chemotherapie, Pathologie, Physio-<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

logie, Hämatologie sowie die Versuchstierfarm <strong>in</strong> Füll<strong>in</strong>sdorf auf.<br />

Immer wichtiger wurde auch die Abteilung für kl<strong>in</strong>ische Prüfung<br />

der Präparate, die mit Krankenhäusern und Universitätskl<strong>in</strong>iken<br />

auf der ganzen Welt zusammenarbeitete. Die durch den unbedachten<br />

E<strong>in</strong>satz des Schlaf- und Beruhigungsmittels «Contergan»<br />

des deutschen Unternehmens Grünenthal GmbH 24 verursachten<br />

entsetzlichen Missbildungen Neugeborener löste e<strong>in</strong>en Schock <strong>in</strong><br />

der Gesellschaft aus und führte seit 1961 zu wesentlich strengeren<br />

Auflagen der staatlichen Kontrollbehörden. 25 Speziell die Food<br />

and Drug Adm<strong>in</strong>istration (FDA) der USA erliess auf Weisung des<br />

Kongresses verschärfte Zulassungsbed<strong>in</strong>gungen für neue Medikamente<br />

und beanspruchte das Bewilligungsrecht für kl<strong>in</strong>ische<br />

Tests. Neu bestimmte diese Behörde die wissenschaftlichen Verfahren,<br />

die Qualifikation des Personals, verlangte toxikologische<br />

Versuche und auch Studien, wie die Arzneimittel im Organismus<br />

verändert oder abgebaut wurden. 26 Diese Auflagen sollten die<br />

Entwicklungsphase bis zur Markte<strong>in</strong>führung von Bactrim nachhaltig<br />

prägen.<br />

Der hohe Stand der westlichen Pharma<strong>in</strong>dustrie machte es<br />

bereits damals immer schwieriger, neuartige und wesentlich<br />

bessere Medikamente zu entwickeln. Die Entscheidung, ob<br />

e<strong>in</strong> Präparat alle Kriterien bezüglich Wirksamkeit und den<br />

Grad der zu verantwortenden Nebenwirkungen erfüllte, war<br />

erst nach umfangreichen Studien möglich. Schon Mitte der<br />

1960er Jahre waren zur Prüfung e<strong>in</strong>es Medikaments die<br />

kl<strong>in</strong>ischen Ergebnisse von 10 000 und mehr Patienten erforderlich.<br />

E<strong>in</strong>e Dauer von fünf Jahren vom Zeitpunkt der Synthese<br />

an bis h<strong>in</strong> zur Marktreife waren durchaus realistisch. 27<br />

Bei allem Verständnis für verantwortungsvolle Bewilligungsverfahren<br />

äusserte der Verwaltungsratspräsident von <strong>Roche</strong>, Adolf<br />

Walter Jann, deutliche Kritik an ausufernden wissenschaftlichen<br />

Prüfungen und geradezu uns<strong>in</strong>nigen Kontrollanforderungen<br />

staatlicher Behörden, h<strong>in</strong>ter denen er den Missbrauch für protektionistische<br />

Ziele vermutete. So mussten zahlreiche Versuche<br />

94 95


und Tests im jeweiligen nationalen Rahmen wiederholt werden,<br />

was e<strong>in</strong>en riesigen bürokratischen Aufwand erforderte, Forschungsressourcen<br />

verschleuderte, die Medikamente verteuerte<br />

und kle<strong>in</strong>ere Firmen zum Aufgeben zwang.<br />

1970 beschäftigte <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> der Forschung weltweit etwa<br />

3500 Personen. 28 In Basel arbeiteten damals 300 Akademiker<br />

mit durchschnittlich je drei Mitarbeitern <strong>in</strong> der Forschungsabteilung,<br />

also <strong>in</strong>sgesamt 1200 Personen. Jährlich wurden 5000<br />

neue Verb<strong>in</strong>dungen synthetisiert, wobei nur etwa 30 das Stadium<br />

der kl<strong>in</strong>ischen Prüfung erreichten und die Firma sich glücklich<br />

schätzte, wenigstens zwei Präparate zur Marktreife zu führen.<br />

Forschungschef Alfred Pletscher me<strong>in</strong>te denn auch am Chemistry<br />

Meet<strong>in</strong>g 1970:<br />

«Erfolgreiche Arzneimittel s<strong>in</strong>d rar wie wundervolle Perlen. Ich b<strong>in</strong><br />

überzeugt, dass mit Individualismus die Chancen grösser s<strong>in</strong>d<br />

als mit Uniformität, dass wir solche köstliche Perlen f<strong>in</strong>den.» 29<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Die Laboratorien des Instituts<br />

für Immunologie (BII), <strong>in</strong> denen<br />

auch Struktur und Funktion<br />

der Antikörper untersucht<br />

wurden, waren zweistöckig<br />

angelegt und mit e<strong>in</strong>er<br />

Wendeltreppe verbunden, um die<br />

Kommunikation zwischen den<br />

Labors zu erleichtern (1971)<br />

Biologie statt Chemie als Leitwissenschaft<br />

28 Jann, Adolf W.: Auszug aus der<br />

Präsidialadresse, <strong>in</strong>: <strong>Roche</strong>-Nachrichten 3<br />

(1965), o. S. [4] – Fehr (1970), S. 73.<br />

29 Isler, Otto: «Rückblick – Ausblick», Rapport<br />

No. 71’855, Weihnachtskolloquium VI/<br />

Chemie vom 23.12.1970, Mskr., 8.1.1971.<br />

30 Bürgi (2011), S. 10.<br />

31 Beide heute nicht mehr bestehend, siehe<br />

Bürgi (2011), S.125-126.<br />

32 Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong><br />

& Co., 1962, S. 7.<br />

33 Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La <strong>Roche</strong><br />

& Co., 1963, S. 10.<br />

34 Bürgi (2011), S. 130.<br />

35 Referat von Kurt Fe<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, «RRMG» 1969,<br />

S. 5. HAR FE.0.4 - 101129c. – Bürgi (2011),<br />

S. 131.<br />

36 Peyer (1996), S. 190.<br />

Die Anfänge des Heilmittels Bactrim spielten sich vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund der allmählichen Umstellung von der Chemie zur<br />

Biologie als Leitwissenschaft der <strong>in</strong>dustriellen Pharmaforschung<br />

ab. 30 Im Gegensatz zu den Chemikern zeigte sich, dass viele<br />

junge Biowissenschaftler e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dustriellen Tätigkeit skeptisch<br />

bis ablehnend gegenüberstanden. Um diesen Graben zwischen<br />

akademischer Grundlagenforschung und Industrieforschung<br />

zu überw<strong>in</strong>den, gründete <strong>Roche</strong> 1967 <strong>in</strong> den USA (Nutley, NJ)<br />

das <strong>Roche</strong> Institute of Molecular Biology (RIMB), kurz darauf <strong>in</strong><br />

Basel das Basel Institute for Immunology (BII). Auch herrschte<br />

nach e<strong>in</strong>em eigentlichen Pharmaschub <strong>in</strong> den 1950er Jahren,<br />

der e<strong>in</strong>e Vielzahl neuer Präparate hervorbrachte, <strong>in</strong> den 1960er<br />

Jahren weltweit e<strong>in</strong>e gewisse Innovationskrise. Davon war die<br />

Firma <strong>Roche</strong> nicht ausgenommen, und sie machte sich Sorgen,<br />

weil es ihr beispielsweise nicht gelang, genügend chemisch völlig<br />

neuartige Spezialitäten auf den Markt zu br<strong>in</strong>gen. 32 Die Geschäftsleitung<br />

war darüber beunruhigt, dass mittlerweile tausende von<br />

neuen chemischen Verb<strong>in</strong>dungen geprüft werden mussten, bis<br />

man e<strong>in</strong>e zur Therapie geeignete Substanz gefunden hatte. 33 Auch<br />

die Forschungsarbeiten im Gebiet der Virologie erwiesen sich als<br />

undankbar und stagnierten ohne e<strong>in</strong>en Durchbruch <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es<br />

verkaufsfähigen Medikaments. 34 Valium und Librium machten im<br />

Jahre 1968 beängstigende 62% des gesamten Pharma-Umsatzes<br />

aus. Die Verkaufsabteilung sprach im Zusammenhang mit diesem<br />

riskanten Zustand von «zu vielen Eiern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Korb». 35 Innerhalb<br />

von etwa zehn Jahren drohte der Ablauf der entsprechenden<br />

Patente, und damit bestand die dr<strong>in</strong>gende Notwendigkeit,<br />

ertragreiche Nachfolgeprodukte auf den Markt zu br<strong>in</strong>gen. Dies<br />

war umso mehr angezeigt, als sich zeitgleich die Diskussion um<br />

Nebenwirkungen und Suchtpotential von Beruhigungsmitteln<br />

entfachte. 36<br />

<strong>Roche</strong> Institute for Molecular<br />

Biology (RIMB), Nutley, New<br />

Jersey, 1968<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

96 97


Die Tranquilizer Librium und Valium, die Vitam<strong>in</strong>präparate –<br />

sowie immerh<strong>in</strong> bereits an dritter Stelle – die antibakteriellen<br />

Sulfonamide, bildeten damals die Haupte<strong>in</strong>nahmequellen von<br />

<strong>Roche</strong>. Es g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 1960er Jahre darum,<br />

neben dem e<strong>in</strong>seitigen, risikobehafteten Verkaufserfolg der Benzodiazep<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong> zusätzliches Standbe<strong>in</strong> aufzubauen. Im Gremium<br />

der <strong>Roche</strong> Research Management Group (RRMG), <strong>in</strong> der die Leiter<br />

der Forschungs- und Fabrikationsabteilungen der Standorte<br />

Schweiz, USA und Grossbritannien vertreten waren, wurde e<strong>in</strong>e<br />

Neuausrichtung der Forschung verlangt. 37 Drei Wissenschaftler<br />

aus der Niederlassung im englischen Welwyn wiesen darauf h<strong>in</strong>,<br />

dass die Chemiker die biologische Wirkung ihrer synthetisierten<br />

Produkte nicht voraussagen könnten. Darum müsse die biologische<br />

Forschung zulasten der herkömmlichen chemischen<br />

Aktivitäten ausgebaut werden.<br />

Mit effizienteren Testverfahren und besserer Erforschung der<br />

biologischen Krankheitsursachen solle systematischer nach<br />

Heilmitteln gesucht werden. Die Biologie – etwa die Stoffwechseluntersuchung<br />

von Bakterien – gehöre an den Anfang<br />

jeder Arzneimittelentwicklung. Gerade angesichts verschärfter<br />

Otto Isler <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Labor, 1975<br />

Prüfungsanforderungen bei der Medikamentenzulassung<br />

seien die Kosten der Entwicklung enorm gestiegen; <strong>Roche</strong><br />

müsse sich jeweils schon zu Beg<strong>in</strong>n des Forschungsprozesses<br />

genaue Vorstellungen über die pharmakologische<br />

Wirkung e<strong>in</strong>er Substanz im menschlichen Körper machen. 38<br />

Gegenwehr der Chemiker<br />

Die Chemiker leisteten gegen solche Zukunftsvisionen entschiedene<br />

Gegenwehr. Otto Isler 39 , der verdiente Vitam<strong>in</strong>forscher und<br />

Chef der chemischen Forschungsabteilung, wies energisch auf<br />

die Bedeutung der chemisch hergestellten Medikamente und<br />

deren Verkaufserfolg für das Unternehmen h<strong>in</strong>. Er verwahrte sich<br />

deutlich gegen biologische Theorien und Spekulationen, die mit<br />

der Realität wenig zu tun hätten. 40 Isler war sich aber durchaus<br />

bewusst, dass mit der Chemotherapie für e<strong>in</strong>e Pharmafirma Geld<br />

zu verdienen sei und hatte sogar die Tuberkuloseforschung bei<br />

<strong>Roche</strong> als eigentlicher Promotor angeregt. 41 Arnold Brossi, der<br />

Leiter der chemischen Forschung <strong>in</strong> Nutley (USA), äusserte zum<br />

biologischen Ansatz ebenfalls e<strong>in</strong>e gewisse Skepsis und me<strong>in</strong>te,<br />

Erfolg und guter Ruf der Firma <strong>Roche</strong> seien den Erkenntnissen<br />

der klassischen Synthesechemie zu verdanken, und grosse Investitionen<br />

<strong>in</strong> die biologische Forschung seien nicht angebracht. 42<br />

Dennoch zeigte die weitere Entwicklung, dass sich die Vertreter<br />

der chemischen Diszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Defensive befanden. Dies offenbarte<br />

sich auch augenfällig, als 1967 mit Alfred Pletscher erstmals<br />

e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>er und biomediz<strong>in</strong>ischer Wissenschaftler die Leitung<br />

der gesamten Konzernforschung übernahm. 43<br />

Otto Isler mag sich als Chemiker später etwas gerächt haben,<br />

<strong>in</strong>dem er die Bedeutung der <strong>Roche</strong>-Forschung bei der Konzeption<br />

von Bactrim fast gänzlich <strong>in</strong> Frage stellte und den Forschungserfolg<br />

hauptsächlich dem Wellcome-Konzern zuerkannte. Tatsächlich<br />

warb der amerikanische Biochemiker George H. Hitch<strong>in</strong>gs, Forschungschef<br />

von Burroughs Wellcome <strong>in</strong> Tuckahoe, New York,<br />

37 Pletscher, Alfred: 25 Jahre <strong>Roche</strong>-Forschung.<br />

Erlebte Geschichte. In: Forschung bei <strong>Roche</strong>.<br />

Rückblick und Ausblick. Hg. von Jürgen<br />

Drews und Fritz Melchers. Basel 1989,<br />

S. 44-45. – Bürgi (2011), S. 131.<br />

38 Bürgi (2011), S. 132-134.<br />

39 Brönnimann, R[oland]: Zum H<strong>in</strong>schied von<br />

Dr. Otto Isler. In: Chimia 46 (1992), S. 449. –<br />

Notizen von e<strong>in</strong>em Besuch bei Dr. Otto Isler.<br />

In: <strong>Roche</strong>-Magaz<strong>in</strong> 38 (1991), S. 36-46.<br />

40 Isler, Otto: Cont<strong>in</strong>uity <strong>in</strong> Chimistry Research“,<br />

5.6.1969. HAR FE. 0.4 - 103593 a. – Bürgi<br />

(2011), S. 134-135.<br />

41 E<strong>in</strong>e Frau von Format [Erika Böhni]. In:<br />

<strong>Roche</strong>-Magaz<strong>in</strong> 45 (1993), S. 46.<br />

42 Weissbach, Herbert: Reflections on the <strong>Roche</strong><br />

Institute of Molecular Biology after 20 years.<br />

In: Forschung bei <strong>Roche</strong>. Rückblick und<br />

Ausblick. Hg. von Jürgen Drews und Fritz<br />

Melchers. Basel 1989, S. 231-259, hier<br />

S. 245-246.– Bürgi (2011), S. 135.<br />

43 Peyer (1996), S. 222.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

98 99


Arnold Brossi,<br />

1973<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

44 Isler (1971), S. 21f.<br />

45 Turney, Jon: Rational drug design: Gertrude<br />

Elion and George Hitch<strong>in</strong>gs. London 2011.<br />

Autobiographie von Hitch<strong>in</strong>gs siehe<br />

www.nobelprize.org/nobel_prizes/medic<strong>in</strong>e/<br />

laureates/1988/hitch<strong>in</strong>gs-autobio.html<br />

46 Gegründet 1758, seit 1970 Ciba-Geigy AG,<br />

seit 1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.<br />

47 Gegründet 1883 als Gesellschaft für<br />

chemische Industrie Basel, seit 1945 unter<br />

Name Ciba, seit 1970 Ciba-Geigy AG, seit<br />

1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.<br />

48 <strong>Roche</strong>, Interne Mitteilung Nr. 366.<br />

49 Protokoll der Informationssitzung, 29.9.1965.<br />

viele Jahre mit theoretischen Argumenten und guten Tierversuchen<br />

vergeblich für die Komb<strong>in</strong>ation von Sulfonamiden. Man<br />

schenkte ihm erst Glauben, als kl<strong>in</strong>ische Prüfungen erstaunliche<br />

Erfolge zeigten. 44 Hitch<strong>in</strong>gs stellte e<strong>in</strong> bedeutendes wissenschaftliches<br />

Aushängeschild für Wellcome dar, war er doch neben manch<br />

anderen Entdeckungen auch Schöpfer des Leukämie-Heilmittels<br />

Mercaptopur<strong>in</strong> und des Pyrimetham<strong>in</strong>s gegen die Infektionskrankheit<br />

Toxoplasmose. Für se<strong>in</strong>e Verdienste um die medikamentöse<br />

Bekämpfung der Infektions- und Krebserkrankungen<br />

empf<strong>in</strong>g er 1988, zusammen mit se<strong>in</strong>er Mitarbeiter<strong>in</strong> Gertrude<br />

B. Elion, den Nobelpreis für Physiologie oder Mediz<strong>in</strong>. 45 <strong>Roche</strong><br />

hatte es also im Fall von Burroughs Wellcome mit erstklassigen<br />

Wissenschaftlern zu tun.<br />

Trimethoprim von Burroughs Wellcome<br />

1953 erfolgte die Patentierung des Antibiotikums Trimethoprim,<br />

dessen Wirkung gegen bakterielle Infektionen Hitch<strong>in</strong>gs und<br />

Elion 1956 entdeckten. Das Medikament vermochte den Folsäure-<br />

Stoffwechsel von grampositiven und gramnegativen Keimen zu<br />

hemmen und wurde von Burroughs Wellcome zur Therapie von<br />

unkomplizierten Harn- und Luftweg<strong>in</strong>fekten e<strong>in</strong>gesetzt. In den<br />

frühen 1960er Jahren begannen recht <strong>in</strong>tensive Forschungskontakte<br />

zwischen Wellcome und <strong>Roche</strong>. Wellcome hatte zuvor den<br />

Basler Firmen J. R. Geigy AG 46 und Ciba AG 47 vergeblich angeboten,<br />

im Bereich Trimethoprim zusammenzuarbeiten. Beide<br />

lehnten ab, da sie die toxischen Wirkungen des Produkts für<br />

unverantwortlich hielten. Auch als sich Wellcome 1963 an <strong>Roche</strong><br />

wandte, war die Skepsis vor allem bei den Mikrobiologen gross.<br />

Die Kl<strong>in</strong>iker liessen sich aber rasch von der bakterientötenden<br />

Wirkung des Antibiotikums überzeugen. Die Forschungsleitung<br />

zeigte sich ebenfalls offen <strong>in</strong> dem Bewusstse<strong>in</strong>, dass die bislang<br />

e<strong>in</strong>geführten chemotherapeutischen Präparate wie Gantris<strong>in</strong>,<br />

Rimifon, Madribon und Gantanol e<strong>in</strong>en wesentlichen Bestandteil<br />

des Geschäftserfolgs bildeten. Allerd<strong>in</strong>gs wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen<br />

Mitteilung Mitte der 1960er Jahre vor den damaligen Verhältnissen<br />

auf dem Anti<strong>in</strong>fektiva-Markt im Allgeme<strong>in</strong>en und bei<br />

den Sulfonamiden im Speziellen gewarnt. 48 Es erfüllte die Verantwortlichen<br />

mit Sorge, dass die Sulfonamide gegenüber den<br />

Antibiotika <strong>in</strong> der Defensive waren. 49 Das von <strong>Roche</strong> entwickelte<br />

Sulfadox<strong>in</strong> Fanasil stelle e<strong>in</strong> Sulfonamid mit teilweise völlig neuen<br />

Eigenschaften dar, weshalb sich se<strong>in</strong>e Zukunftschancen auf dem<br />

Markt nur schwer voraussagen liessen; es überwögen dennoch<br />

George Herbert Hitch<strong>in</strong>gs (1905-1998) und<br />

Gertrude Belle Elion (1918-1999) im Jahr<br />

1988. Sie arbeiteten während 30 Jahren <strong>in</strong><br />

den Forschungslaboratorien von Burroughs<br />

Wellcome <strong>in</strong> den USA zusammen. Aufgrund ihrer<br />

bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der<br />

Medikamentenentwicklung erhielten sie 1988 den<br />

Nobelpreis für Mediz<strong>in</strong> oder Physiologie<br />

Wellcome Trust, Wellcome Images<br />

100 101


die positiven Merkmale, die es zu e<strong>in</strong>em wertvollen Medikament<br />

mit guten Marktaussichten machten. Immerh<strong>in</strong> sollte Fanasil<br />

später zu den von der Weltgesundheitsorganisation WHO als<br />

unentbehrlich bezeichneten Medikamenten – speziell gegen<br />

Cholera – gehören. 50<br />

Erstaunlich wirksame Komb<strong>in</strong>ation<br />

Nun drängte man <strong>in</strong> Basel darauf, noch wirksamere Arzneien zu<br />

erforschen, zu erproben und zum kl<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>satz zu br<strong>in</strong>gen.<br />

E<strong>in</strong> halbes Jahr lang wurde <strong>in</strong> den Laboratorien geprüft und<br />

schliesslich entdeckt, dass die Komb<strong>in</strong>ation des Antibiotikums<br />

Trimethoprim mit dem Sulfonamid Sulfamethoxazol (Gantanol)<br />

ganz besondere Eigenschaften ergab.<br />

Die antibakterielle Wirkung <strong>in</strong> den Petrischalen<br />

erwies sich als erstaunlich und höchst <strong>in</strong>teressant:<br />

E<strong>in</strong>e Potenzierung zweier antibakterieller Substanzen<br />

erschien vorerst unglaublich und nie dagewesen. 51<br />

Ausgedehnte Laborversuche liessen die Aktivität von Trimethoprim<br />

(TM) und Sulfamethoxazol (SMZ) alle<strong>in</strong>e sowie <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation,<br />

und zwar gegen e<strong>in</strong>e Reihe von entsprechend gefärbten<br />

grampositiven und gramnegativen Bakterien, erkennen. Auf den<br />

mikrobiologischen Testscheibchen (Disks) zeigte sich, dass die<br />

keimfreien Zonen <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation grösser waren, als bei den<br />

E<strong>in</strong>zelkomponenten. Zum selben Ergebnis führten Experimente<br />

an Mäusen, die mit dem Bakterium Escherichia coli, dem häufigsten<br />

Erreger von Darm<strong>in</strong>fekten, <strong>in</strong>fiziert worden waren. Ebenfalls<br />

e<strong>in</strong> Potenzierungseffekt zeigte sich <strong>in</strong> Mäuseversuchen beim<br />

Streptococcus pneumoniae, dem häufigsten Erreger von Lungenentzündungen,<br />

der auch an andern Krankheitsbildern wie Hirnhautentzündung<br />

und Endokarditis beteiligt ist. Die Forscher<strong>in</strong>nen<br />

und Forscher waren nicht nur von der Wirkungs<strong>in</strong>tensität bee<strong>in</strong>druckt,<br />

sondern auch von der Wirkungsbreite der Komb<strong>in</strong>ation<br />

von TM und SMZ. Deren antibakterieller Effekt erstreckte sich<br />

auf e<strong>in</strong> überaus breites Erregerspektrum und erwies sich gegenüber<br />

bislang bekannten Breitbandantibiotika wie Ampicill<strong>in</strong>,<br />

Tetracycl<strong>in</strong>e, Penicill<strong>in</strong> G, Chloramphenicol oder Phenethicill<strong>in</strong><br />

zum<strong>in</strong>dest als ebenbürtig: Empf<strong>in</strong>dlich auf das neue komb<strong>in</strong>ierte<br />

Präparat reagierte e<strong>in</strong> breites Spektrum von Bakterien, welche<br />

Infektionskrankheiten der Atemwege, des Magen-Darm-Trakts,<br />

des Urogenitaltrakts, der Haut und Weichteile sowie andere<br />

Infektionen verursachen. 52<br />

Bald wurde die Kooperation zwischen den beiden Firmen<br />

<strong>in</strong>tensiviert; es kam zu immer neuen Gesprächen <strong>in</strong> Basel und<br />

London. Im Sommer 1966 stellte die damals 44 Jahre alte Mikrobiolog<strong>in</strong><br />

Erika Böhni ihre Forschungsergebnisse vor. Sie hatte<br />

ihren englischen Vortrag auswendig gelernt und präsentierte e<strong>in</strong>drückliche<br />

Dias. Emanuel Grunberg, Leiter der chemotherapeutischen<br />

Forschung <strong>in</strong> Nutley, zeigte sich gemäss Böhnis Tagebuch<br />

«so erfreut und erregt, dass er aufstand und sagte, er hätte gar nicht<br />

gewusst, dass wir so etwas machten». 53 Der sonst zurückhaltende<br />

Giuseppe Reggiani, e<strong>in</strong>er der bedeutendsten kl<strong>in</strong>ischen Forscher<br />

bei <strong>Roche</strong>, nickte der Referent<strong>in</strong> das erste Mal beifällig zu. 54<br />

Der Vertrag mit Wellcome sollte schliesslich drei spezifisch<br />

genannte Pyrimid<strong>in</strong>-Potentiatoren von Wellcome und zwölf<br />

Sulfonamide von <strong>Roche</strong> umfassen. Man verpflichtete sich zur<br />

gegenseitigen Information über neue galenische Fortschritte oder<br />

Dosierungen. Auch der Austausch wissenschaftlicher Dokumente<br />

war vorgesehen, wobei man <strong>in</strong> Basel streng darauf achtete, nur<br />

Informationen und Verb<strong>in</strong>dungen preiszugeben, die wirklich<br />

Gegenstand der Zusammenarbeit waren. 55<br />

<strong>Roche</strong> und Wellcome wiesen als forschungsorientierte Unternehmen<br />

e<strong>in</strong> ähnliches Profil bei der pharmakologischen Kompetenz<br />

auf und verfügten über e<strong>in</strong>e ähnliche, auf die Mediz<strong>in</strong><br />

fokussierte Firmenkultur. Beide Unternehmen gehörten <strong>in</strong> der<br />

globalen Welt der Heilmittel<strong>in</strong>dustrie zu den wichtigsten Mitspielern<br />

und strebten nach höchster pharmakologischer Kompetenz<br />

Der synergistische Effekt<br />

von Bactrim wird mit e<strong>in</strong>em<br />

Sensibilitätstest mittels Disks <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Kultur von Staphylococcus<br />

aureus sichtbar gemacht. Unten<br />

l<strong>in</strong>ks Sulphamethoxazol, unten<br />

rechts Trimethoprim<br />

50 WHO Model Lists of Essential Medic<strong>in</strong>es.<br />

Siehe www.who.<strong>in</strong>t/selection_medic<strong>in</strong>es/<br />

committees/expert/18/applications/FDC_622.<br />

pdf<br />

51 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45.<br />

52 «Bactrim» <strong>Roche</strong> [1969], S. 23-25.<br />

53 Böhni, Erika: Tagebuch Nr. VIII, Mskr.,<br />

27.6.1966, [o. S.]. Nachlass Erika Böhni bei<br />

Ernst Böhni, Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong>. Ich danke Herrn<br />

Stadtrat Ernst Böhni ganz herzlich für die<br />

Gewährung der E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Tagebücher.<br />

54 Ibid.<br />

55 <strong>Roche</strong>, Interne Mitteilung von M. Fernex<br />

und H. Neumann, 10.12.1975. HAR FE.2.1 -<br />

103531 o.<br />

102 103


und Exzellenz. Speziell die Forschungsabteilungen und deren<br />

Philosophien waren ähnlich ausgerichtet. Dennoch gab es selbstverständlich<br />

beträchtliche kulturelle Unterschiede zwischen dem<br />

1880 gegründeten Londoner Unternehmen 56 und der 1896 am<br />

Basler Rhe<strong>in</strong>knie eröffneten pharmazeutischen Fabrik. Die Verhandlungspartner<br />

<strong>in</strong> der britischen Metropole waren von weltläufiger<br />

Kultiviertheit, und Wellcome erwies sich als vornehme, elegante<br />

Firma, die noch immer von der Tradition der Kolonialzeit<br />

geprägt war. Die vergleichsweise ans «Republikanisch-Schlichte»<br />

gewöhnten Basler spürten <strong>in</strong> den Räumlichkeiten aus Mahagoni<br />

und Marmor e<strong>in</strong>en Hauch des vergangenen Imperialismus. 57 Sie<br />

waren von dem ungewohnten Umfeld durchaus bee<strong>in</strong>druckt<br />

und empfanden die britischen Gastgeber als «höflich, nett, doch<br />

bestimmt und präzis, sie sagen’s nur so ruhig und höflich», wie<br />

Erika Böhni es <strong>in</strong> ihrem Tagebuch umschrieb. Weiter führte sie<br />

aus: «Es fällt mir überhaupt auf, wie geschlossen die Wellcome<br />

vorgehen, wie sicher und wie ruhig, auch <strong>in</strong> den bedrohlichsten<br />

Lagen. Und darum werden sie dere<strong>in</strong>st die Welt wieder <strong>in</strong> ihre<br />

Hände bekommen wegen dieser überlegenen Ruhe, die auf die<br />

Praxis e<strong>in</strong>es Handelsvolkes seit uralten Zeiten zurückgeht. Es s<strong>in</strong>d<br />

auch Seeräubertypen darunter, die haarscharf denken, sich nie<br />

vergessen und aufbrausen, ‘but we shall go ahead’.» 58<br />

Ultimatum aus London<br />

Im Herbst 1967 wurde <strong>in</strong> Basel die Projektgruppe «antibakterielle<br />

Stoffe» gebildet und deren Leitung der Mikrobiolog<strong>in</strong> Erika Böhni<br />

übertragen. Der Hauptauftrag an die Gruppe lautete kurz und<br />

bündig: Verteidigung der <strong>Roche</strong>-Sulfonamide und Suche nach<br />

neuen antibakteriellen Stoffen. 59 Böhni war anfänglich bezüglich<br />

der Toxizität von Trimethoprim ebenfalls skeptisch, denn sie<br />

fürchtete wie andere, dass die Potenzierung der Wirkung mit<br />

e<strong>in</strong>er Potenzierung der Toxizität e<strong>in</strong>hergehen könnte. Die Laborversuche<br />

der Komb<strong>in</strong>ation von Trimethoprim mit dem Wirkstoff<br />

von Gantanol, Sulfamethoxazol, offenbarten ihr aber zunehmend<br />

überzeugende Resultate.<br />

Manchmal blieben die Petrischalen, <strong>in</strong> denen man<br />

die Hemmhöfe untersuchte, völlig sauber von jeglichem<br />

bakteriellen Bewuchs – als so effektiv erwies<br />

sich die antibakterielle Wirkung. Dennoch wussten<br />

die Forscher noch nicht, ob die Versuche jemals zu<br />

e<strong>in</strong>em verkaufsfähigen Präparat führen würden. 60 Erika Böhni,<br />

Bald zeigte sich, dass e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation von fünf Teilen Sulfamethoxazol<br />

zu e<strong>in</strong>em Teil Trimethoprim <strong>in</strong> so ger<strong>in</strong>gen Mengen<br />

verabreicht werden konnte, dass die Toxizität vertretbar erschien.<br />

Doch selbst die ersten kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen überzeugten die<br />

kritischen Wissenschaftler noch nicht, und sie befürchteten,<br />

Trimethoprim könne das Sulfonamid Gantanol und damit den<br />

guten Ruf von <strong>Roche</strong> gefährden. Trotz zunehmender Begeisterung<br />

von Erika Böhni behielten die Vorsichtigen <strong>in</strong> der Forschungsabteilung<br />

mit ebenfalls ernstzunehmenden Argumenten recht<br />

lange die Oberhand. Ende 1966 stellte Burroughs Wellcome<br />

aber e<strong>in</strong> Ultimatum und verlangte die rasche geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>führung<br />

des Komb<strong>in</strong>ationspräparats. Andernfalls – so drohte<br />

London unverhohlen – würde Wellcome die Markte<strong>in</strong>führung<br />

im Alle<strong>in</strong>gang vorantreiben. Plötzlich kam gewaltige Bewegung<br />

<strong>in</strong> das Projekt. Die kommerzielle Abteilung wollte die grossen<br />

bisherigen Anstrengungen ke<strong>in</strong>eswegs vergeblich unternommen<br />

haben. 61 Dies bedeutete für <strong>Roche</strong> Basel enorme Anstrengungen.<br />

Nach e<strong>in</strong>em Tiefstand <strong>in</strong> den Jahren 1964/65 bildete der Bereich<br />

Chemotherapie jetzt wieder e<strong>in</strong>en Schwerpunkt des gesamten<br />

Forschungsaufwandes und wurde auch personell verstärkt. 62 Nach<br />

e<strong>in</strong>em Gespräch mit Direktor Otto Isler, der Erika Böhnis allzu<br />

grosse Arbeitslast ebenso wie ihre Bedeutung für das Projekt<br />

feststellte, vertraute Böhni ihrem Tagebuch an: «Ich merke, dass<br />

viel von der antibakteriellen Chemotherapie erwartet wird.» 63<br />

Erika Böhni, im Grunde mehr «Macher<strong>in</strong>» als Forscher<strong>in</strong>,<br />

zeigte sich bei der Propagierung des neuen Präparats ganz <strong>in</strong><br />

ihrem Element und voll auf der Höhe ihrer Aufgabe. 64 E<strong>in</strong>mal von<br />

e<strong>in</strong>er Sache überzeugt, kannte sie ke<strong>in</strong>e Widerstände. Energisches,<br />

rasches Vorgehen wurde nun <strong>in</strong> Basel zur obersten Maxime. Denn<br />

als es darum g<strong>in</strong>g, die Gebiete der E<strong>in</strong>führung zwischen <strong>Roche</strong> und<br />

Burroughs Wellcome aufzuteilen, zeigte sich, dass Wellcome nur <strong>in</strong><br />

vergleichsweise wenigen Ländern vertreten war. <strong>Roche</strong> hatte sich<br />

<strong>in</strong>dessen seit der Firmengründung 1896 kont<strong>in</strong>uierlich e<strong>in</strong> dichtes,<br />

globales Distributionsnetz aufgebaut und wurde darum <strong>in</strong> Bezug<br />

auf die Markte<strong>in</strong>führung zum unbestrittenen Leader. 65 In manchen<br />

Ländern – etwa <strong>in</strong> Grossbritannien oder Neuseeland – wurde e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Lancierung von Bactrim und Septr<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>bart.<br />

1975<br />

56 Church, Roy / Tansey, E. M.: Burroughs<br />

Wellcome & Co.: Knowledge, trust, profit<br />

and the transformation of the British<br />

pharmaceutical <strong>in</strong>dustry. Lancaster 2007. –<br />

Coe, Fred A.: Burroughs Wellcome Co. 1880-<br />

1980: pioneer of pharmaceutical research.<br />

New York 1980.<br />

57 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45.<br />

58 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 28.6.1966 [o. S.].<br />

59 «Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 1,<br />

10.10.1967, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 a.<br />

60 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45.<br />

61 Ibid., S. 45.<br />

62 Waldvogel, G[uy]: Bericht über mittelfristige,<br />

projekt-orientierte Planung <strong>in</strong> der<br />

Forschungsabteilung, 23.12.1968, S. 4. HAR<br />

FE.0.4 - 103593 g, h.<br />

63 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 29.10.1967, [o. S].<br />

64 Interview mit Dr. Peter Anghern,<br />

9. März 2012.<br />

65 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

104 105


Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Erika Böhni – die «Miss Bactrim»<br />

Die zupackende Bauerntochter Erika Böhni stand<br />

1967 vor e<strong>in</strong>em praktisch unbeackerten Feld. Zwar lagen<br />

sechs Jahre Experimente mit der Komb<strong>in</strong>ation von<br />

Trimethoprim und Sulfamethoxazol h<strong>in</strong>ter ihr, aber es<br />

war noch nichts publiziert worden. Das Frühjahr 1969<br />

wurde zum arbeitsreichsten ihres Lebens. Ostern, Auffahrt,<br />

Pf<strong>in</strong>gsten, überhaupt jedes freie Wochenende<br />

war Böhni damit beschäftigt, Publikationen, Vorträge<br />

und Rapporte zu schreiben. Das rasche Arbeiten lag<br />

ihr ausgesprochen; allzu exakten Zauderern gegenüber<br />

konnte sie durchaus ungeduldig werden. 66<br />

Erika Böhni wurde durch hartnäckigen Forschungse<strong>in</strong>satz,<br />

Veröffentlichungen und Vortragsreisen zur wichtigsten<br />

Förder<strong>in</strong>, ja zum «Gesicht» des neuen Heilmittels<br />

«Bactrim». Die <strong>Roche</strong>-Mitarbeiter nannten sie<br />

mitunter gerne «Miss Bactrim». 67 Sie war am 13. Januar<br />

1922 als Tochter e<strong>in</strong>es Landwirts und Enkel<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es<br />

Arztes im Städtchen Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong> geboren worden<br />

und behielt zeitlebens ihren unverwechselbaren<br />

Schaffhauser Dialekt bei. Dort wuchs sie auf, absolvierte<br />

die Primarschule und danach die Kantonsschule<br />

<strong>in</strong> Schaffhausen. Von 1941 bis 1947 studierte sie als<br />

e<strong>in</strong>e der ganz wenigen Frauen Biologie an der Eidgenössischen<br />

Technischen Hochschule <strong>in</strong> Zürich, wo sie<br />

sich zudem e<strong>in</strong>e solide chemische Ausbildung erwarb,<br />

und promovierte 1949 mit e<strong>in</strong>er Arbeit über die Bitterfäule<br />

an Kirschen. 68 Nach kürzerer Tätigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

kle<strong>in</strong>eren Firmen trat die 29-Jährige 1951 <strong>in</strong> die Dienste<br />

von <strong>Roche</strong>, wo sie bis zur Pensionierung 1984 volle<br />

33 Jahre bleiben sollte. Sie begann als Mitarbeiter<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der Basler Tuberkulose-Forschung bei Bernhard<br />

Fust. 69 Das von <strong>Roche</strong> 1952 e<strong>in</strong>geführte Tuberkulosemedikament<br />

Rimifon war e<strong>in</strong> so grosser wissenschaftlicher<br />

Erfolg, dass es <strong>in</strong> den Folgejahren zur sicheren<br />

Basis der Abteilung und zu e<strong>in</strong>er globalen Visitenkarte<br />

für <strong>Roche</strong> auf dem Gebiet der antibakteriellen Chemotherapie<br />

wurde.<br />

Der Bereich Chemotherapie war zuerst <strong>in</strong> der «Villa<br />

Glaser» untergebracht, die später durch den modernen<br />

Bau 70 am Rhe<strong>in</strong>ufer ersetzt wurde. «Fräule<strong>in</strong><br />

Doktor Böhni» beherrschte die ihr unterstellten Labors<br />

im Parterre des Forschungsbaus mit starker Hand. Sie<br />

war e<strong>in</strong>e geachtete, ja zuweilen gefürchtete Persönlichkeit,<br />

energisch, unermüdlich und temperamentvoll.<br />

Mit ihren Ansichten hielt sie nie zurück, sondern äusserte<br />

sie direkt und unverblümt. 70 Als Frau von Format<br />

und gesundem Menschenverstand war sie die<br />

dritte <strong>Roche</strong>-Mitarbeiter<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> der von Männern<br />

dom<strong>in</strong>ierten Firma <strong>in</strong> die Direktionsetage aufstieg. 71<br />

Sie schrieb über Madribon 72 und war nicht nur an<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Bernhard Fust,<br />

1968<br />

Villa Glaser Bau 23 mit dem<br />

<strong>Roche</strong>-Hochhaus Bau 52 im<br />

H<strong>in</strong>tergrund, 1962. E<strong>in</strong>ige Jahre<br />

später wurde das ehemalige<br />

Privathaus, das von <strong>Roche</strong><br />

Basel zu Laboratorien und<br />

Büros umfunktioniert wurde,<br />

abgerissen. Die neu gegründete<br />

mikrobiologische Abteilung<br />

unter der Leitung von Erika<br />

Böhni zog zunächst hier e<strong>in</strong><br />

66 Ibid., S. 45. Interview mit Dr. Peter Anghern,<br />

9. März 2012.<br />

67 Interview mit Dr. Peter Anghern, 9. März<br />

2012.<br />

68 Böhni, Erika: Untersuchungen über die<br />

Bitterfäule an Kirschen. Langensalza 1949.<br />

69 Fust, Bernhard: Bericht über das Symposion<br />

vom 28./29. November 1952 <strong>in</strong> Basel<br />

[der] Gesellschaft Schweizerischer<br />

Tuberkuloseärzte, Team zur kl<strong>in</strong>ischen<br />

Prüfung von Rimifon. Unter Mitarb. von W.<br />

Hausheer, M. Walter u.a. Basel 1952. – Fust,<br />

Bernhard: Therapie der Tuberkulose mit<br />

Isoniazid (Rimifon). Unter Mitarb. von E.<br />

Böhni und W. Hausheer u.a. Bern 1953.<br />

70 Vom Genuss, der Phantasie freien Lauf<br />

lassen zu dürfen. Erika Böhni, ehemalige<br />

Mikrobiolog<strong>in</strong> bei <strong>Roche</strong>, lehrt K<strong>in</strong>der<br />

das Staunen vor den Wundern der Natur.<br />

Steckenpferde (11). In: <strong>Roche</strong> Nachrichten 6<br />

(1986), S. 5.<br />

71 Zum Gedenken. Erika Böhni. In: Basler<br />

Zeitung, 27.4.1999, S. 30.<br />

72 Böhni, Erika: Tolerance and antibacterial<br />

properties of 2,4-dimethoxy-6-sulfanilamido-<br />

1,3-diac<strong>in</strong>e ‚Madribon’ and some other<br />

sulfonamides. In: Antibiotic medic<strong>in</strong>e and<br />

cl<strong>in</strong>ical therapy. New York 1959, S. 3-10.<br />

73 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 46.<br />

74 Vom Genuss (1986), S. 45.<br />

75 <strong>Roche</strong>. Aus Tradition der Zeit voraus. Konzept<br />

und Texte von Alexander L. Bieri. Basel 2008,<br />

S. 26. – Guillet, Arnold: Dr. Erika Böhni zum<br />

Gedenken. In: Ste<strong>in</strong>er Anzeiger 13 (1999). –<br />

E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993),<br />

S. 40-47.<br />

106<br />

107


Feier zu Erika Böhnis 25jährigem<br />

Betriebsjubiläum bei <strong>Roche</strong>,<br />

1976. Die Dekoration bezieht<br />

sich auf ihre Liebe zur Natur.<br />

Erika Böhni war e<strong>in</strong>e anerkannte<br />

Expert<strong>in</strong> auf dem Gebiet der Pilze,<br />

auf dem Bild im H<strong>in</strong>tergrund wird<br />

sie als «Kräuterhexe» dargestellt<br />

der Entwicklung des Chemotherapeutikums Bactrim,<br />

sondern später auch am Antibiotikum Roceph<strong>in</strong> beteiligt.<br />

Im Bewusstse<strong>in</strong>, dass sich Bakterien auch an den<br />

Wochenenden teilen und kontrolliert werden müssen,<br />

suchte sie sich e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> der Nähe des Werkgeländes;<br />

jahrelang traf man sie auch Samstags und<br />

Sonntags im Labor an. 73 Den Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen<br />

Karriere erreichte Böhni nach eigenem<br />

Bekunden aber mit den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten<br />

rund um Bactrim. In ihrer Begeisterung<br />

über die sich gegenseitig potenzierende Wirkung der<br />

beiden Wirkstoffkomponenten Sulfamethoxazol und<br />

Trimethoprim me<strong>in</strong>te sie rückblickend: «Man dachte,<br />

jetzt sp<strong>in</strong>nt die Böhni. Bis dann die Tatsache von anderen<br />

Bakteriologen bestätigt wurde. Es war e<strong>in</strong>e tolle<br />

und aufregende Zeit.» 74<br />

Nach ihrer Pensionierung schaute Erika Böhni e<strong>in</strong> für<br />

allemal vom Mikroskop auf und wollte ke<strong>in</strong>e Mikroorganismen<br />

mehr sehen, sondern Pflanzen und Tiere,<br />

kurz, die Natur als s<strong>in</strong>nvoll <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander greifendes Ganzes.<br />

Zurück im stattlichen Elternhaus <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong><br />

schrieb sie e<strong>in</strong> 77 Seiten umfassendes K<strong>in</strong>derbuch<br />

über den Fischreiher, der <strong>in</strong> der Rhe<strong>in</strong>landschaft zum<br />

Alltag gehört. Das Buch wurde durch ihre Streifzüge<br />

mit Grossnichten und Grossneffen durch die Natur<br />

angeregt, wobei sich die Autor<strong>in</strong> bestrebte, naturwissenschaftliche<br />

Erkenntnisse weder zu simpel noch zu<br />

kompliziert darzustellen. Als wirklich k<strong>in</strong>dergerecht gelungenes<br />

Werk kann dieses durch die Autor<strong>in</strong> eigenhändig<br />

illustrierte Projekt freilich kaum bezeichnet werden.<br />

Erika Böhni verstarb am 3. Februar 1999 im Alter<br />

von 77 Jahren im Haus ihrer Vorfahren. 75<br />

Betriebsjubiläum bei <strong>Roche</strong>,<br />

1976, Erika Böhni zusammen mit<br />

Peter Angehrn (l<strong>in</strong>ks) und Rudolf<br />

L. Then (rechts)<br />

Ernst Böhni, Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong><br />

Ernst Böhni, Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong><br />

Erika Böhni <strong>in</strong> ihrem Heim<br />

<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong>. Sie<br />

liest <strong>in</strong> dem von ihr selbst<br />

verfassten K<strong>in</strong>derbuch<br />

«Der Fischreiher», 1986<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

108<br />

109


76 Vom Genuss (1986), S. 3.<br />

77 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,<br />

undatiert, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 a.<br />

78 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,<br />

10.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 b.<br />

Ermutigende kl<strong>in</strong>ische Versuche<br />

Die Verb<strong>in</strong>dung von Sulfamethoxazol und Trimethoprim im Verhältnis<br />

fünf zu e<strong>in</strong>s zeigte 1966 <strong>in</strong> den Basler Laboratorien überaus<br />

günstige Resultate, so dass man mit den kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen<br />

begann. Es war für die Forschungsleitung nunmehr absehbar, dass<br />

die Komb<strong>in</strong>ation gewissen Anforderungen an e<strong>in</strong> Breitspektrum-<br />

Chemotherapeutikum genügte. 76 Das neue Produkt mit überraschend<br />

starker bakterizider Wirkung schien geeignet, den Anteil<br />

von <strong>Roche</strong> am Sulfonamidmarkt zum<strong>in</strong>dest zu verteidigen, wenn<br />

nicht weiter auszubauen. Zwar entwickelten sich Gantris<strong>in</strong> und<br />

Gantanol recht günstig, doch gerieten die langwirkenden Sulfonamide<br />

<strong>in</strong> jener Zeit wegen angeblicher Nebenwirkungen wie<br />

schwerer allergischer Haut- und Schleimhautreaktionen (Stevens-<br />

Johnson-Syndrom) beziehungsweise e<strong>in</strong>er ausgedehnten blasigen<br />

Ablösung der Epidermis (Lyell-Syndrom) etwas <strong>in</strong> Misskredit.<br />

Mit e<strong>in</strong>igem Unbehagen musste <strong>Roche</strong> zur Kenntnis nehmen, dass<br />

die Behörden gewisser Staaten die Indikationsgebiete e<strong>in</strong>schränkten,<br />

was prompt auch zu e<strong>in</strong>em Verkaufsrückgang von Madribon<br />

führte und die Weiterentwicklung von Fanasil (Anti<strong>in</strong>fektivum<br />

u.a. gegen Cholera und Lepra) erschwerte. Man wollte solche<br />

Vorwürfe raschmöglichst mit entsprechenden Arbeitsgruppen<br />

entkräften. E<strong>in</strong>e umso willkommenere Erweiterung der Indikationen<br />

für Sulfonamide bildete die Komb<strong>in</strong>ation Sulfamethoxazol/<br />

Trimethoprim, die <strong>in</strong> der Human- wie <strong>in</strong> der Veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong><br />

vielversprechende Aussichten eröffnete. 77 In der zweiten Hälfte<br />

des Jahres 1968 konstatierte <strong>Roche</strong> dann die erfreuliche Tatsache,<br />

dass sich Anzeichen e<strong>in</strong>er Wendung <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>stellung gewisser<br />

Gesundheitsbehörden (auch <strong>in</strong> den USA) gegenüber den langwirkenden<br />

Sulfonamiden zeigten. Man hoffte darum auf e<strong>in</strong>e<br />

sulfonamidfreundlichere Zukunft. 78<br />

Am 4./5. Dezember 1967 wurde nach Prüfungsresultaten<br />

an mehr als 1000 Patienten beschlossen, <strong>in</strong> Basel nur noch die<br />

Mischung von Sulfamethoxazol/Trimethoprim im Verhältnis fünf<br />

zu e<strong>in</strong>s weiterzuprüfen, und zwar hauptsächlich als Tabletten zu<br />

400mg Gantanol plus 80mg Trimethoprim. Burroughs Wellcome<br />

machte gleichzeitig klar, dass London diese Komb<strong>in</strong>ationsform<br />

zum nächstmöglichen Term<strong>in</strong> – frühestens etwa September<br />

1968 – e<strong>in</strong>zuführen beabsichtigte. <strong>Roche</strong> Nutley setzte derweil<br />

die kl<strong>in</strong>ische Prüfung der Gantris<strong>in</strong> (Sulfisoxazol)/Trimethoprim-<br />

Komb<strong>in</strong>ationen im Verhältnis 20 zu 1 und 10 zu 1 fort, während<br />

die übrigen <strong>Roche</strong>-Zentren geme<strong>in</strong>sam mit Burroughs Wellcome<br />

die kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen der neuen Tabletten <strong>in</strong>tensivierten und<br />

verbreiterten. Es wurden vorerst folgende Indikationen vorgeschlagen:<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fektionen, chronische Bronchitis sowie<br />

sonstige bakterielle Infektionen aller Fachgebiete. Das neue Mittel<br />

sollte das breite Spektrum der Komb<strong>in</strong>ation <strong>in</strong> direkter Konkurrenz<br />

zu gebräuchlichen Antibiotika darstellen. Vergleichende<br />

Untersuchungen erklärte man als durchaus erwünscht. 79<br />

Die E<strong>in</strong>führung des neuen Medikaments war immer parallel<br />

mit Burroughs Wellcome vorgesehen. Obwohl auf e<strong>in</strong>e wenig<br />

günstige Preissituation für die E<strong>in</strong>führung von Sulfamethoxazol/<br />

Trimethoprim h<strong>in</strong>gewiesen wurde, fiel Anfang 1968 im E<strong>in</strong>verständnis<br />

mit der kommerziellen Abteilung der Beschluss, die<br />

breite kl<strong>in</strong>ische Prüfung des Präparates mit den zusammen mit<br />

Burroughs Wellcome festgelegten Anwendungsformen (feste<br />

orale Form mit 400mg Sulfamethoxazol plus 80mg Trimethoprim<br />

sowie Suspensionssirup mit gleichem Dosisverhältnis) nach den<br />

bereits früher festgelegten Plänen durchzuführen und möglichst<br />

rasch voranzutreiben. Vorläufig arbeitete man mit Tabletten,<br />

doch wollte man noch abklären, ob stattdessen Steckkapseln oder<br />

kapselförmige Pressl<strong>in</strong>ge als Handelsform zu prüfen seien. 80<br />

Im Laufe des Jahres 1968 wurden <strong>in</strong> verschiedenen Krankenhäusern<br />

zahlreiche kl<strong>in</strong>ische Studien mit der Komb<strong>in</strong>ation durchgeführt,<br />

deren Resultate <strong>in</strong>sgesamt bemerkenswert erfreulich<br />

ausfielen. Der Internist Paul Schnaars vom Zürcher Stadtspital<br />

Waid beseitigte bei sechs von sieben Patienten mit chronischen<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fektionen nach zehn Tagen die Symptome. 81 Im April<br />

1968 folgten ermutigende Resultate aus Innsbruck, Marseille,<br />

Glasgow, Wien, Wülfrath, Interlaken und Belp. Die kl<strong>in</strong>ische Prüfung<br />

erfolgte <strong>in</strong> den von <strong>Roche</strong> direkt bedienten «Basler Ländern»<br />

mit den so genannten «Drapsules» (e<strong>in</strong>e länglich geformte, von<br />

<strong>Roche</strong> entwickelte Lacktablette); lediglich <strong>Roche</strong> London behielt<br />

wegen drohendem Zeitverlust die Tabletten bei. E<strong>in</strong>e brauchbare<br />

Sirupform lag noch nicht vor, und die Muster von Burroughs<br />

Wellcome erwiesen sich als geschmacklich vollkommen ungeeignet.<br />

Dr<strong>in</strong>gend erwünscht waren die bei Wellcome seit langem<br />

bestellten Disks, da vor allem <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> die Prüfer diese<br />

Testplättchen zum Bakteriennachweis verlangten. Im April 1968<br />

entschied sich Burroughs Wellcome für die Markenbezeichnung<br />

«Septr<strong>in</strong>». 82<br />

«Bactrim» – e<strong>in</strong> gelungener Markenname<br />

Anfang 1968 wurde bei <strong>Roche</strong> im Rahmen e<strong>in</strong>es «Überblicks über<br />

die Therapie mit antimikrobiellen Wirkstoffen» der Komb<strong>in</strong>ation<br />

79 VI/Kl<strong>in</strong>. 16/67, 14.12.1967. HAR FE.0.3 -<br />

103534 a.<br />

80 VI/Kl<strong>in</strong>. 2/68, 18.1.1968, S. 1. HAR FE.0.3 -<br />

103534 b.<br />

81 Ibid.<br />

82 VI/Kl<strong>in</strong>. 8/68, 25.4.1968, S. 1-7. HAR FE.0.3 -<br />

103534 b.<br />

110 111


Sulfamethoxazol/Trimethoprim erstmals statistisch die Art und<br />

Häufigkeit der Erreger aufgezeigt. 83<br />

Im Frühjahr 1968 stellte die Projektgruppe «Antibakterielle<br />

Stoffe» lapidar fest: «Komb<strong>in</strong>ation Gantanol (Sulfamethoxazol)<br />

und Trimethoprim im Verhältnis 5:1 lieferte<br />

bisher erwartungsgemäss befriedigende Resultate. Die<br />

bakteriologische Diagnostik und die Resistenzprüfung<br />

wurden bei Frl. Dr. Böhni durchgeführt.» 84 Dies bedeutete<br />

den Durchbruch und die eigentliche Geburt e<strong>in</strong>es<br />

der wirksamsten Heilmittel für die Menschheit.<br />

Im Mai 1968 verfügte <strong>Roche</strong> über <strong>in</strong>sgesamt 640 auswertbare Fälle<br />

mit e<strong>in</strong>er Erfolgsquote von 68%. Vor allem Harnwegs<strong>in</strong>fekte,<br />

chronische Atemwegs<strong>in</strong>fekte, Tripper (Gonorrhoe) und unspezifische<br />

Harnröhrenentzündungen konnten zuverlässig geheilt<br />

oder gebessert werden. Die Häufigkeit der Nebenwirkungen lag<br />

bei 4,3%, wobei es dabei vor allem um Reaktionen der Haut<br />

und des Blutbildes g<strong>in</strong>g: «Wenn man sich vergegenwärtigt, dass<br />

das Krankengut grösstenteils aus Sulfonamid-resistenten Fällen<br />

bestand und die Prüfung nach sehr strengen Kriterien erfolgte, so<br />

dürften die erreichten Erfolgsquoten dah<strong>in</strong>gehend <strong>in</strong>terpretiert<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Bactrim Tabletten 200/40mg<br />

und Bactrim forte Drapsules<br />

800/160mg<br />

werden, dass die Potenzierung von Sulfamethoxazol durch Trimethoprim<br />

sich auch kl<strong>in</strong>isch e<strong>in</strong>deutig herausstellt.» 85<br />

Die Prüfung der Komb<strong>in</strong>ation sollte <strong>in</strong> der nun def<strong>in</strong>itiv festgelegten<br />

galenischen Form der Drapsules mit 400mg Gantanol<br />

und 80mg Trimethoprim möglichst breit und speditiv fortgeführt<br />

werden; nur so waren die erforderlichen Unterlagen für Registrierung<br />

und E<strong>in</strong>führung rechtzeitig zu beschaffen. Vor allem<br />

<strong>in</strong> Grossbritannien und Neuseeland drängte die Zeit, da man<br />

<strong>in</strong> Basel parallel zu Wellcome liefern wollte, sobald die Bewilligungen<br />

der Gesundheitsbehörden vorlagen. Die übrigen Länder<br />

sollten ab Herbst 1969 folgen. Tatsächlich erhielt das Projekt<br />

nun beträchtlichen unternehmerischen Schub. Ergänzend zu den<br />

bisherigen Indikationen wollte das Forschungsmanagement die<br />

Wirkung auf folgende Infektionen kl<strong>in</strong>isch geprüft und belegt<br />

haben: Streptococcus haemolyticus bei Ang<strong>in</strong>a (Tonsillitis), resistente<br />

Staphylococcen als Erreger von Krankenhaus<strong>in</strong>fektionen<br />

(Hospitalismus), grampositive Coccen, bakterielle Infektionen<br />

Neisseria gonorrhoeae, Aquarell<br />

von Raoul Z<strong>in</strong>gg nach e<strong>in</strong>em von<br />

ihm selbst hergestellten Präparat<br />

83 Projektgruppe Antibiotica, 8.5.1968, S. 2. HAR<br />

FE.0.3 - 103534 b.<br />

84 «Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 3,<br />

7.5.1968, S. 7. HAR FE.0.3 - 103534 b.<br />

85 VI/Kl<strong>in</strong>. 9/68, 13.-16.5.1968, S. 11. HAR FE.0.3<br />

- 103534 b.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

112 113


des Darmkanals wie Typhus, Paratyphus, Ruhr, Salmonellosen,<br />

Cholera, bakterielle Haut<strong>in</strong>fektionen (Dermatologie, Chirurgie)<br />

oder Malaria (akuter Anfall). Ausserdem seien die Daten des<br />

Organismuse<strong>in</strong>flusses auf den Arzneistoff (Pharmakok<strong>in</strong>etik)<br />

durch entsprechende Untersuchungen mit der Komb<strong>in</strong>ation zu<br />

vervollständigen. Schliesslich sollten im H<strong>in</strong>blick auf die E<strong>in</strong>führung<br />

genügend Publikationen vorbereitet werden. 86<br />

Am 30. Mai 1968 wurde festgehalten, dass die kl<strong>in</strong>ischen<br />

Studien von Sulfamethoxazol/Trimethoprim zur Behandlung<br />

von Atemwegs- und Lungen<strong>in</strong>fekten fortschritten. Die Komb<strong>in</strong>ation<br />

trug nunmehr den Firmenbegriff Ro 6-2580. Vergleichende<br />

Studien zur Wirksamkeit der Sulfonamidkomb<strong>in</strong>ation mit<br />

Antibiotika seien geplant. 87 Mitte Juni 1968 stand fest, dass der<br />

Markenname von <strong>Roche</strong> für die Komb<strong>in</strong>ation Sulfamethoxazol/<br />

Trimethoprim «Bactrim» lauten sollte. Wer die Idee zu dieser<br />

Bezeichnung hatte, ist leider nicht mehr zu ermitteln.<br />

Fest steht, dass mit dem Markennamen «Bactrim» e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong> allen Sprachen e<strong>in</strong>gängige, geschickte Bezeichnung<br />

gefunden worden war, die für jedermann verständlich<br />

aussagte, wozu das Medikament dienen sollte<br />

– dem Kampf gegen krankmachende Bakterien.<br />

86 Ibid, S. 12.<br />

87 Project Group «Antibacterials», Research<br />

Steer<strong>in</strong>g Committee, Dept. VI, 30.5.1968. HAR<br />

FE.0.3 - 103534 b.<br />

88 VI/Kl<strong>in</strong>. 10/68, 13.6.1968, S. 6. HAR FE.0.3 –<br />

103534 b.<br />

89 Ibid, S. 5-6.<br />

90 VI/Kl<strong>in</strong>.14/68, 5.9.1968. HAR FE.0.3 – 103534<br />

Burroughs Wellcome operierte zu jenem Zeitpunkt sowohl <strong>in</strong><br />

England wie auf dem europäischen Kont<strong>in</strong>ent bereits mit ihrem<br />

Markennamen «Septr<strong>in</strong>» beziehungsweise «Eusaprim»; der Begriff<br />

«Septr<strong>in</strong>» sollte die blutvergiftende, also septische Wirkung der<br />

Keime ansprechen und war zweifellos vom Werbeeffekt her gesehen<br />

dem Namen «Bactrim» unterlegen. Umso mehr drängte die<br />

kommerzielle Abteilung von <strong>Roche</strong> auf e<strong>in</strong>e möglichst baldige<br />

Verwendung der eigenen Marke <strong>in</strong> Veröffentlichungen, doch<br />

konnte diese laut Auskunft der Rechtsabteilung zur Zeit noch<br />

nicht freigegeben werden. 88 Weiterh<strong>in</strong> erfreulich lauteten die<br />

zunehmend e<strong>in</strong>treffenden Berichte über die kl<strong>in</strong>ischen Anwendungen<br />

des Medikaments, etwa von der Bernischen Heilstätte<br />

Heiligenschwendi, aus Lautergrund/<strong>Deutschland</strong>, Montevideo<br />

oder L<strong>in</strong>z. 89 Besonders günstige Resultate erzielten die Ärzte <strong>in</strong><br />

Chile beim dort noch immer verbreiteten Bauchtyphus (Typhus<br />

abdom<strong>in</strong>alis). Behandelt wurden 15 K<strong>in</strong>der zwischen e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

und 13 Jahren. Bei sämtlichen Patienten trat e<strong>in</strong>e deutliche Besserung<br />

e<strong>in</strong>: «Dieses Resultat ersche<strong>in</strong>t sehr günstig», konstatierte<br />

man <strong>in</strong> Basel erleichtert. Um fortzufahren: «Verträglichkeit war<br />

ausgezeichnet.» 90<br />

Sirup, K<strong>in</strong>derdragées, Gelat<strong>in</strong>ekapseln,<br />

Injektionen<br />

Ende Juni 1968 hatten die Galeniker bei <strong>Roche</strong> e<strong>in</strong>e Sirup-Formel<br />

ausgearbeitet, bei der das Problem des schlechten Geschmacks<br />

durch Verwendung e<strong>in</strong>es Adsorbates von Tonm<strong>in</strong>eralien (Bentonit<br />

beziehungsweise Veegum) überwunden wurde. Bevor der<br />

Sirup an die allgeme<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>ische Prüfung abgegeben werden<br />

konnte, musste die Freigabe der Wirkstoffe aus dem Adsorbat<br />

im Magen-Darm-Trakt mittels Blutspiegeluntersuchung geprüft<br />

werden. Erneut wies die Forschungsleitung auf die Dr<strong>in</strong>glichkeit<br />

der Beschaffung ausreichender Unterlagen über die Pharmako-<br />

Streptococcus, Aquarell von<br />

Raoul Z<strong>in</strong>gg nach e<strong>in</strong>em von ihm<br />

selbst hergestellten Präparat<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

114 115


Ärztefaltblatt für Bactrim Sirup,<br />

speziell für die Pädiatrie, 1970<br />

e<strong>in</strong>en Erfolg für Wellcome. Anfang Oktober 1968 berichtete man<br />

über die Weiterarbeit an den galenischen Formen, nämlich an<br />

granulierten Gelat<strong>in</strong>esteckkapseln. Das Füllgewicht pro Kapsel<br />

betrug 520mg; sie wurden mit e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e von Höfliger &<br />

Karg hergestellt. 96 Das gleiche Wirkstoffgranulat unter Zusatz<br />

von Gleitmitteln und e<strong>in</strong>es Milchzuckergranulats konnte auch auf<br />

der Parke-Davis-Masch<strong>in</strong>e 97 mit schnellster Abfüllgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

<strong>in</strong> Gelat<strong>in</strong>ekapseln der Grösse 0 und e<strong>in</strong>em Füllgewicht pro<br />

Kapsel von 565mg gewonnen werden. Beide Produktionsarten<br />

befanden sich seit Sommer 1968 <strong>in</strong> Stabilitätstesten. Im Laufe<br />

des Monats November trafen die Orig<strong>in</strong>alkapseln <strong>in</strong> sattgelbdunkelgrauer<br />

Farbe e<strong>in</strong>, und man klärte die Abfüllbarkeit auf der<br />

Zanasi-Kapselabfüllmasch<strong>in</strong>e 98 ab.<br />

Injektionslösungen des Heilmittels boten wegen schlechter<br />

und h<strong>in</strong>sichtlich Lösungs-pH sich widersprechender Löslichkeit<br />

gewisse Schwierigkeiten. Auch musste die Injektionsvari-<br />

Masch<strong>in</strong>en zur Befüllung von<br />

Hartgelat<strong>in</strong>ekapseln, Zanasi<br />

Z25R<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

b.<br />

91 VI/Kl<strong>in</strong>. 11/68, 27.6.1968. HAR FE.0.3 - 103534<br />

b.<br />

92 VI/Gal., 7.8.1968. HAR FE.0.3 –103534 b.<br />

93 1963 nach dem Contergan-Skandal<br />

gegründetes Committee on Safety of<br />

Drugs (CSD) unter dem Vorsitz von Sir<br />

Patrick Dunlop, 1970 Comittee on Safety on<br />

Medic<strong>in</strong>es, seit 2005 Commission on Human<br />

Medic<strong>in</strong>es.<br />

94 VI/Kl<strong>in</strong>. 12/68, 8.8.1968, S. 13. HAR FE.0.3 -<br />

103534 b.<br />

95 VI/Kle<strong>in</strong>. 16/68, 3.10.1968, S. 14. HAR FE.0.3 -<br />

103534 b.<br />

96 1948 gegründetes Unternehmen <strong>in</strong><br />

Waibl<strong>in</strong>gen, das Verpackungsmasch<strong>in</strong>en<br />

für trockene pharmazeutische Produkte<br />

herstellte und 1970 von der Bosch-Gruppe<br />

übernommen wurde.<br />

97 1866/67 <strong>in</strong> Detroit gegründete, ehemals<br />

grösste pharmazeutische Fabrik der USA,<br />

heute Teil der Firma Pfizer.<br />

98 Nach dem Verpackungsunternehmen Zanasi<br />

k<strong>in</strong>etik der Komb<strong>in</strong>ation Sulfamethoxazol/Trimethoprim beim<br />

Menschen h<strong>in</strong>. 91<br />

Im August 1968 lagen die Muster e<strong>in</strong>er neuen pädiatrischen<br />

Form vor. Die Dragées enthielten nur e<strong>in</strong> Viertel der Wirkstoffmenge<br />

(100 Milligramm Sulfamethoxazol, 20 Milligramm<br />

Trimethoprim) und waren entsprechend kle<strong>in</strong>er. 92 Im selben<br />

Monat traf auch der positive Entscheid der britischen Zulassungsbehörde<br />

(Dunlop Committee 93 ) für die Zulassung von Gantanol/<br />

Trimethoprim als pharmazeutische Spezialität e<strong>in</strong>. Somit konnten<br />

Burroughs Wellcome und <strong>Roche</strong> die Komb<strong>in</strong>ation im Oktober<br />

1968 geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> Grossbritannien e<strong>in</strong>führen. 94<br />

<strong>Roche</strong> e<strong>in</strong>igte sich mit der britischen Partnerfirma, für die<br />

Komb<strong>in</strong>ation Sulfamethoxazol/Trimethoprim bei Publikationen<br />

die Abkürzung TMP 1 / SM 5 zu verwenden. 95 Dieser Entscheid,<br />

so musste man sich <strong>in</strong> Basel mit e<strong>in</strong>iger Unzufriedenheit e<strong>in</strong>gestehen,<br />

bedeutete wegen der Erstnennung von Trimethoprim<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

116 117


Fratelli S.r.L. <strong>in</strong> Sassuolo (Modena/Italien).<br />

99 VI/Gal., 9.10.1968, S. 5. HAR FE.0.3 - 103534<br />

b.<br />

100 VI/Kl<strong>in</strong>. 18/68, 14.11.1968, S. 1. HAR FE.0.3 -<br />

ante bezüglich Reizwirkung sowie Mischbarkeit mit Blut und<br />

Toxizität untersucht werden. Nach Abschluss dieser Arbeiten<br />

sollte die Forschungsabteilung entscheiden, ob Interesse an der<br />

Weiterbearbeitung dieser Lösung bestehe. Die E<strong>in</strong>nahme von<br />

Bactrim mittels Suspensionssirup und dessen Resorbierbarkeit<br />

mit Veegum-Adsorbat war noch nicht untersucht worden. Auch<br />

für die Zäpfchenform (Suppositorien) bestand Interesse, obwohl<br />

sich vorerst die rektale Absorption der Gantanol-Substanz als<br />

ungenügend erwies, was die Prüfung mit verschiedenen Zäpfchengrundlagen<br />

erforderte. 99<br />

Therapieerfolg von 77 Prozent<br />

Mitte November 1968 ergaben die Besprechungen, dass<br />

Burroughs Wellcome die E<strong>in</strong>führung von Sulfamethoxazol/<br />

Trimethoprim auf dem europäischen Kont<strong>in</strong>ent raschmöglichst<br />

vornehmen wolle. <strong>Roche</strong> dagegen verfolgte e<strong>in</strong>e eher<br />

abwartende Haltung, weil sie für die Registrierung <strong>in</strong> andern<br />

Ländern mehr Unterlagen, <strong>in</strong>sbesondere über die Toxizität,<br />

die blutschädigende Wirkung, den Wirkungsvergleich mit<br />

andern Antibiotika etc. für erforderlich hielt als jene, die man<br />

dem britischen Dunlop Committee vorgelegt hatte. Wegen<br />

den entschieden geäusserten Absichten von Burroughs Wellcome<br />

fühlte sich <strong>Roche</strong> aber gezwungen, Bactrim wenigstens<br />

<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> möglichst ohne Zeitverzug e<strong>in</strong>zuführen. In<br />

Anbetracht der guten Korrelation zwischen Experiment und<br />

kl<strong>in</strong>ischer Wirkung und e<strong>in</strong>iger Fälle, bei denen Patienten über<br />

zwei Jahre ohne bedeutsame toxische Wirkung dauerbehandelt<br />

worden waren, sah <strong>Roche</strong> schliesslich für die Vorverlegung<br />

der E<strong>in</strong>führung ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>dernisse mehr. Alle <strong>in</strong> Vorbereitung<br />

bef<strong>in</strong>dlichen Arbeiten zu Ro 6-2580 sollten nun so schnell wie<br />

möglich zur Publikation gebracht werden. 100<br />

E<strong>in</strong>e gewisse Sorge h<strong>in</strong>sichtlich negativer genetischer Auswirkungen<br />

blieb allerd<strong>in</strong>gs vorderhand noch bestehen. Die Forschungsverantwortlichen<br />

verlangten Untersuchungen über die<br />

Bee<strong>in</strong>flussung der Chromosomen. Als unverzichtbar hielt man<br />

auch Forschungen an menschlichen B<strong>in</strong>degewebszellen (Fibroblasten).<br />

Die Komponente Trimethoprim – so wurde nämlich<br />

festgestellt – erzeugte <strong>in</strong> 15-facher therapeutischer Dosis am<br />

Tier Missbildungen. 101 Dr. Staiger von den <strong>Roche</strong>-Laboratorien<br />

untersuchte zum Teil <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Werner Schmid<br />

vom genetischen Labor am K<strong>in</strong>derspital Zürich, wie die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Komponenten von Bactrim die Chromosomen ausserhalb<br />

des Organismus (<strong>in</strong> vitro, d.h. im Reagenzglas) und im lebenden<br />

Organismus (<strong>in</strong> vivo) bee<strong>in</strong>flussten. 102<br />

Ende November 1968 lagen der Fachgruppe «Chemotherapie»<br />

die Ergebnisse mit Tabletten und Drapsulen von 61 durch<br />

<strong>Roche</strong> betreute Prüfer aus 15 Ländern vor. Das Total der auswertbaren<br />

Fälle wies <strong>in</strong> Bezug auf die therapeutische Wirkung<br />

834, h<strong>in</strong>sichtlich der Verträglichkeit 918 Patienten aus. Die<br />

Dosierung betrug meist zweimal e<strong>in</strong>e oder zweimal zwei, ausnahmsweise<br />

zweimal drei Drapsulen beziehungsweise Tabletten<br />

pro Tag. Die Behandlungsdauer erstreckte sich <strong>in</strong> der Regel über<br />

fünf bis zehn Tage, konnte sich aber auch auf bis zu 50 Tage<br />

ausweiten. In 642 der 834 therapeutisch auswertbaren Fälle ergab<br />

sich e<strong>in</strong> guter Erfolg oder doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Teilerfolg. Dies<br />

entsprach e<strong>in</strong>er globalen Erfolgsquote von 77%. Zu etwa derselben<br />

durchschnittlichen Erfolgsquote von 78% gelangte auch<br />

Burroughs Wellcome mit e<strong>in</strong>er sich über 893 Patienten erstreckenden<br />

Datenbasis. Den Hauptanteil der behandelten Fälle<br />

stellten die Infekte der Harn- und der Atemwege dar. Ferner<br />

fanden sich, besonders bei Wellcome, e<strong>in</strong>e erhebliche Zahl von<br />

Urogenital<strong>in</strong>fektionen. Zudem waren wesentlich kle<strong>in</strong>ere, nicht<br />

repräsentative Zahlen bei Infekten anderer Organe im Bereich<br />

Ohren-Nase-Hals, Scharlach, Darm<strong>in</strong>fekte <strong>in</strong>klusive Typhus,<br />

Haut<strong>in</strong>fekte, eitrige Hirnhautentzündung und Gonorrhoe<br />

vertreten. Vergleichende Prüfungen gegenüber den gebräuchlichen<br />

Antibiotika waren <strong>in</strong> mehreren Ländern im Gange. Die<br />

Nebenwirkungen präsentierten sich bei den 918 auswertbaren<br />

Fällen von <strong>Roche</strong> wie folgt: 3,38% Beschwerden im Magen-<br />

Darm-Kanal, 2,07% Hautreaktionen, 0,22% sonstige allergische<br />

Symptome, 0,98% hämatologische Reaktionen, 0,33% andere<br />

Nebenwirkungen. Bei Wellcome berichtete man von ke<strong>in</strong>erlei<br />

Beschwerden hämatologischer Art, wobei dort allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e<br />

regelmässigen Blutbilduntersuchungen durchgeführt worden<br />

waren; die Hautreaktionen von 1% erwiesen sich als durchwegs<br />

leichter Natur.<br />

Angesichts des Drängens von Wellcome entschloss sich Basel,<br />

die E<strong>in</strong>führung von Bactrim <strong>in</strong> der Schweiz und <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

bereits im Frühjahr 1969 vorzusehen. Immer wieder wurden die<br />

Laboratorien aufgefordert, für die noch nicht belegten zusätzlichen<br />

Krankheits<strong>in</strong>dikationen so rasch wie möglich Unterlagen<br />

beizubr<strong>in</strong>gen, desgleichen ergänzende Untersuchungen über<br />

die Pharmakok<strong>in</strong>etik und den Stoffwechsel. Der vorgesehene<br />

Bactrim-Sirup auf der Basis e<strong>in</strong>es Veegum-Adsorbates erforderte<br />

vorgängig e<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>ische Prüfung mittels Blutspiegelkontrollen 103534 b.<br />

118 119


101 VI/Med., 4.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.<br />

102 VI/Med., 18.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.<br />

103 VI/Kl<strong>in</strong>. 19/68, 2.-6.12.1968, S. 1-2. HAR<br />

FE.0.3 - 103534 b.<br />

104 VI/Gal., 11.12.1968, S. 9. HAR FE.0.3 - 103534<br />

b.<br />

105 Breitbandantibiotikum, das erstmals 1947 aus<br />

Streptomyces venezuelae gewonnen wurde.<br />

106 Breitbandantibiotikum, von Streptomyces<br />

aureofaciens produziert, 1948 beschrieben,<br />

1955 patentiert.<br />

107 VI/Kl<strong>in</strong>. 20/68, 19.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 -<br />

103534 b.<br />

108 Oxoid D.S.T. agar base, Hersteller und<br />

Vertriebsspezialist von mikrobiologischen<br />

Nährmedien und andern diagnostischen<br />

Produkten <strong>in</strong> London, heute Teil von Thermo<br />

Fisher Scientific.<br />

109 Fortschrittsbericht der Projektgruppe<br />

«Antibakterielle Stoffe», Rapport No. 37’765,<br />

18.12.1968, S. 1 und 2. HAR FE.0.3 - 103534<br />

b.<br />

110 M<strong>in</strong>utes No 4, Research Steer<strong>in</strong>g Committee,<br />

Department VI, 30.1.1969. HAR FE.0.3 -<br />

103534 f.<br />

111 London, W. R.: Cost-effectiveness and<br />

<strong>in</strong>formation retrieval <strong>in</strong> the <strong>in</strong>dustry,<br />

23.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

112 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht für das Jahr 1968. In:<br />

der Wirkstofffreigabe im Gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>altrakt. 103 Der Suspensionssirup<br />

von Wellcome wurde nicht an Veegum adsorbiert,<br />

sondern frei suspendiert. Zwar war auch das <strong>Roche</strong>-Präparat von<br />

e<strong>in</strong>er gewissen Bitterkeit. Doch konnte man <strong>in</strong> Basel befriedigt<br />

feststellen: «Demgegenüber s<strong>in</strong>d die Septr<strong>in</strong>-Suspensionen von<br />

Burroughs Wellcome unvergleichlich bitterer.» 104<br />

Vergleichbar mit herkömmlichen Antibiotika<br />

Die Konzernleitung war sich klar bewusst: Wenn <strong>Roche</strong> für e<strong>in</strong>ige<br />

wichtige Indikationen auf objektiver Grundlage fussende Belege<br />

dafür beibr<strong>in</strong>gen konnte, dass Bactrim <strong>in</strong> der therapeutischen<br />

Wirkung den bewährten Antibiotika wenigstens gleichwertig sei,<br />

würde dies dem Präparat e<strong>in</strong> enormes kommerzielles Potenzial<br />

verschaffen: «Weitere Vergleiche gegenüber Standard-Antibiotika<br />

s<strong>in</strong>d deshalb dr<strong>in</strong>gend erwünscht. Sie sollten vorzugsweise als<br />

Doppelbl<strong>in</strong>dversuche durchgeführt werden.» Diese Versuche<br />

erwiesen sich wegen der ungleichen Dosierungs<strong>in</strong>tervalle zwischen<br />

Prüfungs- und Standardpräparaten als äusserst anspruchsvoll.<br />

Als Vergleichspräparate kamen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Chloramphenicol<br />

105 (wirksam gegen Typhus, Cholera, Harnwegs<strong>in</strong>fekte) sowie<br />

Tetracycl<strong>in</strong> 106 (wirksam gegen Atemwegs- und Harnwegs<strong>in</strong>fekte)<br />

<strong>in</strong> Frage. 107<br />

Es war vorgesehen, bakteriologische Untersuchungen im<br />

Rahmen der kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen noch bis zur E<strong>in</strong>führung<br />

vorzunehmen und nachher nur noch beratende Funktionen für<br />

die Kl<strong>in</strong>iken und wissenschaftlichen Institute auszuüben. Die<br />

Propagierung des Disktests sollte weitgehend der erfahrungsreichen<br />

Firma Oxoid 108 anvertraut werden, die bereits zu diesem<br />

Zeitpunkt e<strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ationsdisk <strong>in</strong> ihr Sortiment aufnahm. Für<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gehenderes Studium der Pharmakok<strong>in</strong>etik wurden neue<br />

Methoden ausgearbeitet. Auf dem veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>ischen Sektor<br />

wurde das Komb<strong>in</strong>ationspräparat von Wellcome für die Verwendung<br />

bei Hunden und Katzen mit dem Ziel kl<strong>in</strong>isch geprüft, die<br />

Humanspezialität für diese Kle<strong>in</strong>tiere <strong>in</strong> England zu empfehlen.<br />

Publikationen dazu waren 1969 zu erwarten. <strong>Roche</strong> nahm zu<br />

diesen Prüfungen e<strong>in</strong>e abwartende Haltung e<strong>in</strong>, konnte aber bei<br />

Bedarf auf den Wellcome-Untersuchungen aufbauen. 109<br />

Im Oktober 1968 gelangte das Komb<strong>in</strong>ationspräparat aus<br />

Sulfamethoxazol und Trimethoprim unter den Markennamen<br />

Septr<strong>in</strong> (Wellcome) und Bactrim (<strong>Roche</strong>) gleichzeitig auf den<br />

britischen Markt. 110 Die Wellcome Foundation <strong>in</strong> London gründete<br />

damals – was <strong>in</strong> Basel bewundernd und etwas neidisch ver-<br />

folgt wurde – e<strong>in</strong> Cl<strong>in</strong>ical Information Department (CID). Dies<br />

geschah mit der Begründung, dass das weltweite Interesse an<br />

diesem neuen antibakteriellen Komb<strong>in</strong>ationspräparat so gross<br />

sei, dass die Firma die Publikationen professioneller verfolgen<br />

und begleiten wolle. 111 <strong>Roche</strong> reichte die Registrierungsvorlage für<br />

Bactrim dem Deutschen Bundesgesundheitsamt Mitte Dezember<br />

1968 e<strong>in</strong>. Dabei wurde das Indikationsspektrum auch auf leichtere<br />

und akute Infektionen ausgedehnt und die kl<strong>in</strong>ische Prüfung<br />

<strong>in</strong> dieser Richtung weltweit <strong>in</strong>tensiviert. Die Basler hofften, für<br />

diesen erweiterten Indikationsbereich im Jahre 1969 genügend<br />

Unterlagen zur Verfügung zu haben, um dafür <strong>in</strong> den meisten<br />

Ländern e<strong>in</strong>e Genehmigung zu erhalten. Verschiedene Publikationen<br />

über die vielen experimentellen Befunde <strong>in</strong> vitro und <strong>in</strong> vivo<br />

waren <strong>in</strong> Vorbereitung. <strong>Roche</strong> legte besonderes Gewicht auf den<br />

E<strong>in</strong>fluss von Sulfamethoxazol <strong>in</strong> der Komb<strong>in</strong>ation, da Wellcome<br />

– wie man am Rhe<strong>in</strong>knie verdrossen feststellte – ausschliesslich<br />

denjenigen von Trimethoprim betonte.<br />

Der <strong>Roche</strong>-Geschäftsbericht für das Jahr 1968 konnte Kunden<br />

und Mitarbeiter erstmals über e<strong>in</strong>e «neuartige Konzeption»<br />

orientieren, nämlich die «Komb<strong>in</strong>ation e<strong>in</strong>es unserer bewährten<br />

Sulfonamide mit dem Pyrimid<strong>in</strong>-Derivat Trimethoprim». Das<br />

neue Medikament unter der Marke «Bactrim» werde der Ärzteschaft<br />

gegenwärtig zur Verfügung gestellt. Die Indikationen hätten<br />

sich zunächst auf schwere Infektionen der Harn- und Atemwege<br />

beschränkt, bis viel versprechende H<strong>in</strong>weise auf den therapeutischen<br />

Wert auch bei anderen Infektionen e<strong>in</strong>getroffen seien. 112<br />

Tatsächlich zeigte sich das Wirkungsspektrum von Bactrim<br />

<strong>in</strong> den Kl<strong>in</strong>iken ähnlich breit wie zuvor <strong>in</strong> den Laborversuchen.<br />

Bei den oberen und unteren Atemwegen heilte oder<br />

besserte das Präparat Krankheiten wie Ang<strong>in</strong>a, Entzündungen<br />

der Nasennebenhöhle, der Rachenschleimhaut,<br />

der Luftröhre oder der Lunge. Im Magen-Darm-Trakt<br />

zeigten sich vorzügliche Resultate bei Darmentzündung,<br />

Typhus und Paratyphus, im Urogenitaltrakt bei Blasen-,<br />

Nieren- und Nierenbeckentzündung sowie bei der<br />

Geschlechtskrankheit Gonorrhoe. Erfreulich präsentierte<br />

120 121


sich die Wirkung von Bactrim auch bei bakteriellen<br />

Erkrankungen der Haut und der Weichteile, etwa bei<br />

Eiterausschlägen (Pyodermien) der Haut, bei Furunkeln,<br />

Abszessen und überhaupt bei Wund<strong>in</strong>fektionen. 113<br />

Diplococcus pneumoniae,<br />

Escherichia coli, Neisseria<br />

<strong>in</strong>tracellularis, Proteus vulgaris.<br />

Aquarelle von Raoul Z<strong>in</strong>gg, nach<br />

von ihm selbst hergestellten<br />

Präparaten<br />

Fieberhafte Publikationstätigkeit<br />

im Jahre 1969<br />

Das ganze Jahr 1969 war die Basler Forschungsabteilung stark<br />

mit der Bereitstellung von umfangreichen Unterlagen zur E<strong>in</strong>führung<br />

von Bactrim beschäftigt. 114 Daneben liefen <strong>in</strong>tensive<br />

Auswertungsarbeiten, Koord<strong>in</strong>ationssitzungen, Tagungen und<br />

Kongresse. Regelmässig trafen weiterh<strong>in</strong> Berichte von Ärzten aus<br />

aller Welt über Behandlungsresultate mit Bactrim e<strong>in</strong>. Am 18.<br />

Februar 1969 orientierte Erika Böhni an e<strong>in</strong>em Treffen mit den<br />

Verantwortlichen von Wellcome über die E<strong>in</strong>führungsarbeiten<br />

von Bactrim. Dabei kam es zu Spannungen über die Beurteilung<br />

der beiden Komponenten. In London wurde bemängelt,<br />

dass <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>führungsunterlagen für <strong>Deutschland</strong> das<br />

bakterizide Trimethoprim nur als Potentiator des Sulfonamids<br />

Gantanol (Sulfamethoxazol) h<strong>in</strong>stelle; dabei sei doch Trimethoprim<br />

die wichtigste Komponente der Komb<strong>in</strong>ation. Die Vertreter<br />

von Basel stellten demgegenüber klar, dass die Experimente<br />

sowie die kl<strong>in</strong>ischen Resultate e<strong>in</strong>deutig dafür sprächen, dass<br />

beiden Komponenten e<strong>in</strong> gleiches Gewicht zukomme. Zudem<br />

sei Trimethoprim als e<strong>in</strong>zelner Wirkstoff jahrelang zu hoch<br />

dosiert angewandt worden, habe sich als toxisch erwiesen und<br />

sei darum bei der Ärzteschaft auf Ablehnung gestossen. 115 In der<br />

Folge forschte <strong>Roche</strong> mit e<strong>in</strong>er gewissen Hektik an den Strukturen<br />

der Metaboliten von Trimethoprim, die vertraulich schon an<br />

mehrere auswärtige Mitarbeiter herausgegeben worden waren. 116<br />

E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Symposium von Burroughs Wellcome und<br />

<strong>Roche</strong> <strong>in</strong> England vom 31. März 1969 zeigte, dass Basel bei den<br />

vorgelegten Publikationen e<strong>in</strong> Defizit aufwies; so konnte <strong>Roche</strong><br />

nur zwei experimentelle und sechs kl<strong>in</strong>ische Arbeiten vorstellen,<br />

während Wellcome über zwei experimentelle und neun kl<strong>in</strong>ische<br />

Arbeiten verfügte. 117 Überdies mussten die <strong>Roche</strong>-Vertreter zu<br />

ihrem Ärger zur Kenntnis nehmen, dass die Partnerfima nicht<br />

davor zurückschreckte, «auch die unterschiedlichen galenischen<br />

Formen zu ihren Gunsten auszuschlachten». 118 Es wurde nämlich<br />

versucht, nachzuweisen, dass bei der E<strong>in</strong>nahme von Drapsulen<br />

gegenüber derjenigen von Tabletten niedrigere, etwas verspätete<br />

<strong>Roche</strong> Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-<br />

Zeitung 2/1969, o. S. [4f].<br />

113 «Bactrim» <strong>Roche</strong> [1969], S. 25.<br />

114 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht für das Jahr 1969, <strong>in</strong>: <strong>Roche</strong><br />

Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-Zeitung<br />

3/1970, o. S. [5].<br />

115 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»<br />

Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 f.<br />

116 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»<br />

Nr. 3/69, 25.3.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 f.<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

122 123


Werbeanzeige aus der Ärztezeitschrift<br />

«Image <strong>Roche</strong>» für<br />

Gantanol <strong>Roche</strong> (Wirkstoff<br />

Sulfamethoxazol). Das Bild zeigt<br />

e<strong>in</strong>e Kristallisationsaufnahme<br />

e<strong>in</strong>er Suspension von Proteus<br />

vulgaris <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lösung von<br />

Gantanol, 1969<br />

gleiche schwache beziehungsweise fehlende fungizide Wirkung<br />

aufwies. 120<br />

1969 stellte <strong>Roche</strong> die nachfolgenden galenischen Formen<br />

für Bactrim bereit: Suspensionssirup, <strong>in</strong>sbesondere für K<strong>in</strong>der,<br />

mit 200mg Sulfamethoxazol und 40mg Trimethoprim pro 5ml;<br />

Injektionslösung mit empfohlener Dosis von 400mg Sulfamethoxazol<br />

und 80mg Trimethoprim pro 5ml; Suppositorien zu<br />

400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim; Lacktabletten<br />

(Drapsules) aus 400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim.<br />

121 Aufgrund der Produktionskapazitäten und Fabrikationsmöglichkeiten<br />

g<strong>in</strong>g man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern von den Drapsule<br />

genannten, lackierten Tabletten auf die runden, zuckerglasierten<br />

Dragées als Handelsform über, etwa <strong>in</strong> der Schweiz und <strong>in</strong> den<br />

Benelux-Ländern sowie <strong>in</strong> den late<strong>in</strong>amerikanischen Ländern,<br />

Spanien und der Türkei. Drapsules wurden h<strong>in</strong>gegen für Grossbritannien,<br />

<strong>Deutschland</strong>, Frankreich, Österreich, Australien und<br />

Fernost beibehalten. 122<br />

Mit «Optimismus» und «nötiger Agressivität»<br />

Am 9. Mai 1969 fand e<strong>in</strong> von Wellcome für Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte<br />

organisiertes Symposium über Septr<strong>in</strong> und Bactrim statt. Für<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Werbefaltblatt, 1970.<br />

Abgebildet ist das gesamte<br />

damals erhältliche<br />

Bactrim-Sortiment mit den<br />

zahlreichen unterschiedlichen<br />

Darreichungsformen, die <strong>in</strong><br />

m<strong>in</strong>utiöser Kle<strong>in</strong>arbeit von <strong>Roche</strong><br />

entwickelt wurden<br />

und mit e<strong>in</strong>er grösseren Streuung versehene Blutspiegelkonzentrationen<br />

aufträten. Obwohl <strong>Roche</strong> den biologischen Unterschied<br />

anzweifelte, befürchtete man dennoch den Ausbau zu e<strong>in</strong>em<br />

gefährlichen Market<strong>in</strong>g-Argument zugunsten von Septr<strong>in</strong>.<br />

Mit Unmut verfolgte <strong>Roche</strong> auch, dass Burroughs Wellcome<br />

mit e<strong>in</strong>er zusätzlichen Form des Sirups für Erwachsene e<strong>in</strong>en<br />

Wettbewerbsvorteil zu erreichen suchte, was «<strong>in</strong> Anbetracht der<br />

speziellen Konkurrenzsituation nicht zugelassen werden durfte».<br />

Darum bereitete sich <strong>Roche</strong> vor, den Sirup überall dort ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>zuführen, wo die Partnerfirma dies auch tat. 119 Versuche<br />

zeigten auf, dass der Sirup im Glas so gut wie <strong>in</strong> Plastik gelagert<br />

werden konnte und e<strong>in</strong>e gleich gute bakterizide, wie auch die<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

117 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 7.<br />

118 Ibid., S. 2.<br />

119 Protokoll der PA-Sitzung No. 5, 13.1.1970.<br />

HAR FE 2.1 - 103531 o.<br />

120 <strong>Roche</strong>, Interne Mitteilung Nr. 842, 6.11.1970.<br />

HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

121 VI/Kl<strong>in</strong>. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 -<br />

103534 f.<br />

124 125


Daniel<br />

Schwartz, 1987<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

122 VI/Kl<strong>in</strong>. 7/69, 24.4.1969, S. 1. HAR FE.0.3 -<br />

103534 f.<br />

123 Böhni, E[rika]: The Chemotherapeutic<br />

Activity of Comb<strong>in</strong>ations of Trimethoprim and<br />

Sulphamethoxazole <strong>in</strong> Infections of Mice. The<br />

Synergy of Trimethoprim and Sulphonamides.<br />

Royal College of Physicians, London,<br />

9.5.1969.<br />

124 Schwartz, D[aniel] E. / Ziegler, W. H.: Assay<br />

and Pharmacok<strong>in</strong>etics of Trimethoprim <strong>in</strong><br />

Man and Animal. Royal College of Physicians,<br />

9.5.1969.<br />

125 Hitch<strong>in</strong>gs, G[eorg] H.: Selective Inhibitors<br />

of Dihydrofolate Reductase as Chemotherapeutic<br />

Agents. Royal College of<br />

Physicians, 9.5.1969.<br />

126 Bushby, S. R. / Hitch<strong>in</strong>gs, George H.:<br />

Trimethoprim, a Sulphonamide Potentiator.<br />

In: British Journal of Pharmacology 33 (1968),<br />

S. 72-90.<br />

127 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,<br />

Protokoll Nr. 1/69, 12.2.1969, S. 5. HAR FE.0.3<br />

- 103534 f.<br />

128 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.]. –<br />

Siehe auch E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993),<br />

S. 45.<br />

129 Ibid.<br />

<strong>Roche</strong> referierten Erika Böhni 123 und Daniel E. Schwartz 124 , für<br />

Wellcome George H. Hitch<strong>in</strong>gs 125 und S. R. Bushby 126 . In Basel sah<br />

man dem Zusammentreffen mit dem späteren Nobelpreisträger<br />

Hitch<strong>in</strong>gs und dem ebenfalls exzellenten Bakteriologen Bushby<br />

mit e<strong>in</strong>em gewissen Bangen entgegen. Zwar war Wellcome zu<br />

jenem Zeitpunkt über den Stand der Basler Forschung an Metaboliten<br />

von Trimethoprim orientiert, doch durften die laufenden<br />

Untersuchungen nicht publik gemacht werden, bis Wirkung<br />

und Patentierungsfähigkeit der neu isolierten, synthetisierten<br />

Produkte abgeklärt waren. Man e<strong>in</strong>igte sich bei <strong>Roche</strong>, nur von<br />

«neuen Substanzen» zu sprechen. 127 Die Graphiker hatten für<br />

Böhni zur Illustration der aus den Mäuseversuchen gewonnenen<br />

Erkenntnisse eigens aufwendige, farbige Dias hergestellt. Die<br />

Referent<strong>in</strong> hatte gemäss eigenem Bekunden «ke<strong>in</strong> bisschen Angst»<br />

und beurteilte ihre Vorredner von Wellcome als «sehr mässig, <strong>in</strong><br />

den Dias wenig verständlich, viel zu viel für diese Ärzte». Ihren<br />

eigenen Auftritt aber befand sie als vollkommen gelungen: «Da<br />

wirkte me<strong>in</strong> Vortrag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>fachen Worten und neuen Bildern wie<br />

e<strong>in</strong>e Bombe. Alle hatten Freude, auch Frauen haben mir noch<br />

<strong>in</strong> der Toilette gesagt, dass sie jedes Wort verstanden haben». 128<br />

Während Erika Böhni sich mit den Briten nach wie vor bestens<br />

verstand, ärgerte sie sich über ihre Basler Kollegen: «Überhaupt<br />

regen mich die <strong>Roche</strong>-Leute auf, immer schauen sie aufgeregt<br />

zurück, wenn e<strong>in</strong>er sie etwas fragt. Sie spielen gerne Komödie,<br />

malen den Teufel an die Wand und wollen zeigen, was für tolle<br />

Disputanten sie s<strong>in</strong>d. […] Wir s<strong>in</strong>d viel zu schwach für Burroughs<br />

Wellcome, die sicher <strong>Roche</strong> auch aus psychologischen Gründen<br />

ausgewählt haben, weil sie nämlich mit ihnen machen können,<br />

was sie wollen. Und das ist ihnen voll und ganz gelungen.» 129<br />

Diesbezüglich sollte sich die aussergewöhnliche Mikrobiolog<strong>in</strong><br />

getäuscht haben. Die Basler liessen sich beim Bactrim-Projekt<br />

nicht über den Tisch ziehen – und <strong>Roche</strong> besteht im Gegensatz<br />

zu Burroughs Wellcome noch heute als eigenständiges Unternehmen.<br />

Am 14. Mai 1969 wurde Bactrim <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Planungssitzung mit<br />

25 Teilnehmern am Basler Firmensitz erörtert. Die bisherigen<br />

Erfahrungen <strong>in</strong> England hätten gezeigt, dass <strong>Roche</strong> mit Bactrim<br />

e<strong>in</strong> Präparat mit grossem Potenzial entwickelt habe. E<strong>in</strong>e spezielle<br />

Herausforderung des Market<strong>in</strong>gs stelle aber die Partnerschaft<br />

mit e<strong>in</strong>em Konkurrenten dar: «Es gilt daher, an diese Aufgabe<br />

mit Optimismus, aber auch mit der nötigen Aggressivität heranzugehen,<br />

ohne verfehlte Rücksichtnahme sowohl auf unseren<br />

Partner als auch auf unsere eigenen Sulfonamide.» 130 Zwar müsse<br />

man davon ausgehen, dass e<strong>in</strong>erseits die herkömmlichen Sulfonamide,<br />

andererseits auch die Antibiotika von ihrem Mythos<br />

e<strong>in</strong>büssen würden. Gerade deswegen sche<strong>in</strong>e aber die Marktlage<br />

für die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es neuartigen, antibakteriell wirksamen<br />

Präparats günstig. Negativ <strong>in</strong>s Gewicht falle <strong>in</strong>dessen das Jo<strong>in</strong>t<br />

Venture mit der Firma Burroughs Wellcome, das den Briten<br />

gewisse Vorteile verschaffe. Die neue Komponente des Präparats<br />

stamme von ihnen, e<strong>in</strong> Sachverhalt, den sie zum Missfallen von<br />

<strong>Roche</strong> auch entsprechend ausnützten. Allerd<strong>in</strong>gs glaubte sich<br />

das Basler Unternehmen bezüglich Market<strong>in</strong>g-Organisation im<br />

Vorteil. Die «Trimethoprim-Story» von Wellcome solle nicht<br />

verheimlicht werden; im Gegenteil sei zu betonen, dass Trimethoprim<br />

erst dank <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit e<strong>in</strong>em Sulfonamid<br />

zu e<strong>in</strong>er brauchbaren Substanz geworden sei… 131<br />

<strong>Roche</strong> hatte sich <strong>in</strong> Sachen Bactrim bereits 1967 für die neuartige<br />

galenische Form der Drapsulen <strong>in</strong> der Ansicht entschieden,<br />

dass diese dem modernen Antibiotika-Image näherkommen und<br />

sich grundlegend von der bei Burroughs Wellcome üblichen Tablettenform<br />

unterschieden. Aus produktionstechnischen Gründen<br />

konnten sich die Basler aber nicht gegen die Tablettenform durchsetzen.<br />

Die Abteilung «Spezialitätenentwicklung für Forschungspräparate»<br />

hatte darum für die meisten Länder, <strong>in</strong> denen die<br />

E<strong>in</strong>führungsvorbereitungen noch nicht zu weit fortgeschritten<br />

waren, den Verzicht auf die Drapsule und die E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> Dragéeform<br />

vorgeschlagen. 132 Auch dieser Entscheid sei nun aber neu<br />

zu überprüfen, da gemäss neuesten Marktuntersuchungen immer<br />

mehr Antibiotika <strong>in</strong> Tablettenform auf den Markt kämen. Weil<br />

überdies Tablettieranlagen <strong>in</strong> allen <strong>Roche</strong>-Fabrikationsstellen<br />

vorhanden waren, entschied man, für Bactrim generell auf die<br />

Tablettenform überzugehen. 133 Erika Böhni kommentierte das<br />

zähe Festhalten an der Drapsule und die darauf folgende Kapitulation<br />

<strong>in</strong> ihrem Tagebuch gewohnt scharfzüngig: Die Herren<br />

von <strong>Roche</strong> wüssten nicht, «wie lächerlich sie gemacht werden mit<br />

ihren Drapsulen, die von heute auf morgen verschw<strong>in</strong>den. Wir<br />

haben nichts bestimmt mit unseren Drapsulen, wir können nichts<br />

entgegnen.» 134 In e<strong>in</strong>er ganzen Reihe von Ländern wurde im Mai<br />

1969 die E<strong>in</strong>führung von Bactrim bereits für das laufende Jahr<br />

geplant, so <strong>in</strong> der Schweiz, <strong>in</strong> Zypern, im Libanon, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>,<br />

<strong>in</strong> Australien, eventuell <strong>in</strong> Spanien, <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien und <strong>in</strong> Brasilien<br />

sowie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen arabischen und fernöstlichen Ländern.<br />

Was die Bewerbung des neuen Produktes betraf, so stellte<br />

sich die anspruchsvolle Aufgabe, die Möglichkeiten von Bactrim<br />

<strong>in</strong> ihrer ganzen Breite aufzuzeigen. Zur Market<strong>in</strong>gstrategie<br />

130 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 1.<br />

HAR FE.0.3 - 103600<br />

131 Ibid.<br />

132 PA-Protokoll, 29.4.1969, S. 3.<br />

133 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969.<br />

126 127


hielt man den Dachslogan «Bactrim – dritte Generation <strong>in</strong> der<br />

Chemotherapie bakterieller Infektionen» für geeignet. Die erste<br />

Generation bildete demnach das Sulfamidochrysoid<strong>in</strong> (Prontosil)<br />

von 1935, die zweite das Sulfamethoxazol (Gantanol) von 1962.<br />

Jetzt g<strong>in</strong>g es darum, das Neuartige an Bactrim hervorzuheben.<br />

Dazu hielt die Planungssitzung fest: «Die Trimethoprim-Story<br />

kann deshalb nicht umgangen werden. Sie muss <strong>in</strong> unserem S<strong>in</strong>ne<br />

möglichst positiv ausgewertet werden.» 135 In die «vordere L<strong>in</strong>ie»<br />

der Argumente gehöre als Resultat der Potenzierung der beiden<br />

Wirkstoffe die bakterientötende Wirkung des Präparates. Als<br />

Breitbandchemotherapeutikum sei daher Bactrim für schwere<br />

wie für leichtere Fälle zu empfehlen.<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> Krankenhäusern, bei Ärzten<br />

und Apothekern<br />

HAR FE.0.3 – 103600.<br />

134 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.].<br />

135 Ibid, S. 5<br />

136 Ibid., S. 6, 8.<br />

137 Ibid., S. 6.<br />

138 Ibid., S. 7.<br />

139 Ibid., S. 7.<br />

140 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,<br />

Protokoll Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 1. HAR FE.0.3<br />

- 103534 f.<br />

141 Böhni, Erika: Vergleichende bakteriologische<br />

Untersuchungen mit der Komb<strong>in</strong>ation<br />

Trimethoprim/Sulfamethoxazol <strong>in</strong> vitro<br />

Weil es der Fima Burroughs Wellcome <strong>in</strong> Grossbritannien<br />

gelungen war, die Krankenhäuser durch frühzeitige Vorstösse<br />

und erweiterte kl<strong>in</strong>ische Prüfungen im grossen Stil weitgehend<br />

für das Septr<strong>in</strong> zu gew<strong>in</strong>nen, sollten zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

und der Schweiz die bereits laufenden kl<strong>in</strong>ischen Studien stark<br />

erweitert werden. Auch <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien, Brasilien und Spanien<br />

sowie <strong>in</strong> Fernost wollte <strong>Roche</strong> die Prüfungen an Patienten rasch<br />

vorantreiben. In der Schweiz wurden die Spitäler bis zum Bezirksspital<br />

mit vere<strong>in</strong>fachtem Informationsmaterial und Fragebögen<br />

ausgestattet, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> die Zahl der Krankenhäuser für die<br />

erweiterten Prüfungen auf 300 ausgedehnt. 3 000 deutsche Ärzte<br />

sollten sechs Wochen vor E<strong>in</strong>führung so ausgestattet werden, dass<br />

jeder von ihnen 30 Patienten behandeln konnte. Die Apotheker<br />

erhielten, wie bei <strong>Roche</strong> üblich, je e<strong>in</strong>e Orig<strong>in</strong>alpackung aller<br />

Dosierungen und Packungsgrössen. 136<br />

Burroughs Wellcome lieferte der Basler Produktion im Mai<br />

1969 reibungsfrei 1 000kg Trimethoprim. 137 Mehr Kopfzerbrechen<br />

bereitete der offenkundige Mangel an den notwendigen wissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen. Im Frühjahr 1969 waren acht<br />

wissenschaftliche Aufsätze pendent, bei denen aber abzusehen<br />

war, dass sie erst e<strong>in</strong> Jahr später druckreif vorliegen dürften.<br />

Dies ergab die unbefriedigende Situation, dass zum Zeitpunkt<br />

der E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> der Schweiz ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Publikation vorlag:<br />

«E<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Reaktivierung dieser Arbeiten ist daher angezeigt.»<br />

138 Man machte sich <strong>in</strong> Basel ernsthaft Sorgen darüber, dass<br />

Burroughs Wellcome aus e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>imum an kl<strong>in</strong>ischen Fällen<br />

bereits publizistisches Kapital schlug und überlegte sich, ob <strong>Roche</strong><br />

«diesbezüglich nicht auch etwas grosszügiger werden muss». 139<br />

Auf Initiative von <strong>Roche</strong> Grenzach erschienen im Rahmen der<br />

E<strong>in</strong>führungsmassnahmen denn auch neun Arbeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Sonderheft der Zeitschrift «Chemotherapie». 140 In dieser an die<br />

Ärzte gerichteten Publikation zu Bactrim schrieb Erika Böhni<br />

e<strong>in</strong>en Aufsatz über die Bakteriologie. 141<br />

Am Jahrestreffen der <strong>Roche</strong> Research Management Group<br />

(RRMG) <strong>in</strong> St. Moritz vom 11. bis 16. Juni 1969 konnte von<br />

e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>drücklichen E<strong>in</strong>tritt von Bactrim/Septr<strong>in</strong> <strong>in</strong> den bri-<br />

Ärztebroschüre «Bactrim für die<br />

Behandlung der Bronchitis», 1970<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

128 129


Werbeanzeige aus der<br />

Ärztezeitschrift «Image<br />

<strong>Roche</strong>» für Bactrim bei<br />

Urogenital<strong>in</strong>fekten,<br />

1970er Jahre<br />

verfolgte <strong>Roche</strong> doch im Tierbereich weit weniger Interessen.<br />

Man war sich <strong>in</strong> der Konzernführung bewusst, dass es im ersten<br />

Jahr der E<strong>in</strong>führung Länder geben werde, wo etwa gleich viele<br />

Mustertabletten wie Verkaufsware auf den Markt gelangen würden.<br />

Dies sei aber angesichts der speziellen Problematik e<strong>in</strong>er<br />

Doppele<strong>in</strong>führung gerechtfertigt und trotz des f<strong>in</strong>anziellen<br />

Aufwandes auch vom Rentabilitätsstandpunkt her vertretbar. 143<br />

E<strong>in</strong>e attraktiv aufgemachte, illustrierte E<strong>in</strong>führungsbroschüre zu<br />

Bactrim erschien <strong>in</strong> zahlreichen Sprachen Ende 1969. Sie umfasste<br />

84 Seiten und versprach schlagwortartig e<strong>in</strong>en gezielten Vorstoss<br />

<strong>in</strong> die Infekttherapie, e<strong>in</strong> völlig neuartiges Wirkungspr<strong>in</strong>zip, e<strong>in</strong>e<br />

reziproke Potenzierung und e<strong>in</strong>e Breitband-Bakterizidie, also e<strong>in</strong><br />

breites Wirkungsspektrum der Keimabtötung von grampositiven<br />

wie auch gramnegativen Bakterien. 144 Die Broschüre war <strong>in</strong> fünf<br />

Kapitel unterteilt und enthielt auch e<strong>in</strong>e Produkte-Information<br />

<strong>in</strong> Stichworten, die es dem eiligen Arzt ermöglichte, «nach fünf-<br />

Ärztebroschüre «Bactrim» <strong>Roche</strong><br />

for therapy <strong>in</strong> ear, nose and<br />

throat <strong>in</strong>fections, 1974<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

und <strong>in</strong> vivo. In: Dokumente zu Bactrim.<br />

Chemotherapy 14, Suppl. Basel 1969.<br />

142 M<strong>in</strong>utes of the <strong>Roche</strong> Research Management<br />

Group Meet<strong>in</strong>g, June 11-16, 1969, St. Moritz/<br />

Switzerland, S. 26 f. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.<br />

143 RRMG 1969, Antibacterials (<strong>in</strong>cl. Sulpha<br />

drugs), S. 2. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.<br />

144 «Bactrim» <strong>Roche</strong>. Bakterizides Breitband-<br />

Therapeuticum, o. O.[Basel], o. J. [1969]. –<br />

«Bactrim» <strong>Roche</strong>. Broad spectrum bactericide,<br />

o. O. [Basel], o. J. [1969]. Ausserdem <strong>in</strong><br />

Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, F<strong>in</strong>nisch,<br />

tischen Markt berichtet werden. Gleichzeitig war man bereit,<br />

die Position von <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Konkurrenz zu Wellcome entschieden<br />

zu verteidigen. Es wurde grundsätzlich beschlossen, die<br />

Sulfonamid-Forschung voranzutreiben. In Basel sollten pharmakologische,<br />

kl<strong>in</strong>ische und stoffwechselbed<strong>in</strong>gte Studien zu<br />

Bactrim weitergeführt werden. 142 Kl<strong>in</strong>ische Versuche an mittlerweile<br />

2 500 Patienten hatten gute Resultate im Respirations- und<br />

Urogenitaltrakt erbracht. Nun galt es, auch die Wirkungsweise<br />

gegen schwerere Erkrankungen wie Typhus, Cholera, Knochenmarks-<br />

und Hirnhautentzündung zu erproben. Gelassen nahm<br />

das Forschungsmanagement zur Kenntnis, dass Wellcome die<br />

Komb<strong>in</strong>ation Trimethoprim und Sulfamethoxazol auch <strong>in</strong> der<br />

Veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong> bei Hunden und Katzen e<strong>in</strong>zuführen plante,<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

130 131


m<strong>in</strong>ütiger Lektüre das Präparat richtig anzuwenden». 145 Unter<br />

E<strong>in</strong>schluss von Prospektserien und Sonderdrucken sollten den<br />

Arzt nicht weniger als 27 Bactrim-Aussendungen <strong>in</strong> den ersten<br />

zwölf Monaten nach der E<strong>in</strong>führung erreichen. Vier verschiedene<br />

Typen von Inseraten waren <strong>in</strong> den wichtigsten mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Zeitschriften geplant. 146 Im Rahmen der vorgesehenen Kle<strong>in</strong>symposien<br />

schien es vorerst allerd<strong>in</strong>gs nicht möglich, spezielle Filme<br />

über Bactrim herzustellen. 147<br />

Erika Böhni<br />

während ihres<br />

Besuchs <strong>in</strong><br />

Japan, 1969<br />

Portugiesisch, Spanisch, Ungarisch und<br />

Griechisch.<br />

145 Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 8.<br />

HAR FE.0.3 - 103600<br />

146 Schweizerische Ärztezeitung, Therapeutische<br />

Umschau, Praxis, Médec<strong>in</strong>e et Hygiène,<br />

Medical Tribune, Ars Medici, Image. Siehe<br />

Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969,<br />

Beilage Promotogramm Bactrim Schweiz,<br />

21.5.1969. HAR FE.0.3 - 103600.<br />

147 Ibid., S. 9.<br />

148 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45.<br />

149 Böhni, Tagebuch Nr. IX, 18.6.1969 [o. S.].<br />

150 Ibid, 14.8.1969.<br />

151 VI/Kl<strong>in</strong>. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 -<br />

103534 f.<br />

152 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 45. – Siehe<br />

dazu Mayekawa, Seiro: Masterpieces of the<br />

Promotionstouren bis zur Erschöpfung<br />

Am 24. Juni 1969 wurde für die Supervisoren der «Basler Länder»<br />

– also jener kle<strong>in</strong>eren Märkte <strong>in</strong> Europa, Afrika und Fernost, die<br />

direkt mit Produkten beliefert wurden – und die Ärztebesucher<br />

der Schweiz e<strong>in</strong> Bactrim-Kolloquium <strong>in</strong> Basel veranstaltet. Für<br />

die übrigen Ärztebesucher fanden <strong>in</strong> den folgenden Monaten<br />

Kolloquien im Ausland statt. Alle<strong>in</strong> für die Schweiz wurden im<br />

ersten Jahr rund 1,85 <strong>Millionen</strong> Franken für die E<strong>in</strong>führungskampagne<br />

ausgegeben.<br />

Für Erika Böhni bedeuteten diese Monate e<strong>in</strong>en geistigen und<br />

körperlichen E<strong>in</strong>satz bis h<strong>in</strong> zur Erschöpfung. Ihr oblag nämlich<br />

die Aufgabe, für Bactrim e<strong>in</strong>e neue Sensibilitätsprüfung <strong>in</strong> den<br />

verschiedensten Laboratorien durchzusetzen. Dazu bedurfte es<br />

e<strong>in</strong>es spezifischen Mediums, um die Wirksamkeit plastisch zu<br />

demonstrieren, galt es doch, die potenzierenden Eigenschaften<br />

des Komb<strong>in</strong>ationspräparats drastisch vor Augen zu führen. Dafür<br />

kamen die bereits erwähnten Disks der Firma Oxoid wie gerufen.<br />

Auf Nährböden gelegt, machen diese die bakterientötende Wirkung<br />

visuell sichtbar. Für e<strong>in</strong>en Ärztebesucher war die E<strong>in</strong>führung<br />

e<strong>in</strong>er solchen Labormethode jedoch e<strong>in</strong>e allzu anspruchsvolle<br />

Aufgabe, weswegen Erika Böhni dafür h<strong>in</strong>zugezogen wurde. 148 Für<br />

sie typisch ersche<strong>in</strong>t ihr Kommentar zu e<strong>in</strong>er dieser Veranstaltungen,<br />

die sie <strong>in</strong> Schweden durchzuführen hatte: In Stockholm<br />

g<strong>in</strong>g es am 18. Juni 1969 «besonders gut, weil viele Bakteriologen<br />

da waren und wenig Zuhörer». 149 Zum 6. Internationalen Chemotherapiekongress<br />

reiste Böhni im August 1969 nach Tokio<br />

und referierte dort ebenfalls über ihre Arbeiten mit den Bactrim-<br />

Disks. Ihre vorherige Aufregung war nach eigenem Bekunden<br />

«nicht der Rede wert: Alles geht gut, mit dem Mikrofon, mit den<br />

Bildern, ich erhalte e<strong>in</strong>en Applaus wie niemand. Farbig, fröhlich,<br />

klar: Das zieht immer.»<br />

Böhni erhielt nach ihrem Vortrag «die höchsten Komplimente»<br />

und erwiderte darauf, ganz <strong>Roche</strong>-Frau: «Für<br />

e<strong>in</strong>e rechte Firma mache ich auch etwas Rechtes.» 150<br />

Das Vortragsprogramm wurde ergänzt durch Präsentationen von<br />

kl<strong>in</strong>ischen Prüfungsergebnissen, die von den lokalen Studienleitern<br />

bestritten wurden. 151 Mit Freude er<strong>in</strong>nerte sich Erika Böhni<br />

später an freundliche Kontakte mit der japanischen Bevölkerung<br />

und über ihren Besuch im Nationalmuseum für westliche Kunst:<br />

«Dort habe ich den schönsten Segant<strong>in</strong>i me<strong>in</strong>es Lebens gesehen.<br />

Der ist <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Katalog zu f<strong>in</strong>den, aber ich sehe ihn noch vor<br />

mir, der war e<strong>in</strong>fach wundervoll.» 152<br />

Weitere Reisen führten Erika Böhni <strong>in</strong> die Niederlande,<br />

nach Italien, Griechenland, im Herbst 1969 aber auch nach<br />

Südafrika. Der dortige Niederlassungsleiter hatte die vierzehntägige<br />

Tour entlang der Ostküste generalstabsmässig<br />

Ernst Böhni, Ste<strong>in</strong> am Rhe<strong>in</strong><br />

132 133


vorbereitet und verlangte von Böhni, dass sie «länger und<br />

lauter» rede. In der Er<strong>in</strong>nerung me<strong>in</strong>te sie: «Jede M<strong>in</strong>ute<br />

war ausgebucht, vom Aufstehen bis spät nach Mitternacht:<br />

Apéros, Vorträge, Diskussionen mit Bakteriologen und<br />

Kl<strong>in</strong>ikern. [...] Am zehnten Tag s<strong>in</strong>d wir dann endgültig<br />

zusammengeklappt. Wir konnten e<strong>in</strong>fach nicht mehr.» 153<br />

National Museum of Western Art Tokyo. Tokio<br />

1983.<br />

153 E<strong>in</strong>e Frau von Format (1993), S. 46.<br />

154 Böhni, Erika: Über antibakterielle<br />

Eigenschaften der Komb<strong>in</strong>ation<br />

Trimethoprim/Sulfamethoxazol im Vergleich<br />

mit Antibiotika. In: Schweizerische<br />

Mediz<strong>in</strong>ische Wochenschrift 99 (1969),<br />

S. 1505-1510.<br />

155 Fortschrittsbericht Nr. 2 der Projektgruppe<br />

«Antibakterielle Stoffe», 14.10.1969, S. 3 f.<br />

HAR FE.0.3 – 103534 f.<br />

156 VI/Kl<strong>in</strong>. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 -<br />

103534 f.<br />

157 Ibid.<br />

158 Obituaries, Emanuel Grunberg, Bacteriologist,<br />

72. In: The New York Times, 29.1.1995.<br />

159 United States Patent Office, 3’515’783,<br />

2.6.1970. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

160 Bactrim-Meet<strong>in</strong>g with FDA, 17.4.1972. HAR<br />

FE.2.1 - 103531 o.<br />

161 Fey, Hans: Zum H<strong>in</strong>schied von Prof. Dr. Ernst<br />

Wiesmann. In: Schweizerische Gesellschaft<br />

für Mikrobiologie, Info 25 (1989), S. 62-64.<br />

162 Abt. PA/5, 17.2.1970, S. 3. HAR FE.2.1 -<br />

103531 o.<br />

163 RRMG, Sitzung vom 12.6.1970, Pr<strong>in</strong>ceton/<br />

New Jersey, HAR FE.04 - 103593 f.<br />

164 M<strong>in</strong>utes of the <strong>Roche</strong> Reserach Management<br />

Erika Böhni verfasste e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>in</strong> der «Schweizerischen<br />

Mediz<strong>in</strong>ischen Wochenschrift», wor<strong>in</strong> sie die antibakteriellen<br />

Eigenschaften herkömmlicher Antibiotika mit jenen von Bactrim<br />

verglich. Auf Nährböden wie im Tierexperiment an Mäusen und<br />

Ratten zeigte sie auf, wie der Hemm- beziehungsweise Abtötungseffekt<br />

von Bactrim bei vier bakteriellen Krankheitserregern<br />

den Antibiotika Oxytetrazykl<strong>in</strong> und Chloramphenicol überlegen<br />

war. 154<br />

Im Rahmen der weltweiten E<strong>in</strong>führungsvorbereitungen<br />

wurden die kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen <strong>in</strong>tensiv vorangetrieben, um<br />

die nötigen Unterlagen für die Registrierung <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Ländern bereitzustellen. Die Mitarbeiter verfassten Berichte<br />

über zahlreiche experimentelle und kl<strong>in</strong>ische Studien und hielten<br />

Vorträge an Tagungen, Symposien und Kongressen. In den<br />

<strong>Roche</strong>-Labors komb<strong>in</strong>ierten die Forscher weitere Sulfonamide<br />

mit Potentiatoren, allerd<strong>in</strong>gs mit eher bescheidenem Erfolg. 155<br />

Während die kl<strong>in</strong>ischen Prüfungen <strong>in</strong> Belgien, <strong>Deutschland</strong>,<br />

Frankreich, Italien, Österreich und <strong>in</strong> der Schweiz auf breitester<br />

Basis liefen, war die Zahl der Prüfungsstellen <strong>in</strong> verschiedenen<br />

anderen Ländern, speziell <strong>in</strong> Australien, Neuseeland, Fernost, der<br />

Niederlande oder Skand<strong>in</strong>avien noch unbefriedigend. Deshalb<br />

unternahm man dort verstärkte Anstrengungen, «nicht zuletzt<br />

auch, um zu verh<strong>in</strong>dern, dass Burroughs Wellcome <strong>in</strong> diesen<br />

Gebieten e<strong>in</strong>en Vorsprung gew<strong>in</strong>nt». 156 Wegen der Konkurrenzsituation<br />

wurde e<strong>in</strong>e möglichst breite Streuung des Präparates im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Vore<strong>in</strong>führungskampagne angestrebt, wobei <strong>Roche</strong><br />

auch <strong>in</strong> Kauf nahm, dass mancherorts die Prüfung nicht nach den<br />

von der Firma sonst geforderten strengen Kriterien durchgeführt<br />

wurde. 157<br />

Weitere E<strong>in</strong>führungsmassnahmen<br />

Im Jahr 1970 wurde Bactrim mit Patentnummer 1’103’931 <strong>in</strong><br />

<strong>Deutschland</strong> zugelassen, und etwas später auch <strong>in</strong> Spanien. Am<br />

2. Juni 1970 erfolgte die Patentierung auf Antrag von Emanuel<br />

Grunberg 158 , des bedeutenden Tuberkuloseforschers und Chef<br />

der chemotherapeutischen Abteilung von <strong>Roche</strong> Nutley, mit ausführlicher<br />

Beschreibung durch das United States Patent Office als<br />

Nr. 3’515’783. 159 Die Aufsichtsbehörde FDA <strong>in</strong>teressierte sich vor<br />

allem für die Auswirkung bei Schwangerschaften, was man <strong>in</strong> der<br />

Folge mittels zahlreicher Experimente und Studien untersuchte.<br />

Bislang bestanden nämlich ke<strong>in</strong>e Studien an Schwangeren und<br />

an Frauen, die e<strong>in</strong>e Schwangerschaft beabsichtigten. 160<br />

Ernst Wiesmann 161 , ordentlicher Professor für Mikrobiologie<br />

<strong>in</strong> Zürich und e<strong>in</strong>er der wichtigsten Bakteriologen der Schweiz,<br />

konnte dank Bactrim für e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit gewonnen<br />

werden, «nachdem diesbezügliche Versuche jahrelang ke<strong>in</strong>en<br />

Erfolg gezeigt haben». Dieser «Me<strong>in</strong>ungsmacher» erschien als so<br />

wichtig, dass man ihn für se<strong>in</strong>e Stellungnahmen zu Bactrim mit<br />

1 200 Franken entschädigte und ihm e<strong>in</strong> Jahr lang das Monatsgehalt<br />

für e<strong>in</strong>e Laborant<strong>in</strong> <strong>in</strong> gleicher Höhe bezahlte. 162<br />

Am Jahrestreffen der <strong>Roche</strong> Research Management Group<br />

(RRMG) vom Juni 1970 <strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>ceton/New Jersey konnte von<br />

der weltweiten Markterschliessung und von der Erprobung zweier<br />

neuer galenischer Formen berichtet werden, e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dersirup<br />

und Suspensionen für Erwachsene, sowie andererseits die<br />

<strong>in</strong>tramuskuläre Injektion. 163 Am Treffen von 1971 im englischen<br />

Broadway wurde angesichts des sich abzeichnenden Markterfolgs<br />

erneut die Notwendigkeit betont, die Position im Sulfonamidbereich<br />

gegenüber Burroughs Wellcome zu konsolidieren und<br />

zu verbreitern. Die Trimethoprim-Forschung von <strong>Roche</strong> <strong>in</strong><br />

Nutley hatte stark dazu beigetragen, dass man der Partnerfirma<br />

selbstbewusst entgegentreten konnte. E<strong>in</strong> Workshop <strong>in</strong> Basel<br />

vom 3./4. Mai 1971, an dem die drei <strong>Roche</strong>-Forschungszentren<br />

vertreten waren, befasste sich mit den kl<strong>in</strong>ischen Fortschritten<br />

und beriet die weitere Koord<strong>in</strong>ation. 164 Anlässlich e<strong>in</strong>es Treffens<br />

mit C. Madden von Wellcome vom 28. Juli 1971 <strong>in</strong> Basel <strong>in</strong> Bezug<br />

auf die Zukunft der Bactrim/Septr<strong>in</strong>-Zusammenarbeit gaben sich<br />

die Mitarbeiter von <strong>Roche</strong> betont zurückhaltend, während der<br />

Engländer erstaunlich offen über den Erfahrungsmangel von<br />

Wellcome im Sulfonamidbereich berichtete; Madden räumte e<strong>in</strong>,<br />

dass die Marktstellung von Septr<strong>in</strong> ausserhalb Grossbritanniens<br />

unbefriedigend sei und dass personelle Wechsel bevorstünden.<br />

134 135


Basel zweifelte, ob Wellcome die Zusammenarbeit fortsetzen<br />

würde, wenn London auf Dauer die zweite Geige würde spielen<br />

müssen. 165<br />

Firmen<strong>in</strong>tern wurde e<strong>in</strong>e «Projektgruppe Bactrim» gebildet,<br />

um <strong>in</strong> Doppelbl<strong>in</strong>dstudien aufzuzeigen, dass das neue Medikament<br />

effektiver war als vergleichbare Komponenten und e<strong>in</strong><br />

breites Anwendungsspektrum umfasste. 166 Zu ihrer Freude erfuhr<br />

Erika Böhni 1971, dass ihr <strong>Roche</strong> e<strong>in</strong>en Erf<strong>in</strong>deranteil an Bactrim<br />

zugestand. Im selben Jahr wurde sie als e<strong>in</strong>zige Frau zur<br />

Prokurist<strong>in</strong> befördert. 167 Auch die Mitarbeiter von <strong>Roche</strong> waren<br />

mächtig stolz auf das neue Heilmittel. Im Rahmen e<strong>in</strong>es Porträts<br />

des Penicill<strong>in</strong>-Pioniers Alexander Flem<strong>in</strong>g stellten die «<strong>Roche</strong>-<br />

Nachrichten» 1971 selbstbewusst fest:<br />

«In der Geschichte der antibakteriell wirkenden Substanzen<br />

hat <strong>Roche</strong> <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem englischen<br />

Pharmaunternehmen Wellcome Foundation den vorläufig<br />

letzten Markste<strong>in</strong> gesetzt, und zwar mit ‚Bactrim’, e<strong>in</strong>em<br />

bakterientötenden Chemotherapeutikum mit breiter<br />

Wirkung. Es wird erfolgreich e<strong>in</strong>gesetzt bei Infektionen<br />

der Haut, der Atemwege, der Nieren und der ableitenden<br />

Harnwege, der weiblichen und der männlichen<br />

Genitalorgane und des Magen-Darm-Traktes.» 168<br />

Erfüllte Erwartungen «<strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht»<br />

Im Jahr 1970 erreichte Bactrim 57 <strong>Millionen</strong> Franken Umsatz,<br />

1971 bereits mehr als das Doppelte, nämlich 118 <strong>Millionen</strong>. 1972<br />

übertraf Bactrim mit 161 <strong>Millionen</strong> Franken Umsatz erstmals den<br />

5-Prozent-Anteil des Gesamtkonzerns. 169 Ganz zweifellos hatte<br />

die Gruppe der Anti<strong>in</strong>fektiva dank dem erfreulichen Erfolg des<br />

neuen Produkts erheblich an Bedeutung gewonnen, auch wenn<br />

Bactrim die früheren Chemotherapeutika <strong>in</strong> den Schatten stellte<br />

und zurückdrängte. Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich ab,<br />

dass das Medikament <strong>in</strong> zahlreichen Ländern <strong>in</strong> die vordere Reihe<br />

der pharmazeutischen Spezialitäten rückte. 170 Mit Befriedigung<br />

kommentierte man <strong>in</strong> Basel die E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> immer neuen Staaten:<br />

«Diese Spezialität erfüllt die <strong>in</strong> sie gesetzten Erwartungen<br />

<strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht.» 171 Der 7. Internationale Kongress für Chemotherapie<br />

<strong>in</strong> Prag im August 1971 zeigte, dass sich auch die<br />

osteuropäischen Mediz<strong>in</strong>er lebhaft für Bactrim <strong>in</strong>teressierten. 172<br />

Überhaupt vermochte sich das Medikament rasch als globales<br />

Mittel der Wahl zu etablieren.<br />

Die Basler <strong>Roche</strong>-Zentrale me<strong>in</strong>te zu den Verkäufen des<br />

neuen Anti<strong>in</strong>fektivums: «Bactrim wurde von der Ärzteschaft<br />

sofort aufgenommen und hat sich <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>em<br />

Standardpräparat entwickelt, obwohl die E<strong>in</strong>führungsphase<br />

noch nicht <strong>in</strong> allen Ländern abgeschlossen ist.» 173<br />

Am Treffen des Forschungsmanagements vom Juni 1972 <strong>in</strong><br />

Territet bei Montreux hofften die Vertreter von <strong>Roche</strong> Nutley<br />

auf e<strong>in</strong>e gute künftige Marktsituation auch für die USA.<br />

Zuhanden der amerikanischen Behörden waren zahlreiche<br />

Unterlagen bereitzustellen, da man die europäischen Daten <strong>in</strong><br />

den Vere<strong>in</strong>igten Staaten nicht verwenden konnte. In Nutley<br />

wurde e<strong>in</strong>e neue Synthese von Trimethoprim entdeckt und als<br />

Ro 20-5662 <strong>in</strong>tensiv erforscht. Es g<strong>in</strong>g dem Konzern darum,<br />

gegenüber Wellcome marktmässig die Führung zu bewahren,<br />

und darum dachte man <strong>in</strong> Basel bereits an mögliche Nachfolger<br />

von Bactrim. E<strong>in</strong> Nachfolgeprodukt sollte helfen, auf Dauer die<br />

Unabhängigkeit von Burroughs Wellcome zu erlangen. 174 Man<br />

studierte weiterh<strong>in</strong> den Metabolismus von Trimethoprim und<br />

synthetisierte die von dieser Gruppe isolierten vier Hauptmetaboliten<br />

<strong>in</strong> genügender Menge für e<strong>in</strong>e genauere chemotherapeutische<br />

und toxikologische Prüfung. Doch alle vier Produkte<br />

unterlagen als Potentiatoren dem Trimethoprim. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges<br />

isomeres Nebenprodukt erwies sich vorerst als gut verträglicher,<br />

hoffnungsvoller Potentiator. Dennoch wurde weiter hartnäckig<br />

versucht, mit zielgerichteten chemischen Arbeitsprogrammen<br />

neue Potentiatoren für weitere Komb<strong>in</strong>ationen zu f<strong>in</strong>den. 175 Auch<br />

gewisse veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>ische Abklärungen wurden nicht vernachlässigt,<br />

seien es Injektionslösungen, Tabletten, Pulver zur<br />

oralen Anwendung oder Zusätze zu Mediz<strong>in</strong>alfutter. 176<br />

<strong>Roche</strong> Grenzach (<strong>Deutschland</strong>) erforschte die Bactrim-Injektionslösung<br />

und entsprechende Therapieergebnisse sowie die Ver-<br />

Group Meet<strong>in</strong>g, June 10-15, 1971, Broadway/<br />

GB, S. 39. HAR FE.0.4 - 103593 i.<br />

165 Confidential Note to Dr. Herrero and Dr.<br />

Fe<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, 3.8.1971. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

166 Ro 6-2580 Bactrim Project Group, Report for<br />

1971 RRMG Meet<strong>in</strong>g. HAR FE.0.4 - 103593 i.<br />

167 Böhni, Tagebuch Nr. IX, 26.7. und 22.12.1971<br />

[o. S.].<br />

168 <strong>Roche</strong>-Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-<br />

Zeitung 1/1971, S. 27.<br />

169 Interne Mitteilung Nr. 135, 16.4.1973,<br />

Konzern-Übersicht, Pharma-<br />

Verkaufsergebnisse 1967-1972, S. 23, 26.<br />

HAR FR.2.3.5 - 101304.<br />

170 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht für das Jahr 1970. In: <strong>Roche</strong><br />

Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-Zeitung<br />

3/1971, S. 4.<br />

171 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht für das Jahr 1971. In: <strong>Roche</strong><br />

Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-Zeitung<br />

2/1972, S. 4.<br />

172 The Wellcome Foundation Ltd to F.<br />

Hoffmann-La <strong>Roche</strong>, 20.10.1971. HAR FE.2.1<br />

- 103531 o.<br />

173 Auszug aus dem <strong>Roche</strong>- und Sapac-<br />

Geschäftsbericht für das Jahr 1972. In: <strong>Roche</strong><br />

Nachrichten, Beilage zur <strong>Roche</strong>-Zeitung<br />

2/1972, S. 4.<br />

174 M<strong>in</strong>utes of the <strong>Roche</strong> Research Management<br />

Group Meet<strong>in</strong>g, June 15-20, 1972, Territet/<br />

Montreux, S. 20 f. HAR FE.0.4 - 103593 k.<br />

175 Rapport No. 37’766, 14.10.1969, S. 2. HAR<br />

FE.0.3 - 103534 f.<br />

176 Übersicht über die veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>ische<br />

Prüfung von Ro 6-2577, Stichtag 1.3.1972.<br />

136 137


HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

177 Rapport Nr. 54 338, 23.3.1973. HAR FE.2.1 -<br />

103531 o.<br />

178 Stellungnahme zur Vorlage bei der Behörde,<br />

19.3.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

179 Gressner, Ilka: Nebenwirkungen von Bactrim.<br />

München 1974.<br />

180 K. Münzel (<strong>Roche</strong>) an A. Axon (Wellcome),<br />

2.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

181 M. P. Jackson (Wellcome) an A. Degen<br />

(<strong>Roche</strong>), 21.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

182 Knothe, H[ans] / Marget, W[alter] / Seydel<br />

J[oachim] (ed.): Round-Table-Gespräch über<br />

Bakteriologie, Pharmakologie und kl<strong>in</strong>ische<br />

Anwendung von Bactrim <strong>Roche</strong>. Basel 1973.<br />

183 Aktennotiz von J. Morgan über Besprechung<br />

mit C. Madden (Wellcome), Basel,<br />

träglichkeit bei 668 Patienten. Die Erfolgsquote von 86% wurde als<br />

«recht zufriedenstellend» beurteilt, ebenso die allgeme<strong>in</strong>e und die<br />

lokale Verträglichkeit. Man beabsichtigte 1973 die baldige E<strong>in</strong>führung<br />

der <strong>in</strong>tramuskulären Gabe auch für die Schweiz. 177 Meldungen<br />

über Schwierigkeiten g<strong>in</strong>g man bei <strong>Roche</strong> unverzüglich nach.<br />

Als die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf von Trübungen<br />

beziehungsweise Ausfällungen <strong>in</strong> der Bactrim-Ampullenlösung<br />

berichteten, wurde die Mischung <strong>in</strong> Basel sofort nachvollzogen<br />

und der Grund im aussergewöhnlich hohen Säuregrad des verwendeten<br />

Wassers gefunden; auch e<strong>in</strong> Manipulationsfehler konnte<br />

nicht völlig ausgeschlossen werden. 178 Zudem wurden die stetig<br />

zunehmenden Studien zahlreicher Universitätskl<strong>in</strong>iken – etwa zu<br />

den Nebenwirkungen 179 – aufmerksam verfolgt.<br />

1973 entwickelte <strong>Roche</strong> das Kao-Bactrim mit Kaol<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

Sirupform für K<strong>in</strong>der wie auch für Erwachsene gegen die Ruhr<br />

(Dysenterie). Dieses Medikament gegen Durchfall eignete sich<br />

vor allem für südliche und tropische Länder, während an e<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> Europa weniger Interesse bestand. 180 Wellcome<br />

arbeitete derweil an dispersiblen Tabletten mit Primojel, e<strong>in</strong> nicht<br />

patentfähiges Produkt, das aber dennoch als Geschäftsgeheimnis<br />

deklariert wurde. 181<br />

Nummer drei h<strong>in</strong>ter Valium und Librium<br />

Das jährliche <strong>Roche</strong>-Symposion im Oberharzer Kurort Hahnenklee<br />

befasste sich 1973 mit der Bakteriologie, Pharmakologie und<br />

kl<strong>in</strong>ischen Anwendung von Bactrim. 182 Auch die regelmässigen<br />

Bactrim-Treffen zwischen den Partnerfirmen wurden Mitte der<br />

1970er Jahre fortgesetzt. Man beschloss für die E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong><br />

Indien e<strong>in</strong>e enge Kooperation, beriet über den Preisdruck durch<br />

die US-Regierung und empörte sich über die Behörden <strong>in</strong> Norwegen,<br />

die glaubten, Bactrim/Septr<strong>in</strong> sei e<strong>in</strong> Medikament zweiter<br />

Wahl. 183 Die Zusammenarbeit mit Wellcome bot aber immer<br />

wieder gewisse Reibungsflächen. Die Generaldirektion von <strong>Roche</strong><br />

überlegte im Frühjahr 1974, wie e<strong>in</strong>e Senkung des Lieferpreises<br />

von Trimethoprim von Wellcome um 34% erreicht werden<br />

könne; man war der Me<strong>in</strong>ung, dass auch Nutley für ihre Produktion<br />

nur diesen Preis bezahlen sollte. Zudem war abgesprochen,<br />

dass Burroughs Wellcome Septr<strong>in</strong> <strong>in</strong> Pakistan e<strong>in</strong>führen solle,<br />

während <strong>Roche</strong> den iranischen Markt mit Bactrim versorgen<br />

wollte. Weil Wellcome aber entgegen den Abmachungen doch<br />

nach Iran vorstiess, wollte man für Pakistan e<strong>in</strong>e Entschädigung<br />

e<strong>in</strong>fordern. <strong>Roche</strong> London hatte e<strong>in</strong>e wasserlösliche Bactrim-Tab-<br />

lette entwickelt und wollte diese rasch e<strong>in</strong>führen, «um gegenüber<br />

Burroughs Wellcome e<strong>in</strong>en Vorsprung zu haben». Man gedachte<br />

damit wegen der Diskussionen um Indien und Pakistan allerd<strong>in</strong>gs<br />

noch zwei Monate zuzuwarten – vor allem wegen Indien, wo<br />

Wellcome zur E<strong>in</strong>führung bereit war, während <strong>Roche</strong> Bombay<br />

die Bewilligung zur E<strong>in</strong>führung noch nicht erhalten hatte. 184<br />

Mitte 1975 g<strong>in</strong>g bei Burroughs Wellcome das Gerücht um, dass<br />

<strong>Roche</strong> <strong>in</strong> England e<strong>in</strong> Verfahren zur eigenständigen Herstellung<br />

von Trimethoprim vorantreibe. Überhaupt neige <strong>Roche</strong> zu der<br />

Auffassung, sie sei seit Februar 1975 frei, die Substanz selber zu<br />

produzieren. Aus Basel kam <strong>in</strong>dessen beruhigender Bescheid:<br />

Wellcome brauche sich solange ke<strong>in</strong>e Sorgen zu machen, als die<br />

Preise für Trimethoprim vernünftig seien. 185<br />

1974 konnte <strong>Roche</strong> bekannt geben, dass Bactrim ausserhalb<br />

der USA e<strong>in</strong> so grosser Erfolg sei, dass es unter den <strong>Roche</strong>-<br />

Produkten mittlerweile h<strong>in</strong>ter Valium und Librium die dritte<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Hahnenklee-Symposium 1973,<br />

Titelseite des Tagungsberichts.<br />

Die von <strong>Roche</strong> organisierten,<br />

jährlich stattf<strong>in</strong>denden<br />

Symposien im Kurort Hahnenklee<br />

galten ab 1973 spezifisch<br />

Themen zur Infektiologie. Das<br />

erste Symposium im Jahre 1973<br />

befasste sich allgeme<strong>in</strong> mit<br />

Bactrim. Die nachfolgenden<br />

Symposien konzentrierten sich<br />

auf e<strong>in</strong>e jeweilige Indikation des<br />

Medikaments, beispielsweise<br />

im Folgejahr den Infektionen der<br />

Atmungsorgane<br />

9./10.1.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

184 Auszug aus GD-Protokoll No 13 vom 22.-<br />

28.4.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.<br />

185 Aktennotiz von M. Mathez, 27.6.1975. HAR<br />

138 139


FE.2.1 - 103531 o.<br />

186 M<strong>in</strong>utes of the <strong>Roche</strong> Reserach Management<br />

Group Meet<strong>in</strong>g, July 22-26, 1974, Interlaken,<br />

S. 20 f. HAR FE.0.4 - 103593 l.<br />

187 Memo for the RRMG-Meet<strong>in</strong>g 1975, 22nd<br />

May, 1975, HAR FE.0.4 - 103593 m.<br />

188 Havas, L.: Interner Forschungsbericht,<br />

26.8.1975. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.<br />

189 Schrank, J: <strong>Roche</strong>-Wellcome-Meet<strong>in</strong>g,<br />

London (17.-18.12.75), 13.1.1976. HAR DE.2.1<br />

- 103531 t,u.<br />

190 Ruf als Chemotherapeutikafirma gestärkt.<br />

In: <strong>Roche</strong> Nachrichten, Ausgabe Oktober,<br />

Stelle e<strong>in</strong>nehme. Die E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den US-Markt werde das<br />

Verkaufsvolumen noch steigern; <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />

war das dort 1973 e<strong>in</strong>geführte Medikament nämlich erst gegen<br />

Harnwegs<strong>in</strong>fekte zugelassen. E<strong>in</strong> breiteres Anwendungsspektrum<br />

erschien daher als sehr wünschenswert. 186 Am Meet<strong>in</strong>g des <strong>Roche</strong>-<br />

Managements 1975 im englischen Great Fosters wurde über die<br />

neuesten kl<strong>in</strong>ischen Bactrim-Studien berichtet, so etwa über<br />

die Testberichte von Tabletten und pädiatrischen Suspensionen<br />

gegen verschiedene Infektionen. Ermutigende Resultate zeigten<br />

die Therapien bei Bakterienruhr oder bei Infektionen mit dem<br />

Pilz Pneumocystis car<strong>in</strong>ii, der damals als möglicher Erreger von<br />

Lungenentzündung beurteilt wurde. Studien über Behandlungen<br />

von Mittelohrentzündungen sahen ebenfalls vielversprechend<br />

aus, ebenso Untersuchungen über Hirnhautentzündungen oder<br />

über Krankheitserreger wie Staphylokokken, Streptokokken,<br />

Escherichia coli und Klebsiella. Untersuchungen über Infektionen<br />

der Harnwege mit 10 oder 28 Tagen Behandlung zeigten mit<br />

Bactrim-Gaben bessere Resultate als mit anderen Produkten.<br />

Erfolge bei chronischen Prostata-Entzündungen waren ebenso<br />

offensichtlich wie bei Gonorrhoe. Auch die Injektionslösungen,<br />

die bei schweren Infektionen zur Anwendung kommen sollten,<br />

wurden ständig weiterentwickelt. 187 So befand sich die Bactrim-<br />

Ampullenlösung für <strong>in</strong>tramuskuläre Verabreichung seit Anfang<br />

1975 <strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiver kl<strong>in</strong>ischer Prüfung. Es handelte sich dabei<br />

um 3ml-Ampullen mit 800mg Sulfamethoxazol und 160mg Trimethoprim<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er 52-prozentigen Glycofurol-Lösung – e<strong>in</strong>e<br />

Komb<strong>in</strong>ation mit Verdoppelung der Wirkstoffe, die später <strong>in</strong><br />

Tablettenform als «Bactrim forte» auf den Markt kommen sollte.<br />

Die Therapieresultate und die allgeme<strong>in</strong>e Verträglichkeit waren<br />

bei 138 Patienten aus acht Ländern «recht zufriedenstellend». 188<br />

Der Kao-Bactrim-Sirup sowie e<strong>in</strong> Bactrim Balsamico befanden<br />

sich ebenfalls <strong>in</strong> Prüfung; diesbezüglich zog es Basel vor, mit<br />

Wellcome ke<strong>in</strong>e Informationen auszutauschen. 189<br />

Der 9. Internationale Kongress für Chemotherapie <strong>in</strong> London<br />

vere<strong>in</strong>igte vom 13. bis 18. Juli 1975 2 000 Spezialisten mit fast<br />

tausend Referaten. Immerh<strong>in</strong> 60 davon betrafen wissenschaftliche<br />

Erfahrungen mit <strong>Roche</strong>-Präparaten, über 30 handelten<br />

von Bactrim, so dass man <strong>in</strong> Basel zufrieden konstatierte, dass<br />

<strong>Roche</strong> ihren Ruf als Chemotherapeutica-Firma stärken konnte. 190<br />

Währenddessen blieb die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von<br />

Bactrim und möglichen Nachfolgepräparaten zwischen <strong>Roche</strong><br />

und Wellcome eng. Beide Unternehmen erforschten etwa e<strong>in</strong>e<br />

weitere Trimethoprim/Sulfonamidkomb<strong>in</strong>ation, nämlich Trime-<br />

Aquarell für e<strong>in</strong>e Bactrim-<br />

Werbeanzeige des Basler<br />

Graphikers und Karikaturisten<br />

Christoph Gloor, 1970er Jahre<br />

thoprim/Sulfadiaz<strong>in</strong>. Man suchte laufend neue Potentiatoren und<br />

tauschte zur Auswahl der geeignetsten Arzneimittel-Kandidaten<br />

wissenschaftliche Unterlagen aus. 191 So <strong>in</strong>formierten sich die<br />

Teilnehmer des geme<strong>in</strong>samen Treffens bei Burroughs Wellcome<br />

<strong>in</strong> Beckenham, North Carol<strong>in</strong>a, vom 17. bis 19. Dezember über<br />

neueste Tierexperimente und über die Fortschritte der Forschung<br />

zur Komb<strong>in</strong>ation Trimethoprim/Sulfadiaz<strong>in</strong>, wobei e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit<br />

beschlossen wurde. Dieses enge Zusammengehen sollte<br />

auch auf neue Potentiatoren ausgedehnt werden. 192<br />

Gefahr im Anzug: Trimethoprim als<br />

E<strong>in</strong>zelpäparat<br />

Für Beunruhigung sorgte Anfang 1976 <strong>in</strong> Basel, dass Trimethoprim<br />

von e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>nischen Firma kommerzialisiert wurde und<br />

ausserdem von Konkurrenzfirmen Bestrebungen im Gang waren,<br />

Trimethoprim als E<strong>in</strong>zelpräparat zu verwenden. Diese E<strong>in</strong>füh-<br />

4/1975, S. 1.<br />

191 Zusammenarbeit mit Wellcome auf<br />

dem Gebiet von Bactrim und möglichen<br />

Nachfolgepräparaten, Interne Mitteilung,<br />

10.11.1975. HAR FE.2.1 - 103531 q,r.<br />

192 M. Fernex und H. Neumann: Zusammenarbeit<br />

mit Wellcome auf dem Gebiet von Bactrim<br />

und möglichen Nachfolgepräparaten, Interne<br />

Mitteilung, 10.11.1975. HAR DE.2.1 - 103531<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

140 141


prim. 197 Stets auf der Suche nach e<strong>in</strong>em Nachfolgeprodukt, komb<strong>in</strong>ierte<br />

man Trimethoprim und Sulfadiaz<strong>in</strong> im Verhältnis e<strong>in</strong>s<br />

zu drei (Ro 12-2510). Untersucht wurden bei dieser Komb<strong>in</strong>ation<br />

die Aktivität <strong>in</strong> vitro und <strong>in</strong> vivo, die pharmakologischen und<br />

pharmakok<strong>in</strong>etischen Eigenschaften, die Nebenwirkungen, die<br />

Toxikologie beim Tier und schliesslich die kl<strong>in</strong>ische Anwendung.<br />

Es ergab sich e<strong>in</strong>e erstaunlich günstige Diffusion von Sulfodiaz<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>s Bronchialgewebe, <strong>in</strong>s Bronchialsekret und <strong>in</strong> den Speichel, was<br />

e<strong>in</strong>e gute chemotherapeutische Wirkung bei Luftwegs<strong>in</strong>fektionen<br />

versprach. 198<br />

Am 10. Internationalen Kongress für Chemotherapie vom<br />

18. bis zum 23. September 1977 trafen sich <strong>in</strong> Zürich gegen 3 000<br />

Wissenschaftler; es wurden über 60 Referate zu <strong>Roche</strong>-Produkten<br />

gehalten, darunter viele wiederum über Bactrim. 199 1981 publizierten<br />

John Marks, Arzt und Leiter von <strong>Roche</strong> London, sowie<br />

der Basler Mikrobiologe und <strong>Roche</strong>-Forscher Pierre Reusser e<strong>in</strong>e<br />

umfassende Monografie zu Bactrim. 200 Aufgrund des neuesten<br />

Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten sie dar<strong>in</strong><br />

das Konzept des Heilmittels, die wissenschaftliche Grundlage,<br />

den kl<strong>in</strong>ischen E<strong>in</strong>satz, die Nebenwirkungen sowie spezifische<br />

Produkte-Informationen auf. Hatte die Literaturliste bei der<br />

E<strong>in</strong>führungsbroschüre von 1969 lediglich 51 Titel umfasst 201 ,<br />

waren es jetzt 941 202 .<br />

Den Rekordumsatz erreichte Bactrim mit 441 <strong>Millionen</strong> Franken<br />

im Jahre 1985, 16 Jahre nach der E<strong>in</strong>führung und genau im<br />

Jahr des Patentablaufs von Valium, dem damals meistverkauften<br />

Medikament von <strong>Roche</strong>. Zum Erfolg von Bactrim trug zweifellos<br />

auch der gehäufte E<strong>in</strong>satz des Medikaments gegen bakterielle<br />

Infektionen bei, welche als Folge der Immunschwäche AIDS<br />

auftraten. Cotrimoxazol (unter anderen Bactrim) wird von der<br />

Weltgesundheitsorganisation WHO nach wie vor als e<strong>in</strong>fache, gut<br />

verträgliche und kostengünstige Vorbeugung gegen Neben<strong>in</strong>fektionen<br />

bei HIV-Patienten im Erwachsenen- und K<strong>in</strong>desalter <strong>in</strong><br />

Drittweltländern empfohlen. 203 Diese pragmatische Massnahme<br />

des UNO-Aidsprogramms kommt mit Kosten von acht Dollar<br />

pro Kopf und Behandlungszyklus aus. Demgegenüber kostete<br />

im Jahr 2000 e<strong>in</strong>e klassische antivirale Komb<strong>in</strong>ationstherapie im<br />

Westen rund 15 000 Dollar pro Monat. Die von der WHO geförderte<br />

Massnahme wurde allerd<strong>in</strong>gs teilweise als diskrim<strong>in</strong>ierend<br />

beurteilt und stiess deswegen auf scharfe Kritik. 204<br />

Die Verkaufszahlen von Bactrim waren trotz kle<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>bruch<br />

1978 kont<strong>in</strong>uierlich angestiegen und hatten 1981 die<br />

400-<strong>Millionen</strong>-Grenze überschritten. Angesichts der auslaufent,u.<br />

193 Notiz Trimethoprim als E<strong>in</strong>zelspezialität,<br />

8.1.1976. HAR FE.2.1 - 103531 p.<br />

194 Havas, L.: Die Wirksamkeit und<br />

Verträglichkeit von Trimethoprim als<br />

E<strong>in</strong>zelpräparat (prälim<strong>in</strong>ärer Bericht),<br />

17.2.1976. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.<br />

195 Böhni, Erika: E<strong>in</strong>ige Gedanken über die<br />

Gefahr der alle<strong>in</strong>igen Anwendung von TM,<br />

Mskr., 19.2.1976, S. 4. HAR DE.2.1 - 103531<br />

t,u.<br />

196 Lacey, R. W. / Lord, V. L. / Gunasekara, H. K. /<br />

Leibermann, P. J. / Luxton, D. E.: Comparison<br />

of trimethoprim alone with trimethoprim<br />

sulphamethoxazole <strong>in</strong> the treatment<br />

of respiratory and ur<strong>in</strong>ary <strong>in</strong>fections<br />

with particular reference to selection of<br />

trimethoprim resistance. In: Lancet 1, Nr.<br />

8181, ju<strong>in</strong> 1980, S. 1270-1273. – Brumfitt,<br />

W. / Hamilton-Miller, J. M. / Havard, C. W. /<br />

Transley, H.: Trimethoprim alone compared to<br />

cotrimoxazole <strong>in</strong> lower respiratory <strong>in</strong>fections:<br />

pharmacok<strong>in</strong>etics and cl<strong>in</strong>ical effectiveness.<br />

In: Scand<strong>in</strong>avian Journal of Infectious<br />

rung als E<strong>in</strong>zelspezialität bedeutete ganz zweifellos e<strong>in</strong>e Gefahr<br />

für Bactrim/Septr<strong>in</strong>, und zwar für die Verkäufe wie auch für die<br />

Komb<strong>in</strong>ation als Ganzes. Man wollte sich bei <strong>Roche</strong> sorgfältig auf<br />

geeignete Gegenmassnahmen vorbereiten und erwog sogar, Trimethoprim<br />

vorsorglich als E<strong>in</strong>zelsubstanz für ganz beschränkte<br />

Indikationen <strong>in</strong> den USA anzumelden. Doch kam man zu dem<br />

Schluss, dass alles unternommen werden müsse, um e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung<br />

von Trimethoprim als E<strong>in</strong>zelsubstanz um jeden Preis<br />

zu verh<strong>in</strong>dern. 193<br />

Ausgehend von Literaturstudien stand es um die kl<strong>in</strong>ischen<br />

Ergebnisse für Trimethoprim nicht sehr gut. 194 Erika Böhni<br />

schrieb ihre Gedanken darüber <strong>in</strong> gewohnter Prägnanz nieder<br />

(«Bitte nicht abgeben an Wellcome»). Sie sah den möglichen<br />

Grund der Propagierung e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>igen Anwendung<br />

von Trimethoprim im Ablauf der Patente. Alles sei schon mal<br />

dagewesen: Man habe vor 20 Jahren das Trimethoprim <strong>in</strong> den<br />

USA und später auch <strong>in</strong> der Schweiz alle<strong>in</strong> abgegeben; dies mit<br />

gewissen chemotherapeutischen Erfolgen, aber auch mit schweren<br />

Nebenwirkungen. Blutschäden und sogar Todesfälle seien<br />

damals aufgetreten, und genau darum wurde e<strong>in</strong> Sulfonamid<br />

beigegeben. Erst die Komb<strong>in</strong>ation erlaubte es, solche Nebenwirkungen<br />

ohne Bee<strong>in</strong>trächtigung der chemotherapeutischen<br />

Aktivitäten zu reduzieren. Der Effekt – argumentierte Böhni<br />

– wurde mit der Komb<strong>in</strong>ation sogar noch verstärkt und die<br />

Resistenzentwicklung erfolge langsamer. Gerade darum wurde<br />

das Trimethoprim <strong>in</strong> den USA nur <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation zugelassen.<br />

<strong>Roche</strong> habe zahllose chemotherapeutische Versuche mit überzeugenden<br />

Resultaten durchgeführt, und zwar experimentell<br />

wie kl<strong>in</strong>isch. Die Bactrim-Pionier<strong>in</strong> kam <strong>in</strong> ihrem Bericht über<br />

den drohenden Alle<strong>in</strong>gang von Trimethoprim zum Schluss:<br />

«Wir zerstören damit selbst (wenn auch nur Wellcome) unser<br />

ganzes, geme<strong>in</strong>sam während zwölf Jahren mühsam entwickeltes<br />

Konzept und damit auch alle zukünftigen hoffnungsvollen<br />

Komb<strong>in</strong>ationen dieser Art.» 195<br />

Tatsächlich gelang es <strong>in</strong> der Folge aber nicht, das «Trimethoprim<br />

Mono» (Infectotrimet) als E<strong>in</strong>zelsubstanz zu verh<strong>in</strong>dern;<br />

es gab sogar Forscher, die dem Trimethoprim als E<strong>in</strong>zelsubstanz<br />

e<strong>in</strong>e bessere Verträglichkeit zuschrieben, da das Medikament<br />

ohne Sulfonamid auskomme. 196<br />

Auch an anderen Komb<strong>in</strong>ationen wurde weiterh<strong>in</strong> geforscht,<br />

wobei <strong>Roche</strong> zum Schluss kam, dass Sulfamoxol <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en antibakteriellen<br />

Qualitäten dem gebräuchlichen Sulfamethoxazol<br />

vielfach unterlegen war, auch <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Trimetho-<br />

Diseases 17, Nr. 1 (1985), S. 99-105.<br />

197 Böhni, Erika: Hemmende und abtötende<br />

Wirkung zweier Trimethoprim-Sulfonamid-<br />

Komb<strong>in</strong>ationen, Mskr., 26.11.1975. HAR<br />

DE.2.1 – 103531 t,u.<br />

198 Komb<strong>in</strong>ation Trimethoprim + Sulfadiaz<strong>in</strong> (1 +<br />

3), Ro 12-2510, Beschreibung für die Kl<strong>in</strong>ik.<br />

HAR FE.2.1 - 103531 s.<br />

199 Sechzig Referate über <strong>Roche</strong>-<br />

Chemotherapeutika. In: <strong>Roche</strong> Nachrichten,<br />

Ausgabe Dezember, 5/1977, S. 14.<br />

200 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’<br />

<strong>Roche</strong>. A Broad-spectrum Antibacterial<br />

Agent With Ma<strong>in</strong>ta<strong>in</strong>ed High Bacterial<br />

Sensitivity. 1. Aufl. Basel 1981. 2. Aufl. Basel<br />

1983.<br />

201 «Bactrim» <strong>Roche</strong>. Bakterizides Breitband-<br />

Therapeuticum (1969), S. 80-84.<br />

202 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’<br />

<strong>Roche</strong> (1983), S. 121-165.<br />

203 http://www.roche.com/de/corporate_<br />

responsibility/patients/access_to_healthcare/<br />

develop<strong>in</strong>g_countries/who_essential_<br />

medic<strong>in</strong>es.htm<br />

204 Alles für die Nationale Sicherheit. Afrikas<br />

Aids-Katastrophe: USA f<strong>in</strong>anzieren neue<br />

Menschversuche. In: Die Wochenzeitung,<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Pierre Reusser<br />

am Arbeitsplatz<br />

Bau 74, um 1985<br />

142 143


Bactrim Umsätze<br />

Umsatz 450<br />

(Mio. CHF)<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Jahr 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010<br />

24.2.2000, S. 1.<br />

205 Bactrim-Umsätze 1969-2010. HAR FR.2.3.5 -<br />

107395.<br />

206 Falsch und tödlich. Gefälschte Medikamente<br />

und Flugzeugersatzteile gefährden<br />

Menschenleben. In: Cash, 29.4.1994.<br />

207 Drusano, G[eorge] L. e.a.: Bactrim today.<br />

den Patente nach 1989 und zunehmender Nachahmerpräparate<br />

fiel der Umsatz von Bactrim seit 2008 unter 100 <strong>Millionen</strong> Franken.<br />

205 Mit gefährlichen Fälschungen mussten sich <strong>Roche</strong> und<br />

Wellcome seit 1982 <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> und im Libanon befassen. 206<br />

1988 verfasste George L Drusano, Pharmakologe am Albany<br />

Medical College <strong>in</strong> New York, das Buch «Bactrim today». 207 Mit<br />

zahlreichen e<strong>in</strong>drücklichen Graphiken zeigte er kurz vor Ablauf<br />

des Patentschutzes den therapeutischen Erfolg von Bactrim noch<br />

e<strong>in</strong>mal auf. Ke<strong>in</strong>e trockenen wissenschaftlichen Therapiestatistiken<br />

und schon gar nicht kommerzielle Umsatzkurven können uns<br />

aber aufzeigen, welche Wirkung Bactrim bei den vielen hundert<br />

<strong>Millionen</strong> behandelter Patient<strong>in</strong>nen und Patienten verschiedensten<br />

Alters hatte. Jeder <strong>in</strong>dividuelle Behandlungserfolg bei<br />

Säugl<strong>in</strong>gen, K<strong>in</strong>dern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren<br />

ist für die Kranken wie auch für ihre Angehörigen e<strong>in</strong>e enorme<br />

Erleichterung, geschehe es <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dischen Grosstadt, mitten im<br />

afrikanischen Regenwald oder auf e<strong>in</strong>er abgelegenen kanadischen<br />

Farm. Speziell für die Entwicklungsländer bedeutete Bactrim<br />

e<strong>in</strong>en bedeutenden Behandlungsfortschritt bei oft lebensgefährlichen<br />

Krankheiten.<br />

Bruno Halm, Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Ablauf des Patentschutzes<br />

Nach Ablauf des Patentschutzes verschärfte sich erwartungsgemäss<br />

der Wettbewerb. Es wurden zahlreiche Nachahmerprodukte<br />

auf den Markt gebracht, die bis zu 50% billiger verkauft wurden.<br />

Für 20 Tabletten des Generikums «Goprim» etwa bezahlte man<br />

1994 unter 11 Franken, anstatt über 20 Franken, wie für das Orig<strong>in</strong>alpräparat.<br />

208 Mitte der 1990er Jahre g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Bactrim-Packung<br />

<strong>in</strong> der Schweiz für 15 Franken an die Apotheker und wurde für<br />

20 Franken verkauft. In Frankreich kostete die gleiche Packung<br />

22 Francs, war also fast viermal billiger. Gewiss konnte <strong>Roche</strong><br />

mit der unterschiedlichen Währungsentwicklung argumentieren,<br />

doch war immerh<strong>in</strong> zu bedenken, dass das Produkt bei der<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> beiden Ländern noch gleich teuer gewesen war. 209<br />

Als das Bundesamt für Sozialversicherungen für kassenpflichtige<br />

Medikamente den Preis festsetzte, wurde Bactrim nach dem Jahr<br />

2000 bedeutend billiger. 210 Der Preis ist heute <strong>in</strong> allen Märkten<br />

etwa halb so hoch wie für die günstigsten klassischen Antibiotika.<br />

Die Tablette zu 480mg Cotrimoxazol (400mg Sulfamethoxazol +<br />

80mg Trimethoprim) wird beispielsweise <strong>in</strong> Indien für 42 Cents<br />

angeboten, <strong>in</strong> Thailand für knapp e<strong>in</strong>en Dollar. Aber der Verkaufspreis<br />

ist oftmals sogar noch tiefer; Angebote für 14 Cents<br />

pro Tablette s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Staatliche Gesundheitsorganisationen<br />

und Hilfswerke kaufen jedoch direkt bei den Herstellern<br />

e<strong>in</strong> und erzielen damit grosse Rabatte.<br />

Die WHO beziffert deswegen die Kosten für e<strong>in</strong>e Tagesdosis<br />

Cotrimoxazol auf weniger als 10 Cents, womit<br />

das Produkt für e<strong>in</strong>e enorm grosse Zahl von Menschen<br />

erschw<strong>in</strong>glich ist. Aufgrund des breiten Wirkungsspektrums<br />

und des günstigen Preises wurde Cotrimoxazol so<br />

zu e<strong>in</strong>em der meistverwendeten Anti<strong>in</strong>fektiva weltweit.<br />

Am 27. Februar 1994 erhob die englische «Sunday Times» <strong>in</strong><br />

fetten Lettern schwere Vorwürfe gegen Bactrim/Septr<strong>in</strong>. Seit 1969<br />

seien <strong>in</strong> Grossbritannen wegen dieses Medikaments 113 offizielle<br />

Todesfälle aufgetreten, und die Dunkelziffer sei gewiss noch<br />

wesentlich höher. <strong>Roche</strong> bestritt die offizielle Zahl der Todesfälle<br />

nicht, wohl aber die angebliche Dunkelziffer, weil Grossbritannien<br />

München, Bern 1988.<br />

208 Warum billige Produkte, wenn’s auch teure<br />

gibt? In: Cash, 20.8.1993.<br />

209 Medikamentenpreise. Apotheker hat den<br />

Wettbewerb erfunden. In: Facts, 18.7.1996,<br />

S. 30.<br />

210 1000 Medikamente werden massiv billiger. In:<br />

144 145


Cash, 14.6.1996, S. 1.<br />

211 Medikamente s<strong>in</strong>d (fast) nie harmlos.<br />

Englische Sonntagszeitung klagt Bactrim an.<br />

In: Tages-Anzeiger, 2.3.1994, S. 68.<br />

212 Flutwelle. Der grosse Sammeltag: Nach der<br />

Spenden-Gala waren es über 100 <strong>Millionen</strong>!<br />

In: Blick, 8.1.2005, S. 8.<br />

213 Ärzte verordnen häufig falsche Antibiotika.<br />

In: SonntagsZeitung, 20.9.2009, S. 71.<br />

214 Prof. Dr. Terapong Tantawichien, Head of<br />

Infectious Disease Unit, Chulalongkorn<br />

University Hospital and Medical School,<br />

Interview vom 21.7.2011.<br />

über e<strong>in</strong> vorzügliches Meldesystem bezüglich Nebenwirkungen<br />

von pharmazeutischen Produkten verfüge. Auch stellte man die<br />

tragischerweise Verstorbenen <strong>in</strong> Beziehung zu den fünf <strong>Millionen</strong><br />

alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Grossbritannien geheilten Patienten. 211 Neben solchen<br />

negativen Schlagzeilen sollten die guten nicht vergessen gehen:<br />

Angesichts der Tsunami-Flutkatastrophe Ende 2004 <strong>in</strong> acht asiatischen<br />

Ländern spendete <strong>Roche</strong> der schweizerischen «Glückskette»<br />

zur dr<strong>in</strong>gend benötigten medikamentösen Versorgung von 80 000<br />

Überlebenden 220 000 Packungen Bactrim und Roceph<strong>in</strong> im Wert<br />

von e<strong>in</strong>er Million Franken. 212<br />

Gewiss, die Euphorie der siebziger und frühen achtziger Jahre<br />

des 20. Jahrhunderts, wonach das Problem sämtlicher Infektionen<br />

mit Impfungen und Medikamenten gelöst werden könne,<br />

ist mittlerweile verflogen. Speziell bei bakteriellen Infektionen<br />

ist vermehrt mit beunruhigenden Resistenzentwicklungen und<br />

reduzierter Immunabwehr zu rechnen. Die grenzenlose Mobilität<br />

und der Tourismus, aber auch Naturkatastrophen, Krieg,<br />

Hunger und Armut erzeugen als unerwünschte Nebenwirkung<br />

die Verschleppung bekannter und die Bildung neuer Mikroorganismen<br />

und somit die Entstehung neuer Krankheiten. Das<br />

Medikament Bactrim stösst da ebenfalls an se<strong>in</strong>e Grenzen. Fast<br />

25% der Escherichia-Coli Bakterien, die Harnwegs<strong>in</strong>fekte verursachen,<br />

reagieren nicht mehr auf das Heilmittel. 213<br />

Trotz solch nachdenklicher Ausblicke bleibt die Geschichte<br />

von Bactrim die Geschichte e<strong>in</strong>es Medikaments mit e<strong>in</strong>drucksvollem<br />

bakterientötendem Effekt, beispielhafter therapeutischer<br />

Wirkung, noch immer ger<strong>in</strong>ger Resistenz und guter Verträglichkeit.<br />

Viele hundert <strong>Millionen</strong> Menschen auf allen Kont<strong>in</strong>enten<br />

verdanken Cotrimoxazol ihr Leben. Bactrim steht heute nicht<br />

mehr konkurrenzlos da, sondern teilt sich den Markt mit vielen<br />

Generika, die teilweise zu ausgesprochen tiefen Preisen verfügbar<br />

s<strong>in</strong>d. Die Stärke der Marke «Bactrim» zeigt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Satz des Infektiologen Professor Terapong Tantawichien vom<br />

Chulalongkom University Hospital <strong>in</strong> Bangkok: «Wir therapieren<br />

hier viele Patienten mit Nachahmerprodukten von Bactrim.<br />

Sollte aber me<strong>in</strong>e Mutter an e<strong>in</strong>em Infekt der Atemwege oder<br />

des Unterleibes leiden, würde ich sie mit Bactrim behandeln.» 214<br />

Dank der Hartnäckigkeit der beteiligten Wissenschaftler<strong>in</strong>nen<br />

und Wissenschaftler bei <strong>Roche</strong> und Burroughs Wellcome<br />

ist es gelungen, mit Cotrimoxazol e<strong>in</strong> aussergewöhnliches<br />

Medikament zu schaffen, ohne das e<strong>in</strong>e effektive und kostengünstige<br />

Behandlung bakterieller Infektionen <strong>in</strong> den meisten<br />

Ländern der Welt heute nicht möglich wäre. Durch die grossen<br />

wissenschaftlichen und f<strong>in</strong>anziellen Anstrengungen, welche die<br />

beiden Firmen unternommen haben, stehen der Welt zudem<br />

verschiedenste galenische Formen für alle Altersgruppen und<br />

Krankheitsfälle sowie gesicherte Daten zu dem Produkt zur<br />

Verfügung. All dies ist nach dem Patentablauf Allgeme<strong>in</strong>gut<br />

geworden und wurde damit für die kostenlose Nutzung frei<br />

verfügbar.<br />

146 147


Ausgewählte Literatur<br />

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lehrt K<strong>in</strong>der das Staunen vor den<br />

Wundern der Natur. Steckenpferde<br />

(11). In: <strong>Roche</strong> Nachrichten 6<br />

(1986), S. 5.<br />

Weissbach, Herbert: Reflections on<br />

the <strong>Roche</strong> Institute of Molecular<br />

Biology after 20 years. In: Forschung<br />

bei <strong>Roche</strong>. Rückblick und<br />

Ausblick. Hg. von Jürgen Drews<br />

und Fritz Melchers. Basel 1989.<br />

148 149


Roceph<strong>in</strong><br />

Urs B. Schaad<br />

Keystone<br />

150


Entdeckung der Cephalospor<strong>in</strong>e<br />

Giuseppe Brotzu<br />

Im Jahre 1945 untersucht Giuseppe Brotzu <strong>in</strong> Sard<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>e<br />

Wasserprobe aus der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an<br />

der die Kloake <strong>in</strong>s Meer fliesst. Er vermutet, dass die zu beobachtende<br />

Selbstre<strong>in</strong>igung des Meerwassers teilweise dadurch<br />

zustande kommt, dass sich Mikroorganismen mit Hilfe selbst<br />

entwickelter Abwehrstoffe gegenseitig bekämpfen und vernichten.<br />

Aus der Wasserprobe isoliert er e<strong>in</strong>en Pilz mit dem Namen<br />

Cephalosporium acremonium und entdeckt, dass dieser antibiotisch<br />

wirksame Stoffwechselprodukte bildet und ausscheidet,<br />

die gegen e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Krankheitserregern wirksam<br />

s<strong>in</strong>d. Brotzu legt grössere Kulturen des Pilzes an und versucht,<br />

ausreichende Mengen dieser antibiotischen Abwehrstoffe zu<br />

gew<strong>in</strong>nen: Er will mit ihnen kl<strong>in</strong>ische Versuche durchführen<br />

und ihre Struktur aufklären. Der erste Teil dieses Vorhabens<br />

gel<strong>in</strong>gt: Brotzu spritzt diese konzentrierten Stoffe Patienten<br />

mit verschiedenen Infektionen. Die Heilerfolge s<strong>in</strong>d gut: Das<br />

erste Heilmittel e<strong>in</strong>er Gruppe von Antibiotika, die später nach<br />

ihrem Erzeugerpilz mit dem Sammelbegriff «Cephalospor<strong>in</strong>e»<br />

bezeichnet werden, ist entdeckt.<br />

Beim zweiten Teil se<strong>in</strong>es Vorhabens scheitert Brotzu. Er ist<br />

mit se<strong>in</strong>en beschränkten Möglichkeiten nicht <strong>in</strong> der Lage, den<br />

antibiotisch aktiven Stoff <strong>in</strong> genügend re<strong>in</strong>er Form zu isolieren,<br />

um strukturelle Studien unternehmen zu können. 1948 kommt<br />

er jedoch mit englischen Penicill<strong>in</strong>-Forschern aus Oxford <strong>in</strong><br />

Kontakt, welche die Aufgabe der Produktion, der Isolierung und<br />

der Strukturaufklärung des antibiotischen Pr<strong>in</strong>zips von Cephalosporium<br />

acremonium mit Begeisterung <strong>in</strong> Angriff nehmen. Im<br />

Jahre 1954 isolieren zwei dieser Forscher (E. P. Abraham und G.<br />

G. F. Newton) aus dem Pilz zwei Komponenten: Das Penicill<strong>in</strong><br />

N (mit dem chemischen Grundgerüst des Penicill<strong>in</strong>s) und das<br />

Cephalospor<strong>in</strong> C. Dieses Cephalospor<strong>in</strong> C erweist sich als e<strong>in</strong>e<br />

Substanz mit ausserordentlich <strong>in</strong>teressanten Eigenschaften: Im<br />

Gegensatz zu Penicill<strong>in</strong> N ist Cephalospor<strong>in</strong> C säurebeständig<br />

und widerstandsfähig gegen das Enzym Penicill<strong>in</strong>ase, e<strong>in</strong>em von<br />

bestimmten Bakterien gebildeten Abwehrstoff, der Penicill<strong>in</strong> aufspaltet<br />

und somit <strong>in</strong>aktiviert. Diese Penicill<strong>in</strong>ase-Resistenz führt<br />

dazu, dass mehr und mehr Patienten mit Infektionskrankheiten<br />

auf die Behandlung mit Penicill<strong>in</strong> nicht mehr oder nur noch<br />

ungenügend ansprechen. Bestimmte Bakterien s<strong>in</strong>d also gegen das<br />

klassische Antibiotikum resistent geworden. Röntgenstrukturanalysen<br />

ergeben, dass Cephalospor<strong>in</strong> C e<strong>in</strong> Grundgerüst besitzt,<br />

das als Beta-Lactamdihydrothiaz<strong>in</strong>-R<strong>in</strong>gsystem bezeichnet wird.<br />

Da die so genannte Seitenkette am Grundgerüst des Moleküls<br />

gleich aussieht wie diejenige von Penicill<strong>in</strong> N, liegt folgender<br />

Schluss nahe: Die wertvolle Widerstandsfähigkeit von Cephalospor<strong>in</strong><br />

C gegen den bakteriellen Abwehrstoff Penicill<strong>in</strong>ase ist<br />

nicht auf die Seitenkette, sondern auf das erwähnte R<strong>in</strong>gsystem<br />

zurückzuführen. Unverzüglich machen sich Wissenschafter<br />

daran, den Cephalospor<strong>in</strong>-Grundkörper herzustellen. Dieser soll<br />

experimentell bearbeitet, das heisst chemisch modifiziert werden,<br />

um Cephalospor<strong>in</strong>e zu synthetisieren, die Infektionskrankheiten<br />

wirkungsvoller bekämpfen sollen, als je zuvor.<br />

Damit fiel der Startschuss zur weltweiten Cephalospor<strong>in</strong>-<br />

Forschung, die <strong>in</strong> den sechziger, siebziger und bis ca. Mitte der<br />

achtziger Jahre die Ausrichtung der meisten forschenden Pharmafirmen<br />

entscheidend mitprägte. Das Cephalospor<strong>in</strong>-Gerüst<br />

erwies sich als äusserst <strong>in</strong>teressantes Substrat für die erwähnten<br />

chemischen Modifikationen: Unzählige wirksame und untoxische<br />

Cephalospor<strong>in</strong>e wurden entdeckt.<br />

Antibakterielle Wirkung<br />

Der Begriff «Antibiotikum» ist auf das Late<strong>in</strong>ische «Anti»<br />

(gegen) und das Griechische «Bios» (Leben) zurückzuführen.<br />

Als Antibiotika werden alle chemischen Substanzen bezeichnet,<br />

die die Entwicklung der Mikroorganismen «<strong>in</strong> vitro» (<strong>in</strong> der<br />

Labor-Anordnung) und «<strong>in</strong> vivo» (im Organismus) hemmen;<br />

Cephalosporium acremonium<br />

Keystone<br />

152 153


Beta-Lactam<br />

Die Resistenz der Bakterien gegen Antibiotika ist bis heute e<strong>in</strong><br />

Problem von grösster Aktualität; es betrifft mittlerweile praktisch<br />

alle Substanzen und alle Erreger.<br />

Für die kl<strong>in</strong>ische Anwendung bedeutet Resistenz, dass die<br />

m<strong>in</strong>imale Konzentration des Antibiotikums, die zur Zerstörung<br />

(bakterizide Wirkung) oder zur Wachstumshemmung (bakte-<br />

Am<strong>in</strong>o-<br />

Cephalosporansäure<br />

als gleichwertiger Begriff kommt heute vielmals die Bezeichnung<br />

Anti<strong>in</strong>fektiva zum E<strong>in</strong>satz, da die erwähnte Übersetzung des<br />

Begriffs Antibiotika («gegen Leben») beim Laien falsche Assoziationen<br />

hervorrufen könnte.<br />

Die verschiedenen Antibiotika unterscheiden sich <strong>in</strong> vielen<br />

Kriterien, wobei für Anwender und Patienten der Wirkungsmechanismus<br />

und <strong>in</strong>sbesondere das Wirkungsspektrum im<br />

Vordergrund stehen – und natürlich auch die möglichen Nebenwirkungen.<br />

Weitere Unterschiede betreffen Ursprung, chemische<br />

Zusammensetzung sowie die Art der Resistenzentwicklung.<br />

Die Cephalospor<strong>in</strong>e und die Penicill<strong>in</strong>e bilden die «Antibiotika-Familie»<br />

der Beta-Lactam-Antibiotika. Diese Substanzen<br />

haben den Beta-Lactam-R<strong>in</strong>g geme<strong>in</strong>sam; bei den Cephalospor<strong>in</strong>en<br />

ist an diesen Beta-Lactam-R<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Dihydrothiaz<strong>in</strong>-R<strong>in</strong>g<br />

(ergibt die 7-Am<strong>in</strong>o-Cephalosporansäure) und bei den Penicill<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong> Thiazolid<strong>in</strong>-R<strong>in</strong>g angehängt (ergibt die 6-Am<strong>in</strong>o-<br />

Penicillansäure).<br />

Neben dieser Strukturverwandtschaft besitzen<br />

die Beta-Lactam-Antibiotika denselben Wirkungsmechanismus:<br />

Die bakterizide Wirkung<br />

auf empf<strong>in</strong>dliche Keime – das heisst diese Bakterien<br />

werden abgetötet – kommt durch Hemmung<br />

der Zellwandsynthese zustande. Wichtigster<br />

Angriffspunkt ist das Mure<strong>in</strong>-Gerüst, e<strong>in</strong>e<br />

Eiweiss-Zucker-Verb<strong>in</strong>dung (Peptidoglycan);<br />

das Mure<strong>in</strong> sorgt für chemische Widerstandskraft<br />

und Festigkeit der Bakterien. Sowohl<br />

die Cephalospor<strong>in</strong>e als auch die Penicill<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>den sich mit<br />

Enzymen, die am Aufbau des Mure<strong>in</strong>-Skeletts beteiligt s<strong>in</strong>d. Die<br />

ungenügend synthetisierte Zellwand vermag das Bakterium nicht<br />

vor den Kräften des osmotischen Druckes zu schützen, es platzt<br />

und geht zugrunde. Die Beta-Lactam-Antibiotika können also nur<br />

Bakterien angreifen, die sich im Wachstumsstadium bef<strong>in</strong>den,<br />

sich also vermehren; ruhende Bakterien werden nicht abgetötet.<br />

Antibiotikaresistenz<br />

riostatische Wirkung) notwendig ist, am Infektionsherd nicht<br />

erreicht werden kann.<br />

Neben der natürlichen und gut bekannten Resistenz spielt die<br />

erworbene Resistenz e<strong>in</strong>e viel wichtigere Rolle. Die erworbene<br />

Resistenz basiert auf Chromosomen-Mutation oder auf Übertragung<br />

von genetischem Material.<br />

Die durch Mutation erworbene Resistenz kommt selten vor<br />

und gew<strong>in</strong>nt nur unter Selektionsdruck, das heisst bei sehr langer<br />

Anwendung des die Resistenz verursachenden Antibiotikums,<br />

an kl<strong>in</strong>ischer Bedeutung. Durch Antibiotika-Wechsel und/oder<br />

Antibiotika-Komb<strong>in</strong>ation lässt sich diese Resistenzentwicklung<br />

verh<strong>in</strong>dern.<br />

Die durch Übertragung erworbene Resistenz erklärt gute 90%<br />

der <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik relevanten Antibiotika-Resistenzen. Verschiedene<br />

komplexe Mechanismen kommen für die Übertragung von genetischem<br />

Material <strong>in</strong> Frage, das die Resistenzeigenschaften enthält.<br />

Cephalospor<strong>in</strong>-Forschung<br />

Wie erwähnt, startete <strong>in</strong> den frühen sechziger Jahren die weltweite<br />

und zunehmend rasante Entwicklung neuer Cephalospor<strong>in</strong>e.<br />

Die chemische Modifikation der verschiedenen Seitenketten<br />

der 7-Cephalosporansäure sollte Wirkung und Verträglichkeit<br />

optimieren. Der prognostizierte Markt war riesig und prägte die<br />

Motivation der <strong>in</strong>volvierten Forschergruppen.<br />

Bei <strong>Roche</strong> war der Ausgangspunkt für das Cephalospor<strong>in</strong>-<br />

Programm im Jahre 1969 die Erkenntnis, dass die Firma mit<br />

den Sulfonamiden und Bactrim zwar e<strong>in</strong>e starke Stellung bei<br />

den Allgeme<strong>in</strong>praktikern hatte, aber im Spitalmarkt kaum<br />

präsent war. So wurde <strong>in</strong> den chemischen und mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Abteilungen beschlossen, e<strong>in</strong> Syntheseprogramm für semisynthetische<br />

Penicill<strong>in</strong>e und später zusätzlich auch für Cephalospor<strong>in</strong>e<br />

aufzubauen. Zu dem Zeitpunkt waren also bereits etliche<br />

Konkurrenzfirmen auf diesem Gebiet erfolgreich tätig und der<br />

Zugang für neue Firmen wurde durch die vorhandenen Patente,<br />

die zum Teil sehr breit abgefasst waren, erheblich erschwert.<br />

Auch waren die Forschungs gruppen bei <strong>Roche</strong> kle<strong>in</strong>er als bei<br />

der Konkurrenz.<br />

Die Synthese und die Entwicklung von Roceph<strong>in</strong> basiert auf<br />

e<strong>in</strong>em ungewöhnlich grossen Engagement und Teamwork von<br />

Chemikern, Pharmakologen, Mikrobiologen, Toxikologen, Galenikern,<br />

Pharmakok<strong>in</strong>etikern, Verfahrenstechnikern, Kl<strong>in</strong>ikern<br />

und Market<strong>in</strong>gspezialisten.<br />

Am<strong>in</strong>o-Penicillansäure<br />

154 155


Roland Re<strong>in</strong>er<br />

Peter Angehrn<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

In den ersten Jahren waren der Chemiker Roland Re<strong>in</strong>er, der Mikrobiologe<br />

Peter Angehrn und der Biologe Peter Probst zusammen<br />

mit ihren Mitarbeitern die wichtigsten treibenden Kräfte. Peter<br />

Angehrn er<strong>in</strong>nert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief, datiert vom 1. November<br />

2010: «Es ist <strong>in</strong> der Regel das fasz<strong>in</strong>ierende Zusammenwirken<br />

von verschiedenen Faktoren und Personen zur richtigen Zeit<br />

am richtigen Ort, was zu erfolgreichen Entdeckungen führt.<br />

Ausserdem braucht es e<strong>in</strong>e gehörige Portion Glück. So war es<br />

auch bei Roceph<strong>in</strong>.»<br />

Als Roland Re<strong>in</strong>er 1969 auftragsgemäss begann, sich mit<br />

Cephalospor<strong>in</strong>en ause<strong>in</strong>anderzusetzen, stand er vor e<strong>in</strong>em elementaren<br />

Problem: Den chemischen Grundkörper, die erwähnte<br />

7-Cephalosporansäure, gab es bei ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Fe<strong>in</strong>chemikalien-Händler<br />

zu kaufen. So musste Re<strong>in</strong>er diese Grundsubstanz<br />

aus e<strong>in</strong>em sich bereits im Handel bef<strong>in</strong>denden Cephalospor<strong>in</strong><br />

isolieren, <strong>in</strong>dem er die Seitenkette des betreffenden Moleküls<br />

abspaltete. Die Sache hatte allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en nicht unbeträchtlichen<br />

Haken: Das Antibiotikum, das Re<strong>in</strong>er für se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

gleich hundertgrammweise benötigte und sich von der Apotheke<br />

beschaffen musste, war teuer. Jede Bestellung kostete Tausende<br />

von Franken. Re<strong>in</strong>er er<strong>in</strong>nerte sich:<br />

«Ich musste jedes Mal zittern, bis ich wieder e<strong>in</strong>e<br />

Bewilligung erhielt. Da die Aussichten höchst ungewiss<br />

waren, kamen der Forschungsleitung mit der Zeit<br />

verständlicherweise Bedenken. Ich musste manchmal<br />

me<strong>in</strong>e ganze Überredungskunst aufbieten. Die war<br />

glücklicherweise nicht ger<strong>in</strong>g, denn ich war überzeugt,<br />

e<strong>in</strong>e gute Substanz f<strong>in</strong>den zu können.»<br />

Wie bereits erwähnt, bildete auch die komplizierte Patentlage<br />

grosse Schwierigkeiten. Praktisch jede Pharmafirma war auf dem<br />

Gebiet der Cephalospor<strong>in</strong>e tätig: Es gab schon e<strong>in</strong>e ganze Menge<br />

e<strong>in</strong>geführter Produkte, und die meisten der <strong>in</strong> Frage kommenden<br />

chemischen Verb<strong>in</strong>dungen waren von den führenden Firmen mit<br />

Patenten geschützt worden.<br />

Die ersten Verb<strong>in</strong>dungen, die Roland Re<strong>in</strong>er zusammen mit<br />

se<strong>in</strong>em Cheflaboranten Urs Weiss synthetisierte, erfüllten die<br />

an e<strong>in</strong> möglichst breites antibakterielles Wirkungsspektrum<br />

gestellten Ansprüche nicht e<strong>in</strong>mal annähernd. Der entscheidende<br />

Beitrag auf biologischer Seite bestand dar<strong>in</strong>, dass – entgegen den<br />

Usanzen – <strong>in</strong> die antibakterielle Charakterisierung der Testsubstanzen<br />

auch e<strong>in</strong> pharmakok<strong>in</strong>etisches Screen<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>gebaut<br />

wurde. Das war nicht «branchenüblich» und rational kaum zu<br />

begründen, zumal es <strong>in</strong> Fachkreisen als unwahrsche<strong>in</strong>lich galt,<br />

dass e<strong>in</strong> Penicill<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong> Cephalospor<strong>in</strong> im Organismus e<strong>in</strong>e<br />

lange Verweildauer habe könnte.<br />

Das Vorgehen war stufenweise: Peter Angehrn identifizierte<br />

im In-vitro- und In-vivo-Screen<strong>in</strong>g unter mehreren hundert<br />

Testpräparaten e<strong>in</strong>ige Dutzend Substanzen, die aktivitätsmässig<br />

genügend <strong>in</strong>teressant ausschauten, um sie pharmakok<strong>in</strong>etisch zu<br />

prüfen. Dies geschah dann bei Peter Probst an Ratte und Kan<strong>in</strong>chen<br />

<strong>in</strong> relativ aufwändigen Untersuchungen. Natürlich war e<strong>in</strong><br />

gutes pharmakok<strong>in</strong>etisches Verhalten ke<strong>in</strong>e Vorbed<strong>in</strong>gung für die<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>er Substanz: Verschiedene Testsubstanzen wurden<br />

v.l.n.r.: P. Probst, M. Fernex,<br />

U. Weiss, R. Re<strong>in</strong>er, P. Angehrn,<br />

A. Furlenmeier, R. P. Hug<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

156 157


aufgrund ihrer ausgezeichneten antibakteriellen Eigenschaften<br />

trotz un<strong>in</strong>teressantem pharmakok<strong>in</strong>etischen Profil weiterbearbeitet.<br />

Aber letztlich zeigten diese im Vergleich zu Konkurrenzpräparaten<br />

Schwächen und wurden wieder aufgegeben.<br />

Während dieser Jahre – 1969 bis 1977 – gab es <strong>in</strong> der Firma<br />

<strong>Roche</strong> wiederholt <strong>in</strong>tern und extern abgestützte Me<strong>in</strong>ungen<br />

und Ratschläge, das ehrgeizige Vorhaben, nämlich e<strong>in</strong> neues<br />

<strong>in</strong>novatives Cephalospor<strong>in</strong> zu synthetisieren, abzubrechen. Entscheidend<br />

war, dass die Forschungsleitung den Forschungs- und<br />

Entwicklungsteams Vertrauen entgegenbrachte und diese auch<br />

<strong>in</strong> kritischen, das heisst nahezu frustrierenden Situationen zum<br />

Weitermachen motivierte; es herrschte e<strong>in</strong> erfreulich kreatives<br />

Arbeitsklima. Die teils vernichtenden Beurteilungen von <strong>in</strong>ternen<br />

und externen Expertengremien wurden nicht übergewichtet,<br />

denn sowohl die Forscher als auch ihre Vorgesetzten glaubten<br />

an ihre Chance.<br />

Zwischen 1969 und 1977 wurden bei <strong>Roche</strong> über 400 Cephalospor<strong>in</strong>-Derivate<br />

synthetisiert und auch weiter untersucht, natürlich<br />

nicht alle im selben Ausmass. Ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung wies jedoch<br />

überzeugende Qualitäten auf allen drei anvisierten Eigenschaften<br />

auf – nämlich e<strong>in</strong> breites antibakterielles Spektrum, Resistenz<br />

gegen die damals bekannten Beta-Lactamasen (von gewissen Bakterien<br />

produzierte Enzyme, die die R<strong>in</strong>gstruktur der Beta-Lactam-<br />

Antibiotka aufspalten) sowie e<strong>in</strong>e möglichst lange Verweildauer<br />

im Patienten.<br />

Roceph<strong>in</strong> wird entdeckt<br />

In den letzten Tagen des Jahres 1977 fanden Roland Re<strong>in</strong>er und<br />

Urs Weiss e<strong>in</strong>en noch verunre<strong>in</strong>igten Wirkstoff, der im August<br />

1980 von der Weltgesundheitsorganisation den Namen Ceftriaxon<br />

erhielt. Er bekam die <strong>in</strong>terne Bezeichnung Ro 13-9904.<br />

Roland Re<strong>in</strong>er er<strong>in</strong>nert sich:<br />

«Um das Produkt <strong>in</strong> der notwendigen Re<strong>in</strong>heit zu erhalten,<br />

mussten wir es unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> kristall<strong>in</strong>er Form herstellen.<br />

Nun kristallisieren aber Cephalospor<strong>in</strong>e äusserst ungern.<br />

Me<strong>in</strong> Cheflaborant und ich schlugen uns tagelang mit diesem<br />

Problem herum.»<br />

Vier Wochen später hatten sie es geschafft: Am 26. Januar 1978<br />

sammelten sich am Boden e<strong>in</strong>es Laborgefässes 3,5 Gramm e<strong>in</strong>es<br />

beigen, grobkörnigen Pulvers: Roceph<strong>in</strong> war geboren!<br />

Ro 13-9904 war die allererste Testsubstanz, die bei <strong>Roche</strong><br />

<strong>in</strong>nerhalb der Reihe der sogenannten Cephalospor<strong>in</strong>e der dritten<br />

Generation synthetisiert wurde, nachdem Hoechst-Roussel den<br />

Reigen <strong>in</strong> dieser Substanzklasse mit Cefotaxim eröffnet und 1977<br />

diese epochemachende Erf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Publikation offen gelegt<br />

hatte. Peter Angehrn und se<strong>in</strong> Team stellten e<strong>in</strong>e ausgesprochen<br />

hohe und breite antibakterielle Aktivität von Ro 13-9904 fest; <strong>in</strong><br />

den drei zusammen mit Peter Probst durchgeführten Tiermodellen<br />

(Maus, Ratte, Kan<strong>in</strong>chen) zeigten sich unerwartet ausgeprägte<br />

Wirkungen gegen die verschiedenen experimentellen Infektionen,<br />

und zwar e<strong>in</strong>deutig stärker, als dies die Resistenzprüfungen auf<br />

den Nährböden erklären konnten. Also lag die Vermutung nahe,<br />

dass die seit Jahren gesuchte, lange Verweildauer im Organismus<br />

gefunden war. Verschiedene pharmakok<strong>in</strong>etische Untersuchungen<br />

– <strong>in</strong>sbesondere am Kan<strong>in</strong>chen – bestätigten die ungewöhnlich<br />

lange Persistenz von Ro 13-9904. Mehrere Stunden nach der<br />

Injektion gewonnene Blutproben zeigten weiterh<strong>in</strong> ausgeprägte<br />

Bakterizidie (bakterientötende Eigenschaften) auf den Nährböden,<br />

und zwar mit grosser Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit bed<strong>in</strong>gt durch die<br />

unveränderte Substanz, wie dies verschiedene Testanordnungen<br />

vermuten liessen.<br />

Bereits knapp fünf Monate nach Beg<strong>in</strong>n ihrer Untersuchungen<br />

fassten Peter Angehrn und Peter Probst ihre Beobachtungen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Forschungsbericht, datiert vom 19. Juni 1978,<br />

zusammen:<br />

«Die Ergebnisse zeigen, dass sich Ro 13-9904 <strong>in</strong> vitro und<br />

<strong>in</strong> vivo durch e<strong>in</strong>e hervorragende Wirksamkeit auszeichnet.<br />

Es übertrifft die übrigen Substanzen bei der Mehrzahl der<br />

geprüften Bakterienstämme deutlich an Aktivität, wobei<br />

die gute Wirkung gegen die gefürchteten, besonders widerstandsfähigen<br />

Stämme von Pseudomonas aerug<strong>in</strong>osa<br />

besonders <strong>in</strong>s Gewicht fällt. Im Plasma des Kan<strong>in</strong>chens erreicht<br />

Ro 13-9904 nach <strong>in</strong>tramuskulärer Injektion e<strong>in</strong>e hohe<br />

und lang andauernde antibakterielle Aktivität… Gestützt<br />

158 159


auf die vorliegenden günstigen Befunde schlagen wir vor,<br />

die Vorbereitungen für die orientierende kl<strong>in</strong>ische Prüfung<br />

von Ro 13-9904 e<strong>in</strong>zuleiten, und diese im H<strong>in</strong>blick auf die<br />

rasche Entwicklung im Cephalospor<strong>in</strong>-Sektor zügig voranzutreiben.»<br />

Andreas Furlenmeier<br />

Peter Angehrn und<br />

Peter Probst fassten ihre<br />

Beobachtungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

<strong>in</strong>ternen Forschungsbericht<br />

zusammen<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Roceph<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong>geführt<br />

Im Juli 1978 gab die Forschungsleitung grünes Licht für die Weiterentwicklung<br />

von Ro 13-9904. In den Laboratorien der Chemiker<br />

Andreas Furlenmeier und Rudolf Hug wurde <strong>in</strong> kürzester Zeit<br />

und unter Mobilisierung aller Kräfte e<strong>in</strong>e Synthese <strong>in</strong> Kilomengen<br />

des neuen Cephalospor<strong>in</strong>s ausgearbeitet und umgesetzt.<br />

Die Toxikologie am Tier führte man an Ratte und Hund<br />

durch. Die Befunde am Hund waren beunruhigend: Der Toxikologe<br />

Karl Schärer stellte fest, dass die Verabreichung von Ro<br />

13-9904 zur Bildung von zentimetergrossen Gallenste<strong>in</strong>en führte.<br />

Der Substanz schien ke<strong>in</strong> Erfolg beschieden zu se<strong>in</strong>. Dies war<br />

vielleicht der kritischste Punkt während der Entwicklungsphase.<br />

Niemand hätte Schärer e<strong>in</strong>en Vorwurf machen können, wenn<br />

er zu diesem Zeitpunkt das toxikologische Risiko als zu gross<br />

für Untersuchungen am Menschen e<strong>in</strong>gestuft hätte. Doch er<br />

Karl Schärer<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

160 161


und alle anderen <strong>in</strong>volvierten Forscher wollten weitermachen.<br />

Karl Schärer führte mit e<strong>in</strong>em ausgeklügelten Dosierungsschema<br />

e<strong>in</strong>e zusätzliche Prüfung am Affen durch. Er wollte beweisen,<br />

dass das Gallenste<strong>in</strong>-Problem <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie spezifisch beim<br />

Hund auftritt, was ihm auch gelang. Allerd<strong>in</strong>gs wurden auch<br />

am Menschen später Ausfällungen mit Roceph<strong>in</strong> beobachtet,<br />

jedoch erwiesen sich diese glücklicherweise <strong>in</strong> den allermeisten<br />

Fällen als harmlos.<br />

Da im Verlauf der Vorbereitung auf die kl<strong>in</strong>ische Prüfung<br />

ke<strong>in</strong>erlei weitere toxikologische oder sonstige H<strong>in</strong>dernisse auftraten<br />

und auch die Substanzherstellung im Kilomassstab gut<br />

voran kam, wurden im Mai 1979 die ersten Untersuchungen<br />

am Menschen e<strong>in</strong>geleitet. Anfänglich war es durchaus unsicher,<br />

ob und wie sich die günstige Pharmakok<strong>in</strong>etik am Tier auf den<br />

Menschen übertragen liess. Die gefundene Plasma-Halbwertszeit<br />

von 6 bis 8 Stunden und der Ausscheidungsmodus via Leber und<br />

Nieren waren optimal, und erstere ermöglichte es, dass Roceph<strong>in</strong><br />

im Unterschied zu allen anderen Beta-Lactam-Antibiotika<br />

dem Patienten nur e<strong>in</strong>mal pro Tag <strong>in</strong>travenös appliziert werden<br />

musste.<br />

Die Leitung der kl<strong>in</strong>ischen Prüfung lag <strong>in</strong> den erfahrenen<br />

Händen von Michel Fernex, der vom Potential von Ro 13-9904<br />

von Anfang an überzeugt gewesen war. Zusammen mit se<strong>in</strong>em<br />

Assistenten, Ladislaus Havas, brachte er das Präparat mit unglaublicher<br />

Dynamik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rekordzeit von nur drei Jahren durch die<br />

kl<strong>in</strong>ische Entwicklung. So konnte Ro 13-9904 schon am 27. Mai<br />

1982 <strong>in</strong> der Schweiz unter dem Markennamen Roceph<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geführt<br />

werden. Se<strong>in</strong> Werdegang von der erstmaligen Synthese im Labor<br />

bis zur Marktreife hatte also nicht e<strong>in</strong>mal fünf Jahre gedauert.<br />

Der Grossteil der Ärzteschaft bekundete Skepsis gegenüber<br />

den neuen Cephalospor<strong>in</strong>en. So schrieb der Autor dieses Kapitels<br />

(Urs B. Schaad) im Jahre 1983 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fortbildungsreihe für<br />

K<strong>in</strong>derärzt<strong>in</strong>nen und K<strong>in</strong>derärzte:<br />

Ro 13-9904 konnte<br />

schon am 27. Mai 1982<br />

<strong>in</strong> der Schweiz unter dem<br />

Markennamen Roceph<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>geführt werden<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

«Die Diskussion der Stellung der Cephalospor<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der<br />

K<strong>in</strong>derheilkunde stellt e<strong>in</strong>e schwierige und heikle Aufgabe<br />

dar. Die grosse Anzahl der zurzeit erhältlichen Cephalospor<strong>in</strong>-Antibiotika,<br />

die unzähligen wissenschaftlichen<br />

Publikationen, die persönlichen Erfahrungen und die Flut<br />

von Werbeargumenten erschweren die fundierte, objektive<br />

und emotionslose Beurteilung dieser Medikamente für den<br />

pädiatrischen Alltag <strong>in</strong> Praxis und Kl<strong>in</strong>ik.» Und weiter: «Die<br />

Resultate zweier kürzlich (1981) <strong>in</strong> der Schweiz durchgeführten<br />

Umfragen ergaben, dass die Indikationen zur Cephalospor<strong>in</strong>-Anwendung<br />

von der Mehrzahl der befragten<br />

Ärzte mit Zurückhaltung gestellt werden. Rund drei Viertel<br />

betrachten die Cephalospor<strong>in</strong>e als Reserve-Antibiotika, welche<br />

weitgehend der Kl<strong>in</strong>ik vorbehalten se<strong>in</strong> sollten.»<br />

Auch die Market<strong>in</strong>g-Abteilung von <strong>Roche</strong> stand der E<strong>in</strong>führung<br />

von Roceph<strong>in</strong> eher negativ gegenüber. Da war e<strong>in</strong>mal die<br />

162 163


Klaus Stoeckel<br />

Roy Cleeland<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

schwierige Patentlage, die bed<strong>in</strong>gte, dass <strong>Roche</strong> anderen Firmen<br />

weiterh<strong>in</strong> beträchtliche Royalties zu bezahlen hatte. Auch galt die<br />

technische Synthese im grossen Massstab immer noch als teuer.<br />

Zudem schien dem Market<strong>in</strong>g die «E<strong>in</strong>mal-pro-Tag-Verabreichung»<br />

ke<strong>in</strong> grosser Vorteil zu se<strong>in</strong>. Diese Vorbehalte führten<br />

dazu, dass bei e<strong>in</strong>em erreichbaren Marktanteil von 2 – 4% drei<br />

Jahre nach der E<strong>in</strong>führung lediglich e<strong>in</strong> Umsatz von 40 bis 60<br />

<strong>Millionen</strong> Franken prognostiziert wurde. Die Entscheidungsgremien<br />

von <strong>Roche</strong> teilten diese Ansichten des Market<strong>in</strong>gs nicht,<br />

sondern folgten den Argumenten der Roceph<strong>in</strong>-Teams.<br />

Grosse Verdienste am Erfolg von Roceph<strong>in</strong> kommen auch<br />

dem Pharmakok<strong>in</strong>etiker Klaus Stoeckel und den amerikanischen<br />

Kollegen <strong>in</strong> Nutley zu. Stoeckel lieferte <strong>in</strong> Publikationen und<br />

vielen Vorträgen fachlich kompetent und sehr e<strong>in</strong>prägsam die<br />

wissenschaftliche Basis für das e<strong>in</strong>zigartige pharmakok<strong>in</strong>etische<br />

Verhalten von Roceph<strong>in</strong> und vermochte so, die Vorbehalte der<br />

Ärzteschaft abzubauen. Zusammen mit Klaus Stoeckel bestimmte<br />

und publizierte ich die pharmakok<strong>in</strong>etischen Resultate von<br />

Roceph<strong>in</strong> bei Säugl<strong>in</strong>gen und Neugeborenen. Die günstigen<br />

pharmakok<strong>in</strong>etischen Eigenschaften von Roceph<strong>in</strong> – vor allem<br />

e<strong>in</strong>e unüblich lange Elim<strong>in</strong>ations-Halbwertszeit von sechs bis<br />

sieben Stunden – wurden auch <strong>in</strong> diesen Altersgruppen bestätigt.<br />

Die <strong>Roche</strong>-Mitarbeiter <strong>in</strong> Nutley unter der Leitung von<br />

Roy Cleeland leisteten grosse Arbeit bei der Vorbereitung der<br />

nordamerikanischen Infektiologen auf die später so erfolgreiche<br />

E<strong>in</strong>führung von Roceph<strong>in</strong>. Ich prüfte während me<strong>in</strong>es<br />

Forschungsaufenthaltes <strong>in</strong> Dallas (USA) als Erster Roceph<strong>in</strong><br />

im Kan<strong>in</strong>chen-Men<strong>in</strong>gitis-Modell und konnte e<strong>in</strong>e ausgezeichnete<br />

Wirksamkeit sowohl gegen Escherichia coli als auch gegen<br />

B-Streptokokken nachweisen.<br />

Die Resultate der <strong>in</strong> vielen Ländern durchgeführten kl<strong>in</strong>ischen<br />

Studien bestätigten, dass sich Roceph<strong>in</strong> hervorragend als<br />

Medikament gegen zahlreiche bakteriell bed<strong>in</strong>gte Infektionskrankheiten<br />

eignet. Die wichtigsten der geprüften Indikationen<br />

waren Sepsis (Blutvergiftung) und Men<strong>in</strong>gitis (Hirnhautentzündung),<br />

Infektionen des Skeletts und der Weichteile <strong>in</strong>klusive<br />

Wund<strong>in</strong>fektionen sowie Infektionen der Luftwege, der Nieren<br />

und der Harnwege <strong>in</strong>klusive Geschlechtskrankheiten. E<strong>in</strong>e<br />

wesentliche Indikation war auch die perioperative Prophylaxe.<br />

Innerhalb weniger Jahre avancierte das <strong>in</strong>novative, hoch<br />

potente und nur e<strong>in</strong>mal täglich zu verabreichende Roceph<strong>in</strong><br />

weltweit zur Nummer 1 unter den <strong>in</strong>jizierbaren Antibiotika.<br />

Dieses e<strong>in</strong>malige Medikament brachte <strong>Roche</strong> e<strong>in</strong> grosses<br />

und nachhaltiges Renommee und sorgte zudem bis zum<br />

Ablauf der Patente für Umsätze <strong>in</strong> Milliardenhöhe.<br />

164 165


Besondere Aspekte von Roceph<strong>in</strong><br />

Roceph<strong>in</strong><br />

Struktur von Roceph<strong>in</strong><br />

Roceph<strong>in</strong> ist, wie bereits dargestellt, e<strong>in</strong> semisynthetisches<br />

Cephalospor<strong>in</strong>, das im Rahmen des Cephalospor<strong>in</strong>-Programms<br />

bei <strong>Roche</strong> entdeckt wurde: In den Jahren 1969<br />

bis 1978 wurde nach e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>novativen Präparat<br />

gesucht, das e<strong>in</strong> breites Wirkungsspektrum,<br />

Resistenz gegen die damals bekannten<br />

Beta-Lactamasen (von gewissen Bakterien<br />

produzierte Stoffe, die die R<strong>in</strong>gstruktur der<br />

Beta-Lactam-Antibiotika aufspalten) und e<strong>in</strong>e<br />

lange Elim<strong>in</strong>ations-Halbwertszeit im Patienten<br />

aufweisen sollte.<br />

Die an der 7-Am<strong>in</strong>o-Cephaloransäure hängende<br />

Seitenkette am rechten Teil der Struktur<br />

unterscheidet sich grundsätzlich von jener<br />

anderer Cephalospor<strong>in</strong>e und ist für die meisten der aussergewöhnlichen<br />

antibakteriellen und pharmakok<strong>in</strong>etischen Eigenschaften<br />

von Roceph<strong>in</strong> verantwortlich (Roceph<strong>in</strong> – C 18 H 16 N 8<br />

Na 2 O 7 S 3 ).<br />

Antibakterielle Wirksamkeit<br />

Die antibakteriellen Eigenschaften von Roceph<strong>in</strong> be<strong>in</strong>halten e<strong>in</strong><br />

breites Spektrum und e<strong>in</strong>e gute Beta-Lactamase-Stabilität.<br />

Das e<strong>in</strong>drückliche gramnegative Sprektrum umfasst <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Enterobakterien (Escherichia coli, Klebsiella sp.,<br />

Enterobacter sp., Serratia sp., Bartonella sp., Citrobacter sp., Proteus,<br />

Salmonella, Shigella, partiell auch Pseudomonas aerug<strong>in</strong>osa<br />

und Ac<strong>in</strong>etobacter sp.), die verschiedenen Haemophilus-Keime<br />

(Beta-Lactamase-negative und – positive Stämme), sowie die<br />

Neisseria-Keime (Neisseria men<strong>in</strong>gitidis und Neisseria gonorrhoea).<br />

Von den grampositiven Krankheitserregern s<strong>in</strong>d vor allem<br />

Streptococcus pneumoniae, Streptococcus pyogenes und Streptococcus<br />

agalactiae sowie – etwas weniger ausgeprägt – Staphylococcus<br />

aureus gegen Roceph<strong>in</strong> empf<strong>in</strong>dlich.<br />

Die Wirksamkeit von Roceph<strong>in</strong> ist gegen Anaerobier limitiert<br />

und gegen Mycoplasmen, Ureaplasmen und Mycobakterien<br />

<strong>in</strong>existent. Die Stabilität von Roceph<strong>in</strong> gegen Beta-Lactamasen<br />

umfasste zum Zeitpunkt der E<strong>in</strong>führung die meisten dieser<br />

damals bekannten Enzyme, die Cephalospor<strong>in</strong>e zu <strong>in</strong>aktivieren<br />

vermögen.<br />

Diese breite und potente antibakterielle Wirksamkeit be<strong>in</strong>haltet<br />

für die kl<strong>in</strong>ische Anwendung von Roceph<strong>in</strong> die beiden<br />

folgenden wichtigen Vorteile:<br />

1 Roceph<strong>in</strong> eignet sich zur Behandlung schwerster <strong>in</strong>vasiver<br />

Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Men<strong>in</strong>gitis (Hirnhautentzündung)<br />

und Sepsis (Blutvergiftung), oder akuter Infektionen<br />

im Bereich praktisch aller Organsysteme.<br />

Septisches Neugeborenes<br />

«Few diseases have been affected more by the advent of<br />

antimicrobial therapy than bacterial men<strong>in</strong>gitis.»<br />

Quagliarello VJ, Scheld WM, N Engl. J Med 1997 336:708<br />

Septisches Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d<br />

Septischer<br />

Schock mit<br />

Multiorganversagen<br />

Urs B. Schaad<br />

166 167


Gram-negative Diplokokken<br />

im Liquor-Ausstrich<br />

(Men<strong>in</strong>gokokken)<br />

Dank der antibiotischen Behandlung verbesserte sich die Prognose<br />

der gefürchteten eitrigen Hirnhautentzündung entscheidend. Die<br />

eitrige Men<strong>in</strong>gitis wurde zur wichtigsten Indikation für den E<strong>in</strong>satz<br />

von Roceph<strong>in</strong>, und dies weltweit und seit drei Jahrzehnten.<br />

Die wichtigsten bakteriellen Men<strong>in</strong>gitis-Erreger im K<strong>in</strong>desund<br />

Erwachsenenalter s<strong>in</strong>d Men<strong>in</strong>gokokken, Pneumokokken<br />

und Haemophilus <strong>in</strong>fluenzae; H. <strong>in</strong>fluenzae Typ b ist dank der<br />

im Säugl<strong>in</strong>gsalter e<strong>in</strong>gesetzten aktiven Schutzimpfung praktisch<br />

verschwunden, noch nicht aber <strong>in</strong> vielen Entwicklungsländern, die<br />

sich diese Impfung nicht leisten können. Trotz aller Fortschritte –<br />

<strong>in</strong>sbesondere der verbesserten Frühdiagnostik, der spezialisierten<br />

Intensivbetreuung und der wirksamen Antibiotika – bleibt die<br />

Prognose der eitrigen Men<strong>in</strong>gitis ernst: Je nach Patientenalter,<br />

Art des Erregers und Beg<strong>in</strong>n sowie Qualität der Betreuung und<br />

Behandlung beträgt die Sterblichkeit 3 bis 30% und die Defektheilung<br />

(Residuen) 10 bis 50%.<br />

Gram-positive Diplokokken<br />

im Liquor-Ausstrich<br />

(Pneumokokken)<br />

Gram-negative<br />

pleomorphe<br />

Bakterien<br />

im Liquor-<br />

Ausstrich<br />

(Haemophilus<br />

<strong>in</strong>fluenzae)<br />

Urs B. Schaad<br />

Schwere Retardation and<br />

Hydroecephalus nach<br />

Neugeborenen-Men<strong>in</strong>gitis<br />

2 Auch für den sogenannten «bl<strong>in</strong>den» Therapiebeg<strong>in</strong>n<br />

– das heisst bei noch unbekanntem Erreger beziehungsweise<br />

auch bei Verdacht auf e<strong>in</strong>e schwere <strong>in</strong>vasive Infektion – besitzt<br />

Roceph<strong>in</strong> die notwendigen antibakteriellen Eigenschaften.<br />

Bereits wenige Jahre nach der E<strong>in</strong>führung von Roceph<strong>in</strong> wurden<br />

sogenannte Extended-Spektrum Beta-Lactamasen (ESBL)<br />

gefunden, also von verschiedenen Enterobacteriaceae (<strong>in</strong>sbesondere<br />

Klebsiella sp. und Serratia sp.) produzierte Enzyme, die<br />

alle damals bekannten Beta-Lactam-Antibiotika zu <strong>in</strong>aktivieren<br />

vermochten. Nach E<strong>in</strong>zelberichten folgten rasch auch Spitalausbrüche,<br />

zunächst <strong>in</strong> Frankreich und <strong>in</strong> den USA, später auch<br />

<strong>in</strong> vielen anderen Ländern. Auch der ab ca. 1985 e<strong>in</strong>geführten<br />

neuen Klasse der Beta-Lactam-Antibiotika, den Carbapenemen,<br />

erg<strong>in</strong>g es nicht besser: E<strong>in</strong>ige Darmbakterien konnten genetisches<br />

Material aufnehmen und weitergeben, das die Produktion von<br />

Carbapenemasen (also Beta-Lactamasen, die Carbapaneme zu<br />

hydrolisieren vermögen) ermöglicht. Diese Resistenzentwicklungen<br />

führten zudem zum Auftreten von sogenannten Extensively<br />

Drug-Resistant (XDR) Bakterien, die zum ersten Mal im Jahre<br />

2008 <strong>in</strong> Indien (New Dehli) entdeckt wurden, und die auch gegen<br />

praktisch alle anderen Antibiotika-Klassen unempf<strong>in</strong>dlich s<strong>in</strong>d.<br />

Leider wurden solche multiresistente Enterobakterien <strong>in</strong> viele<br />

andere Länder mit entsprechenden kl<strong>in</strong>ischen Konsequenzen e<strong>in</strong>geschleppt,<br />

glücklicherweise <strong>in</strong> der Regel als isolierte Fälle beziehungsweise<br />

lediglich als Kle<strong>in</strong>stausbrüche. Diese ausserordentlich<br />

beunruhigenden und bedrohlichen, weltweiten Resistenzentwicklungen<br />

führten zu e<strong>in</strong>er länderübergreifenden, epidemiologischen<br />

Ausgeprägte spastische<br />

Cerebralparese nach<br />

Pneumokokken-Men<strong>in</strong>gitis<br />

Urs B. Schaad<br />

168 169


Cefamandol<br />

Cefapir<strong>in</strong><br />

Cafalot<strong>in</strong><br />

Cefoxit<strong>in</strong><br />

Cefmenoxim<br />

Cefotaxim<br />

Erfassung und zu harmonisierten Empfehlungen h<strong>in</strong>sichtlich<br />

deren Diagnostik, Prävention und Betreuung.<br />

Pharmakok<strong>in</strong>etik<br />

Die hohe Aff<strong>in</strong>ität von Roceph<strong>in</strong> (Ceftriaxon) zu Serumalbum<strong>in</strong><br />

erklärt se<strong>in</strong>e besondere Verteilungs– und Elim<strong>in</strong>ationsk<strong>in</strong>etik.<br />

Diese Eiweissb<strong>in</strong>dung ist im Vergleich zu den anderen Cephalospor<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>erseits ausgeprägter und andererseits konzentrationsabhängig.<br />

Die ausserordentlich lange Elim<strong>in</strong>ations-Halbwertszeit beruht<br />

auf fehlender tubulärer Sekretion und relativ ger<strong>in</strong>ger glomerulärer<br />

Filtration, wobei <strong>in</strong>sbesondere letztere durch die hohe<br />

Serumalbum<strong>in</strong>-B<strong>in</strong>dung begründet ist. Die quantitativ bedeutende<br />

biliäre Elim<strong>in</strong>ation (ca. zu e<strong>in</strong>em Drittel) von Roceph<strong>in</strong><br />

bewirkt, dass dessen Elim<strong>in</strong>ationsgeschw<strong>in</strong>digkeit weniger von<br />

Konzentration<br />

300<br />

200<br />

100<br />

50<br />

Cephalospor<strong>in</strong> Ausschei- «Recovery» im Ur<strong>in</strong> «Recovery» Metabolit(en)<br />

dungsweg<br />

<strong>in</strong> der Galle<br />

1. Generation<br />

Cefazo<strong>in</strong> Renal 70-≈100% <strong>in</strong> 24 Std. – –<br />

Cefalot<strong>in</strong> Renal 60–70% <strong>in</strong> 6 Std. – Desacetylcefalot<strong>in</strong> (35%)<br />

Cefapir<strong>in</strong> Renal 70% <strong>in</strong> 6 Std. – Desacetylcefapir<strong>in</strong><br />

2. Generation<br />

Cefamandol Renal 65–85% <strong>in</strong> 8 Std. – –<br />

Cefonicid Renal 99% <strong>in</strong> 24 Std. – –<br />

Cefonicid Renal 79% <strong>in</strong> 12 Std. – –<br />

Ceforanid Renal 60–64% <strong>in</strong> 24 Std. – –<br />

Cefoxit<strong>in</strong> Renal 85% <strong>in</strong> 6 Std. – –<br />

Cefuroxim Renal 89% <strong>in</strong> 8 Std. – –<br />

3. Generation<br />

Cefmenoxim Renal 81–88% <strong>in</strong> 24 Std. – –<br />

Cefoperazon Renal, biliär 20–30% <strong>in</strong> 24 Std. 70–80%


ebenfalls stark eiweissgebundenen Stoffwechselprodukten oder<br />

Medikamenten, was <strong>in</strong> sehr seltenen Situationen zu berücksichtigen<br />

ist (zum Beispiel die Verdrängung von Bilirub<strong>in</strong> bei Ikterus,<br />

besonders im Neugeborenenalter).<br />

Aus diesen aussergewöhnlichen pharmakok<strong>in</strong>etischen Aspekten<br />

resultieren die folgenden, weiteren vier wichtigen Vorteile.<br />

3 Dank der langen Elim<strong>in</strong>ations-Halbwertszeit kann Roceph<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>mal täglich dosiert werden und erlaubt dadurch, dass die<br />

parenterale antibiotische Therapie frühzeitig oder gar von Anfang<br />

an ambulant durchgeführt werden kann, was sich sowohl für<br />

den Patienten und se<strong>in</strong> Umfeld als auch auf die entstehenden<br />

Kosten günstig auswirkt. Die <strong>in</strong>tramuskuläre Verabreichung ist<br />

e<strong>in</strong>e wertvolle Variante, nicht nur <strong>in</strong> der ambulanten Patienten-Betreuung,<br />

sondern auch für hospitalisierte Patienten, bei<br />

denen der <strong>in</strong>travenöse Zugang schwierig ist, zum Beispiel bei<br />

Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern, adipösen Patienten und Senioren. Die pharmakok<strong>in</strong>etischen<br />

Eigenschaften s<strong>in</strong>d nach der <strong>in</strong>tramuskulären Gabe<br />

durchaus mit der Verteilungs- und Elim<strong>in</strong>ationsk<strong>in</strong>etik nach<br />

<strong>in</strong>travenöser Gabe vergleichbar und die lokale Verträglichkeit<br />

ist gut. Aufgrund der raschen und vollständigen systemischen<br />

Verfügbarkeit von Roceph<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d Konzentrationen im Plasma<br />

zwei Stunden nach <strong>in</strong>tramuskulärer Gabe gleich hoch wie nach<br />

<strong>in</strong>travenöser Verabreichung.<br />

4 Die lange Verweildauer hoher Konzentrationen am Ort<br />

des Infektes erklärt das sehr gute kl<strong>in</strong>ische Ansprechen auch von<br />

Infektionskrankheiten auf den Wirkstoff, bed<strong>in</strong>gt durch <strong>in</strong> vitro<br />

nur mässig empf<strong>in</strong>dliche Bakterien.<br />

5 Dank fehlender Metabolisierung von Roceph<strong>in</strong> im Organismus<br />

bleibt die gesamte verabreichte Dosis bis zur Ausscheidung<br />

antibakteriell aktiv.<br />

6 Die über Nieren (Ur<strong>in</strong>) und Leber (Galle) stattf<strong>in</strong>dende<br />

Ausscheidung von Roceph<strong>in</strong> – wobei e<strong>in</strong> Organ den Ausfall des<br />

anderen übernehmen kann – bedeutet, dass die Dosierung lediglich<br />

bei massiv e<strong>in</strong>geschränkter Nieren- und/oder Leberfunktion<br />

anzupassen ist.<br />

Toxizität und Nebenwirkungen<br />

Roceph<strong>in</strong> wurde ausgedehnten toxischen Prüfungen an Nagern,<br />

Kan<strong>in</strong>chen, Hunden und Affen unterzogen. Die Substanz erwies<br />

sich bezüglich akuter und subakuter Toxizität, Fötotoxizität,<br />

Mutagenizität und lokaler Toleranz als sicher.<br />

Roceph<strong>in</strong> ist <strong>in</strong>travenös sehr gut verträglich und nur sehr<br />

selten klagen die Patienten über e<strong>in</strong>en temporären Schmerz kurz<br />

nach der Injektion. Für die <strong>in</strong>tramuskuläre Applikation bewährt<br />

sich die Auflösung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er 1%igen Lidoca<strong>in</strong>-Lösung. Somit darf<br />

die lokale Verträglichkeit als problemlos bezeichnet werden.<br />

Die systemische Verträglichkeit entspricht den guten Resultaten<br />

mit andern Beta-Lactam-Antibiotika; h<strong>in</strong>zu kommen die<br />

bereits aufgeführten Vorteile der praktisch fehlenden Wirkung<br />

auf die Nierenfunktion und die extrem seltenen Interaktionen<br />

mit anderen Arzneimitteln sowie auch mit Alkohol. Schwere<br />

Nebenwirkungen s<strong>in</strong>d ausserordentlich selten und be<strong>in</strong>halten<br />

neben Anaphylaxie potentielle Konkrementbildung <strong>in</strong> Gallenblase<br />

oder Nieren (Calcium-Salze), Hämolyse (arzneimittel<strong>in</strong>duzierte,<br />

immunologisch vermittelte Zerstörung der roten Blutkörperchen)<br />

sowie Verdrängung von Bilirub<strong>in</strong> von der Album<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung, mit<br />

potentieller Relevanz bei Ikterus (Gelbsucht), besonders im Neugeborenenalter.<br />

Tabelle 1<br />

Die sieben wichtigsten Vorteile von Roceph<strong>in</strong><br />

1 Behandlung von schwersten <strong>in</strong>vasiven Infektionskrankheiten(z.B. Hirnhautentzündung, Blutvergiftung)<br />

2 Geeignet für «bl<strong>in</strong>den» Therapiebeg<strong>in</strong>n<br />

3 Dosierung 1x täglich, <strong>in</strong>travenös oder <strong>in</strong>tramuskulär, erlaubt frühzeitige ambulante Behandlung bzw. ambulante<br />

parenterale Antibiotika-Therapie von Anfang an<br />

4 Gutes Ansprechen auch von Infektionen bed<strong>in</strong>gt durch <strong>in</strong> vitro nur mässig empf<strong>in</strong>dliche Bakterien<br />

5 Gesamte Dosis bleibt im Organismus antibakteriell aktiv<br />

6 Gemischte Ausscheidung über Nieren (Ur<strong>in</strong>) und Leber (Galle)<br />

7 Weitgehend fehlende Toxizität und gute Verträglichkeit<br />

172 173


Infiltrat<br />

(bakterielle<br />

Pneumonie)<br />

rechter<br />

Unterlappen<br />

der unteren und oberen Luftwege <strong>in</strong>klusive Hals-Nasen-Ohren-<br />

Bereich (HNO) können mit Roceph<strong>in</strong> geheilt werden. Spezielle<br />

Erwähnung verdienen die perioperative Infektionsprophylaxe<br />

und Behandlung, Infektionen bei e<strong>in</strong>geschränkter Immunabwehr,<br />

sowie die Neuroborreliose (Lyme Krankheit) und ausgewählte<br />

Formen der Mittelohrenentzündung.<br />

Dieses ausserordentlich breite und kaum je von e<strong>in</strong>em anderen<br />

Antibiotikum nur annähernd erreichte Anwendungsspektrum<br />

beruht also auf breiter therapeutischer Wirksamkeit und grosser<br />

Sicherheit. Für Patienten, Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte sowie Pflegefachpersonen<br />

bedeutet dies e<strong>in</strong>en nachhaltigen mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Nutzen, der bis heute andauert.<br />

7 Fehlende Toxizität und die sehr guten lokalen und systemischen<br />

Verträglichkeiten bilden e<strong>in</strong>en weiteren wichtigen Vorteil<br />

von Roceph<strong>in</strong>.<br />

Die <strong>in</strong> Tabelle 1 aufgeführten, <strong>in</strong>sgesamt sieben wichtigen<br />

Vorteile von Roceph<strong>in</strong> implizieren e<strong>in</strong>en nachhaltigen Nutzen <strong>in</strong><br />

Bezug auf Kl<strong>in</strong>ik und Ökonomie.<br />

Kl<strong>in</strong>ische Anwendung<br />

Die beiden antibakteriell begründeten Vorteile – Eignung zur<br />

Behandlung schwerster Infektionskrankheiten und E<strong>in</strong>satz als<br />

bl<strong>in</strong>der Behandlungsbeg<strong>in</strong>n –, zusammen mit den pharmakok<strong>in</strong>etisch<br />

erklärten Eigenschaften der hohen kl<strong>in</strong>ischen Wirksamkeit<br />

auch gegen <strong>in</strong> vitro nur mässig empf<strong>in</strong>dliche Bakterien sowie<br />

fehlende Metabolisierung und die hohe Sicherheit, erklären das<br />

unvergleichlich breite Indikationsspektrum von Roceph<strong>in</strong>.<br />

Die wichtigsten Indikationen für Roceph<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d die schweren,<br />

auch als <strong>in</strong>vasiv bezeichneten Infektionskrankheiten, die <strong>in</strong> der<br />

Mehrzahl der Fälle über den Blutweg (hämatogen) entstehen, das<br />

heisst die Bakterien erreichen die Infektionsherde mit dem Blut.<br />

Dazu gehören neben der eigentlichen Sepsis (Blutvergiftung) die<br />

meisten Formen der Hirnhautentzündung (Men<strong>in</strong>gitis) sowie<br />

e<strong>in</strong> Teil der Infektionen der Lungen, des Skeletts, des Abdomens<br />

und anderer Organe. Auch zahlreiche nichthämatogen bed<strong>in</strong>gte<br />

bakterielle Infektionen im Bereich des Abdomens, der Nieren<br />

und Harnwege, des Skeletts, der Weichteile und der Haut sowie<br />

Urs B. Schaad<br />

Ökonomische Aspekte<br />

Für die E<strong>in</strong>sparungen – <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik (an Pflege und Überwachung,<br />

an notwendigem Material und an Pflegeaufwand), im<br />

Labor (Kontrollbestimmungen vor allem der Nieren- und<br />

Leberfunktionen) sowie für weniger Spitaltage und ger<strong>in</strong>gere<br />

Medikamentenkosten – s<strong>in</strong>d hauptsächlich die drei vorgängig<br />

genannten Vorteile (1) e<strong>in</strong>mal tägliche Dosierung, (5) fehlende<br />

Metabolisierung und (6) gemischte Ausscheidung durch Niere<br />

(Ur<strong>in</strong>) und Leber (Galle) verantwortlich. Dieser nachhaltige<br />

ökonomische Nutzen von Roceph<strong>in</strong> auf die Gesundheitskosten<br />

wird nachfolgend anhand e<strong>in</strong>iger kurz nach der E<strong>in</strong>führung von<br />

Roceph<strong>in</strong> publizierten Beispiele detaillierter dargestellt.<br />

In den Jahren 1979 bis 1981 wurden am Centre Hospitalier<br />

Universitaire Vaudois (CHUV) 132 schwere, häufig bakteriämische,<br />

durch gramnegative Darmbakterien verursachte Infektionen<br />

bei 127 erwachsenen Patienten mit Roceph<strong>in</strong> behandelt; davon<br />

waren 80 Infektionen vorgängig mit anderen Antibiotika ohne<br />

Erfolg therapiert worden. Bei 65 Episoden wurde Roceph<strong>in</strong> 2x<br />

täglich und bei 67 Episoden 1x täglich verabreicht; die hohe<br />

Heilungsrate von <strong>in</strong>sgesamt 86% und die sehr gute Verträglichkeit<br />

waren <strong>in</strong> beiden Gruppen gleich. E<strong>in</strong>e detaillierte und<br />

umfassende Kostenberechnung zeigte beachtliche E<strong>in</strong>sparungen<br />

mit Roceph<strong>in</strong>. Im Vergleich zur 4x täglich zu verabreichenden<br />

Standard-Antibiotika-Therapie ergab die 1x täglich verabreichte<br />

Roceph<strong>in</strong>-Therapie h<strong>in</strong>sichtlich Pflegeaufwand und Material<br />

(Nadel, Spritze, sterile Flüssigkeiten zur Auflösung und <strong>in</strong>travenösen<br />

Verabreichung der Antibiotika) e<strong>in</strong>gesparte Kosten<br />

von 31,38 Franken pro Tag. Somit wurden bei jedem Patienten<br />

mit der damals üblichen Hospitalisationsdauer von 21 Tagen<br />

Periphere Facialisparese<br />

bei Lyme Borreliose<br />

Urs B. Schaad<br />

174 175


658,98 Franken e<strong>in</strong>gespart. Die eigentlichen Medikamentenkosten<br />

für Roceph<strong>in</strong> waren mit denen der damals verwendeten<br />

Standard-Antibiotika vergleichbar. 25 dieser Patienten konnten<br />

ambulant betreut werden; damals wurden der Personale<strong>in</strong>satz<br />

und das Verbrauchsmaterial für die e<strong>in</strong>malige Roceph<strong>in</strong>-Gabe<br />

zu Hause mit 40 Franken berechnet. Im Jahre 1981 betrugen am<br />

CHUV die Durchschnittskosten pro stationärem Patiententag 460<br />

Franken, so dass die ambulante Behandlung für jeden Patienten<br />

e<strong>in</strong>e tägliche E<strong>in</strong>sparung von 420 Franken bedeutete. Heute liegen<br />

diese Kosten <strong>in</strong> der Schweiz um 3 bis 4 Mal höher und entsprechend<br />

natürlich auch die E<strong>in</strong>sparung.<br />

Im Jahre 1986 wurden aus Newark (Sa<strong>in</strong>t Michael’s Medical<br />

Center, Newark, NJ, USA) die Resultate von 38 mit Roceph<strong>in</strong><br />

behandelten Patienten mit schweren systemischen Infektionen<br />

(davon 20x Osteomyelitis und 4x Cellulitis) vorgestellt, wobei<br />

das kl<strong>in</strong>ische Ansprechen, die bakteriologische Eradikation, die<br />

Ausheilung und die Verträglichkeit sehr gut waren. Die wichtigste<br />

und relevanteste Kostene<strong>in</strong>sparung war die Verkürzung<br />

der Hospitalisationsdauer um 60%. Schon damals wurden an<br />

diesem Krankenhaus die Kosten der meisten Patienten gemäss<br />

DRG (Diagnosis-Related Groups, Medicare) abgerechnet.<br />

Ebenfalls im Jahre 1986 fasste Russel Steele (Arkansas) die<br />

relevanten Vorteile der Roceph<strong>in</strong>-Therapie bei pädiatrischen Patienten<br />

h<strong>in</strong>sichtlich kl<strong>in</strong>ischer Anwendung und Kostene<strong>in</strong>sparung<br />

zusammen. Für die Kl<strong>in</strong>ik stellte er die hohe und breite antibakterielle<br />

Aktivität, die Resistenz gegenüber den Beta-Lactamasen,<br />

die gute Penetration <strong>in</strong> den Liquor cerebrosp<strong>in</strong>alis sowie die<br />

weitgehend fehlende Toxizität <strong>in</strong> den Vordergrund. In Bezug<br />

auf die ökonomischen Vorteile diskutierte Steele im Detail die<br />

E<strong>in</strong>sparungen bei den Medikamenten-Kosten (<strong>in</strong>sgesamt notwendige<br />

Menge), bei der Verabreichung (Material, Pflegeaufwand)<br />

und beim Monitor<strong>in</strong>g (Bestimmung von Medikamentenspiegeln).<br />

Relevante ökonomische Vorteile wurden sowohl für die stationäre<br />

als auch für die ambulante Behandlung berechnet.<br />

In den Jahren 1984/1985 wurde am Sa<strong>in</strong>t V<strong>in</strong>cent Medical<br />

Center <strong>in</strong> Toledo (Ohio, USA) die Machbarkeit e<strong>in</strong>es frühen<br />

Wechsels von stationärer zu ambulanter Betreuung bei 98 erwachsenen<br />

Patienten mit schweren bakteriellen Infektionskrankheiten<br />

(24x Skelett, 22x Haut/Weichteile, 17x Abdomen, 16x Lunge, 12x<br />

Gefässe, 4x Nieren, 1x Men<strong>in</strong>gitis, 1x Endometritis) untersucht.<br />

Das kl<strong>in</strong>ische und bakteriologische Ansprechen auf die <strong>in</strong>travenöse<br />

Gabe von zwei Gramm Roceph<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal täglich war bei<br />

<strong>in</strong>sgesamt 96% sehr gut (82 Patienten geheilt, 13 Patienten gebessert).<br />

Die Verträglichkeit erwies sich als gut, bloss 13 Patienten<br />

litten unter Nebenwirkungen (8x Durchfall, 4x Hautausschlag, 1x<br />

Bauchkrämpfe). Gemäss den klar def<strong>in</strong>ierten Kriterien im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er genügenden Besserung erfolgte der <strong>in</strong>dividuelle Wechsel<br />

von stationärer zu ambulanter Betreuung. Bei e<strong>in</strong>er durchschnittlichen<br />

Behandlungsdauer von 20 Tagen ergaben sich für die 98<br />

Patienten <strong>in</strong>sgesamt 1956 Therapietage, davon 924 (47,2%) nach<br />

der Spitalentlassung. Daraus ergab sich e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sparung von<br />

nahezu e<strong>in</strong>er halben Million US-Dollar.<br />

Das breite und ausgeprägte antibakterielle Spektrum, die<br />

e<strong>in</strong>maligen aussergewöhnlichen pharmakok<strong>in</strong>etischen<br />

Eigenschaften und das vorteilhafte Nebenwirkungsprofil<br />

erklären die beachtlichen Vorteile von Roceph<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em<br />

nachhaltigen Nutzen <strong>in</strong> Bezug auf Kl<strong>in</strong>ik und Ökonomie.<br />

Roceph<strong>in</strong> erlaubt e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung der erfolgreichen Behandlung<br />

von Infektionskrankheiten sowie e<strong>in</strong>e Entlastung<br />

der Gesundheitskosten, Vorteile, die sowohl den Industrienationen<br />

als auch den Entwicklungsländern zugute kommen,<br />

und dies auch noch nach Ablauf der Patentfrist.<br />

176 177


Bedeutung von Roceph<strong>in</strong> heute<br />

Ablauf der Patente<br />

In den Jahren 1997 bis 2005 sah sich das Unternehmen mit dem<br />

weltweiten Ablauf der Patentrechte von Roceph<strong>in</strong> konfrontiert.<br />

Als das weltweit am häufigsten e<strong>in</strong>gesetzte <strong>in</strong>jizierbare Antibiotikum<br />

war Roceph<strong>in</strong> für <strong>Roche</strong> zum umsatzstärksten Produkt<br />

geworden. Die Herstellung von Ceftriaxon als Generikum war<br />

somit e<strong>in</strong> ausserordentlich attraktives Unterfangen und die entsprechenden<br />

Angebote schossen dann auch wie Pilze aus dem<br />

Boden. Bereits Ende 1999 wurden 2012 verschiedene Ceftriaxon-<br />

Generika gezählt, hergestellt <strong>in</strong> 38 verschiedenen Ländern, am<br />

häufigsten <strong>in</strong> Asien, gefolgt von Süd-/Mittelamerika und Osteuropa.<br />

Der Ablaufprozess der Patente hatte 1997/1998 <strong>in</strong> Südamerika<br />

und Asien begonnen, erreichte dann 1999/2000 Europa und fand<br />

se<strong>in</strong>en Abschluss 2005/2006 <strong>in</strong> Nordamerika (USA, Kanada).<br />

E<strong>in</strong>e spezielle Expertengruppe (Post-Patent-Strategy Task<br />

Force) bei <strong>Roche</strong> analysierte die Situation und entwickelte Strategien,<br />

um den Anteil im Ceftriaxon-Weltmarkt möglichst hoch zu<br />

behalten. Mit dem Auftauchen der Generika war für das attraktive<br />

Antibiotikum Ceftriaxon e<strong>in</strong>e durch tiefere Preise und fehlende<br />

ärztliche Beratung – im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Indikationsbeschränkung –<br />

bed<strong>in</strong>gte Marktausweitung zu erwarten. Die Post-Patent-Strategy<br />

Task Force behandelte die Themen Verkaufszahlen, Preise,<br />

Herstellung und Vertrieb, sowie auch die für Orig<strong>in</strong>alpräparate<br />

üblichen, jedoch für Generika fehlenden Kosten <strong>in</strong> Bezug auf<br />

Forschung und wissenschaftliche Information.<br />

Die weltweite Expansion des Marktes nach Ablauf der Patentrechte<br />

wurde auf etwa 300 Tonnen Ceftriaxon für das Jahr 2010<br />

geschätzt, was im Vergleich zum Jahre 1997 (150 Tonnen)<br />

e<strong>in</strong>e Verdoppelung bedeutete: Als wichtigste treibende Kräfte<br />

wurden die bereits erwähnten Aspekte Preiszerfall (geschätzter<br />

Rückgang 60 bis 70%) und Indikationserweiterung (fehlende<br />

ärztliche Beratung) erkannt. H<strong>in</strong>zu kam noch der Druck, den<br />

die für die Gesundheitskosten Verantwortlichen im H<strong>in</strong>blick auf<br />

die vermehrte Anwendung dieses e<strong>in</strong>maligen und nun billigen<br />

Medikamentes ausübten. Als mögliche «kontrollierende» Aspekte<br />

dieser Markt-Expansion wurden restriktive Empfehlungen von<br />

Fachgremien genannt. Auch e<strong>in</strong>e durch engagierte Promotion<br />

von neu registrierten Antibiotika bed<strong>in</strong>gte Verlagerung von<br />

Roceph<strong>in</strong> zu diesen neu entwickelten Medikamenten wurde <strong>in</strong><br />

Betracht gezogen.<br />

In Bezug auf Herstellung und Vertrieb der Ceftriaxon-<br />

Generika musste die Task Force grosse Unklarheiten h<strong>in</strong>sichtlich<br />

der Zuständigkeiten für die Produktion des Rohmaterials<br />

beziehungsweise für die Konfektionierung und Auslieferung<br />

der <strong>in</strong>jizierbaren Ampullen feststellen. Zudem wurde klar, dass<br />

sich diese unzähligen Lieferanten weder an Preislisten noch an<br />

Rabattvorgaben hielten: Die Spitäler wurden als Hauptabnehmer<br />

mit allen denkbaren Market<strong>in</strong>g-Tricks angegangen.<br />

Auf Empfehlung der Post-Patent Strategy Task Force entwickelte<br />

<strong>Roche</strong> e<strong>in</strong>en standardisierten Analyse-Prozess zur<br />

objektiven Überprüfung der Ceftriaxon-Generika h<strong>in</strong>sichtlich<br />

Herstellung und Konfektionierung. Unterschiedliche Qualitäten<br />

wurden untersucht: Das Aussehen beziehungsweise die Re<strong>in</strong>heit<br />

des Ceftriaxon-Pulvers (<strong>in</strong>sbesondere ke<strong>in</strong>e Klumpen oder Körner),<br />

die Farbe (idealerweise gebrochenes Weiss), die Re<strong>in</strong>heit der<br />

zur Injektion hergestellten Lösung (klar und ohne Partikel) sowie<br />

mehrere chemische Prüfungen (Re<strong>in</strong>heit der Rohsubstanz, Trübung<br />

der Lösung, Qualität des Wassers, Fehlen von Lösungsmitteln).<br />

Über 20 Generika aus acht verschiedenen Ländern wurden<br />

so analysiert und mit dem Orig<strong>in</strong>alpräparat Roceph<strong>in</strong> verglichen.<br />

Die Resultate ergaben ke<strong>in</strong>e bedeutenden Abweichungen zwischen<br />

diesen Generika und Roceph<strong>in</strong>, sodass juristische Schritte<br />

zur E<strong>in</strong>dämmung der Generika-Proliferation nicht <strong>in</strong> Frage<br />

kamen. Die bei <strong>Roche</strong> untersuchten Ceftriaxon-Generika waren<br />

alle als <strong>in</strong> den entsprechenden Ländern zugelassene Medikamente<br />

beschafft worden; auf die Analyse von Nachahmerpräparaten aus<br />

dubiosen Quellen wurde bewusst verzichtet.<br />

In Ergänzung zu diesem standardisierten Analyseprozess im<br />

<strong>Roche</strong>-Mutterhaus <strong>in</strong> Basel wurden von <strong>Roche</strong>-Niederlassungen<br />

<strong>in</strong> mehreren Ländern, allen voran <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a, auch die Verpackungen<br />

der Generika mit denjenigen von Roceph<strong>in</strong> verglichen.<br />

Sowohl die Kartonschachteln, die Qualität von Karton und<br />

Beschriftung als auch die Stechampullen, die Qualität von Glas,<br />

Verschluss und Beschriftung widerspiegelten <strong>in</strong> vielen Fällen die<br />

bei den Generika angewandten Sparmassnahmen und zeigten<br />

somit im Vergleich zum Orig<strong>in</strong>alpräparat teils markante Mängel.<br />

In Konkurrenz mit den Generika<br />

Während der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts verlor <strong>Roche</strong> also<br />

zunehmend die Kontrolle über e<strong>in</strong>es der grössten Produkte der<br />

178 179


Pharmageschichte. Zu diesem Zeitpunkt machte Roceph<strong>in</strong> über<br />

10% des <strong>Roche</strong>-Umsatzes aus. Mit sehr viel E<strong>in</strong>satz und Sorgfalt<br />

sammelte die bereits erwähnte Post-Patent Strategy Task Force<br />

alle erdenklichen Daten und Tatsachen h<strong>in</strong>sichtlich der Generika<br />

und listete diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zentralen Datensammlung. Ende 1999<br />

befanden sich dort Angaben zu 132 Generika aus Asien, 95 aus<br />

Late<strong>in</strong>amerika und 30 aus Osteuropa.<br />

Für e<strong>in</strong>e möglichst starke Position im Wettbewerb mit<br />

den Generika <strong>in</strong> den verschiedenen Ländern erstellte die Task<br />

Force umfassende SWOT-Analysen (Strenghts, Weaknesses,<br />

Opportunities, Threats) aus Sicht von Roceph<strong>in</strong> und aus Sicht<br />

der Generika. Diese theoretischen Überlegungen galt es dann<br />

für die e<strong>in</strong>zelnen Ländervertretungen <strong>in</strong>dividuell zu gewichten<br />

und daraus die angepasste Strategie zu bestimmen. Aus diesen<br />

SWOT-Analysen s<strong>in</strong>d nachfolgend die wichtigsten Überlegungen<br />

zusammengefasst.<br />

Stärken (Strengths)<br />

Für Roceph<strong>in</strong> und die Generika stehen die im Kapitel «Besondere<br />

Aspekte von Roceph<strong>in</strong>» beschriebenen Vorteile im Vordergrund,<br />

basierend auf dem breiten und ausgeprägten antibakteriellen<br />

Spektrum, der e<strong>in</strong>maligen Pharmakok<strong>in</strong>etik und dem vorteilhaften<br />

Nebenwirkungsprofil; natürlich waren diese Aspekte zum<br />

damaligen Zeitpunkt für das Orig<strong>in</strong>alpräparat «bewiesen» und für<br />

die Generika «zu erwarten». Die Hauptunterschiede: Für Roceph<strong>in</strong><br />

höchste Qualität und Professionalität <strong>in</strong> allen Belangen:<br />

Herstellung, Vertrieb, Information und Betreuung, sowie das<br />

Renommee und der Support bei den Ärzten, basierend auf den<br />

seit mehr als 20 Jahren publizierten Leistungen <strong>in</strong> Forschung<br />

und Kl<strong>in</strong>ik; die Hauptstärke der Generika war und ist natürlich<br />

der tiefe Preis.<br />

Schwächen (Weaknesses)<br />

Aus beider Sicht s<strong>in</strong>d die fehlende Möglichkeit e<strong>in</strong>er Umstellung<br />

von parenteraler auf orale Behandlung, die nicht optimale antibakterielle<br />

Aktivität gegen Anaerobier und Staphylokokken sowie<br />

die Resistenzentwicklung zu nennen; auch die vor allem auf Spitäler<br />

beschränkte Anwendung, das heisst der weitgehend fehlende<br />

Markt <strong>in</strong> der Arztpraxis, betrifft beide, Roceph<strong>in</strong> und Generikum.<br />

Nach Ablauf der Patente werden mit Roceph<strong>in</strong> weniger neue<br />

Studien durchgeführt und bedeutende Neuerungen s<strong>in</strong>d kaum zu<br />

erwarten; Probleme für die Generika s<strong>in</strong>d limitierte Ressourcen<br />

für Promotion und Betreuung sowie mögliche Engpässe bei der<br />

Herstellung.<br />

Chancen (Opportunities)<br />

Für Roceph<strong>in</strong> gilt es <strong>in</strong>sbesondere, <strong>in</strong> die Stärken zu <strong>in</strong>vestieren:<br />

Qualität, Professionalität, Vertrauen und Support. Neben<br />

der Pflege der Haupt<strong>in</strong>dikationen s<strong>in</strong>d Innovationen wichtig,<br />

vor allem im ambulanten Bereich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Förderung<br />

der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie. Essentiell<br />

für das Orig<strong>in</strong>alpräparat ist die Sicherung der Unterstützung<br />

durch die führenden Experten <strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong> und Mikrobiologie.<br />

Die Chancen der Generika werden durch die Preispolitik auf<br />

der Ebene der Spitäler und der allgeme<strong>in</strong>en Gesundheitskosten<br />

bestimmt.<br />

Bedrohungen (Threats)<br />

Für Roceph<strong>in</strong> und die Generika stellen die zunehmende Resistenzentwicklung<br />

beziehungsweise die dadurch begründeten<br />

restriktiveren Anwendungsempfehlungen auf der e<strong>in</strong>en Seite,<br />

und die erfolgreiche E<strong>in</strong>führung neuer Substanzen mit daraus<br />

resultierender E<strong>in</strong>busse (schw<strong>in</strong>dendes Interesse, rückläufiger<br />

Marktanteil) auf der anderen Seite relevante Bedrohungen dar.<br />

Die zunehmende Bedeutung der Mediz<strong>in</strong>alkosten «bedroht»<br />

das «teurere» Orig<strong>in</strong>alpräparat, der weitgehende Mangel an<br />

Vertrauen und Innovation das Generikum.<br />

Aus diesen SWOT-Analysen für Roceph<strong>in</strong> und die Generika<br />

entwickelte die Task Force die sogenannte 4-P-Strategie basierend<br />

auf Produkt, Positionierung, Promotion und Preis. Zu<br />

Tabelle 2<br />

Die 4-P-Strategie<br />

1 Das Produkt Wirksamkeit und Sicherheit, Produktion und Auslieferung<br />

2 Die Positionierung Innovationen: Konfektionierungen, Indikationen<br />

3 Die Promotion Mediz<strong>in</strong>isch-wissenschaftliche Information und Betreuung der Anwender<br />

4 Der Preis Angepasste Preisgestaltung<br />

180 181


diesen 4 Themen wurden die für das Orig<strong>in</strong>alpräparat relevanten<br />

Vorteile aufgelistet. Die verschiedenen <strong>Roche</strong>-Vertretungen hatten<br />

die Aufgabe, die für ihre Region zutreffende Priorisierung<br />

vorzunehmen (Tabelle 2).<br />

Das Produkt (Product)<br />

Hier stehen die seit der E<strong>in</strong>führung im Jahre 1982 gemachten<br />

guten Erfahrungen betreffend Wirksamkeit und Sicherheit<br />

von Roceph<strong>in</strong> im Vordergrund. Wichtig s<strong>in</strong>d der reibungslose<br />

Ablauf von der Produktion bis zur Auslieferung, das Angebot<br />

der im Vergleich zu den Generika unterschiedlichen und anwendungsfreundlicheren<br />

Konfektionierung (Ampullen zu 250 mg,<br />

500 mg, 1 g und 2 g), der Auflösemittel (für <strong>in</strong>travenöse und<br />

<strong>in</strong>tramuskuläre Verabreichung) sowie der E<strong>in</strong>zel- und Grossverpackungen.<br />

Die Positionierung (Position)<br />

Für die Spitäler als «Grossabnehmer» ist der Preisunterschied<br />

zwischen Orig<strong>in</strong>al und Generikum wichtiger als für den ambulanten<br />

Bereich mit den entsprechenden Konsequenzen für die<br />

Preisgestaltung. Zur Stärkung der Positionierung eignen sich die<br />

genannten Innovationen, <strong>in</strong>sbesondere im Bereich der ambulanten<br />

parenteralen Antibiotika-Therapie, also die Möglichkeit<br />

der <strong>in</strong>tramuskulären Verabreichung, sowie neue Indikationen<br />

wie komplizierte Mittelohr<strong>in</strong>fektionen, und e<strong>in</strong>e prolongierte<br />

Behandlungsdauer bei Skelett<strong>in</strong>fektionen.<br />

Die Promotion (Promotion)<br />

Die oben genannte Priorisierung der Positionierung bestimmt<br />

weitgehend die Promotionsanstrengungen. Mit der Konkurrenzierung<br />

zwischen Orig<strong>in</strong>alpräparat und Generikum verliert der<br />

ärztlich-wissenschaftliche Aspekt stark an Bedeutung gegenüber<br />

dem preisdom<strong>in</strong>ierten E<strong>in</strong>fluss der Adm<strong>in</strong>istration. Neben der<br />

Aufrechterhaltung der Information für alle muss e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Konzentration der mediz<strong>in</strong>ischen Betreuung, <strong>in</strong>klusive Unterstützung<br />

von Forschung und Lehre, auf die loyalen beziehungsweise<br />

neuen Abnehmer des Roceph<strong>in</strong>s stattf<strong>in</strong>den, wobei diese<br />

Veränderungen transparent und offen kommuniziert werden<br />

sollen. E<strong>in</strong>e Neu-Instruktion und Umschulung der Ärztebesucher<br />

ist unumgänglich.<br />

Der Preis (Price)<br />

Für die Festsetzung der Preise und Rabatte gelten zunächst zwei<br />

wichtige Vorgaben: Die Kunden empf<strong>in</strong>den gegenüber e<strong>in</strong>em<br />

bewährten Orig<strong>in</strong>almedikament Präferenz, aber nicht Loyalität,<br />

und zum Zeitpunkt des Patentablaufs sollte ke<strong>in</strong>e generelle<br />

Preissenkung stattf<strong>in</strong>den, da e<strong>in</strong>e solche Unverständnis und Vertrauensverlust<br />

hervorruft. Diese beiden Grundlagen, zusammen<br />

mit den regionalen Besonderheiten, bestimmen die Preispolitik.<br />

Den speziellen Konfektionierungen, der <strong>in</strong>tramuskulären Verabreichung<br />

beziehungsweise den kle<strong>in</strong>eren Dosierungen für die<br />

pädiatrischen Patienten ist besondere Beachtung zu schenken;<br />

solange diese nur als Roceph<strong>in</strong> erhältlich s<strong>in</strong>d, kann dadurch der<br />

Entscheid des Abnehmers stark bee<strong>in</strong>flusst werden.<br />

Die Erfahrung lehrt, dass mit dem Verschw<strong>in</strong>den der nicht<br />

überlebensfähigen Generika-Hersteller – <strong>in</strong> der Regel nach wenigen<br />

Jahren – die «rasante» Talfahrt der Preise stoppt und sie sich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e «moderate» Bergfahrt umwandelt.<br />

Ambulante parenterale Antibiotika-Therapie<br />

Während der letzten zwei bis drei Jahrzehnte breitete sich die<br />

OPAT (Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy, Ambulante<br />

Parenterale Antibiotika Therapie) ausgehend von den USA über<br />

alle Erdteile aus und stellt heute weltweit e<strong>in</strong>e wichtige Stütze der<br />

Patientenversorgung dar.<br />

Die treibenden Kräfte für die OPAT s<strong>in</strong>d die Vermeidung der<br />

mit e<strong>in</strong>er Betreuung im Spital e<strong>in</strong>hergehenden Bürden: Kosten,<br />

nosokomiale Infektionen – also im Krankenhaus erworbene<br />

Infektionen – sowie die psychische Belastung bed<strong>in</strong>gt durch die<br />

Trennung von Familie und vertrauter Umgebung. Die e<strong>in</strong>gesparten<br />

Kosten betreffen vorwiegend Personal und Infrastruktur. Das<br />

Fehlen der Familie und des Zuhauses macht vor allem K<strong>in</strong>dern<br />

und Senioren zu schaffen; diese E<strong>in</strong>bussen an Lebensqualität s<strong>in</strong>d<br />

objektiv messbar.<br />

Die nosokomialen Infektionen stellen weltweit e<strong>in</strong>e bedeutende<br />

und leider weiterh<strong>in</strong> zunehmende Problematik dar. Die<br />

Häufigkeit nimmt zu und der durch antibiotikaresistente Bakterien<br />

verursachte Anteil steigt: In den USA stecken sich jedes<br />

Jahr über zwei <strong>Millionen</strong> hospitalisierte Patienten mit resistenten<br />

Keimen an und ca. 100 000 von ihnen sterben daran. Diese<br />

hochgefährlichen und oft hoch ansteckenden Problembakterien<br />

stammen e<strong>in</strong>erseits aus dem Spital, <strong>in</strong>sbesondere aus Nassberei-<br />

182 183


Der «Transnet-Phelophepa-<br />

Gesundheitszug»<br />

<strong>in</strong> Südafrika<br />

chen wie Duschen, Wasserhähnen, Wasserabläufen sowie aus<br />

Belüftungs- und Klimaanlagen, und andererseits von kolonisierten<br />

Menschen, vor allem von Mitpatienten, seltener von Personal<br />

oder Besuchern. Die an sich def<strong>in</strong>ierten Hygienemassnahmen<br />

im Krankenhaus – im Vordergrund stehen die strikte Händedes<strong>in</strong>fektion,<br />

die baulichen Massnahmen sowie bei Bedarf die<br />

Isolation beziehungsweise die Dekontam<strong>in</strong>ation der Keimträger<br />

– werden vernachlässigt, da sowohl an Personal- als auch an<br />

Investitionskosten gespart werden muss. Neben der eigentlichen<br />

Hygiene sollen <strong>in</strong> Zukunft auch zwei weitere Entwicklungen den<br />

Kampf gegen die nosokomialen Infektionen unterstützen: Der<br />

rasche und sichere Nachweis der Bakterien (Schnelldiagnostik)<br />

und Schutzimpfungen gegen resistente Keime wie Pseudomonas<br />

aerug<strong>in</strong>osa, Clostridium difficile und Staphylococcus aureus.<br />

Die wichtigsten Voraussetzungen für die ambulante parenterale<br />

Antibiotika-Therapie (OPAT) s<strong>in</strong>d Wirksamkeit, Sicherheit<br />

und Compliance, wissenschaftlich adäquat untersucht an den<br />

<strong>in</strong> Frage kommenden Indikationen und Patientengruppen. Die<br />

Patienten können im Spitalambulatorium, <strong>in</strong> der Arztpraxis oder<br />

auch zu Hause das Antibiotikum <strong>in</strong>travenös oder <strong>in</strong>tramuskulär<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

erhalten. Die Betreuung ist entweder ausschliesslich ambulant<br />

oder zunächst stationär bis zur erwünschten Besserung. Die<br />

wichtigsten mittels OPAT erfolgreich behandelbaren Infektionen<br />

betreffen Skelett, Haut und Weichteile, Harnwege, untere und<br />

obere Luftwege, aber auch unklares Fieber und <strong>in</strong>vasive Infektionen<br />

wie Men<strong>in</strong>gitis, Sepsis und Endokarditis.<br />

E<strong>in</strong> bewährter, spezieller Anwendungsort der OPAT ist der<br />

«Transnet-Phelophepa-Gesundheitszug» <strong>in</strong> Südafrika; dieser<br />

rund 350 Meter lange Zug bietet seit 1993 <strong>in</strong> verschiedenen abgelegenen,<br />

ländlichen Orten der dortigen Bevölkerung mediz<strong>in</strong>ische<br />

Grundversorgung an.<br />

Für alle relevanten Aspekte e<strong>in</strong>er ambulanten parenteralen<br />

Antibiotika-Therapie – Wirksamkeit, Sicherheit und Compliance<br />

– s<strong>in</strong>d die entsprechenden Qualitäten des Antibiotikums<br />

entscheidend: potentes, breites, antibakterielles Spektrum, günstiges<br />

Nebenwirkungsprofil und die 1x tägliche Anwendung, <strong>in</strong>t-<br />

<strong>Roche</strong> ist externer Hauptsponsor<br />

des Transnet-Phelophepa-Zuges<br />

und unterstützt dieses Projekt<br />

seit 1994<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

184 185


avenös oder <strong>in</strong>tramuskulär. Somit stellt Roceph<strong>in</strong> (Ceftriaxon)<br />

e<strong>in</strong> für die OPAT hervorragend geeignetes Antibiotikum sowohl<br />

für erwachsene als auch für pädiatrische Patienten dar. In den<br />

meisten Publikationen über OPAT ist Roceph<strong>in</strong> (Ceftriaxon) das<br />

am häufigsten e<strong>in</strong>gesetzte Antibiotikum, gefolgt von Teicoplan<strong>in</strong>.<br />

Sowohl der Ort und die Art der Durchführung der Antibiotikagaben,<br />

als auch die <strong>in</strong> Frage kommenden Infektionskrankheiten<br />

variieren je nach Land beziehungsweise Kont<strong>in</strong>ent. In den<br />

USA zum Beispiel werden die Antibiotikagaben <strong>in</strong> der Regel zu<br />

Hause und als Kurz<strong>in</strong>fusion verabreicht; <strong>in</strong> den meisten Ländern<br />

Europas geschieht dies im Spitalambulatorium und ebenfalls<br />

<strong>in</strong>travenös, mit Ausnahme von Italien, wo die <strong>in</strong>tramuskuläre<br />

Verabreichung bevorzugt wird. In peripheren Mediz<strong>in</strong>ale<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>in</strong> vielen Entwicklungsländern wird ebenfalls <strong>in</strong> der Regel<br />

die <strong>in</strong>tramuskuläre Anwendung bevorzugt.<br />

Für die Akzeptanz und die Verbreitung – also den Erfolg –<br />

der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gegebenen Umfeld muss diese Methode im Interesse aller Beteiligten<br />

liegen: Patient, Arzt, Adm<strong>in</strong>istration und Kostenträger.<br />

E<strong>in</strong> professionelles und nachhaltiges Engagement der beteiligten<br />

Fachkräfte – Ärzte, Pflege, Logistik – ist e<strong>in</strong>e unabd<strong>in</strong>gbare Voraussetzung,<br />

denn die Ansprüche s<strong>in</strong>d hoch und dürfen nicht<br />

unterschätzt werden.<br />

Aktuelle Position<br />

Roceph<strong>in</strong> Umsätze<br />

Umsatz<br />

(Mio. CHF)<br />

2000<br />

1800<br />

1600<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

Jahr 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010<br />

Auch 30 Jahre nach der E<strong>in</strong>führung nehmen das Roceph<strong>in</strong> und<br />

die Ceftriaxon-Generika weltweit e<strong>in</strong>e wichtige Stellung bei<br />

der erfolgreichen Therapie der Infektionskrankheiten e<strong>in</strong>. Die<br />

wiederholt beschriebenen Vorteile – basierend auf den vorteilhaften<br />

antibakteriellen, pharmakok<strong>in</strong>etischen und toxikologischen<br />

Eigenschaften – bedeuten auch weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vere<strong>in</strong>fachte<br />

Behandlung und somit e<strong>in</strong>en nachhaltigen Nutzen für Kl<strong>in</strong>ik<br />

und Ökonomie.<br />

Die mit dem Ablauf der Patentrechte beziehungsweise mit<br />

dem Auftauchen der Generika beschriebene Problematik im S<strong>in</strong>ne<br />

der «4-P-Themen» (Produkt, Positionierung, Promotion, Preis),<br />

die ebenfalls im Detail dargestellte Resistenz-Entwicklung und die<br />

engagierte Promotion neuer Antibiotika durch die Konkurrenz<br />

konzentrierten sich vor allem auf die Industriestaaten. Auch die<br />

wiederholt geäusserten Bedenken h<strong>in</strong>sichtlich der Sicherheit im<br />

Neugeborenen- und im Seniorenalter fand vorwiegend <strong>in</strong> Europa<br />

und Nordamerika Beachtung. Die Grundlagen für die Zurückhaltung<br />

e<strong>in</strong>er Anwendung von Ceftriaxon im Neugeborenenalter,<br />

<strong>in</strong>sbesondere bei unreifen Frühgeborenen, s<strong>in</strong>d das Potential der<br />

Verdrängung von Bilirub<strong>in</strong> von der Album<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung mit der<br />

theoretischen Gefahr e<strong>in</strong>es Kernikterus, sowie die durch <strong>in</strong>sgesamt<br />

neun publizierte Fallberichte untermauerte Gefahr e<strong>in</strong>er<br />

potentiell lethalen Bildung von Ceftriaxon-Calcium-Komplexen<br />

<strong>in</strong> Nieren und/oder Lungen bei der gleichzeitigen <strong>in</strong>travenösen<br />

Verabreichung von Ceftriaxon und Calcium. Bei geriatrischen<br />

Patienten wird vor den extrem seltenen Nebenwirkungen der<br />

ceftriaxon<strong>in</strong>duzierten hämolytischen Anämie und den Konkrementbildungen<br />

<strong>in</strong> Gallenwegen/Gallenblase gewarnt, und als theoretische,<br />

allerd<strong>in</strong>gs nie publizierte Gefahr, die Konkrementbildung<br />

<strong>in</strong> Nieren und Lungen erwähnt. Neugeborene und Senioren<br />

haben e<strong>in</strong>ige Geme<strong>in</strong>samkeiten betreffend der Vulnerabilität des<br />

Wasser-Elektrolyt-Haushaltes und der Gewebe: Am Lebensanfang<br />

steht die Unreife, am Lebensende die Alterung.<br />

Aus den Verkaufszahlen von <strong>Roche</strong> geht hervor, dass sich<br />

die Verkäufe von Roceph<strong>in</strong> auf der Liste der umsatzträchtigsten<br />

Produkte von Rang 1 (1 290 Mio Franken) im Jahre 1998<br />

auf Rang 20 (311 Mio Franken) im Jahre 2010 reduzierten. Am<br />

gesamten Umsatz war das Produkt 1998 mit 10% beteiligt, doch<br />

fiel dieser Anteil bis 2010 auf unter 1%. Die stärksten Rückgänge<br />

fanden mit dem Ablauf der Patente <strong>in</strong> Europa 1999/2000 und <strong>in</strong><br />

Nordamerika 2005/2006 statt.<br />

<strong>Roche</strong><br />

186 187


Tabelle 3<br />

Im Jahre 2010 verteilten sich die Anteile der Roceph<strong>in</strong>-Verkäufe<br />

wie folgt: Asien 30,8%, Japan 20,6%, Westeuropa 18,3%, Late<strong>in</strong>amerika<br />

15,8%, sogenannte CEMAI-Länder (Central and Eastern<br />

Europe, Middle East, Africa and Indian Subcont<strong>in</strong>ent) 13,5%,<br />

Nordamerika 0,5% und übrige Länder 0,5%. Die Länderliste<br />

führten Ch<strong>in</strong>a mit 22,9% und Japan mit 20,6% an, gefolgt von<br />

Italien (12,2%), Mexico (6,8%) und Brasilien (3,3%), sowie weiteren<br />

72 Ländern auf allen Kont<strong>in</strong>enten.<br />

In Ch<strong>in</strong>a f<strong>in</strong>det zur Zeit e<strong>in</strong>e im Rahmen der vorgängig<br />

beschriebenen 4-P-Strategie (Produkt, Positionierung, Promotion,<br />

Preis) gesteuerte, <strong>in</strong>teressante Entwicklung statt, um das<br />

Orig<strong>in</strong>alpräparat Roceph<strong>in</strong> gegenüber den über 100 (!) Konkurrenz-Generika<br />

zu behaupten. E<strong>in</strong>e im Jahre 2011 realisierte Preisreduktion<br />

von m<strong>in</strong>us 30% soll durch e<strong>in</strong>e Umsatzsteigerung von<br />

durchschnittlich je 15% <strong>in</strong> den Jahren 2011 bis 2013 profitmässig<br />

aufgefangen werden. Die auf Seite 181 aufgelisteten Überlegungen<br />

zu den 4-P’s werden angepasst gewichtet und angegangen: Die<br />

guten Erfahrungen mit dem Produkt, die bewährte Positionierung<br />

Verkäufe (<strong>in</strong> Mio CHF und <strong>in</strong> Mio E<strong>in</strong>heiten) und Preisentwicklung 2000 – 2010 für Roceph<strong>in</strong> und<br />

Ceftriaxon-Generika zusammen (MIDAS Services, IMS Health)<br />

Ceftriaxon Asia Western CEMAI* Lat<strong>in</strong> North Japan Total<br />

(Roceph<strong>in</strong> and Pacific Europe (excl. Amerika America<br />

Generics) Russia) Ceftriaxon Roceph<strong>in</strong><br />

Mio CHF 2000 209 383 61 39 491 44 1227 1048 (85%)<br />

2010 335 308 159 107 85 81 1075 230(21%)<br />

Veränderung +126 -75 +98 +68 -406 +37 -152 -818<br />

+60% -20% +161% +174% -83% +84% -12% -78%<br />

Mio E<strong>in</strong>heiten 2000 30.5 28.4 38.0 3.6 17.5 4.1 122 61 (50%)<br />

(Standard 2010 102.5 41.1 168.9 19.9 26.5 11.0 370 31 (8.4%)<br />

Units) Veränderung +72 +12 +130.9 +16.3 +9.0 +6.9 +248 -30<br />

+236% +45% +344% +453% +51% +168% +203% -49%<br />

CHF pro 2000 6.85 13.49 1.61 10.83 28.06 10.73 10.05 17.18 (171%)<br />

E<strong>in</strong>heit 2010 3.27 7.49 0.94 5.38 3.21 7.36 2.91 7.42 (255%)<br />

Veränderung -3.58 -6.00 -0.67 -5.45 -24.85 -3.37 -7.14 -9.76<br />

-52% -44% -42% -50% -89% -31% -71% -57%<br />

*CEMAI, Central and Eastern Europe, Middle East, Africa and Indian Subcont<strong>in</strong>ent<br />

von Roceph<strong>in</strong> <strong>in</strong> der stationären und ambulanten Anwendung,<br />

die eigentliche Promotion bei den Anwendern im S<strong>in</strong>ne ärztlichwissenschaftlicher<br />

Betreuung sowie die eben erwähnte Preisgestaltung<br />

<strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er sofort wirksamen Reduktion von -30%.<br />

Die von der Firma IMS Health (International Market Service,<br />

USA) zusammengestellten <strong>in</strong>ternationalen Verkaufsdaten<br />

(MIDAS Services, Mult<strong>in</strong>ational Integrated Data Analysis<br />

Services) der letzten 10 Jahre (2000 – 2010) zeigen die von der<br />

Firma <strong>Roche</strong> (Post Patent Strategy Task Force) antizipierten Entwicklungen.<br />

Die Angaben <strong>in</strong> Tabelle 3 betreffen e<strong>in</strong>erseits den<br />

Gesamtumsatz für das Antibiotikum Ceftriaxon, also die Verkäufe<br />

des Orig<strong>in</strong>alpräparats Roceph<strong>in</strong> und der zahlreichen Generika<br />

zusammen, und andererseits die Zahlen für Roceph<strong>in</strong>. Der Anteil<br />

von Roceph<strong>in</strong> betrug <strong>in</strong> den Jahren 2000 und 2001 noch ca. 85%,<br />

<strong>in</strong> den Jahren 2002 bis 2004 ca. 75% und im Jahre 2005 noch ca.<br />

60%; mit dem Ablauf der Patentrechte <strong>in</strong> Nordamerika 2005/2006<br />

g<strong>in</strong>gen dann die Roceph<strong>in</strong>-Anteile am f<strong>in</strong>anziellen Gesamtumsatz<br />

nochmals deutlich zurück auf 30% bis 35% <strong>in</strong> den Jahren 2006<br />

bis 2009; im Jahre 2010 machte Roceph<strong>in</strong> noch 21% aus.<br />

Bei Betrachtung der totalen Verkaufssummen (also für Orig<strong>in</strong>alpräparate<br />

und Generika zusammen) ergeben sich ke<strong>in</strong>e<br />

bee<strong>in</strong>druckenden Veränderungen: je etwa 1 300 Mio Franken <strong>in</strong><br />

den Jahren 2000 bis 2002, ca. 1 400 Mio Franken <strong>in</strong> den Jahren<br />

2003 bis 2005, und schliesslich e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>pendeln auf je ca. 1 000<br />

Mio Franken <strong>in</strong> den Jahren 2006 bis 2010. Nur bei gleichzeitiger<br />

Berücksichtigung der total verkauften E<strong>in</strong>heiten (Standard<br />

Units) widerspiegeln sich Marktausweitung und Preiszerfall:<br />

Die Verkäufe nahmen um mehr als das Doppelte (plus 203%)<br />

zu, nämlich von 122 <strong>Millionen</strong> E<strong>in</strong>heiten im Jahr 2000 auf 370<br />

<strong>Millionen</strong> E<strong>in</strong>heiten im Jahre 2010, was e<strong>in</strong>er grob berechneten<br />

Preisreduktion von 10,05 Franken auf 2,91 Franken pro E<strong>in</strong>heit<br />

entspricht, also e<strong>in</strong>em Preiszerfall von nahezu drei Viertel (m<strong>in</strong>us<br />

71%).<br />

Die entsprechenden Angaben für das Orig<strong>in</strong>alpräparat Roceph<strong>in</strong><br />

zeigen für die Jahre 2000 bis 2010 (Tabelle 3) e<strong>in</strong>en Rückgang<br />

des f<strong>in</strong>anziellen Umsatzes von m<strong>in</strong>us 78%, e<strong>in</strong>e Halbierung<br />

der verkauften E<strong>in</strong>heiten (m<strong>in</strong>us 49%) und e<strong>in</strong>e Preisanpassung<br />

von auf weniger als die Hälfte (m<strong>in</strong>us 57%).<br />

Auch die Aufteilung dieser MIDAS-Daten auf die 6 Verkaufsregionen<br />

zeigt <strong>in</strong>teressante Aspekte. In Tabelle 3 f<strong>in</strong>den sich die<br />

Veränderungen <strong>in</strong> den 10 Jahren zwischen 2000 und 2010 für<br />

totale Verkäufe <strong>in</strong> <strong>Millionen</strong> Franken, für verkaufte E<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong><br />

<strong>Millionen</strong> und für den daraus berechneten Preiszerfall.<br />

188 189


Wie bereits erwähnt, zeigen die totalen Verkaufssummen wenig<br />

Veränderungen: von 1 227 <strong>Millionen</strong> Franken im Jahre 2000<br />

auf 1 075 <strong>Millionen</strong> Franken im Jahre 2010. Für die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Regionen sieht dies allerd<strong>in</strong>gs sehr unterschiedlich aus: deutliche<br />

E<strong>in</strong>brüche <strong>in</strong> Nordamerika (-83%) und Westeuropa (-20%),<br />

e<strong>in</strong>drückliche Zunahmen <strong>in</strong> den übrigen Regionen, angeführt <strong>in</strong><br />

absoluten Zahlen (+126 Mio Franken) von «Asia Pacific» (Südostasien,<br />

Ch<strong>in</strong>a, Australien, Neuseeland) und e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

prozentualen Zunahme von Late<strong>in</strong>amerika (+174%) und den<br />

CEMAI-Ländern (+161%).<br />

Die anhand der total verkauften Ceftriaxon-E<strong>in</strong>heiten dokumentierte,<br />

substantielle Marktausweitung auf mehr als das Doppelte<br />

– als Konsequenz der Proliferation der Generika – konzentriert<br />

sie sich vor allem auf Late<strong>in</strong>amerika (+453%), die CEMAI-Länder<br />

(+344%) und «Asia Pacific» (+236%).<br />

Der Preiszerfall von nahezu drei Viertel (-71%) ist mit m<strong>in</strong>us<br />

89% noch ausgeprägter <strong>in</strong> Nordamerika und beträgt <strong>in</strong> den übrigen<br />

Regionen um die m<strong>in</strong>us 50%, mit Ausnahme von Japan mit lediglich<br />

m<strong>in</strong>us 31%, dies allerd<strong>in</strong>gs bei relativ sehr kle<strong>in</strong>en Umsätzen.<br />

Indikationsspektrum heute<br />

An den im Unterkapitel «Kl<strong>in</strong>ische Anwendung» (Seite 174) aufgelisteten<br />

Indikationen für Roceph<strong>in</strong> beziehungsweise Ceftriaxon<br />

hat sich <strong>in</strong> den letzten drei Jahrzehnten grundsätzlich wenig verändert,<br />

natürlich mit gewissen Unterschieden zwischen «reichen»<br />

Industrie- und «armen» Entwicklungsregionen.<br />

Parallel zur vorgängig analysierten Marktausweitung, die<br />

sich <strong>in</strong>sbesondere auf die CEMAI-Länder, Late<strong>in</strong>amerika und<br />

Südostasien/Pazifik konzentriert, wird <strong>in</strong> diesen Regionen Ceftriaxon<br />

nach wie vor sehr häufig als empirische (das heisst erste<br />

Wahl bei Diagnosestellung) beziehungsweise bl<strong>in</strong>de (fehlender<br />

Erregernachweis), antibiotische Therapie für verschiedenste<br />

schwere Infektionskrankheiten e<strong>in</strong>gesetzt, namentlich auch bei<br />

Men<strong>in</strong>gitis (Hirnhautentzündung), Sepsis (Blutvergiftung), und<br />

bei Lokalisation im Bereich von Lungen, Skelett und Abdomen<br />

sowie bei Patienten mit geschwächter Immunabwehr. Die Industrieländer<br />

<strong>in</strong> Westeuropa und Nordamerika mit nur ger<strong>in</strong>ger<br />

Marktausweitung setzen Ceftriaxon zurückhaltender, das heisst<br />

gezielter e<strong>in</strong>. Zwei der wichtigsten Gründe dafür wurden wiederholt<br />

genannt: Resistenz-Entwicklung und Promotion neuer<br />

Substanzen; beide haben <strong>in</strong> diesen Ländern grosses Gewicht.<br />

Die im Detail abgehandelte ambulante parenterale Antibiotika-<br />

Therapie (OPAT, Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy) mit<br />

Ceftriaxon (Seite 183) ist global von grosser Bedeutung.<br />

In den letzten Jahren (2008 bis 2011) publizierte Studien<br />

über Erfahrungen mit Ceftriaxon bestätigen diese Aussagen. Die<br />

grossen Vorteile von Ceftriaxon bei der Behandlung der akuten<br />

bakteriellen Men<strong>in</strong>gitis im K<strong>in</strong>desalter s<strong>in</strong>d offensichtlich, besonders<br />

auch <strong>in</strong> Gebieten mit e<strong>in</strong>fachster mediz<strong>in</strong>ischer Infrastruktur<br />

und im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e von 10 auf 5 Tage verkürzte Therapiedauer.<br />

In der pädiatrischen Infektiologie <strong>in</strong> Entwicklungsländern<br />

nimmt Ceftriaxon e<strong>in</strong>e sehr breite und wichtige Stellung e<strong>in</strong>,<br />

unter anderem bei bakteriellen Darm<strong>in</strong>fektionen, unklarem Fieber<br />

bei Neutropenie sowie bei schwerer akuter Unterernährung.<br />

In den letzten Jahren publizierte Resultate mit Ceftriaxon im<br />

Erwachsenenalter bestätigen die guten Erfahrungen als Therapie<br />

bei Lungenentzündungen, <strong>in</strong>traabdom<strong>in</strong>ellen Infektionen,<br />

Geschlechtskrankheiten und febrilen Neutropenien, sowie als<br />

perioperative Infektionsprophylaxe bei verschiedenen E<strong>in</strong>griffen.<br />

Insbesondere konnte e<strong>in</strong>e Reduktion sowohl von Wund<strong>in</strong>fektionen<br />

als auch von nosokomial (im Krankenhaus) erworbenen<br />

Ur<strong>in</strong>- und Lungenentzündungen nachgewiesen werden. E<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>teressante Studie aus zehn Universitätsspitälern <strong>in</strong> Korea bestätigte<br />

die praktischen Vorteile der antibiotischen Behandlung mit<br />

Ceftriaxon im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er korrekten Indikationsstellung und<br />

guten Compliance.<br />

Anzahl behandelter Patienten<br />

Seit der E<strong>in</strong>führung im Jahre 1982 wurden bis Ende Januar 2012<br />

weltweit 141,7 <strong>Millionen</strong> Patienten mit Roceph<strong>in</strong> behandelt.<br />

In der Annahme e<strong>in</strong>er mittleren Tagesdosis von e<strong>in</strong>mal<br />

1,5g Ceftriaxon pro Tag – die Tagesdosen betragen je nach<br />

Körpergewicht des Patienten und Schwere der Krankheit zwischen<br />

wenigen 100mg bis <strong>in</strong> der Regel maximal 4g – sowie e<strong>in</strong>er<br />

durchschnittlichen Behandlungsdauer von zehn Tagen – weiter<br />

Bereich von E<strong>in</strong>maldosis über 1, 3, 7, 10, 21 Tage und länger, je<br />

nach Indikation – und <strong>in</strong> Berücksichtigung der von der Firma<br />

IMS Health zusammengestellten <strong>in</strong>ternationalen Verkaufsdaten<br />

(MIDAS Services, vgl. auch Tabelle 3) ergibt die Hochrechnung<br />

folgende Zahlen: Während der 17 Jahre von 1982 bis 1999 wurden<br />

weltweit ca. 165 <strong>Millionen</strong> Patienten mit Ceftriaxon therapiert,<br />

davon ca. 121 <strong>Millionen</strong> (73,3%) mit Roceph<strong>in</strong>. Während der<br />

folgenden 12 Jahre zwischen 2000 und 2011 waren es total ca. 215<br />

<strong>Millionen</strong> Patienten, ca. 20 <strong>Millionen</strong> (9,3%) davon mit Roceph<strong>in</strong>.<br />

190 191


<strong>Millionen</strong> und <strong>in</strong> Sao Paulo etwa zwölf <strong>Millionen</strong> Menschen. In<br />

Rio de Janeiro dom<strong>in</strong>ieren e<strong>in</strong> blaues Meer, schöne Strände und<br />

Berge sowie e<strong>in</strong>e sympathische Lebensfreude, <strong>in</strong> Sao Paulo h<strong>in</strong>gegen<br />

e<strong>in</strong> gigantisches Hochhausmeer, pulsierendes Geschäftsleben<br />

und tolerante Mult<strong>in</strong>ationalität. Die umfassende und ausgezeichnete<br />

Organisation der zahlreichen Besuche verschiedener Spitäler<br />

und Institute sowie die kundige Führung hatte <strong>Roche</strong> Brasilien<br />

übernommen.<br />

Land und Leute. Der französische Anthropologe Michel Maffesoli<br />

(geboren 1944 <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>en Ortschaft Graissessac <strong>in</strong> den<br />

Cevennen, Département Hérault) schrieb vor e<strong>in</strong>igen Jahren:<br />

Brasilien verkörpert das Emotionale und Gefühlsbetonte wie<br />

wenige andere Kulturen, e<strong>in</strong>e Vorstellungswelt, <strong>in</strong> der die Gefühle<br />

als Widerstand gegen die Schwierigkeiten herangezogen werden.<br />

Das Positive, die Motivation und das Lächeln dom<strong>in</strong>ieren, die<br />

Probleme können noch so gross se<strong>in</strong> – Brasilien ist e<strong>in</strong> echtes,<br />

ausgeglichenes, stolzes Land der Zukunft. Das demokratische<br />

politische System funktioniert, die Wirtschaft boomt, die Währung<br />

ist stabil, das Umweltbewusstse<strong>in</strong> macht Fortschritte.<br />

Rio de Janeiro<br />

Somit profitierten zwischen 1982 und 2011 weltweit ca. 380 <strong>Millionen</strong><br />

Patienten jeglichen Alters, also von Frühgeborenen über<br />

K<strong>in</strong>der und Erwachsenen bis h<strong>in</strong> zu Senioren, von e<strong>in</strong>er Behandlung<br />

mit Ceftriaxon, davon erhielten wie erwähnt ca.141 Mio<br />

(37,1%) das Orig<strong>in</strong>al Roceph<strong>in</strong>. Diese e<strong>in</strong>drücklichen Zahlen<br />

werden <strong>in</strong> den nächsten Jahren weiterh<strong>in</strong> anwachsen, denn die<br />

Erfolgsgeschichte von Roceph<strong>in</strong> und den Ceftriaxon-Generika<br />

geht weiter.<br />

Shutterstock<br />

Medikamente. In Brasilien herrscht e<strong>in</strong> ausserordentlich raues<br />

Klima im Handel mit den Arzneimitteln, sowohl zwischen privatem<br />

und öffentlichem Markt, als auch zwischen Orig<strong>in</strong>alsubstanz<br />

und Generika. Die Verkäufe für Privatpatienten, die vorwiegend<br />

Sao Paulo<br />

Beispiel Brasilien<br />

Brasilien, das grösste und zurzeit vielversprechendste Land <strong>in</strong><br />

Südamerika, ist für <strong>Roche</strong> von grosser Bedeutung. Auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />

Roceph<strong>in</strong> war und bleibt Brasilien e<strong>in</strong>e wichtige Region. Ende<br />

August 2011 erhielt ich die Gelegenheit, <strong>in</strong> den beiden Städten Rio<br />

de Janeiro und Sao Paulo die aktuelle Position von Roceph<strong>in</strong> zu<br />

analysieren. Beide s<strong>in</strong>d <strong>Millionen</strong>städte – <strong>in</strong> Rio leben etwa sechs<br />

Shutterstock<br />

192 193


Urs P. Schaad<br />

Produktionswerk von <strong>Roche</strong><br />

Brasilien <strong>in</strong> Jacarepaguá<br />

(Rio de Janeiro)<br />

<strong>in</strong> Privatspitälern betreut werden, machen lediglich um die 10%<br />

der totalen, mit Medikamenten erzielten Umsätze aus. Diese<br />

10% bedeuten allerd<strong>in</strong>gs deutlich höhere Profite als die Verkäufe<br />

für die «staatlich» versicherten Patienten. Der öffentliche Markt<br />

betrifft <strong>in</strong>sbesondere die öffentlichen Spitäler und wird vom Staat<br />

sehr streng kontrolliert.<br />

Jedes neue Medikament wird zuerst im Privatmarkt e<strong>in</strong>geführt;<br />

die Registrierung für den allgeme<strong>in</strong>en Gebrauch ist aufwändig,<br />

langwierig und bedeutet e<strong>in</strong>e Preisreduktion von m<strong>in</strong>destens<br />

40%. Zudem ist e<strong>in</strong>e Voraussage h<strong>in</strong>sichtlich Akzeptanz und<br />

Stellung <strong>in</strong> den öffentlichen Spitälern <strong>in</strong> der Regel sehr unsicher,<br />

so dass längst nicht alle primär für den Privatmarkt registrierten<br />

Arzneimittel sich dieser Hürde stellen. Für die meisten allgeme<strong>in</strong><br />

zugelassenen Medikamente verlangt der Staat seit e<strong>in</strong>igen Jahren,<br />

dass die Produktion <strong>in</strong> Brasilien erfolgt. Dazu dient der sogenannte<br />

«Technology Transfer» im Rahmen der «Private Public<br />

Partnership». Somit wird gewährleistet, dass Herstellung und<br />

Überwachung qualitativ gleichwertig s<strong>in</strong>d wie im Herkunftsland;<br />

diese Verlagerung wird mit e<strong>in</strong>er Verlängerung der Patentdauer<br />

von bis zu fünf Jahren belohnt.<br />

Etliche der oft sehr zahlreichen bis unzähligen Generika s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> Brasilien mangelhaft, trotz der staatlichen Kontrollbemühungen.<br />

Dies betrifft <strong>in</strong>sbesondere auch die pharmakologisch<br />

aktiven Anteile («Active Product Ingredients», API), also die<br />

Wirksamkeit. Viele dieser aktiven Rohsubstanzen stammen aus<br />

dubiosen Quellen <strong>in</strong> Asien, vor allem aus Indien und Ch<strong>in</strong>a. Die<br />

möglichen Nachteile für den Patienten s<strong>in</strong>d somit bedeutsam,<br />

manchmal lebensbedrohlich, da das unbewusst unterdosiert<br />

e<strong>in</strong>gesetzte Generikum nicht wirkt.<br />

In den meisten öffentlichen Spitälern entscheidet e<strong>in</strong>zig und<br />

alle<strong>in</strong> der Preis die Wahl e<strong>in</strong>er Substanz, so dass für staatlich<br />

versicherte Patienten praktisch ausschliesslich Generika e<strong>in</strong>gesetzt<br />

werden, was natürlich auch für Ceftriaxon gilt.<br />

Die Privatkl<strong>in</strong>iken bieten den Patienten<br />

nicht selten alle Annehmlichkeiten e<strong>in</strong>es<br />

Hotels der Luxusklasse, während <strong>in</strong> den<br />

öffentlichen Krankenhäusern teilweise<br />

bedenkliche Zustände herrschen<br />

Urs P. Schaad<br />

194 195


Rocef<strong>in</strong> i.m. 500mg/1g<br />

Krankenhäuser. Zwischen den privaten und öffentlichen Spitälern<br />

bestehen <strong>in</strong> Brasilien gewaltige Unterschiede, sowohl was<br />

Bausubstanz und Platzverhältnisse, als auch was Organisation<br />

und Adm<strong>in</strong>istration anbelangt. Die Privatkl<strong>in</strong>iken bieten den<br />

Patienten nicht selten alle Annehmlichkeiten e<strong>in</strong>es Hotels der<br />

Luxusklasse, während <strong>in</strong> den öffentlichen Krankenhäusern teilweise<br />

bedenkliche Zustände herrschen. Auch die Ausbildung,<br />

das Ersche<strong>in</strong>ungsbild und die Motivation des adm<strong>in</strong>istrativen<br />

Personals – und somit alle Abläufe – s<strong>in</strong>d im Privatspital merklich<br />

und spürbar besser als im Staatsspital. Die Pflegenden und<br />

<strong>in</strong>sbesondere auch die Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzte leisten h<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong><br />

allen Spitälern e<strong>in</strong>e sehr gute und hoch engagierte Arbeit.<br />

Roceph<strong>in</strong>. Im Jahre 2011 erreichten <strong>in</strong> Brasilien alle Cephalospor<strong>in</strong>e<br />

zusammen e<strong>in</strong>en Jahresumsatz von knapp 400 Mio. BRL<br />

(Brasilianische Reals), was etwa 1% des gesamten Arzneimittelgeschäftes<br />

ausmachte. Was bereits erwähnt wurde, gilt auch für<br />

die Cephalospor<strong>in</strong>e: ca. 90% des Handels betreffen die staatlich<br />

versicherten Patienten. Somit dom<strong>in</strong>ieren die Generika über die<br />

Orig<strong>in</strong>alsubstanzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vergleichbaren Ausmass (ca. 90%).<br />

Der Anteil des Orig<strong>in</strong>alpräparates «Rocef<strong>in</strong>» am brasilianischen<br />

Umsatz mit Ceftriaxon betrug im Jahre 2011 noch ca. 10%<br />

(Rang 4) der Verkäufe <strong>in</strong> Brasilianischen Reals, und ca. 20%<br />

(Rang 3) der verkauften E<strong>in</strong>heiten. Diese «Diskrepanz» bei<br />

den prozentualen Anteilen wird natürlich nicht durch billigere<br />

E<strong>in</strong>heitspreise für «Rocef<strong>in</strong>» erklärt, sondern dadurch, dass das<br />

Historisches Archiv <strong>Roche</strong><br />

Orig<strong>in</strong>alpräparat im Gegensatz zu den meisten der <strong>in</strong>sgesamt<br />

15 Generika auch <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>packungen angeboten wird, sowohl<br />

was die Anzahl als auch die Stärke der Dosen für pädiatrische<br />

Patienten anbelangt.<br />

Stellung <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik. Das Orig<strong>in</strong>al «Rocef<strong>in</strong>», beziehungsweise<br />

die Ceftriaxon-Generika nehmen <strong>in</strong> Brasilien auch fast drei<br />

Jahrzehnte nach der E<strong>in</strong>führung im Jahre 1985 e<strong>in</strong>e beachtlich<br />

hohe Stellung e<strong>in</strong>, im öffentlichen wie im privaten Spital. Zudem<br />

wird dieses Antibiotikum bei schweren <strong>in</strong>vasiven bakteriellen<br />

Infektionen als erste Wahl e<strong>in</strong>gesetzt, <strong>in</strong>sbesondere bei Verdacht<br />

auf beziehungsweise Diagnose von Hirnhautentzündung, Blutvergiftung<br />

und Lungenentzündung, aber auch bei noch unklaren<br />

Krankheitsbildern, alle<strong>in</strong> oder komb<strong>in</strong>iert mit anderen Antibiotika.<br />

In diesem Zusammenhang verdienen zwei von verschiedenen<br />

brasilianischen Infektiologen gemachte Aussagen Erwähnung:<br />

– Das vor allem bei jungen Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzten zirkulierende<br />

«geflügelte Wort»: «Pelo sim, pelo nâo – Rocef<strong>in</strong>», was soviel<br />

bedeutet wie «Im Zweifelsfall – Roceph<strong>in</strong>»!<br />

– In der grossen Antibiotika-Familie nehme das «Rocef<strong>in</strong>»<br />

(Ceftriaxon) die Position e<strong>in</strong>es reifen jungen Erwachsenen<br />

e<strong>in</strong>!<br />

Auch <strong>in</strong> der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie<br />

wird «Rocef<strong>in</strong>» (Ceftriaxon) sehr häufig e<strong>in</strong>gesetzt, <strong>in</strong>travenös<br />

wie auch <strong>in</strong>tramuskulär.<br />

Von allen befragten Infektiologen, Internisten und Pädiatern<br />

wurden die Wirksamkeit von «Rocef<strong>in</strong>» (Ceftriaxon) als sehr<br />

zuverlässig, die Sicherheit als sehr hoch, und die Anwendung als<br />

sehr e<strong>in</strong>fach bezeichnet.<br />

Weltweit weisen Roceph<strong>in</strong> und die Ceftriaxon-Generika<br />

auch 30 Jahre nach der E<strong>in</strong>führung beachtliche und nachhaltige<br />

mediz<strong>in</strong>ische und wirtschaftliche Vorteile bei der<br />

erfolgreichen Behandlung verschiedenster Infektionskrankheiten<br />

auf, und dies sowohl bei pädiatrischen als auch bei<br />

erwachsenen Patienten.<br />

196 197


Dank<br />

Ausgewählte Literatur<br />

Den nachfolgend erwähnten Personen gebührt grosser Dank<br />

für ihre wichtigen Beiträge bei der Erstellung dieses Kapitels:<br />

Alexander Lukas Bieri, Curator The <strong>Roche</strong> Historical Collection<br />

and Archive, Basel; Bruno Halm, Historisches Archiv <strong>Roche</strong>,<br />

Basel; Jan P. Timmermans, International Portfolio Bus<strong>in</strong>ess<br />

Manager <strong>Roche</strong>, Basel; Peter Angehrn, pensionierter Mikrobiologe<br />

<strong>Roche</strong>, Basel; Peter J. Probst, pensionierter Medical Manager<br />

<strong>Roche</strong>, Basel; Maria Crist<strong>in</strong>a Santos, Special Projects Manager,<br />

Produtos <strong>Roche</strong>, Sao Paulo, Brazil.<br />

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amoxicill<strong>in</strong>-clavulanate and ofloxac<strong>in</strong><br />

with <strong>in</strong>travenous ceftriaxone<br />

and amikac<strong>in</strong> as outpatient therapy<br />

<strong>in</strong> pediatric low-risk febrile neutropenia.<br />

J Pediatr Hematol Oncol 31;<br />

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Lee H, Jung D, Yeom JS, Son Js,<br />

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analysis of FOCUS 1 and FOCUS<br />

2: randomized, doubled-bl<strong>in</strong>ded,<br />

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efficacy and safety of ceftarol<strong>in</strong>e<br />

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patients with community-acquired<br />

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Grundmann H, Livermore DM,<br />

Giske CG, Canton R, Rossol<strong>in</strong>i<br />

GM, Campus J, Vatopoulos A,<br />

Gniadkowski M, Toth A, Pfeifer<br />

Y, Jarlier V, Carmeli Y, the CNSE<br />

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Towfigh S, Pastermak J, Poirier A,<br />

Leister H, Bab<strong>in</strong>chak T. A multicenter,<br />

open-label, randomized<br />

comparative study of tigecycl<strong>in</strong>e<br />

versus ceftriaxone sodium plus<br />

metronidazole for the treatment of<br />

hospitalized subjects with complicated<br />

<strong>in</strong>tra-abdomial <strong>in</strong>fections.<br />

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Brasilien, Verlag Mairdumont,<br />

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Molyneux E, Nizami SQ, Saha<br />

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double-bl<strong>in</strong>d randomised equivalence<br />

study. Lancet 377; 1837-1845,<br />

2011.<br />

Biographien<br />

Dr. rer. nat. Sab<strong>in</strong>e Päuser (geb. 1967) <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, arbeitet als wissenschaftliche<br />

Redakteur<strong>in</strong> und Wissenschaftsjournalist<strong>in</strong> bei <strong>Roche</strong><br />

<strong>in</strong> Basel. Nach e<strong>in</strong>em Chemiestudium und e<strong>in</strong>er Promotion auf<br />

biophysikalischem Gebiet an der Humboldt Universität zu Berl<strong>in</strong><br />

im Jahre 1993 arbeitete sie mehrere Jahre <strong>in</strong> der Krebsforschung<br />

im Universitätskl<strong>in</strong>ikum Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong> der Freien Universität<br />

Berl<strong>in</strong>. Bevor sie zu <strong>Roche</strong> kam, war sie vier Jahre als<br />

Chefredakteur<strong>in</strong> der mediz<strong>in</strong>isch-diagnostischen Fachzeitschrift<br />

mta Spektrum <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong> tätig.<br />

Prof. Christoph Mörgeli (geb. 1960) ist Dozent für Geschichte<br />

der Mediz<strong>in</strong> am Mediz<strong>in</strong>historischen Institut und Museum<br />

der Universität Zürch. Nach dem Studium der Geschichte, der<br />

politischen Wissenschaft und der Deutschen Sprache promovierte<br />

er 1986 über den Zürcher Arzt und Politiker Johannes<br />

Hegetschweiler zum Dr. phil. I. Im Jahre 2001 wurde er zum<br />

Titularprofessor der Universität Zürich ernannt. Christoph Mörgeli<br />

verfasste zahlreiche Publikationen zur mediz<strong>in</strong>ihistorischen<br />

Museologie, zu Zürichs Mediz<strong>in</strong>geschichte sowie zur Rolle der<br />

Ärzte im Rahmen von Politik und Gesellschaft.<br />

Prof. Urs B. Schaad (geb. 1945) schloss im Jahr 1971 se<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>studium<br />

an der Universität Bern ab und spezialisierte sich<br />

daraufh<strong>in</strong> auf Pädiatrie und Infektiologie. Ab 1981 baute er die<br />

Abteilung für Pädiatrische Infektionskrankheiten an der Universitäts-K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>ik,<br />

Inselspital Bern, auf. Von 1993 bis 2010<br />

wirkte Urs B. Schaad als Direktor und Professor für Pädiatrie am<br />

Universitäts-K<strong>in</strong>derspital beider Basel. Seit se<strong>in</strong>er Emeritierung<br />

hält er diverse Verpflichtungen <strong>in</strong> Forschung und Lehre an der<br />

Universität Basel, zudem berät er pharmazeutische Unternehmen<br />

<strong>in</strong> Zürich, Basel und Genf. Urs B. Schaad ist Mitglied und<br />

Mitgründer verschiedener bedeutender Institutionen auf dem<br />

Gebiet der Infektiologie und hat zahlreiche Fachpublikationen<br />

veröffentlicht.<br />

200 201


Editiones <strong>Roche</strong><br />

Basel

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