IN BEGLEITUNG DER CALANCASCA - Rotpunktverlag
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<strong>IN</strong> <strong>BEGLEITUNG</strong><br />
<strong>DER</strong> <strong>CALANCASCA</strong><br />
AUGIO–BUSENO (–STA. MARIA)
Entlang der Calancasca spazieren wir über breite<br />
Schwemmebenen, queren einen Auenwald von nationaler<br />
Bedeutung, wandern durch eine enge<br />
Schlucht, passieren einen riesigen Steinbruch und<br />
erreichen den Talabschnitt, wo das Klima mild genug<br />
ist für Kastanienbäume. Unterwegs haben wir Gelegenheit,<br />
alle Dörfer des Talgrunds zu besuchen.<br />
7<br />
95
Rossa<br />
1034<br />
Augio<br />
1069<br />
0 1 km<br />
P. de Ganan<br />
2412<br />
c a<br />
Sta.<br />
Domenica<br />
1035<br />
V a<br />
l<br />
d<br />
e<br />
l ' Ö r<br />
Cauco<br />
992<br />
Bodio 950<br />
l a n<br />
Cima de Nomnom<br />
2633<br />
977<br />
C a<br />
Selma<br />
P. de Groven<br />
2693<br />
P. della Molera<br />
2603<br />
Arvigo<br />
V a l<br />
P. di Renten<br />
Augio–Cauco 1h30<br />
Cauco–Selma 0h30<br />
Selma–Buseno 2h<br />
Total 4h<br />
Höhendifferenz: 350m<br />
2000<br />
752<br />
Buseno<br />
Molina<br />
Fontana<br />
Dasga<br />
Verdabbio<br />
S ta . Maria<br />
955<br />
Castaneda<br />
779<br />
96
Charakter<br />
Mit Ausnahme eines kurzen Abschnittes zwischen Selma und Arvigo ist die Wanderung<br />
auf dem Talweg problemlos. Die Wanderung wurde neu ausgeschildert und ist ausreichend<br />
markiert, sodass die Orientierung keine Probleme verursachen sollte.<br />
Schwierigkeit<br />
T1<br />
Orientierung<br />
Einfach<br />
Beste Jahreszeit<br />
März bis November<br />
Verkehrsmittel<br />
ö Postauto von Grono nach Augio und von Buseno nach Grono<br />
Sehenswertes<br />
A Kapelle della Madonna addolorata di Salàn<br />
B Wasserfall bei Augio<br />
C Auenwald Pian d’Alne<br />
D Hotel und Kulturtreff »La Cascata« mit seinem Spiegelsaal in Augio<br />
E Dörfer Augio, Sta. Domenica, Cauco, Selma, Arvigo und Buseno<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
Karten<br />
Blatt 1294 »Grono« und Blattt 1274 »Mesocco«<br />
Literatur<br />
Rinaldo Spadino, Grüss Gott Herr Doktor – und andere Erzählungen, Terra Grischuna<br />
Buchverlag, Chur 1987<br />
97
Was wäre ein Wanderbuch über das Calancatal<br />
ohne die Tour, die direkt dem<br />
Lauf der Calancasca folgt, jenem Fluss,<br />
der das heutige Gesicht des Tals wesentlich<br />
geprägt hat. Die Calancasca hat das<br />
Val Calanca nicht erschaffen, dafür waren<br />
die Gletscher zuständig. Ein Seitenarm<br />
des mächtigen Tessingletschers grub die<br />
u-förmige Kerbe des Val Calanca in die<br />
Adulaalpen, von denen nur die Spitzen<br />
aus dem Eis ragten. Nach dem Rückzug<br />
des Eises grub sich das Wasser langsam in<br />
den Talboden und verwandelte das Trogtal<br />
in das tief eingekerbte V-Tal, so wie<br />
wir es heute kennen. Die Calancasca und<br />
ihre Seitenbäche waren für diese Gestaltung<br />
verantwortlich und gaben dem Tal<br />
sein heutiges Gesicht. Ihr Werk ist indes<br />
nicht vollendet, wird es nie sein. Die stetige<br />
Veränderung des Tales geht weiter,<br />
meist langsam, manchmal mit aller Kraft<br />
und Brutalität, zu der die Natur fähig ist.<br />
Die Calancasca schliff aber nicht nur enge<br />
Einschnitte in die Bergwelt. Breite<br />
Schwemmebenen und Auenlandschaften<br />
sind ebenso wichtige Bestandteile des<br />
Landschaftsbildes, das wir auf einer Wanderung<br />
entlang der Talsohle erleben können.<br />
Mit den bewirtschafteten Wiesen,<br />
den Ställen, Trockenmauern und Dörfern<br />
bietet der Talgrund eine Umgebung, die<br />
zu einer abwechslungsreichen Wanderung<br />
einlädt.<br />
Es wäre naheliegend, die Wanderung im<br />
hintersten ganzjährig bewohnten Dorf<br />
des Calancatals, in Rossa, zu beginnen.<br />
Von Rossa bis ins benachbarte Augio gibt<br />
es aber keinen Fußweg, nur die Kantonsstraße,<br />
weshalb es wohl angenehmer ist,<br />
diesen ersten Abschnitt wegzulassen. So<br />
wandern wir von der Postautohaltestelle<br />
Augio (1034m) zuerst taleinwärts, in<br />
Richtung Rossa, bis nach dem Friedhof<br />
ein Feldweg nach rechts von der Straße<br />
abzweigt. Diesen Weg nehmen wir auf<br />
und gehen nach der nächsten T-Kreuzung<br />
wieder nach rechts, unmittelbar anschließend<br />
nach links über die Brücke, die uns<br />
auf die Ostseite der Calancasca bringt.<br />
Auf diesem nun folgenden rauen und<br />
manchmal überwucherten Pfad wandern<br />
wir an der ersten Sehenswürdigkeit vorbei,<br />
dem gewaltigen Wasserfall (Cascata)<br />
»Del Frot«, der dem Hotel in Augio seinen<br />
Namen gab und der sich in drei Stufen<br />
aus der Höhe des Val de l’Ör auf den Talgrund<br />
stürzt. Wir überqueren die zum<br />
Bach gewordene Kaskade; Brücke gibt es<br />
keine. Bei hohem Wasserstand kann dies<br />
zu nassen Füßen führen! Ein winziger<br />
Pfad führt übrigens rechts vom Wasserfall<br />
bis zum zweiten Absatz der Kaskade hinauf,<br />
wo sich ein kleines Becken befindet,<br />
das zum Baden geeignet ist. Auch das Bassin<br />
auf dem eigentlichen Talgrund ist ein<br />
sehr beliebter Badeplatz.<br />
Für rund 1,5 Kilometer bleiben wir auf der<br />
linken Seite der Calancasca. Auf diesem<br />
Wegstück gibt es fest eingerichtete Grillplätze<br />
und die hier sehr flache Calancasca<br />
eignet sich an verschiedenen Orten zum<br />
Baden. Selbst kleine Sandstrände werden<br />
den Besucherinnen und Besuchern geboten.<br />
Wo wir ein Waldstück erreichen, sehen<br />
wir auf dem Weg einen mit Steinen<br />
gelegten Pfeil nach rechts, der uns auf einen<br />
schmalen Fußweg zur Calancasca<br />
weist. Eine Brücke hilft uns über den<br />
Fluss, wo wir ganz links halten und den<br />
Weg nehmen, welcher der Calancasca<br />
98
folgt. Der schmale Fußpfad entlässt uns<br />
bald in ein befahrbares Schottersträßchen,<br />
und wir wandern unterhalb von<br />
Sta. Domenica vorbei. Die Kläranlage der<br />
Gemeinde Rossa erkennen wir am Geruch,<br />
wenig später passieren wir die frisch<br />
renovierte Kapelle della Madonna addolorata<br />
di Salàn. Rund 50 Meter weiter queren<br />
wir den Fluss erneut – hier gibt es eine<br />
Stahlbrücke – und wenden uns im 90-<br />
Grad-Winkel nach rechts; so gelangen wir<br />
auf den Weg, der uns durch die Auen von<br />
Pian di Alne nach Cauco leitet.<br />
Im September 1513 donnerte gegenüber<br />
dem heutigen Cauco ein gewaltiger Bergsturz<br />
zu Tal. 35 Menschen starben bei der<br />
Naturkatastrophe, welche die Siedlung<br />
Campo Bagigno unter riesigen Schuttmassen<br />
begrub. Laut Überlieferung bauten<br />
die überlebenden Menschen ihr Dorf<br />
auf der anderen Seite der Calancasca wieder<br />
auf – dort wo Cauco heute steht.<br />
Diese Reihenfolge kann zwar nicht ganz<br />
stimmen, denn die Pfarrkirche San Antonio<br />
Abate von Cauco wurde 1497 eingeweiht,<br />
bestand also schon vor der Katastrophe.<br />
Campo Bagigno war deshalb<br />
wohl lediglich ein Teil von Cauco.<br />
Der Bergsturz schuf auch eine große Talsperre,<br />
hinter der ein See entstand. Von<br />
dessen Existenz zeugen heute nur noch<br />
historische Karten; das Gewässer ist längst<br />
aufgefüllt worden vom Geschiebe, das die<br />
Calancasca mitbrachte und das sie an diesem<br />
Ort deponierte. Aus dem See wurde<br />
eine breite Fläche, durch die der Fluss<br />
träge und immer wieder den Lauf wechselnd<br />
mäandrierte. Ein neuer Lebensraum<br />
entstand: die Auenlandschaft.<br />
Auen werden regelmäßig überschwemmt,<br />
Der Talgrund mit seinen<br />
Dörfern wie Cauco lädt zu einer<br />
gemütlichen Entdeckungsreise.<br />
Lädt zum Bade: das Becken<br />
des Wasserfalls »Del Frot«.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
99
sie stehen ständig »im Fluss«. Es ist eine<br />
wiederstands- und anpassungsfähige Pflanzengemeinschaft,<br />
die diesen Lebensraum<br />
besiedelt. Bei der Pian d’Alne handelt es<br />
sich um einen sogenannten montanen<br />
Grauerlenauenwald, denn dieser Baum<br />
gedeiht wie kein anderer selbst auf meterhohen<br />
Kiesüberschüttungen, wie sie in<br />
diesem Teil des Calancatals vorkommen.<br />
In der Schweiz gehören Auenlandschaften<br />
zu den am stärksten gefährdeten Ökosystemen.<br />
Auen wurden bis vor wenigen<br />
Jahrzehnten als wertlos angesehen, als<br />
unordentliche Naturerscheinung, ihnen<br />
fehlt die Beständigkeit und die Berechenbarkeit.<br />
So wurde und wird in Auenwäldern<br />
gern Kies abgebaut oder der Fluss<br />
wurde begradigt, womit ihm die Dynamik<br />
abhanden kam, die für die Existenz<br />
der Auenwälder unerlässlich ist. Im Calancatal<br />
war das nicht anders: Die Calancasca<br />
wurde gezähmt und eingedämmt,<br />
die periodische Überschwemmung des Erlenwaldes<br />
fand nicht mehr statt. Der Kiesabbau<br />
bei Rodè, der vermutlich ein Absinken<br />
des Grundwasserspiegels verursacht,<br />
und die Wasserfassungen bei Valbella, die<br />
den Wasserstand der Calancasca reduzieren,<br />
taten ihr Übriges, um den Auenwald<br />
von Pian d’Alne zu gefährden.<br />
Der Konflikt zwischen Nutzung und<br />
Schutz der Auen ist in der ganzen Schweiz<br />
ein akutes Problem. Zwar erließ der Bund<br />
1992 eine Auenschutzverordnung, nach<br />
der die Kantone insgesamt 169 Auengebiete<br />
von nationaler Bedeutung – dazu<br />
gehört auch Pian d’Alne – ungeschmälert<br />
bewahren müssen. Der Vollzug dieser<br />
Verordnung ist aber um Jahre in Rückstand<br />
geraten. Die mit dem Auenschutz<br />
beschäftigten Stellen müssen sich mit<br />
einer beachtlichen Vielfalt von Nutzungsrechten<br />
auseinander setzen, und die möglichen<br />
Ersatzansprüche sind riesig. Im<br />
Calancatal konnte ein Teil der vom Kanton<br />
definierten Maßnahmen aber umge-<br />
100
setzt werden, nicht zuletzt dank dem Fischereiverband,<br />
der sich maßgebend für<br />
die konkrete Durchführung eingesetzt<br />
hat. So wurden verschiedene Tümpel ausgehoben,<br />
die den Fischen und Amphibien<br />
als Lebensraum dienen. Bei Sta. Domenica<br />
wurde der alte Calancascadamm abgebrochen,<br />
wodurch der Fluss so viel<br />
Platz erhielt, dass er bei Hochwasser wieder<br />
den gesamten Bereich der Flussschleife<br />
überschwemmen kann. Weitere<br />
Revitalisierungsmaßnahmen harren der<br />
Verwirklichung.<br />
In Cauco (981m) wechseln wir ein weiteres<br />
Mal die Flussseite. Bis Bodio – eine<br />
Distanz von ca. 500 Metern – wandern<br />
wir auf der Kantonsstraße, bis wir gegenüber<br />
dem Wegweiser, der von der Straße<br />
den Berg hinauf in Richtung Landarenca<br />
zeigt, nach links abbiegen. Bodio ist eine<br />
Fraktion von Cauco und Autofahrerinnen<br />
und Autofahrern wegen der engen, unübersichtlichen<br />
Stelle bekannt, bei der die<br />
Straße sich zwischen der Casa del Pin und<br />
der Kapelle Madonna di Loreto durchzwängt.<br />
Beides sind schön renovierte,<br />
reich mit Wandmalereien verzierte Gebäude.<br />
Die Malereien werden dem Künstler<br />
Johann Jakob Rieg zugeschrieben. Die<br />
aus dem 17. Jahrhundert stammende<br />
Casa del Pin sollte in den 80er-Jahren der<br />
Straße weichen, wurde dann aber gerettet<br />
und gehört heute der Pfadfinnerinnen-<br />
Stiftung Calancatal. Wir spazieren hinunter<br />
zum Fluss, um bei der bald folgenden<br />
Brücke zum östlichen Flussufer zu wechseln.<br />
Rund 50 Meter nach dieser Brücke<br />
folgt eine Verzweigung. Der offizielle<br />
Wanderweg führt rechts direkt der Calan-<br />
Früher wie heute ist Arvigo der<br />
Ort, an dem das Gericht seinen<br />
Sitz hat.<br />
Früher wie heute Treffpunkt<br />
der Calanchiner: das Hotel und<br />
Kulturzentrum »La Cascata«.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
101
casca entlang auf dem Damm zur Brücke<br />
von Selma und dort unterhalb des Dorfes<br />
vorbei. Wer etwas mehr von Selma sehen<br />
will, folgt, dem linken Ast. Auf dem breiten<br />
Feldweg wandern wir auf dieser Variante<br />
über die Ebene von Pian di Gamb.<br />
Etwas abseits des Weges sehen wir den<br />
einzigen Fußballplatz des Tals, auf dem<br />
die jungen und weniger jungen Männer<br />
und Frauen aus dem Val Calanca seit den<br />
50er-Jahren ihr Ballspiel üben.<br />
Drei identische Ferienhäuser sind die ersten<br />
Gebäude des Dorfes Selma (937m),<br />
das wir nun erreichen. Kurz darauf passieren<br />
wir die große Jugendherberge und<br />
treffen dann auf die Dorfstraße, die von<br />
der Kantonsstraße bis zur Kirche von<br />
Selma hinaufführt. Bei dieser T-Kreuzung<br />
wenden wir uns nach rechts, gehen die<br />
Straße hinab, bis wir wenige Meter nach<br />
der nächsten Kurve eine Abzweigung finden,<br />
an der ein Feldweg scharf nach links<br />
wegführt. Hier treffen wir wieder auf den<br />
offiziellen Wanderweg, der bald in einen<br />
schmalen Pfad mündet und uns in den<br />
Wald und über die breite Runse des Val<br />
d’Auriglia leitet.<br />
Wir gelangen nun in den engen, fast<br />
schluchtartigen Abschnitt, der das Calancatal<br />
zwischen Selma und Arvigo prägt.<br />
Der Fluss hat hier wenig Platz gelassen für<br />
Verkehrswege. Die Kantonsstraße verläuft<br />
auf der westlichen Talseite, der Fußweg ist<br />
am oder über dem linken Flussufer zwischen<br />
der rauschenden Calancasca und<br />
der steilen Talflanke eingezwängt. Auf<br />
etwa halbem Weg zwischen Selma und<br />
Arvigo schmiegt sich die Calancasca besonders<br />
nah an ihren Prallhang, der Weg<br />
weicht über Stufen und über abenteuerliche<br />
Brücken in die Höhe aus, kehrt danach<br />
aber wieder direkt ans Ufer zurück.<br />
Weg und Stege auf diesem Abschnitt sind<br />
instand gestellt worden und bieten heute<br />
keine Probleme mehr. Nun wird das Gelände<br />
weiter, der Weg erhält mehr Raum,<br />
102
is wir vor Arvigo schließlich wieder über<br />
breite, flache Wiesen wandern, die wir<br />
mit Pferden oder Kühen teilen.<br />
In Arvigo (820m) benutzen wir die malerische,<br />
gebogene Steinbrücke, um auf die<br />
Kantonsstraße hinüberzuwechseln. Für<br />
die nächsten 1,5 Kilometer sind wir gezwungen,<br />
der Straße zu folgen. Vorbei an<br />
der Talstation der Braggio-Luftseilbahn<br />
gelangen wir bald in die Region der Steinbrüche,<br />
die sich südlich von Arvigo ausbreiten.<br />
Nach größeren Felsstürzen in der<br />
Region oberhalb der Steinbrüche war die<br />
Straße im Jahr 2007 für längere Zeit verschüttet<br />
und somit unpassierbar. Die Situation<br />
hat dazu geführt, dass die Straße<br />
neu verlegt wurde und nun zwischen den<br />
Gebäuden des Steinbruchbetriebes und<br />
dem Fluss verläuft. Die neue Straße ist leider<br />
zu einer Art Rennbahn geworden.<br />
Wanderern bleibt im Moment nichts anderes<br />
übrig, als ein gutes Stück weit auf<br />
der Straße zu wandern, die links und<br />
rechts auch noch durch einen Zaun respektive<br />
eine Leitplanke begrenzt ist und<br />
keine Ausweichmöglichkeiten bietet. Dieser<br />
Abschnitt gehört zweifellos zu den gefährlichsten<br />
des ganzen Wegnetzes im<br />
Tal! Der Kanton hat jedoch versprochen,<br />
auf der parallel zur Straße verlaufenden<br />
Aufschüttung einen Weg einzurichten.<br />
500 Meter nach dem letzten Gebäude des<br />
Steinbruchbetriebs finden wir auf der<br />
rechten Straßenseite einen ungeteerten<br />
Fahrweg, der für ein kurzes Stück parallel<br />
zur Hauptstraße verläuft. Hier beginnt<br />
endlich wieder ein Weg, auf dem wir<br />
nach Buseno wandern können. Anfänglich<br />
über ein breites Geröllfeld führt uns<br />
dieser Pfad in Kastanienwälder, durch die<br />
Selma liegt auf einem steilen<br />
Schuttfächer über dem Talboden.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
103
wir schon bald das Dorf Buseno sehen,<br />
das aus dieser Perspektive besonders lieblich<br />
erscheint. Dieser Eindruck wird noch<br />
verstärkt durch die gepflegten, terrassierten<br />
Wiesen, die den Weg säumen.<br />
Buseno (752m) ist der einzige Ort des inneren<br />
Calancatals, in dem Kastanien gedeihen<br />
und sich selbst Feigenbäume wohl<br />
fühlen, was auf ein mildes Klima hinweist.<br />
Der Weg leitet Wandernde durch<br />
einen engen Durchgang in die verwinkelten<br />
Gassen und dann auf das einzige<br />
Sträßchen, das in einer Kurve durch das<br />
Dorf zieht. Neben der Kirche entdeckt der<br />
Besucher, die Besucherin die neu erbaute<br />
Zivilschutzanlage, deren Dach als Parkplatz<br />
dient. Ebenfalls neben der Kirche<br />
steht das ehemalige Schulhaus, das seit<br />
1980 als Gemeindekanzlei dient.<br />
Buseno ist aus den Fraktionen Borglione,<br />
Aurello und Molina entstanden, die im<br />
Jahre 1606 einen gemeinsamen Gemeindevorsteher<br />
wählten. Aus Borglione wurde<br />
Busen respektive Buseno. Dort stand<br />
auch die Pfarrkirche, weshalb Buseno zur<br />
Namensgeberin der Gemeinde wurde.<br />
Eine eigene Pfarrei erhielt Buseno erst im<br />
Jahr 1626. Zuvor gehörte die Gemeinde<br />
kirchlich zu Sta. Maria, was für die Buseni<br />
bedeutete, dass sie für Gottesdienste oder<br />
für Beerdigungen den Weg nach Sta. Maria<br />
unter die Füße nehmen mussten.<br />
Auf der schmalen Dorfstraße wenden wir<br />
uns nach rechts, folgen dem leicht ansteigenden<br />
Sträßchen, das die wenigen Häuser<br />
von Buseno bald verlässt. Kurz nach<br />
der Brücke über einen Bergbach, der hier<br />
besonders schöne Wannen und Rinnen<br />
in den Fels geschliffen hat, steht eine<br />
kleine Kapelle mit der Aufschrift »Ave<br />
Maria« am Straßenrand. Gleich gegenüber<br />
verlässt ein Fußweg die Teerstraße<br />
und taucht hinab über Wiesen zum bewaldeten<br />
Ufer des Stausees von Buseno.<br />
Dem Ufer folgend, erreichen wir bald die<br />
Staumauer, über deren Krone wir gehen,<br />
um den zu Buseno gehörenden Dorfteil<br />
von Molina zu erreichen. Hier, bei der<br />
104
Postautohaltestelle, endet der eigentliche<br />
Talweg, die Wanderung lässt sich jedoch<br />
bis Sta. Maria oder Castaneda fortsetzen.<br />
Dieser sehr schöne Abschnitt verlässt den<br />
Talgrund, um in zunehmender Entfernung<br />
zur Calancasca den beiden Dörfern<br />
des Calanca exteriore entgegenzustreben.<br />
(Etappe Molina–Sta. Maria/Castaneda s.<br />
Tour 13.)<br />
Augio ist Ausgangspunkt für<br />
die Talwanderung nach Buseno.<br />
Zwischen Sta. Domenica<br />
und Cauco findet die Calancasca<br />
vorübergehend ihre Ruhe.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
105
DIE STE<strong>IN</strong>BRÜCHE<br />
VON ARVIGO<br />
Das Calancatal ist steinreich – im wahrsten<br />
Sinne des Wortes. Auf der Oberfläche mag<br />
die unglaubliche Menge an Steinen aller<br />
Größen eher mühsam oder hinderlich sein –<br />
beim Wandern wie für die Landwirtschaft –,<br />
doch sind Steine ein wichtiger Rohstoff, aus<br />
dem schon immer Häuser und Straßen entstanden<br />
sind.<br />
Dank dem »Calanca-Granit« ist das Val Calanca<br />
zu einem Begriff geworden. Der Granit,<br />
bei dem es sich in Wirklichkeit um Gneis<br />
handelt, stammt aus den großen Steinbrüchen<br />
südlich von Arvigo, die wie riesige<br />
Wunden in der rechten Talseite klaffen und<br />
in denen selbst die großen, gelb gestrichenen<br />
Baumaschinen wie geschäftige Ameisen<br />
wirken, wenn sie tonnenschwere Steinblöcke<br />
abtransportieren. Rund 20000 Kubikmeter<br />
Gestein verlassen das Calancatal jedes<br />
Jahr.<br />
Der Calanca-Gneis zeichnet sich durch eine<br />
gute Spaltbarkeit und hervorrragende mechanische<br />
und chemische Eigenschaften<br />
aus. Er ist sowohl für den Innen- wie Außenbereich<br />
vielfältig verwendbar, zum Beispiel<br />
Ausstattungen im Innenbereich, Garten- und<br />
Fassadenelemente, aber auch im Straßenbau.<br />
Der kommerzielle Abbau von Gneis begann<br />
mit einem Mann namens Giovanni Polti. Der<br />
gelernte Steinmetz kam 1920 ins Calancatal,<br />
wo er anfing, aus großen, frei liegenden<br />
Felsblöcken Dachplatten herzustellen. Polti<br />
wusste jedoch, dass eine rationelle Nutzung<br />
des Gesteins nur möglich war, wenn weitere<br />
Felsblöcke aus den Talhängen herausgelöst<br />
werden konnten. Fachleute rieten ab; sie<br />
hielten den Calanchiner Gneis für wenig<br />
widerstandsfähig. Nach ihrer Meinung würde<br />
das Gestein eine große Sprengung nicht<br />
aushalten und in unbrauchbare Trümmer zerstieben.<br />
Dennoch wagte Giovanni Polti mit<br />
seinen beiden Söhnen Alfredo und Lino im<br />
Jahre 1955 den Versuch. Mit einer großen<br />
Sprengladung, die selber schon ein Vermögen<br />
gekostet hatte, bewiesen die Poltis,<br />
dass sich der Calanca-Gneis für den kommerziellen<br />
Abbau eignete. Nun begann die<br />
Firma »Cava Polti« damit, den großen Steinbruch<br />
einzurichten, der heute den Talabschnitt<br />
südlich von Arvigo dominiert.<br />
Immer wieder erfüllt der dumpfe Knall einer<br />
Explosion das untere Calancatal: ein weithin<br />
hörbares Zeichen, dass in den Steinbrüchen<br />
bei Arvigo wieder einmal gesprengt worden<br />
ist. Früher waren die Sprengungen selten,<br />
106
aber gewaltig. 30 Zentner Schwarzpulver<br />
wurden in vorbereitete Felsspalten gefüllt<br />
und dann mit einer 15 Meter langen Zündschnur<br />
verbunden. 45 Minuten vergingen<br />
zwischen der Zündung und der Explosion,<br />
die dem Berg bis zu 20000 Kubikmeter<br />
Stein entriss. Allerdings waren die Sprengungen<br />
eine ungewisse Sache. Es kam auch<br />
vor, dass nur wenig Fels gelöst wurde, die<br />
Ausbeute der teuren Explosion somit gering<br />
war. Heute erlaubt die Technik kleinere und<br />
gezieltere Sprengungen, bei denen jeweils<br />
Mehrjährige Handarbeit<br />
aus Calanchiner Gneis.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
107
und 1000 Kubikmeter Gestein freigelegt<br />
werden.<br />
Aus der Cava Polti entstanden in den 60er-<br />
Jahren die beiden Firmen Alfredo Polti S.A.<br />
und Lino Polti & Figli S.A., die zusammen<br />
den Calanca-Gneis ausbeuten. Das Gestein<br />
wird für die verschiedensten Zwecke verwendet.<br />
Aus dem Gneis der ersten Qualität<br />
entstehen Kunstwerke oder Alltagsgegenstände<br />
wie Tische, Bodenplatten oder Küchenabdeckungen,<br />
ja ganze Einrichtungen<br />
lassen sich daraus fertigen, wie das Büro der<br />
Lino Polti S.A. in Arvigo beweist. Aus dem<br />
weniger hochwertigen Stein werden Maueroder<br />
Randsteine hergestellt, während sich<br />
die dritte Qualität noch für große Quader<br />
eignet, die zum Beispiel für Bachverbauungen<br />
oder Hangsicherungen benötigt werden.<br />
Lino Polti S.A. und Alfredo Polti S.A. beschäftigen<br />
zusammen 50 Personen. Die wenigsten<br />
Angestellten stammen jedoch aus<br />
der näheren Umgebung. Die meisten pendeln<br />
aus dem Tessin oder sind aus Italien,<br />
Spanien oder Portugal. Noch immer ist der<br />
Steinbruch mit Abstand der größte Arbeitgeber<br />
im Calancatal. Die Zahl der Angestellten<br />
ist aber auch in diesem Industriezweig parallel<br />
zur steigenden Automatisierung gesunken.<br />
Modernste Maschinen erleichtern die<br />
Arbeit oder lösen den Menschen ab. Heute<br />
können täglich bis zu 60 Kubikmeter Gneis<br />
zu Fertigprodukten verarbeitet werden. Den<br />
beiden Unternehmen im Calancatal bleibt<br />
nichts anderes übrig, als immer wieder in<br />
neue Maschinen zu investieren, um konkurrenzfähig<br />
zu bleiben. Im Zeitalter der Globalisierung<br />
und der billigen Transporte drängen<br />
Steine aus fernen Ländern wie China und<br />
Vietnam auf den Markt.<br />
Ein gewaltiger, von einer geologischen Verwerfung<br />
ausgehender Felssturz hat im Frühjahr<br />
2007 nicht nur das Tal während Wochen<br />
abgeschnitten, sondern auch die Existenz<br />
der beiden Betriebe infrage gestellt. Dank einer<br />
teilweisen Beruhigung und intensiver<br />
Überwachungsmaßnahmen konnte die Arbeit<br />
108
wieder aufgenommen werden, die Abbaumethoden<br />
müssen jedoch in Zukunft der veränderten<br />
Lage angepasst werden.<br />
Die aktuellen Besitzer sind aber zuversichtlich,<br />
auch in Zukunft bestehen zu können.<br />
Dies dank Innovation und einer Qualität, die<br />
an den verschiedensten Orten bewundert<br />
werden kann.<br />
Die Nachfolgerinnen und Nachfolger von<br />
Giovanni Polti haben Geschick darin bewiesen,<br />
Absatzmärkte für ihre Produkte zu finden.<br />
Rund 20 Prozent des Gesteins gehen in<br />
den Export, zu einem großen Teil in die Nachbarländer,<br />
aber selbst bis ins ferne Japan ist<br />
der »Calancagranit« schon verschifft worden.<br />
Die Poltis begnügen sich nicht mit dem Abbau<br />
des Gesteins, sondern nehmen auch<br />
dessen Veredelung selber vor. So entstehen<br />
in den Schuppen bei Arvigo selbst Skulpturen<br />
nach den Entwürfen von Künstlern.<br />
Aus Calanchiner Gneis entstehen<br />
Kunst- und Alltagsgegenstände.<br />
7<br />
AUGIO–<br />
BUSENO<br />
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LA CASCATA<br />
Der Schriftsteller Rinaldo Spadino ist der berühmteste<br />
Sohn Augios. Seine Heimat hat er<br />
kaum je verlassen, da er als Tetraplegiker an<br />
den Rollstuhl gebunden war. Bekannt geworden<br />
ist Spadino durch seine wirklichkeitsnahen<br />
Heimatromane, in denen er die<br />
Schönheiten des Val Calanca und das Leben<br />
der Talbevölkerung schildert. Für sein Werk<br />
offiziell geehrt wurde Spadino allerdings<br />
nicht von seinem Heimatkanton, sondern<br />
vom Kanton Tessin, der ihm einen Literaturpreis<br />
verlieh.<br />
Rinaldo Spadino begnügte sich nicht mit<br />
dem Beschreiben seiner Heimat, sein Wirken<br />
galt auch dem Kampf gegen die Entvölkerung,<br />
gegen das schleichende Aussterben<br />
des geliebten Tals. Einer seiner größten<br />
Träume war es, im Tal ein Zentrum der Begegnung<br />
und der Kultur aufzubauen. Dabei<br />
war es Spadinos Großvater Carlo Spadino<br />
gewesen, der eine ganz wichtige Voraussetzung<br />
geschaffen hatte, damit dereinst ein<br />
Kulturzentrum im Calancatal entstehen<br />
konnte.<br />
Wie viele andere Männer aus dem Tal war<br />
Carlo im Jahr 1884 nach Paris ausgewandert,<br />
wo er als Baumaler arbeitete und zu<br />
Geld kam. 1910 kehrte er in sein Heimattal<br />
zurück. Mit sich brachte er sein Flair für den<br />
französischen Baustil und die Idee, ein Hotel<br />
im Calancatal zu eröffnen. Das Jahr 1910 lag<br />
mitten in der Ära der touristischen Erschließung<br />
der Alpen mit Bergbahnen und mondänen<br />
Hotels. Überall in der Schweiz waren in<br />
den Jahren zuvor Prunkpaläste entstanden,<br />
die den Reichen und Adligen Europas eine<br />
stilvolle Unterkunft anboten. Die Alpen waren<br />
»in«, die angebliche Romantik des einfachen,<br />
aber unverdorbenen Berglerlebens betörte<br />
die wohlhabenden Bürgerinnen und Fürsten<br />
Europas. Mit seinem Vermögen baute Carlo<br />
Spadino das Hotel »La Cascata«, einen stattlichen,<br />
kleinen Palazzo am Eingang von Augio.<br />
Benannt ist das Hotel nach dem Wasserfall<br />
»Del Frot«, der sich auf der anderen Seite der<br />
Calancasca über die Felswand stürzt. Insgesamt<br />
fünf Eisenbahnwagen mit Möbeln und<br />
Täfer hatte Carlo aus Frankreich mitgebracht,<br />
damit sein Hotel den französischen<br />
Vorbildern um nichts nachstehen würde. So<br />
entstand auch der berühmt gewordene Speisesaal,<br />
in dem große Spiegel Fenster imitieren<br />
und der als Spiegelsaal weiter über das<br />
Calancatal hinaus bekannt geworden ist.<br />
Während des Ersten Weltkrieges verlor<br />
Carlo Spadino sein Vermögen, das er auf-<br />
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grund vorteilhafter Zinskonditionen in Russland<br />
angelegt hatte. Der Krieg und die russische<br />
Revolution warfen so ihre Wellen bis<br />
ins abgelegene Calancatal. »La Cascata«<br />
wurde nie ganz fertig gestellt. Dennoch<br />
nahm Carlo mit seiner Familie den Betrieb<br />
des Hotels in dem unfertigen Gebäude auf.<br />
Nach Carlos Tod im Jahr 1953 zog seine<br />
Frau nach Leggia, »La Cascata« begann<br />
einen langen Dornröschenschlaf, zerfiel allmählich.<br />
Das Glück wollte es, dass 1966 ein Wettbewerb<br />
unter europäischen Kunstgewerbeschulen<br />
stattfand. Prämiert wurde auch ein<br />
Projekt, das die Renovation von »La Cascata«<br />
vorsah. Dies gab den Anstoß, die<br />
Wiederherstellung des Gebäudes an die<br />
Hand zu nehmen. Eine Genossenschaft<br />
wurde gegründet, die Geld sammelte, um die<br />
Arbeiten durchzuführen. Selbstverständlich<br />
war Rinaldo Spadino einer der wichtigsten<br />
Promotoren des Projekts. Mit Hilfe zahlreicher<br />
Spender konnte das Haus fertig gestellt<br />
und in seinen ursprünglichen Glanz zurückversetzt<br />
werden. »La Cascata« mit seinen 11<br />
Zimmern und ist zu dem geworden, wovon<br />
Rinaldo Spadino geträumt hat: ein Kulturzentrum<br />
und ein Hotel für auswärtige Gäste. Im<br />
»Cascata« können Touristinnen und Touristen<br />
in einer gemütlichen Atmosphäre ihre Ferientage<br />
verbringen, während das Haus<br />
gleichzeitig eine Begegnungsstätte für die<br />
Einheimischen ist. Hier werden Feste gefeiert,<br />
Theater oder Konzerte aufgeführt. Im<br />
Garten lässt sichs im Schatten von Laubbäumen<br />
gemütlich den Nachmittag verbringen,<br />
ein Rustico gleich neben dem Hauptgebäude<br />
bietet einen kleinen Saal für Seminare.<br />
Der bekannte Spiegelsaal im<br />
»La Cascata« ist im französischen<br />
Baustil des frühen 20. Jahrhunderts<br />
erbaut.<br />
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