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Von Bischof zu Bischof - Rotpunktverlag

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Unterwegs mit einem Visionär und Seidenspinnern<br />

<strong>Von</strong> <strong>Bischof</strong> <strong>zu</strong> <strong>Bischof</strong><br />

Wir nächtigen beim <strong>Bischof</strong> von Chur, wandern<br />

auf der Via Spluga und der Via Regina und fahren<br />

beim <strong>Bischof</strong> von Como im Schiff vor.<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Como mit Dom, aus einem britischen Reiseführer von 1830.


176<br />

CH<br />

6C<br />

6D<br />

Gualdera<br />

Fürstenau<br />

Andeer<br />

Chur<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6A Chur–Fürstenau 6h<br />

6B Fürstenau–Andeer 6h15<br />

6C Andeer–Monte Spluga 7 h<br />

6D Monte Spluga–Gualdera 5 h<br />

6E Gualdera–Chiavenna 6h45<br />

6F Chiavenna–Dascio 6h 45<br />

6G Dascio–Gravedona 4h30<br />

6H Gravedona–Menaggio 6h30<br />

6J Menaggio–Lenno/Como 4h15<br />

Monte Spluga<br />

Chiavenna<br />

6E<br />

Dascio<br />

6F<br />

Gravedona<br />

I<br />

6G<br />

Menaggio<br />

6H<br />

Lenno<br />

6I<br />

Como<br />

6A<br />

6B<br />

Lago di Como<br />

Lecco<br />

Splügenpass<br />

10 Km<br />

Thema I<br />

Die Bischöfe von Chur und Como: mehr Rücken an Rücken denn Bauch an Bauch<br />

Thema II<br />

Vision eines Vriners in der Fremde: Im Schiff über den Splügen<br />

Thema III<br />

Am Comersee spinnen auch Zürcher<br />

serviceteil<br />

5 + 4 Tage<br />

Wir beginnen die Fußreise über den Splügen mit dem Wandertag Chur–Fürstenau, gehen dann je<br />

zwei Tage auf der Via Spluga und auf einem Höhenweg bis Chiavenna. (Wer nach Monte Spluga<br />

auf der Via Spluga bleibt, spart einen Tag.)<br />

<strong>Von</strong> Chiavenna bis Lenno halten wir uns an den Sentiero Regina (auch Strada Regina) und fahren<br />

mit dem Schiff ins Ziel. (Wer bis Cernobbio/Como auf der Regina bleibt, braucht ein bis zwei Tage<br />

mehr.)<br />

Charakter<br />

Mittlere bis längere Wanderungen auf markierten Saum- und Bergwegen, bis Splügen ab und <strong>zu</strong> in<br />

Hördistanz <strong>zu</strong>r A13.<br />

Die Wanderung 6E von Gualdera nach Chiavenna ist ein Bergweg.<br />

<strong>Von</strong> Chiavenna bis Lenno dominieren gut erhaltene Saumwege, am Comersee auch Nebenstraßen.<br />

Jahreszeit<br />

Für den Splügenpass kommen die Monate Juni bis Oktober infrage.<br />

<strong>Von</strong> Chiavenna bis Menaggio kann man das ganze Jahr gehen. Danach steigt der Weg auf 848m<br />

an, eignet sich also weniger für die Wintermonate.<br />

An- und Rückreise<br />

Mit der Bahn nach Chur.<br />

<strong>Von</strong> Como San Giovanni auf der Gotthardlinie <strong>zu</strong>rück. Oder gemütlicher, entlang der durchwanderten<br />

Route: mit dem Schiff bis Colico, mit der Bahn nach Chiavennaund mit dem Bus über den<br />

Splügenpass <strong>zu</strong>rück (bis 12. Oktober).<br />

Karten<br />

Unsere Wegbeschreibung bezieht sich auf die Landeskarte 1:50000, Blätter247T Sardona, 257T<br />

Safiental, 267T San Bernardino, 277T Roveredo und 287 Menaggio. Wer bis Como <strong>zu</strong> Fuß geht,<br />

braucht auch das Blatt 297 Como.<br />

Für die zwei Tage von Chur bis Andeer kommt alternativ die Wanderkarte 1:25000 Thusis–<br />

Heinzenberg–Domleschg infrage.<br />

ÖV<br />

Der Bus C10 Colico–Como bedient das rechte Seeufer mit einem dichten Fahrplan, siehe<br />

www.trasporti.regione.lombardia.it/trl_index.htm<br />

Das Schweizer Postauto St.Moritz–Lugano hält, sofern eine Reservation vorliegt, in Sorico, Gera<br />

Lario, Domaso, Gravedona, Dongo, Menaggio.<br />

Links <strong>zu</strong> Herbergen<br />

Fürstenau bis Splügen: www.viamalaferien.ch > Unterkunft<br />

Monte Spluga bis Chiavenna: turismo.provincia.so.it > Annuario degli alberghi > Ort wählen<br />

Dascio–Como: www.lakecomo.org > ospitalità<br />

Die Provinzen Como und Lecco geben jährlich einen Guida all’ospitalità »Lake Como« heraus, der<br />

sowohl das West- wie das Ostufer abdeckt. Vor Ort in den Tourismusbüros erhältlich.<br />

Links <strong>zu</strong> Wegen<br />

www.viaspluga.com und www.viaspluga.ch<br />

Rucksackbücher<br />

Zu dieser Auswanderung liefern zwei Taschenführer ausführliche kulturhistorische Informationen:<br />

Kurt Wanner, Via Spluga. Durch Kulturen wandern. Thusis–Splügenpass–Chiavenna, Terra<br />

Grischuna, 3. Auflage, Chur 2007. ISBN 978-3-7298-1139-3.<br />

Albano Marcarini, Wandern auf der historischen Strada Regina. Zehn Wandervorschläge am Ufer<br />

des Comer Sees, Lyasis, Sondrio 2005. 88-86711-49-2(mit 30 Kartenaquarellen). Be<strong>zu</strong>gsquelle in<br />

der Schweiz siehe Auswanderung 5.<br />

177


178<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6A Chur–Fürstenau 6 h<br />

Verzauberte Täler, verzauberte Teller<br />

Chur Kathedrale 585m<br />

Punkt 685 685m 2h45<br />

Rothenbrunnen 625m 4h00<br />

Fürstenau 665m 6h00<br />

Höhendifferenz Aufstieg 600m, Abstieg 500m<br />

Chur<br />

Übernachten Marsöl (dem <strong>Bischof</strong> <strong>zu</strong> Füßen), DZ 120–140 Fr., Tel.079 2040285,<br />

www.marsoel.ch; weitere Hotels siehe www.churtourismus.ch/hotels.cfm<br />

Essen Süßwinkel, Stern (zwei Traditionslokale)<br />

Besichtigen Hof mit Kathedrale, Kunstmuseum, Rätisches Museum<br />

Unterwegs<br />

Rothenbrunnen Blick in die Vergangenheit: www.kurhaus-rothenbrunnen.ch<br />

Paspels Schloss Sins, auch Zimmer, Preisofferte unter refugium@schlosspaspels.ch<br />

anfordern<br />

Fürstenau<br />

Tisch und Bett Schauenstein (Gourmetrestaurant mit 2 Michelin-Sternen), DZF 342–597 Fr.,<br />

Tel.081 6321080, www.schauenstein.ch<br />

Imbiss einfaches Restaurant Remise<br />

Ausweichen I Gasthaus Waldheim (Fürstenaubruck, plus 15 Min.), DZF 88 Fr.,<br />

Tel.081 6511378, www.gasthauswaldheim.ch<br />

Ausweichen II Sils im Domleschg (plus 45 Min. oder Bus): Campell, siehe Wanderung 6B<br />

ÖV Rufbus, Tel.081 6515577, holt einen noch um 23:30 Uhr in Schauenstein ab<br />

Das klang verführerisch in den Ohren, verheißungsvoll: Chur–Como. Die<br />

beiden <strong>Bischof</strong>ssitze beflügelten unsere Fantasie. Und die Route bietet, das<br />

zeigte sich rasch, alles, was ein Wanderherz erfreut, Wege vom Feinsten,<br />

Auswanderergeschichten, stimmige Übernachtungen, Schlösser und Berge,<br />

den Süden und den See.<br />

Im Hotel Marsöl, dem <strong>Bischof</strong> <strong>zu</strong> Füßen, übernachtet man angenehm<br />

(und frühstückt auswärts). Und beginnt die Wanderung – alles andere wäre<br />

ein Stilbruch – oben im Hof des Schlosses, auf dem würdevollen Platz zwischen<br />

Kathedrale und bischöflichem Sitz. Frisch vergoldete Engel fliegen um<br />

die Eingangspforte der Kathedrale, die eben aufwendig renoviert wurde.<br />

Hier fand der Bündner Volkstribun Jörg Jenatsch nach seinem gewaltsamen<br />

Tod im Januar 1639 seine Ruhe, wenn auch nicht die ewige, denn 1959<br />

hatte er eine unerwartete Begegnung mit <strong>Bischof</strong> Christian Caminada.<br />

»In Bündner Historikerkreisen hält sich hartnäckig ein Gerücht«, beginnt<br />

Peter Egloff seine Einleitung <strong>zu</strong> Caminadas Sagensammlung »Die ver-<br />

6A Chur–Fürstenau<br />

»Schloss Rhäzüns. Hier spricht die Exilregierung«: Karikatur von Chapatte in »Le Temps«,<br />

nach der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher.<br />

zauberten Täler«. »Als im Sommer 1959 in der Churer Kathedrale die<br />

Grabstätte von Jörg Jenatsch lokalisiert und in Anwesenheit des Hausherrn<br />

Christian Caminada geöffnet wurde, sei der kleine, greise <strong>Bischof</strong> vor lauter<br />

Aufregung ausgeglitten und in die offene Grube gerutscht.« Man lebt gefährlich<br />

als vielseitig interessierter Kirchenmann. <strong>Bischof</strong> Caminadas »Verzauberte<br />

Täler« sind Kult. Eines andern Caminada verzauberte Teller sind<br />

es mittlerweile auch. So viel <strong>zu</strong>m Abendprogramm.<br />

Das müssen wir uns <strong>zu</strong>erst verdienen. Wir gehen in die Altstadt hinunter<br />

und queren die Plessur beim Obertor. Auf der Malixerstraße steigen wir bis<br />

<strong>zu</strong>m Hotel Rosenhügel an. Hier beginnt der Waldweg, der – <strong>zu</strong>erst noch<br />

sanft steigend – über dem Churer Rheintal verläuft. Wir halten uns an die<br />

Wegweiser Domat Ems (Foral nicht beachten) und später Rothenbrunnen.<br />

Vor dem Valpaghera-Tobel steigen wir auf einem schmalen Weg ab. Nach<br />

der Bachquerung führt ein Hohlweg am Waldrand <strong>zu</strong> Punkt 610 hinunter. Der<br />

Zwischenanstieg ins Val Mulin und wieder herunter <strong>zu</strong> Punkt 587 bleibt niemandem<br />

erspart. Danach wandern wir mehr oder weniger unter der Hochspannungsleitung<br />

beziehungsweise am Rande des Golfplatzes weiter, bis Punkt<br />

609. »Steigt 100m auf 1 km«, werden hier Velofahrer gewarnt. Es ist nur dreiviertel<br />

so schlimm: 76 Höhenmeter bis <strong>zu</strong>m kleinen Pass bei Punkt 685.<br />

179


180 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6A Chur–Fürstenau<br />

196 v.u.Z. Die Römer errichten in Como<br />

ein Kastell.<br />

1219 Mit einem Friedensvertrag<br />

beenden das Schams und Chiavenna<br />

eine Fehde; die Splügenroute wird<br />

sicherer.<br />

um 1260 Gründung des Mini-Städtchens<br />

Fürstenau, Zweitresidenz des<br />

<strong>Bischof</strong>s von Chur.<br />

1473 Der Weg durch die Viamala wird<br />

eröffnet.<br />

1512 Graubünden nimmt sich das Veltlin<br />

und die Grafschaften Chiavenna und<br />

Bormio als Untertanenland.<br />

1797 Das Veltlin schließt sich Napoleons<br />

cisalpinischer Republik an und wird<br />

später österreichisch.<br />

1818–1823 Bau der Passstraße vom<br />

Comersee nach Splügen, finanziert<br />

von Österreich.<br />

1826 Beginn der Dampfschifffahrt auf<br />

dem Comersee.<br />

1852 Der Bündner Große Rat vereinigt<br />

die Mini-Gemeinde Hof, Sitz des<br />

<strong>Bischof</strong>s, mit Chur.<br />

1854 Der 16-jährige Carl Abegg aus<br />

Küsnacht am Zürichsee reist über<br />

Chur, Splügen und Como <strong>zu</strong> seiner<br />

Lehrstelle in Mailand.<br />

1907 Pietro Caminada, Bürger von Vrin<br />

und aufgewachsen in Mailand,<br />

schlägt in seiner Studie »Canaux de<br />

montagne« eine Schiffstraße über<br />

den Splügenpass vor.<br />

1988 Eine türkische Familie will mithilfe<br />

von Schleppern in die Schweiz<br />

flüchten. Der 7-jährige Sohn stirbt im<br />

Schneesturm auf dem Splügenpass.<br />

1995 Die Comunità montana Valchiavenna<br />

setzt wichtige Strecken der<br />

späteren Via Spluga und den Weg<br />

von Chiavenna bis vor Dascio instand.<br />

2001 Die Via Spluga wird offiziell<br />

eröffnet.<br />

»Im Vogelsang« heißt die folgende<br />

Passage bei den Einheimischen,<br />

die Waldstraße bis Rothenbrunnen.<br />

Unter uns liegt die<br />

großartige Kies- und Auenlandschaft<br />

des Rhäzünser Rheins mit<br />

türkisblauen Mäandern und blendend<br />

weißen Kiesbänken. Auch das<br />

Schloss Rhäzüns bekommt einen<br />

kurzen Seitenblick. Die Fensterläden<br />

sind geschlossen, der Hausherr,<br />

Christoph Blocher, ist wohl <strong>zu</strong>m<br />

Wohle von Volk und Vaterland<br />

unterwegs. Reste von Panzersperren<br />

verraten, dass wir hier den Warschaupakt<br />

gestoppt hätten.<br />

Am Straßenrand fallen die Positionstafeln<br />

der früheren Pipeline<br />

Oleodotto del Reno auf, die in den<br />

1990er Jahren stillgelegt wurde.<br />

Während im St. Galler Rheintal<br />

demnächst Erdgas statt Öl durch<br />

die Pipeline fließen wird, sollen die<br />

Röhren von Sils im Domleschg bis<br />

ins italienische Verderio (ein Nachbarort<br />

von Paderno, dem Ziel<br />

unserer Wanderung 5G) eine 1100-<br />

Megawatt-Hochspannungsleitung<br />

aufnehmen. In der Domleschger Bevölkerung<br />

ist das Projekt umstritten,<br />

nicht <strong>zu</strong>letzt, weil die bestehende<br />

Hochspannungsleitung nicht<br />

verschwinden würde.<br />

Gleich nach dem »Kurhaus Rothenbrunnen«,<br />

das längst keines<br />

mehr ist, steigen wir auf dem Burgenpfad<br />

Domleschg etwas in die<br />

Höhe und nehmen dann die Vari-<br />

»Domleschger Tafelobst«, das Schweizer Edelobst für Aroma und Haltbarkeit (Originallegende):<br />

Schloss Rietberg.<br />

ante nach Tomils und <strong>zu</strong>m lauschigen Leg da Canova, seit Generationen ein<br />

magischer Ort erster Verliebungen. Hier oben soll auch ein letzter Maulbeerbaum<br />

stehen, als Erinnerung an die Seidenraupen<strong>zu</strong>cht, die vorübergehend<br />

auch im föhnigen Rheintal zwischen Maienfeld und Thusis betrieben wurde,<br />

wenig erfolgreich. Eine eigens gegründete Aktiengesellschaft besaß 1845<br />

über 10000 Maulbeerbäume, bereits drei Jahre später wurde das Ganze liquidiert.<br />

Die Veia da Pumera, der Obst-Themenweg, führt uns via die schöne<br />

Ebene von Nueins hinüber <strong>zu</strong>m Schloss Rietberg.<br />

Fidel Hämmerle, Bauer auf Schloss Rietberg, bewirtschaftet einen traditionellen<br />

Hochstamm-Baumgarten mit zwei Dutzend alten und neuen Apfelsorten.<br />

Im ganzen Domleschg gibt es noch immer über hundert Sorten.<br />

Auch wenn die Äpfel nicht mehr harassweise an den Zarenhof in St. Petersburg<br />

geliefert werden wie um 1900, als die Eisenbahnen auch dem Apfelland<br />

Domleschg neue Märkte erschlossen. Noch in den 1950er Jahren gingen<br />

die schönsten Äpfel in die Engadiner Hotels: jede Frucht in Seidenpapier<br />

gewickelt und lagenweise auf Holzwolle gelegt.<br />

Auf Rietberg werden nicht nur Äpfel gezogen. Als der abgewählte<br />

Bundesrat Christoph Blocher im Dezember 2007 drüben auf Schloss Rhäzüns<br />

seine Chefbeamten verabschiedete, verglich er sich gewohnt bescheiden<br />

mit dem Bündner Volkshelden Jürg Jenatsch, dessen Ermordung – dies<br />

181


182<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

die Pointe – von Pompejus Planta auf Schloss Rietberg inszeniert worden<br />

sei. Ulrich Schlüer, studierter Historiker und Chefredaktor der SVP-Postille<br />

»Schweizerzeit«, wusste es noch genauer: »Die Urheberschaft des gegen<br />

Blocher eingefädelten Komplotts mit Widmer-Schlumpf als Marionette reklamiert<br />

Salon-Sozialist und Schlossbewohner Andrea Hämmerle (auf dem<br />

gleichen Herrschaftssitz hat seinerzeit auch der Mörder von Jürg Jenatsch<br />

gehaust) für sich.« Komplott hin, Klammersatz her: Dass der tote von<br />

Planta, so durchtrieben er Zeit seines Lebens gewesen sein mag, 18 Jahre,<br />

nachdem er auf Schloss Rietberg von Jürg Jenatsch, dem gepriesenen Volkshelden,<br />

ermordet worden war, seinerseits daselbst die Ermordung seines<br />

Mörders einfädelte, ist, sogar nach aller SVP-Logik, eher unwahrscheinlich.<br />

<strong>Von</strong> Rietberg geht es ein Stück auf der Straße weiter und dann via Punkt<br />

728 hinunter nach Fürstenau, das mit 30 Seelen als kleinste Stadt der<br />

Schweiz gilt. Klein, aber mit zwei Schlössern stattlich, beide vom Churer <strong>Bischof</strong><br />

erbaut, der um 1500 den Zenith seiner Macht erreichte. <strong>Von</strong> hier aus<br />

wurden die bischöflichen Besit<strong>zu</strong>ngen im Domleschg und im Heinzenberg<br />

(auf der andern Talseite) verwaltet. Seit 2003 gibt es das Hotel und Restaurant<br />

Schauenstein, unser Ziel.<br />

»Nehmen Sie die Zuckerwatte in den Mund und kippen Sie ein Schlückchen<br />

Apfelessig hinterher.« Soo exotisch haben wir uns den Besuch bei<br />

einem der besten Köche der Schweiz nicht vorgestellt. Nobel solle sie sein,<br />

die erste Übernachtung am langen Weg von Chur nach Como, von <strong>Bischof</strong>ssitz<br />

<strong>zu</strong> <strong>Bischof</strong>ssitz, fanden wir. Auch wenn es nicht ganz einfach ist, in Fürstenau<br />

unter<strong>zu</strong>kommen. Nun denn, Gottergeben machen wir, was man uns<br />

sagt. Oh Wunder, es geht. Das war beim Apero. Und so ging es weiter, der<br />

Reigen von Glasiertem, Geeistem in Gläschen und Schälchen, von Aufgespießtem<br />

und Gerolltem bis <strong>zu</strong>m Lollipop, den es <strong>zu</strong>m Kaffee gab. Und was<br />

träumt man nach einem solchen Gefunkel und Gelichter im schönen Hotelgemach?<br />

<strong>Von</strong> Haferbrei mampfenden Bischöfen, in Hauspantoffeln und<br />

Strickjacken, vor dem Kaminfeuer auf Schloss Schauenstein.<br />

Postskriptum, vor Erscheinen der »Auswanderungen«: Die verzauberten<br />

Teller von Andreas Caminada haben inzwischen derart Furore gemacht,<br />

dass es schwierig bis unmöglich ist, kurzfristig einen Tisch und ein Bett <strong>zu</strong><br />

ergattern. Falls nur das Bett ein Problem ist, bietet sich eine Viertelstunde<br />

weiter, in Fürstenaubruck, das Waldheim an. Eine knappe Stunde ist es bis<br />

Sils ins Hotel Campell. Für hungrige Wandersleute, die auch ohne Michelin-<br />

Doppelstern auskommen können, keine schlechte Alternative.<br />

Die Bischöfe von Chur und Como:<br />

mehr Rücken an Rücken denn Bauch an Bauch<br />

Chur–Como? Wir sahen die Exzellenzen nicht nur in Fürstenau dinieren, sondern<br />

auch mit Pomp und Gloria über den Splügen ziehen und über den Comersee fahren.<br />

Doch ganz so einfach war es nicht mit den Herren Bischöfen, wir verhedderten<br />

uns bald einmal in den Jahrhunderten und in den Machtverhältnissen.<br />

Im Bündner Historiker Florian Hitz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut<br />

für Kulturforschung in Chur, fanden wir den Fachmann, der uns fundiert auf die<br />

Sprünge half. Hitz hat zahlreiche Arbeiten <strong>zu</strong>r Bündner Geschichte des Mittelalters<br />

und der Neuzeit verfasst, darunter Beiträge <strong>zu</strong>m Handbuch der Bündner Geschichte.<br />

Florian Hitz, hatten die Bischöfe von Chur und Como überhaupt miteinander <strong>zu</strong><br />

tun?<br />

Im 12. Jahrhundert geht’s noch einigermaßen auf. Chiavenna wird vom Kaiser<br />

dem Herzogtum Schwaben »eingegliedert«: Das ist natürlich Politik des <strong>Bischof</strong>s<br />

von Chur gegen Como, Stadt und <strong>Bischof</strong>.<br />

Und später?<br />

Im frühen 13. Jahrhundert kommt es <strong>zu</strong>r großen Fehde zwischen den Schamsern<br />

(den Bewohnern von Zillis und Andeer) und den Clävnern (den Leuten aus<br />

Chiavenna). Beendet wird sie 1219 mit dem Friedensschluss zwischen den jeweiligen<br />

herrschaftlichen Gewalten: dem <strong>Bischof</strong> von Chur und der Stadt Como. Der<br />

Friedensvertrag wird in Piuro abgeschlossen, und auf der Comasker Seite erscheint<br />

unter anderem ein Salis als Schwurzeuge (der dann bald die Seiten wechselt).<br />

Womit kurz das Bergell in den Fokus rückt, das uns hier aber ausnahmsweise<br />

weniger interessiert.<br />

Das heißt, dass nun Chiavenna <strong>zu</strong>m Einflussbereich der Stadt Como gehörte.<br />

Welche Rolle spielte der <strong>Bischof</strong>?<br />

Auf der Comasker Seite agiert eben nicht der <strong>Bischof</strong>, sondern die Stadt. Der<br />

<strong>Bischof</strong> ist der ursprüngliche Stadtherr, aber die Stadtgemeinde hat sich inzwischen<br />

emanzipiert – und tritt selbst als Herrschaftsträger am Lario auf. Como ist<br />

eine jener stolzen oberitalienischen Kommunen, wie sie für das 12./13. Jahrhundert<br />

so typisch und so wichtig sind. 1283/84 ist dann Walter von Vaz für ein Amtsjahr<br />

gewählter Podestà von Como, gewählt von der Ghibellinen-Partei.<br />

183


184 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Was macht ein von Vaz, einer aus der Bündner Gemeinde, <strong>zu</strong> der auch Valbella/Lenzerheide<br />

gehört, unten in Como?<br />

Der Dynast Walter von Vaz hatte seinen Stammsitz tatsächlich in Vaz/Obervaz;<br />

er war aber in ganz Rätien einflussreich, und darüber hinaus. 1275, kurz vor<br />

seinem Auftritt in Como, hatte er sich die Landesherrschaft im Schams »vorbehalten«<br />

– gegenüber dem <strong>Bischof</strong> von Chur. Mit anderen Worten: Ab dem späten 13.<br />

Jahrhundert ist auf der Splügen-Nordrampe gar nicht mehr der <strong>Bischof</strong> von Chur<br />

der Gewalthaber, sondern ein weltlicher Landesherr (der nur pro forma bischöflicher<br />

Lehensträger ist). Im 14./15. Jahrhundert sind es dann die Grafen von Werdenberg-Sargans,<br />

die Erben der Herren von Vaz, die in den Hinterrheintälern die<br />

Landesherrschaft wahrnehmen, im Schams und auch in Splügen. In intensiver<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit den lokalen Gemeinden wie auch mit der Gemeinde Chiavenna<br />

und mit dem Herzog von Mailand.<br />

Wer kontrollierte die Splügenpassroute?<br />

Seit dem 14. Jahrhundert ist die Splügenroute eindeutig die Konkurrentin der<br />

bischöflichen Septimerroute. Jawohl, die Septimerroute ist bischöflich, aber nicht<br />

die Splügenroute. Die Splügenroute hingegen ist »gräflich«. Das illustriert der Viamala-Ausbau,<br />

die Straßenanlage von 1473 – eine Initiative der Leute des Schams<br />

und des Valchiavenna, unter dem Patronat des Grafen Jörg von Werdenberg-Sargans.<br />

Eine wichtige Figur?<br />

Graf Jörg, gestorben 1504, ist ein bei Eidgenossen und Bündnern sehr beliebter<br />

Hochadliger, der finanziell dauernd in der Klemme steckt. Er verkauft deshalb die<br />

Herrschaft Sargans an die Eidgenossen, überlässt die Landesherrschaft im<br />

Schams und im vorderen Domleschg (Schloss Ortenstein) dem <strong>Bischof</strong> von Chur<br />

und veräußert die Landesherrschaft im Rheinwald und Safien an die mailändischen<br />

Trivulzio. Unter dem Namen »Conte Jorio« ist Graf Jörg am Hof von Mailand<br />

wohlbekannt – als Troublemaker und Subventionsbezüger.<br />

Offenbar hätten wir auch von Como nach Mailand weiterwandern sollen?<br />

Im Süden ist der relevante politische Player seit dem 14. Jahrhundert tatsächlich<br />

nicht mehr Como (sowieso längst nicht mehr der <strong>Bischof</strong>, aber auch nicht<br />

mehr die Stadt), sondern Mailand. Und zwar der Herzog, nicht die Stadtgemeinde<br />

von Mailand. Der Potentat hat die Kommune überspielt und unterworfen.<br />

Und im Norden?<br />

Das Schams kommt zwar in den 1480er Jahren nominell an den <strong>Bischof</strong> von<br />

Chur. Aber die Talschaft wird in der Folge doch nicht <strong>zu</strong>m Gotteshausbund gezählt,<br />

Die älteste Detailansicht des Hofs: links außen der Hauptturm der mittelalterlichen <strong>Bischof</strong>sburg,<br />

rechts das Hoftor (Holzschnitt von Sebastian Münster, 1550).<br />

der ja die (ehemaligen) bischöflichen Herrschaftsgebiete in sich vereint, sondern<br />

<strong>zu</strong>m Oberen oder Grauen Bund. Darin zeigt sich wieder, dass der <strong>Bischof</strong> seit dem<br />

13. Jahrhundert im Splügen-Gebiet schlicht keine Rolle mehr spielt.<br />

Chur–Como, von <strong>Bischof</strong> <strong>zu</strong> <strong>Bischof</strong>. Leicht zerknirscht nehmen wir <strong>zu</strong>r Kenntnis,<br />

dass das die etwas vorschnelle Idee zweier Mittelalter-Laien war.<br />

Halb so schlimm. So ganz abwegig ist die Idee ja auch wieder nicht. Die Kontakte<br />

zwischen den Bischöfen von Chur und Como waren durchaus ein Thema,<br />

aber halt nur im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert. Und schon in dieser Zeit<br />

ist, wie gesagt, die Kommune Como politisch wichtiger als der <strong>Bischof</strong>. Gewiss gibt<br />

es Kontakte auch auf <strong>Bischof</strong>sebene. Die Herren von Torre aus dem Blenio stellen<br />

um 1200 sowohl den <strong>Bischof</strong> von Chur wie den <strong>Bischof</strong> von Como.<br />

185


186<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Zwei Diözesen als »Familien-Betrieb«?<br />

Nein, ansonsten stehen diese Prälaten eher Rücken an Rücken als Bauch an<br />

Bauch. Das Bistum Chur war seit dem Frühmittelalter nach Norden, »ins Reich hinaus«,<br />

orientiert; es gehörte <strong>zu</strong>m Erzbistum Mainz (der Erzbischof war der zeremonielle<br />

Reichskanzler); der <strong>Bischof</strong> von Chur war ein vom Kaiser schwer privilegierter<br />

Reichsfürst. Der <strong>Bischof</strong> von Como dagegen war dem Erzbischof von Aquileja<br />

unterstellt.<br />

Der <strong>Bischof</strong> von Como war mehr oder weniger ein Nobody?<br />

Der <strong>Bischof</strong> von Como wird für die Bündner Geschichte erst wieder im 16. und<br />

17. Jahrhundert wichtig, <strong>zu</strong>r Zeit der Reformation und Gegenreformation. Das sind<br />

dann aber nicht sehr erfreuliche Kontakte. Die heilige Inquisition, mit ihren Übergriffen<br />

ins bündnerische Veltlin, operierte von Como aus. Und da geht es also auch<br />

weniger um Chiavenna als vielmehr um das Veltlin und das Puschlav (das ebenfalls<br />

<strong>zu</strong>r Diözese Como, nicht Chur, gehörte). Also um die Berninaroute.<br />

Schon wieder nicht der Splügen. Wo begegnen wir dem <strong>Bischof</strong> von Chur denn<br />

auf unserer Auswanderung?<br />

Zunächst natürlich in Chur selbst. Der bischöfliche Hof ob der Altstadt, mit der<br />

Kathedrale und dem <strong>Bischof</strong>sschloss und den Domherrenhäusern, gehörte bis<br />

1852 politisch nicht <strong>zu</strong>m Stadtgebiet, war also exterritorial. Eine katholische Hochburg,<br />

von Mauern und Türmen umgeben. Vor den Turm des Hoftors setzten die protestantischen<br />

Stadtchurer einst einen weiteren Torbau, mit dem sie dann den Zugang<br />

kontrollierten: das »Brillentor« genannt, weil es dem bischöflichen Torturm<br />

aufsaß wie eine Brille der Nase.<br />

Und außerhalb von Chur?<br />

Fürstenau im Domleschg war die Zweitresidenz des <strong>Bischof</strong>s. Seine Würde als<br />

Reichsfürst äußert sich ja unüberhörbar im Ortsnamen. Gegründet um 1260, als<br />

Schloss mit angegliederter Stadt – in Wahrheit aber nur ein Bonsai-Städtchen. Und<br />

seit der Gründung ist Fürstenau überhaupt nicht mehr gewachsen. Kombinierte<br />

Burg- und Stadtgründungen waren im 13. Jahrhundert verbreitet; in Graubünden<br />

gibt es nur zwei Beispiele: außer Fürstenau noch Maienfeld. In Maienfeld gab es<br />

aber vorher schon ein Bauerndorf. Fürstenau ist also in Graubünden einmalig.<br />

Einmalig – und ein gescheitertes Experiment?<br />

An einer neu gegründeten »Stadt« interessierte nicht primär die Größe, sonst<br />

wäre die Gründerfreude oftmals klein geblieben. Nein, es ging vor allem um das<br />

Marktrecht. Mit der Gründung von Fürstenau wollte der <strong>Bischof</strong> dem Marktort Thusis<br />

die Kunden abgraben. Thusis unterstand nämlich weltlichen Herren. Und das-<br />

selbe gilt für die ganze westliche Talflanke, den Heinzenberg. Nur Cazis, mit seinem<br />

uralten Kloster, war dort bischöflich.<br />

Offenbar hatte der <strong>Bischof</strong> von Chur fast nirgendwo klar die Vorherrschaft?<br />

Im Domleschg ist die Situation schon extrem: Die Konkurrenz zwischen dem <strong>Bischof</strong><br />

und den weltlichen Landesherren hat hier <strong>zu</strong> einem Bauboom im Burgensektor<br />

geführt. Auf den vielen Burgen saßen Ritter, die entweder dem <strong>Bischof</strong> oder den<br />

Dynasten dienten – oder aber beiden, abwechselnd. Und auf Ortenstein, dem stolzen<br />

Schloss über dem Felsen, vorn im Tal, residierten eben die Landesherren<br />

selbst. »Ort« heißt in mittelalterlichem Deutsch: enge Ecke, spitzer Winkel, äußerster<br />

Rand. Schloss »Orten«-Stein steht am Rand des »Steins«, hart an der Felskante.<br />

Kühn, spektakulär. So wollten sie es haben, die edlen Herren. Der geistliche Fürst<br />

in seinem Fürstenau hatte es dafür gemütlicher.<br />

Und am zweiten Tag, in der Viamala und in Splügen?<br />

Da sind jene Landesherren immer noch aktuell, Stichwort Viamala-Eröffnung<br />

1473. Und auf der Bärenburg bei Andeer saß ihr Vogt. In Splügen gab der erwähnte<br />

Walter von Vaz 1277 den Walsern im Rheinwald einen Freiheitsbrief – womit er sich<br />

die Kontrolle über die Talschaft erst richtig sicherte. Dem Vazer gehörte der Turm<br />

von Splügen. Und seine Nachfolger, die Werdenberger Grafen, gründeten in Splügen<br />

einen Jahr- und Wochenmarkt.<br />

Und in Mailand, wo wir bei zwei anderen Auswanderungen ankommen?<br />

Das Castello Sforzesco erinnert an das späte 15. Jahrhundert, an die Zeiten, als<br />

Graf Jörg, Conte Jorio, hier ein treuer, teurer Gast des Sforza-Herzogs war.<br />

Verein für Bündner Kulturforschung (Hg.), Handbuch der Bündner Geschichte, 4 Bände mit<br />

CD-ROM. Verlag Bündner Monatsblatt, Chur 2000 (2. Auflage 2005).<br />

Otto P. Clavadetscher, Werner Meyer, Das Burgenbuch von Graubünden, Orell Füssli, Zürich 1984.<br />

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188 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6B Fürstenau–Andeer<br />

6B Fürstenau–Andeer 6 h 15<br />

Ins Bad<br />

Fürstenau 665m<br />

Hohenrätien *900m 1h45<br />

Zillis 945m 4h15<br />

Andeer 979m 6h15<br />

Höhendifferenz Aufstieg 650m, Abstieg 350m<br />

Unterwegs<br />

Sils im Domleschg Hotel/Restaurant Campell (Wegvariante) , DZF 130 Fr., Tel.081 6513020,<br />

www.hotel-campell.ch<br />

Ehrenfels Jugendherberge, nur für Gruppen ab 10 Personen, freie Perioden siehe<br />

www.youthhostel.ch > Sils i.D.<br />

Zillis Hotel Alte Post, www.alte-post.ch; Kassettendecke in der Kirche; Museum<br />

Andeer<br />

Bad, Tisch und Bett Fravi, DZF 240 Fr. (mit Eintritt ins Bad, für Wander-, Kirchgemeinden und<br />

Seniorengruppen Spezialpreis), HP 140 Fr., Tel.081 6600101,<br />

www.fravi-hotel.ch; Weißes Kreuz, DZF 120 Fr., Tel.081 6611522,<br />

www.weisseskreuz-andeer.ch; weitere Hotels siehe www.viamalaferien.ch<br />

Variante Gleich weiter bis <strong>zu</strong>r Roflaschlucht (plus 1 h, siehe 6C)<br />

Auf Schauenstein schläft man sehr gediegen, ruhig und lange und frühstückt<br />

ebenso.<br />

Wir gehen <strong>zu</strong>m Südfuß des Fürstenau-Hügels hinunter und hinüber <strong>zu</strong>m<br />

Rhein. Auf dem Dammweg ziehen wir Richtung Sils. Man hält sich an den<br />

Burgenpfad Domleschg, der einen<br />

an der anmutig gelegenen<br />

kleinen Kirche Sankt Cassian<br />

vorbei <strong>zu</strong>m ehemaligen Bahnhof<br />

Sils führt und weiter <strong>zu</strong>r Burg<br />

Ehrenfels. (Wer in Sils übernachtet<br />

oder dort Picknick einkaufen<br />

will, folgt im Dorf dem<br />

Wegweiser nach Ehrenfels und<br />

Hohenrätien.)<br />

Die Burg Ehrenfels war jahrhundertelang<br />

eine Ruine. Erst in<br />

den 1930er Jahren wurde sie<br />

wiederaufgebaut. Hier sitzt kein<br />

Viamala, 1863 von William England fotografiert. Burgherr mehr, sondern eine der<br />

Durch einen Felssturz zerstört: der filigrane erste Traversinersteg des Churer<br />

Ingenieurs Jürg Conzett.<br />

schönsten Jugendherbergen der Schweiz, doch ist sie nur für Gruppen <strong>zu</strong>gänglich<br />

und, wen wundert’s, oft ausgebucht. Im Aufstieg <strong>zu</strong>m Pässchen bei<br />

der Burg Hohenrätien stoßen wir auf die Via Spluga, die von Thusis hochkommt.<br />

Bis morgen Abend bleiben wir den braunen Via-Spluga-Wegweisern<br />

treu.<br />

Hohenrätien gilt als eine der ältesten Burganlagen der Schweiz. Die Besitzer<br />

starben vor 700 Jahren aus, nicht ohne eine schauerliche Mär <strong>zu</strong><br />

hinterlassen, die Legende von Kuno, dem Jungfrauenräuber. Dem die aufgebrachten<br />

Bauern, um die Geraubte <strong>zu</strong> befreien, die Burg stürmten. Worauf<br />

der bedrängte Ritter seinem Pferd die Sporen gab und sich mit einem gewaltigen<br />

Sprung in den Abgrund absetzte.<br />

»Seien Sie vorsichtig«, rät www.hohenraetien.ch. »Die Felswand ist ungesichert<br />

und fällt 250 Meter senkrecht <strong>zu</strong>m Rhein ab.« Der Weg am Abgrund<br />

ist gut, die Wanderung ein Genuss. Tief unter uns zwängen sich die<br />

diversen Generationen von Straßen durch die enge Viamala – und durch unzählige<br />

Tunnels.<br />

189


190<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Das Traversiner Tobel queren wir auf einer Hängebrücke des innovativen<br />

Brückenbauers Jürg Conzett; eigentlich ist es eher eine Hängetreppe, über<br />

die wir <strong>zu</strong>r andern Seite des Tobels absteigen. Die Brücke wird wohl den Naturgewalten<br />

eher trotzen als die filigrane Vorgängerin, die von einer Rüfe<br />

weggerissen wurde.<br />

Später trifft die Via Spluga auf die alte Kantonsstraße, der sie ein kurzes<br />

Stück folgt, vorbei an einem Inforaum <strong>zu</strong>r Passgeschichte. Dann steigen wir<br />

wieder <strong>zu</strong>m jungen Rhein ab und überqueren ihn auf einer weiteren Conzett-Brücke.<br />

Via den Weiler Reischen kommen wir nach Zillis.<br />

Vielleicht ist das Dorfmuseum im Postgebäude offen, dann lohnt sich ein<br />

Rundgang. Auf keinen Fall verpassen darf man die phänomenale Bilderdecke<br />

in der Kirche Sankt Martin – Stoff genug für die nächsten paar Dutzend<br />

Träume.<br />

Wie weiter? Eilige halten sich an die kürzere Variante über Pigna (nach<br />

Pigna vorerst die Höhe halten und erst nach einem Kilometer nach Andeer<br />

absteigen). Eine halbe Stunde länger dauert der Spaziergang auf dem ausgeschilderten<br />

Weg via die Dörfer Donat und Clugin nach Andeer. Unterwegs<br />

weist uns eine Tafel auf die 1925 erbaute Valtschielbachbrücke von Robert<br />

Maillart hin. Mit der Brücke von Donat (kleiner Abstecher) erfand der<br />

Stahlbetonvirtuose »den versteiften Stabbogen« (wir Laien sind so klug als<br />

wie <strong>zu</strong>vor).<br />

Wir mögen die Abendspaziergänge in Andeer, wir mögen das Schlendern<br />

durch die Hintergassen, die Gärten hinter verwitternden Mauern, die Türen<br />

und Tore, die Graffiti an den ausladenden Häusern – ob im Frühsommer,<br />

wenn die Amseln gut trainiert ihren Herzschmerz besingen und der erste frische<br />

Heuduft in der Luft liegt, ob im Spätherbst, wenn die Vogelbeerbäume<br />

rote Beerendolden über die Mauern hängen lassen. (Wobei die A13 stets als<br />

Hintergrundmusik mitspielt.)<br />

Das Stattliche des Dorfes beeindruckt, das Angebot an Hotels ebenso.<br />

Ohne Zweifel Nummer eins ist das Fravi, Bad und Kurhaus und Scharnier<br />

zwischen Nord und Süd. Auf dem steinernen Bogen, der die Straße überspannt,<br />

steht Hotel Fravi für die, die von Norden kommen, Albergo Fravi<br />

für jene aus dem Süden. In den Zimmern haben wir dann Feng Shui für alle.<br />

Wer günstiger übernachten will, steigt vielleicht im Weißen Kreuz ab. Oder<br />

noch günstiger und spezieller im Hotel Rofflaschlucht (plus eine Stunde).<br />

6C Andeer–Monte Spluga 7 h<br />

Über den Pass<br />

Andeer 979m<br />

Rofla 1095m 1h00<br />

Splügen 1457m 4h15<br />

Monte Spluga 1905m 7h00<br />

Höhendifferenz Aufstieg 1350m, Abstieg 400m<br />

Unterwegs<br />

Rofla günstiges Hotel, Tel.081 6611197, www.rofflaschlucht.ch<br />

Sufers Hotel Seeblick, Tel.081 6641186<br />

Splügen ***Bodenhaus, DZF 100–170 Fr., Tel.081 6509090,<br />

www.hotel-bodenhaus.ch; Alte Herberge Weiß Kreuz, DZF 170–200 Fr.,<br />

Tel.081 6309130, www.weiss-kreuz.ch<br />

ÖV Postauto Andeer–Splügen; Bus Splügen–Monte Spluga bis 12. Oktober<br />

Monte Spluga<br />

Tisch und Bett **Posta (mit Enoteca), DZF 75–79 Euro, Tel.0343 54234,<br />

salafaustoenoteca@tiscalinet.it; allenfalls<br />

**Vittoria/Ca de la Montagna, DZF 68–86 Euro, Tel.0343 54250,<br />

www.passospluga.it<br />

Ein Steinbruch, eine Zentrale der Kraftwerke Hinterrhein, eine Felsengalerie<br />

<strong>zu</strong>m Roflafall, ein überflüssig gewordenes Stück Schweizer Armee als<br />

Museum – und alles dominierend die San-Bernardino-Autobahn A13. An<br />

alte Zeiten erinnert heute wenig. Als vor Jahren erste Projektskizzen die<br />

Wiederbelebung des historischen Passwegs über den Splügen <strong>zu</strong>r Diskussion<br />

stellten, schüttelte man ungläubig den Kopf. Wo soll ein Wanderweg denn<br />

hier noch Platz finden?<br />

Die Wegplaner haben ihre Aufgabe mehr als anständig gelöst. Sie konnten<br />

zwar die Autobahn nicht aus der Welt schaffen. Aber sie haben einen<br />

Weg eingerichtet, der eigenständig ist, mal auf schmalen Pfaden dem Hinterrhein<br />

folgt, über eine kühne neue Hängebrücke führt, in heiklen Passagen<br />

aber sehr wohl die vorhandene Infrastruktur benützt, an die Stützmauer der<br />

Straße gehängt oder auch mal über das Galeriedach führend.<br />

Nur einmal folgen wir heute nicht der Via Spluga: auf dem Kilometer vor<br />

dem Gasthaus Rofflaschlucht, den wir, das Rauf-Runter auf kürzester Strecke<br />

vermeidend, auf der alten Kantonsstraße gehen. Und uns dafür den Abstecher<br />

<strong>zu</strong>m Wasserfall in der Roflaschlucht nicht entgehen lassen. Gerne<br />

entrichten wir den kleinen Obolus und gedenken der Hotelierfamilie, die<br />

hier sieben Winter lang Tausende von Bohrlöchern in den Fels trieb. Der er-<br />

191


192 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6C Andeer–Monte Spluga<br />

So hätte Neu-Splügen nach der Überflutung des Dorfs aussehen sollen: Skizze von Architekt<br />

Armin Meili, 1944.<br />

folgreiche Ausbruch der Felsengalerie fiel mit dem Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs <strong>zu</strong>sammen, mit dem Zusammenbruch des Tourismus. (www.<br />

rofflaschlucht.ch > Wasserfall)<br />

Die Geschichte des Gasthauses ist eine kleine Verkehrs- und Auswanderergeschichte,<br />

wie sie klassischer nicht sein könnte. Die Eröffnung der Gotthardbahn,<br />

dieses »Brotschelms«, brachte 1882 auch an der Splügenroute<br />

viele Familien um den Verdienst, der Güterverkehr brach <strong>zu</strong>sammen, die<br />

Gäste blieben aus. Die Gemeinden förderten die Auswanderung nach Amerika<br />

und übernahmen die Reisekosten. So reiste auch die Familie Pitschen-<br />

Melchior, die Wirtsfamilie bei der Roflaschlucht, nach New York. Glücklich<br />

war man nicht, und als Christian Pitschen am Niagara sah, dass man mit<br />

einem Wasserfall Geld verdienen kann, kehrte die Familie in ihr Gasthaus<br />

<strong>zu</strong>rück und begann, den versteckten Wasserfall <strong>zu</strong> erschließen. In den<br />

1950er- und 1960er Jahren, nach den Krisenzeiten des Ersten und des Zweiten<br />

Weltkrieges, erlebte das Haus eine Blütezeit – bis die Autobahn kam, die<br />

oben am Hotel vorbeirauscht. Heute wird das geschichtsträchtige und preisgünstige<br />

Haus in fünfter Generation geführt. Wenn man an einem schönen<br />

Sommertag, zwischen Bikern und Familien und Wandergruppen auf die Forelle<br />

vom Grill wartet und die Ausflügler für den Wasserfall anstehen sieht,<br />

hofft man, die Geschichte möge noch lange weitergehen.<br />

Wir tauschen das Tosen des Wasserfalls mit dem Lärm der schweren Laster,<br />

die auf der A13 vorbeidonnern. Haben wir nicht vor Jahren erfolgreich<br />

der Verlagerung des alpenquerenden Güterverkehrs auf die Schiene <strong>zu</strong>gestimmt?<br />

Weiter oben könnten wir dem Verkehrslärm mit einem Besuch des<br />

Festungsmuseums Crestawald entfliehen – eine Alternative, die uns auch<br />

nicht <strong>zu</strong> überzeugen vermag. Das Blau des Stausees wirkt beruhigend, und<br />

noch mehr genießen wir die Wanderstunde von Sufers nach Splügen, das<br />

leichte Auf und Ab dem Wald entlang.<br />

Splügen wäre ein formidabler, höchst stimmiger Übernachtungsort. Das<br />

traditionsreiche Bodenhaus (mit günstigen Zimmern in der alten Dependance)<br />

am Dorfplatz gefällt von Mal <strong>zu</strong> Mal besser, und das mächtige Gebäude<br />

der alt-neuen Säumerherberge Weiß Kreuz oben im Dorf ist auch von<br />

innen ein Erlebnis. Allein – bei der Etappierung unserer langen Wanderung<br />

gen Süden passte der alte Passort mit allem Stoßen und Ziehen nicht ins<br />

Schema. Wir empfehlen ein Wiederkommen – mit der Badehose. Denn<br />

schon bald kann man hier vielleicht in einem künstlich angelegten See baden,<br />

der sich unweit der Skilifttalstation stauen soll. Ein romantischer<br />

So blickte Johann Jakob Meyer, Sohn eines Zürcher Seidenfabrikanten, auf Splügen <strong>zu</strong>rück.<br />

193


194 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6C Andeer–Monte Spluga<br />

Klacks gegen das gigantische Stauseeprojekt aus den 1940er Jahren, das<br />

Splügen überflutet hätte.<br />

Auf schweizerischer Seite ist Splügen der Geburtsort der Via Spluga. Die<br />

Grundlagen lieferten Kurt Wanner, Lehrer und langjähriger Gemeindepräsident,<br />

und der IVS-Wegforscher Arne Hegland in einer umfangreichen Studie<br />

»Kulturwanderweg Thusis–Chiavenna«.<br />

Wir verlassen Splügen über die Rheinbrücke, fädeln am Café Rustico<br />

vorbei wieder in die Via Spluga ein, die wiederholt die alte, 1818–1823 von<br />

Österreich erbaute Passstraße quert. Die Marmorbrücke (Punkt 1697) entstand<br />

etwas später; das Material stammte aus dem wenig höher gelegenen<br />

Steinbruch, dessen Marmor zeitweise sogar nach Mailand geliefert wurde,<br />

für den Bau des Doms.<br />

Der alte Saumweg über den Splügenpass war breit genug, dass zwei<br />

Saumtiere kreuzen konnten. Seit den 1990er Jahren kann man diesen Weg<br />

wieder begehen. Einzelne »Fenster« zeigen noch die historische Pflästerung,<br />

ansonsten geht man bequem auf der Grasnarbe.<br />

Monte Spluga liegt in der Abendsonne, eine kleine trotzige Häuserzeile in<br />

einer großartig leeren Passlandschaft. Wenn nur das Vittoria an kühlen<br />

Schon 1830 stand in Monte Spluga, was Reisende brauchten: Gasthaus und Kirche.<br />

Abenden etwas heizen würde, wenn nur von der <strong>zu</strong> kalten Weinflasche bis<br />

<strong>zu</strong>m ungenießbaren Hirschpfeffer nicht alles den Weg über den Mikrowellenofen<br />

nähme, wenn nur der Bar- und Aufenthaltsraum nicht mehr gar so<br />

sehr einer Tropfsteinhöhle gliche, dann wär’s ganz nett, und auch die Zeit<br />

könnte man sich bestens vertreiben, mit Heften der höchst anregenden Zeitschrift<br />

»L’alpe«, die wir hier entdeckten. Wer auf Geschichte hält, müsste<br />

dem Vittoria, dem alten Hospiz, die Ehre geben.<br />

Uns genügt für einmal unsere eigene Geschichte. Wir mögen das Posta,<br />

das klassische Berggasthaus wie aus dem Bilderbuch, seit wir vor vielen Jahren<br />

das erste Mal vorbeigekommen sind – und, <strong>zu</strong>gegeben, <strong>zu</strong>erst in der<br />

Enoteca, der wohlbestückten, landeten. Dann, bepackt mit etlichen Flaschen,<br />

in der Bar unter dem großen Bild eines Ozeandampfers der Lloyd,<br />

dem Auswanderertraum par excellence, einen Espresso runterschütteten,<br />

bevor wir aufs Postauto rennen mussten und uns schworen, bald wieder <strong>zu</strong><br />

kommen. Was wir seither regelmäßig tun. Und uns den ganzen Tag auf den<br />

Abend freuen, denn die Küche legt immer noch <strong>zu</strong>, Jahr für Jahr. Man speist<br />

am sorgfältig gedeckten Tisch im schönen alten Speisesaal sehr gut. Punkt.<br />

195


196 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Vision eines Vriners in der Fremde:<br />

Im Schiff über den Splügen<br />

In der kleinen Gemeinde Vrin im Bündner<br />

Oberland läuteten im Januar 1923<br />

die Kirchenglocken, weil in Rom »einer<br />

der Ihrigen gestorben« war, »ein Feuerkopf<br />

mit langem, weißem Bart und<br />

Haar bis auf die Schultern, ein brennender<br />

Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel«,<br />

schrieb das »Bündner Tagblatt«.<br />

Pietro Caminada (1862–1923) habe<br />

diesen Sommer seinen Heimatort Vrin<br />

besuchen wollen, von wo sein Vater<br />

einst nach Mailand ausgewandert war.<br />

Bei diesem Besuch habe der »weltbekannte«<br />

Ingenieur »an Ort und Stelle«<br />

Pietro Caminada (1862–1923), Vriner Bürger:<br />

visionärer Ingenieur in Rio de Janeiro und in seine Studien für eine Schiffbarma-<br />

Rom.<br />

chung des Splügenpasses weiterführen<br />

wollen.<br />

Der Nachruf stammte aus einer ebenfalls prominenten Feder. Vielleicht trage<br />

der Tod da<strong>zu</strong> bei, hoffte Christian Caminada, damals Dompfarrer und später <strong>Bischof</strong><br />

von Chur, dass man sich wieder intensiver mit der spektakulären Idee des<br />

Verstorbenen beschäftige, einem Wasserweg von Genua über den Splügen bis<br />

nach Basel. Das Projekt würde Europas Verkehrssystem völlig umwälzen, stand im<br />

Nachruf, weil es »für die Bahnen eine Konkurrenz ohnegleichen wäre, wenn man<br />

bedenkt, dass die Flussläufe <strong>zu</strong>r gleichen Zeit die Triebkraft und die Schienen ersetzen<br />

würden«.<br />

Nach dem frühen Tod des Vaters war Caminada mit seinem Bruder nach Argentinien<br />

ausgewandert und dann im brasilianischen Rio de Janeiro hängen geblieben.<br />

Dort baute er 1891 auf einem früheren Aquädukt die Straßenbahn Arcos da Lapa,<br />

die heute noch eine Touristenattraktion ist. Als das brasilianische Parlament 1891<br />

das Projekt einer neuen Hauptstadt im Landesinnern in der Verfassung verankerte,<br />

entwarf Caminada erste Pläne, doch gebaut wurde Brasilia erst Jahrzehnte<br />

später.<br />

1907 kehrte Caminada nach Italien <strong>zu</strong>rück und eröffnete in Rom ein Ingenieurbüro.<br />

Unter anderem entwarf er ein neues Quartier Milano Sud. Vor allem aber arbeitete<br />

er an seiner großen Vision, der Schiffbarmachung der Alpenpässe. 1907<br />

Ein- und Ausfahrt von Frachtschiffen in die Schleusenröhren, die Abschnitt um Abschnitt den Berg<br />

hinauf »klettern«: zwei Tafeln aus Caminadas »Canaux de montagne« von 1907.<br />

197


198 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

publizierte er das Projekt unter dem Titel »Canaux de montagne. Nouveau système<br />

de transport naturel par voie d’eau«; schon die zahlreichen Abbildungen zeugen<br />

von der Kühnheit des Projekts.<br />

Caminada schlug nichts weniger als eine 591 Kilometer lange Wasserstraße<br />

von Genua über Alessandria, Milano, Como, Chiavenna, den Splügenpass und den<br />

Bodensee bis nach Basel vor, davon 43 Kilometer in den von ihm erfundenen, den<br />

Berg hinaufführenden Rohrschleusen. Erst auf rund 1200 Metern Höhe, zwischen<br />

Isola und der Roflaschlucht, sah er einen 15 Kilometer langen Tunnel vor.<br />

Das Projekt machte rasch Schlagzeilen. »È possibile traversare le Alpi con un<br />

canale?«, fragte der Mailänder »Corriere della Sera« auf der Frontseite. Und die<br />

Sonntagsausgabe der »New York Times« brachte einen reich illustrierten Artikel<br />

»Project for a Waterway across the Alps«. Und die »Weltrundschau <strong>zu</strong> Reclams Universum«<br />

berichtete im Januar 1908, Caminada, »einer der hervorragendsten jetzt<br />

lebenden Wasserbautechniker«, habe einen Kanal erfunden, »der im vollsten Sinne<br />

des Wortes über die Alpen hinwegführt, der an den Abhängen der Berge emporklettert«.<br />

Anstelle der herkömmlichen Schleusen, in denen Schiffe vertikal angehoben<br />

werden, schlug Caminada ein kräfteschonenderes System vor, Autoidroferiche,<br />

wie er seine schrägen Rohrschleusen nannte.<br />

Halten wir uns (leicht gekürzt) an die Zusammenfassung in der populären »Weltrundschau«:<br />

»Caminada hat ein neues Kanalsystem erdacht, das wir uns am besten<br />

vorstellen können, wenn wir uns das Rohr einer Wasserleitung vor Augen halten,<br />

das vom Hauptreservoir über Hügel und Berghänge herab <strong>zu</strong>r Stadt führt.<br />

Ähnliche Röhren, natürlich von bedeutend größerem Durchmesser, will Caminada<br />

überall da, wo die Terrain- und Wasserverhältnisse dies nötig machen, als Kanalbett<br />

verwenden. Die Röhren sind im Innern mit einer großen Anzahl von Schleusentoren<br />

versehen, wodurch sie in einzelne längliche Schleusen zerfallen. Sie führen<br />

nun mit wechselnder Neigung an den Berghängen entlang und klettern –<br />

ähnlich wie die Alpenstraßen – in Serpentinen auf die Höhe hinauf.«<br />

Reclams »Weltrundschau« weiter: »Im Innern [der Röhren] liegt eine Schiene.<br />

Soll nun ein Schiff über die Alpen gebracht werden, so fährt es in die unterste<br />

Schleuse ein, deren Tor sich hinter ihm schließt. Es wird dann durch zwei Rollen mit<br />

der Schiene verbunden, so dass es auf dieser in langsamer Steigung empor<strong>zu</strong>rollen<br />

vermag. Dann wird Wasser in die Schleuse eingelassen, das sich <strong>zu</strong>nächst am<br />

tiefsten Teile, hinter dem Schiffe, <strong>zu</strong> sammeln beginnt, und das in dem Maße, wie<br />

die Wassermenge anwächst, das Schiff vor sich her schiebt, so dass dieses allmählich<br />

vorwärts und aufwärts befördert wird, bis es das Niveau der nächsten<br />

Schleuse erreicht, die sich als direkte Fortset<strong>zu</strong>ng des Rohres anschließt.«<br />

Kur<strong>zu</strong>m: Anstelle vertikal funktionierender Stufenschleusen sehe Caminada fort-<br />

laufende Rohrschleusen vor, und zwar doppelt geführte, weil so das Wasser »doppelt«<br />

verwendbar sei: »Es müssen immer zwei Schiffe gleichzeitig geschleust werden,<br />

ein bergauf und ein bergab fahrendes.«<br />

Das italienische Parlament beschäftigte sich mit Caminadas kühnem Wurf, der<br />

König empfing ihn <strong>zu</strong> einer Audienz, Professoren schlugen Optimierungen des Systems<br />

vor. Allein – der Weltkrieg stoppte die Bemühungen, und danach gelang kein<br />

Neustart, obschon Caminada nach dem Krieg in einem zweibändigen monumentalen<br />

Werk »Le autoidroferiche« ein überarbeitetes Projekt präsentierte.<br />

In Graubünden hatte sich unter anderem der Ingenieur- und Architektenverein<br />

Chur mit der Splügen-Wasserstraße beschäftigt, doch wurde die Erfindung des berühmten<br />

Sohnes in dessen Heimat zwiespältig aufgenommen. Die Gotthardbahn<br />

hatte 1882 den Warentransport auf der Splügenroute <strong>zu</strong>sammenbrechen lassen;<br />

die arbeitslosen Säumer verwünschten die Lokomotive, »diesen Brotschelm«. Die<br />

Politiker setzten auf eine Ostalpenbahn und je nach Herkunft auf eine Septimer-,<br />

Lukmanier-, Greina- oder Splügenbahn. Die Ostalpenbahnlobby, der die Felle ohnehin<br />

davonschwammen (wenn auch nicht in den schrägen Rohrschleusen), sah in<br />

Caminadas Erfindung eine Konkurrenz und fürchtete eine weitere Verzögerung.<br />

»Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und<br />

fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die Splügenbahn«,<br />

also an das Projekt einer Bahnlinie Chur–Chiavenna, schrieb beispielsweise die<br />

»Bündner Post«.<br />

Das »Schweizer Baublatt« würdigte das Projekt wohlwollend, es gehöre »nicht<br />

<strong>zu</strong> den unsinnigen Plänen«, <strong>zu</strong>mal der Businessplan (wie man heute sagen würde)<br />

mit deutlich günstigeren Frachtkosten als jene der Bahn rechne. Mit Caminadas<br />

Kanal könnte man die vom Mittelmeer kommenden Güter wie »Getreide, Baumwolle,<br />

Wolle etc. direkt ins Herz der Schweiz führen und Italien Kohle und Metalle<br />

aus Mitteleuropa <strong>zu</strong>führen«.<br />

In den anderthalb Jahrzehnten, in denen Caminada in Rom an seinen »Autoidroferiche«<br />

arbeitete, war ihm der Splügenpass stets sehr nahe – in den eigenen vier<br />

Wänden, wie der andere Caminada im »Bündner Tagblatt« berichtete: »Ein Bild seiner<br />

Tätigkeit bietet sein Haus in Rom, wo er in der Wohnung das gesamte Schleusensystem<br />

in verschiedenen Varianten en miniature eingerichtet hat.«<br />

Pietro Caminada, Canaux de montagne. Nouveau système de transport naturel par voie d’eau, Rom<br />

1907.<br />

Kurt Wanner, »Pietro Caminada und seine ›via d’acqua transalpina‹. Ein wenig bekanntes Kapitel in<br />

der Geschichte des Splügenpasses.« In: Bündner Monatsblatt, 2/2005, Chur.<br />

199


200 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6D Monte Spluga–Gualdera<br />

6D Monte Spluga–Gualdera 5 h 00<br />

Auf dem obern Weg den Rücken runter<br />

Monte Spluga 1905m<br />

Scalcoggia 1512m 2h30<br />

Fraciscio 1341m 4h30<br />

Gualdera *1420m 5h00<br />

Höhendifferenz Aufstieg 400m, Abstieg 900m<br />

Unterwegs<br />

Fraciscio **Stella Alpina, Tel.0343 50122<br />

Gualdera<br />

Tisch und Bett *Miramonti, DZF 50–60 Euro, Tel.0343 50198,miramontigualdera@libero.it;<br />

*Montanina, DZF 37–42 Euro, Tel.0343 50109<br />

Variante<br />

Montespluga–Chiavenna auf der Via Spluga, 7h30 (1 Tag einsparend)<br />

Nichts gegen den spektakulären Cardinell, nichts gegen Isola. Klassischer<br />

geht’s über die Alpen kaum. Aber diesen Abschnitt der Via Spluga sind wir<br />

schon so oft gegangen, dass uns Neues reizt – der »obere Weg«. Eine jahrhundertealte<br />

Ausweichroute, auch »Strada delle Scale« genannt, die über<br />

Andossi, den offenen Rücken zwischen der Splügenstraße und dem Tal von<br />

Madesimo, führt. (Wer auf der Via Spluga direkt nach Chiavenna geht, findet<br />

den Weg leicht; er ist gut ausgeschildert und mit gelben Balken markiert.)<br />

Der Auftakt ist noch vertraut: das rechte Ufer des Stausees. Drüben auf<br />

der Straße ein paar erste Ausflügler-Autos. Dann stockt der Verkehr, ein Helikopter<br />

fliegt ein und verursacht ein emsiges Gewusel am Straßenrand.<br />

Morgen werden wir die Geschichte des »Centauro della Valchiavenna«,<br />

eines jungen Motorradfahrers aus dem Tal, der seine Fahrt unter einem belgischen<br />

Ferienauto beendete, in der Zeitung lesen. Es ist nicht der erste Zentaur<br />

der Saison, der direttamente gen Himmel geritten ist.<br />

Bei der Staumauer verlassen wir die offizielle Via-Spluga-Route – nicht<br />

ohne uns in Gedanken kurz bei der Comunità montana Valchiavenna <strong>zu</strong> bedanken,<br />

die 1995 (früher als die Schweizer) mit zehn Arbeitern die drei<br />

wichtigsten historischen Wege der Region hergerichtet hat: die Via Spluga<br />

und die Via Bregaglia je von der Grenze bis Chiavenna sowie den Weg von<br />

Chiavenna bis San Fedelino – unsere Wanderung von übermorgen. Das alles<br />

kostete bloße 210 000 Franken; ein Drittel deckten Interreg-Zuschüsse.<br />

Der Aufwand hat sich mehr<br />

als gelohnt, die Wege sind<br />

<strong>zu</strong> einer Erfolgsgeschichte<br />

im Wandertourismus geworden.<br />

Nach der Querung der<br />

Staumauer gehen wir auf der<br />

Straße bis <strong>zu</strong>r Stuetta-Kurve<br />

und dort auf dem Feldweg<br />

geradeaus weiter. Der breite<br />

Rücken Andossi liegt über<br />

der Waldgrenze, man ge-<br />

Zwei Freunde von Carlo Guzzi testen mit einer Splügenfahrt den<br />

nießt einen fantastischen Nachkriegsschlager »Guzzino 65«, später »Cardellino«, Distelfink.<br />

Rundblick. Das obere Valle<br />

San Giacomo (heute meist<br />

Valle Spluga genannt) mit all seinen Nebentälern breitet sich vor einem aus,<br />

und weit vorne, unten im Dunst, liegt unser Ziel von morgen: Chiavenna.<br />

Man möchte Stunde um Stunde so weitergehen, unbeschwert, über allem<br />

schwebend fast. Dass auf diesem Rücken auch etliche private Rifugi stehen,<br />

wundert nicht.<br />

Nach der Kirche San Rocco wird der Rücken schmaler und der Weg noch<br />

schöner. Er wurde 2006 sorgfältig hergerichtet, das alte Trassee wo möglich<br />

freigelegt. Er endet in Scalcoggia, bei den untersten Häusern von Madesimo.<br />

Perfekt. So bleibt einem die Winterretorte erspart.<br />

Auf der anderen Straßenseite geht es gleich auf einem Sentiero weiter:<br />

<strong>zu</strong>m einsamen Geländebalkon Piano del Lanzo und später mit einer Gegensteigung<br />

<strong>zu</strong>m Fraciscio-Weg. In Fraciscio geht man bei der Kirche gerade<br />

hinunter und hält dann nach links, um die Rabbiosa unterhalb der Verbauungen<br />

<strong>zu</strong> queren. Den kleinen Anstieg nach Gualdera bewältigt man vor allem<br />

auf dem alten, angenehmen Weg.<br />

In Gualdera gibt es theoretisch drei und de facto zwei Hotels. Die Casa<br />

Alpina San Luigi ist nur kurze Zeit offen und meist ausgebucht. So halten<br />

wir uns abwechselnd an die beiden Alberghi im Bereich des Fähnchens auf<br />

der Landeskarte. Zuerst stößt man auf das Miramonti und etwas weiter<br />

vorn auf das Montanina. In beiden Adressen übernachtet man ruhig, isst anständig<br />

und zahlt nicht <strong>zu</strong> viel.<br />

201


202 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6E Gualdera–Chiavenna<br />

6E Gualdera–Chiavenna 6 h45<br />

Traumhaft bis <strong>zu</strong>m Kopfverdrehen<br />

Gualdera *1420m<br />

Avero 1678m 1h45<br />

Dalo 1108m 5h00<br />

Chiavenna 333m 6h45<br />

Höhendifferenz Aufstieg 400m, Abstieg 1500m<br />

Chiavenna Siehe Wanderung 5B<br />

Als wir 1995/1996 für die »Veltliner Fußreisen« unterwegs waren (siehe<br />

dort die Wanderung 6), sind wir diesen Höhenweg <strong>zu</strong>m ersten Mal gegangen.<br />

Es ist nach wie vor unser Lieblings<strong>zu</strong>gang <strong>zu</strong>m schönsten Alpenstädtchen,<br />

und weiterhin ein Geheimtipp. Der Weg ist nicht besser geworden,<br />

aber auch nicht schlechter. Neu ist nur, dass man vor Dalo kurz auf einer der<br />

neuen Straßen geht, die im Valchiavenna aufgelassene Maiensäße im Übergang<br />

<strong>zu</strong> properen Feriendörfchen erschließen.<br />

Der Weg nach Motto di Bondeno (unterwegs nicht das »Stumpengleis«<br />

<strong>zu</strong> einem allein stehenden Stall nehmen, sondern den Markierungen folgend<br />

ansteigen) und nach Avero ist ein angenehmes Warmlaufen. Die Häuser des<br />

autofreien Sommerdörfchens werden renoviert, wie es halt kommt. Im Sommer<br />

ist viel Betrieb, alles was kreucht und fleucht wieselt herum, Hühner,<br />

Katzen, Hunde, Kinder, Nonno und Nonna, Ziegen und Pferde – und als<br />

Höhepunkt gibt’s ein Alpfest.<br />

<strong>Von</strong> Avero bis <strong>zu</strong>m Aussichtspunkt Motto wird der Weg unterhalten,<br />

dann unterhält er sich selbst. Trotz einiger kleiner Schäden ist der alte, offensichtlich<br />

von Könnerhand gebaute Weg durch das sehr felsige Gelände<br />

noch immer gut begehbar. Wie heute oft üblich, sind ab und <strong>zu</strong> Seile montiert.<br />

Nur im Val Zerta hat eine Rüfe vor Jahren etwa 50 Meter des Wegs<br />

mitgerissen. Inzwischen ist eine Pfadspur entstanden, auf der man ein paar<br />

Felsklötze umgeht. Mit einer Gegensteigung verlassen wir den Zertakessel.<br />

Oben lädt Olcera <strong>zu</strong>m Mittagstisch: Auf schönen Gletscherschlifffelsen<br />

kann man sein Picknick ausbreiten, seine müden Glieder auch, außer die<br />

Ziegen waren eben da (und haben vor Begeisterung überall ihre Geißenbölleli<br />

verteilt). Oder sie sind noch da, dann ist es vorbei mit der Ruhe. Die<br />

grandiose Sicht in die gegenüberliegenden Seitentäler und die Misoxer Berge<br />

hat man auch, wenn man von neugierigen Ziegenaugen beäugt und naschsüchtigen<br />

Mäulern beknabbert wird.<br />

Auf einem guten Alpweg – eine genussreiche Passage durch lockeren<br />

Bergwald mit dickstämmigen Föhren und Lärchen und orange leuchtenden<br />

Feuerlilien – gelangen wir gemütlich <strong>zu</strong>r Fahrstraße, welche die Zweitwohnungen<br />

von Agoncio erschließt. Nach ein paar Straßenmetern folgen wir<br />

dem Wegweiser Pianazzola und queren so direkt <strong>zu</strong>m Kreuz (Aussichtspunkt<br />

1108) oberhalb Dalo. Fast 800 Meter unter uns liegt mitten in Chiavenna<br />

die Piazza Pestalozzi, das Ziel – so fern.<br />

Nach den ersten 500 Höhenmetern Abstieg erreichen wir den Parkplatz<br />

und das Dorf Pianazzola. Ob es die gemütliche kleine Osteria im ersten<br />

Stock, versteckt in den Gassen, noch immer gibt? Ob die alte Frau noch lebt,<br />

die uns erklärte, was ihr Ritrovo ist, ein Ort, wo man sich treffen kann, und<br />

nichts muss?<br />

In den alten Weg nach Chiavenna kann man bei der Kirche einsteigen.<br />

Bei einem großen Bildstock geht man nicht geradeaus in die Rebberge weiter,<br />

sondern nach links, um später zwischen hohen Steinmauern die »Falllinie«<br />

<strong>zu</strong> nehmen. Sie führt uns direkt <strong>zu</strong>m kleinen Wegbrunnen vor der Locanda<br />

Antica. Über die obere Brücke schlendern wir in die Altstadt von<br />

Chiavenna. Auf der Piazza Pestalozzi nicken wir <strong>zu</strong>m Kreuz hinauf, das gehört<br />

sich so.<br />

Dieser Blick nach oben hat im Juli 1878 auch dem bedeutenden Basler<br />

Kulturhistoriker Jacob Burckhardt den Kopf verdreht. Überlassen wir dem<br />

Junggesellen und Katzenfreund das letzte Wort: »Sonntag gegen Mittag<br />

langte ich in Chiavenna an, vom Frieren auf dem Berg gleich in den wunderbaren,<br />

heißen Süden, wo über die Gartenmauern Feigenbäume und hohe<br />

Oleander herüberschauen. Das ganze Nest ist zwischen haushohe Höllenbrocken<br />

eines urweltlichen Felssturzes eingenistet, zwischen welchen gedeiht,<br />

was an Pflanzen nur wachsen kann, da <strong>zu</strong> der spanischen Hitze auch<br />

noch reichlich fließendes Wasser kommt. Da<strong>zu</strong> einige Vestiboli mit Säulen<br />

gegen den Hof und Aussicht auf lauter Wein- und Felshalden, denn den<br />

Himmel sieht man nur, wenn man den Kopf ganz nach oben dreht.«<br />

203


204 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6F Chiavenna–Dascio<br />

6F Chiavenna–Dascio 6h45<br />

Wo kein Weg ist, ist doch einer<br />

Chiavenna 333m<br />

Dascio 208m 6h45<br />

Höhendifferenz Aufstieg 300m, Abstieg 450m<br />

Wanderbeschreibung siehe 5C<br />

Lang ist’s her, dass wir das erste Mal das Valchiavenna hinuntergewandert<br />

sind. Seither sind wir immer wieder in diesem Flaschenhals zwischen Bergen<br />

und See unterwegs, im Winter den schattigen Hängen entlang, von Dorf <strong>zu</strong><br />

Dorf, wenn sich die Sonne vom Gegenhang in der Mera spiegelt, im Frühjahr,<br />

wenn in den Auenwäldern die Leberblümchen und Windröschen blühen, die<br />

Gärten in den Dörfern von Tulpen und Narzissen explodieren, im Sommer,<br />

wenn bei San Fedelino die Ausflugsboote dümpeln, im Herbst, wenn es nach<br />

Rauch und Traubentrester riecht und alles wieder still und einsam wird.<br />

Oben in Brentaletto, über dem Lago di Mezzola, erinnern wir uns an die<br />

ersten Wegsuchen in den Kastanienwäldern im sonnigen Hang, an das Jagdfieber,<br />

das einen packt, wenn jede Wegspur eine richtige oder auch eine falsche<br />

sein kann. Noch fehlten die Markierungen und wir waren mächtig <strong>zu</strong>-<br />

frieden, als wir, ein bisschen zerkratzt, ein bisschen rußgeschwärzt von den<br />

Spuren eines Waldbrands, endlich unsere Ideallinie gefunden hatten (sie entspricht<br />

der, die heute gelb markiert ist).<br />

Später, beim Apero in Dascio, fragen wir uns, weshalb wir immer wieder<br />

hier landen. Am Anfang war wohl der simple Drang, immer weiter südwärts<br />

<strong>zu</strong> gehen, bis an den Comersee. Je mehr wir über die alten Verbindungen<br />

vom Bündnerland ins Veltlin und vom Süden in den Norden, von Handel<br />

und Politik hörten und lasen, desto mehr faszinierte uns jeder kleine Pfad im<br />

Valchiavenna.<br />

Irgendwann saßen wir kurz nach Neujahr in der fahlen Wintersonne am<br />

Sandstrand von San Fedelino, glücklich über die kleine Entdeckung, den<br />

einsamen Winkel am See, das Kirchlein, das einen, man weiß nicht warum,<br />

ganz friedlich stimmt. Wir stiegen <strong>zu</strong>r Alpe Teolo an und wunderten uns,<br />

dass sich keine Weide öffnet. Was auf der Karte immer noch Alpe genannt<br />

wird, liegt seit Jahrzehnten irgendwo mitten im Wald. Kein Stein erinnert<br />

daran, dass hier, ähnlich der Porta bei Promontogno, eine Kontroll- und<br />

Zollstation, eine Porta, stand. Die Stelle war gut gewählt. Alle, die nicht auf<br />

dem See unterwegs waren, kamen hier vorbei. Den Weg mussten sie nicht<br />

suchen; er war zweifellos besser frequentiert als heute.<br />

Später, <strong>zu</strong> Ostern, kraxelten wir, etwas weniger glücklich, am Gegenhang<br />

ob Nuovo Olonia von Hochleitungsmast <strong>zu</strong> Hochleitungsmast, auf der Su-<br />

An den Lago di Mezzola schloss sich 1625 noch der Lago di Chiavenna mit dem Hafen Riva an. Riva ist 1858 noch immer eine Anlegestelle und die Adda noch nicht kanalisiert (Dufourkarte).<br />

205


206 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6F Chiavenna–Dascio<br />

Kurt Wanner, Splügen<br />

Dass es die Via Spluga gibt und <strong>zu</strong>r Region<br />

Splügen eine beneidenswerte Fülle<br />

kulturgeschichtlicher Informationen, verdanken<br />

wir <strong>zu</strong> einem schönen Teil dem<br />

langjährigen Lehrer und Gemeindepräsidenten<br />

von Splügen, Kurt Wanner.<br />

Als leidenschaftlicher Literaturhistoriker<br />

präsentierte er in seinem Opus Magnum<br />

»Der Himmel schon südlich, die Luft<br />

aber frisch« eine spannende Sammlung<br />

von Fundsachen über »Schriftsteller,<br />

Maler, Musiker und ihre Zeit in Graubünden<br />

1800–1950«. Er hat verschollene<br />

Briefwechsel ausgegraben, hat die walserdeutschen<br />

Gedichte der Pomatterin<br />

Anna Maria Bacher ins Deutsche übersetzt<br />

und herausgegeben, hat Menschen<br />

im Alpenbogen vernetzt, ganz besonders<br />

zwischen Rheinwald und Valle<br />

San Giacomo.<br />

Kurt Wanner lebt heute in den Hügeln<br />

von Tortona bei Genua. Splügen machte<br />

ihn <strong>zu</strong>m Ehrenbürger, der Kanton ehrte<br />

ihn mit dem Bündner Literaturpreis.<br />

Wären wir da<strong>zu</strong> befugt, hätten wir ihn<br />

längst <strong>zu</strong>m Dr. h.c. ernannt.<br />

www.graubuendenkultur.ch/kulturschaffende<br />

> Splügen<br />

che nach einem gangbaren Pfad, der<br />

uns einigermaßen elegant ums Bergknie<br />

und ins Valchiavenna hinauf<br />

bringen würde. Die venezianische<br />

»Hintergasse« aus dem 17. Jahrhundert,<br />

die, mailändisches Territorium<br />

meidend, aus dem Bergamaskischen<br />

über den San-Marco-Pass<br />

ins Veltlin und am Bergfuß das Valchiavenna<br />

entlang hinauf nach Gordona<br />

führte – und über die Forcola<br />

die Verbindung nach Chur, Zürich<br />

und in die deutschen Handelsstädte<br />

gewährleistete, blätterte sich zwar<br />

auf wie ein Buch (und wir fühlten<br />

uns fast etwas ertappt: weiter <strong>zu</strong>rück<br />

als bis <strong>zu</strong>m blühenden<br />

Schmuggel der 1960er Jahre hatte<br />

unser Interesse am Übergang der<br />

Forcola bisher nicht gereicht), aber<br />

hier und heute nützte es wenig. Wo<br />

kein Weg mehr ist, ist keiner. Wir<br />

waren mindestens 300 Jahre <strong>zu</strong> spät<br />

unterwegs.<br />

Zu spät, um den Säumerkolonnen<br />

<strong>zu</strong> begegnen, wie sie Johann<br />

Andreas von Sprecher in seinem historischen<br />

Roman »Donna Ottavia«<br />

beschreibt: »… bewegte sich um die<br />

Mittagsstunde ein Stab von neun<br />

Saumrossen, mit Veltliner Wein und<br />

Reis beladen, auf der gefährlichen<br />

Bergstraße, welche steil ansteigend<br />

sich durch das Gebirge dem Cläfner<br />

See entlang zog. Lotrecht steigen<br />

hier an vielen Stellen die Felswände<br />

unmittelbar aus dem See herauf.«<br />

Zu spät, um mit den Reisenden je-<br />

ner Tage auf der berüchtigten Strada<br />

dei cavalli das Schaudern <strong>zu</strong> üben<br />

und das Grausen vor der schrecklichen<br />

Bergwelt, die nun so offensichtlich<br />

vor einem lag, <strong>zu</strong> teilen.<br />

Heute ist auf jener Talflanke<br />

nichts mehr mit einer geschichtsträchtigen<br />

Route von Morbegno<br />

ums Bergknie von Nuovo Olonia<br />

herum und über Verceia und Novate<br />

nach Gordona oder Chiavenna<br />

hinauf. Für unsere »Veltliner Fußreisen«<br />

brauchten wir aber eine<br />

gangbare Verbindung aus dem Veltlin<br />

ins Valchiavenna. Also machten<br />

wir uns mit wenig Begeisterung auf,<br />

in der Pian di Spagna eine halbwegs<br />

akzeptable Querung nach Ponte del<br />

Passo (mit Anschluss an den Fußweg<br />

nach Dascio und nach Chiavenna)<br />

<strong>zu</strong> finden. Die Landeskarte<br />

weist nach den Häusern von Nigolo<br />

einen Pfad entlang einer kleinen Böschung<br />

aus – konkret: entlang der<br />

unsäglichen Mülldeponie, die noch<br />

heute auf der Ebene lastet. Was uns<br />

im Winter eine taugliche Variante<br />

schien (und in die »Veltliner Fußreisen«<br />

aufgenommen wurde), stellte<br />

sich im Frühsommer als ein mühsames<br />

Sichvorwärtskämpfen durch<br />

hoch gewachsenes Grünzeug heraus.<br />

Weshalb wir inzwischen in den<br />

»Fußreisen« eine einfachere Route<br />

auf Nebenstraßen empfehlen.<br />

Und doch wäre die Deponievariante<br />

historisch hochinteressant. Es<br />

ist nichts weniger als der Flusslauf<br />

Albano Marcarini – horizontal<br />

Prägnanter hat uns nie jemand unsere<br />

eigene Wanderphilosophie erklärt als<br />

Albano Marcarini. Bei einem Besuch in<br />

seinem Mailänder Büro schlug er plötzlich<br />

ausholend ein Kreuz, illustrierte mit<br />

einer horizontalen und vertikalen Bewegung<br />

die zwei Möglichkeiten, sich in der<br />

Landschaft <strong>zu</strong> bewegen. Vertikal oder<br />

horizontal, gipfelwärts oder ebenwegs.<br />

Mit diesen beiden Kategorien ließe sich<br />

eine Geschichte des Wanderns entwerfen.<br />

In seinen ersten Wanderführern – bibliophile<br />

Kostbarkeiten – schrieb Marcarini<br />

alles von Hand und illustrierte<br />

ausschließlich mit eigenen Aquarellen.<br />

Geblieben sind die aquarellierten Kartenausschnitte,<br />

sein Markenzeichen:<br />

hilfreiche Lotsen in Gegenden ohne<br />

gute Karten. Marcarini hat den Sentiero<br />

del Viandante popularisiert und als<br />

hartnäckiger Wegforscher eine begehbare<br />

Route des Sentiero Regina gefunden.<br />

Seine Taschenführer für die beiden<br />

Comerseewanderungen sind neben<br />

den italienischen praktischerweise<br />

auch in deutschen Ausgaben erhältlich.<br />

Homepage von Albano Marcarini:<br />

www.vasentiero.it<br />

207


208<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

der Adda, als diese noch unterhalb des Lago di Mezzola auf die Mera traf.<br />

Das hätten wir mit einem Blick in die alte Dufourkarte leicht sehen können.<br />

Und sogar die aktuelle Landeskarte zeigt, dass die Adda einst noch weiter<br />

nördlich in den Lago di Mezzola floss: bei der »Bocca d’Adda«, der Adda-<br />

Mündung.<br />

Das vermeintliche »Zwischengelände« und »Niemandsland« der Pian di<br />

Chiavenna und der Pian di Spagna ist wahrlich eine Wundertüte. Einst wäre<br />

man hier über Wasser gegangen. Die Seenkette reichte hinauf bis vor Samolaco,<br />

Chiavenna verpasste den Seeanstoß nur um wenige Kilometer.<br />

Die Flüsse aus den Bergen lagerten Sand und Steine ab und schoben die<br />

Gestade stetig nach Süden. Vor rund einem Jahrtausend wurde Riva, eine<br />

Fraktion von Novate am heute namenlosen Lago di Chiavenna, <strong>zu</strong>r Endstation:<br />

»La Riva« auf einer Karte von 1625, »Riva di Chiavenna« auf der Dufourkarte<br />

von 1858. Noch im 19. Jahrhundert fuhren Schiffe von Brivio an<br />

der Adda direkt bis Riva, eine Strecke von rund 60 Kilometern. Die unaufhaltsame<br />

Verlandung zwischen Lago di Mezzola und Lago di Como hat dieser<br />

Schifffahrt ein Ende gesetzt, erst recht, als die Dampfschiffe mit ihrem<br />

größeren Tiefgang aufkamen. Seither ist Colico der oberste Hafen.<br />

Auch die Wasserbauingenieure bereinigten die Lage nachhaltig und<br />

schufen die Vorausset<strong>zu</strong>ng für die Entsumpfung und Urbarmachung der<br />

Ebenen. Schon Leonardo da Vinci soll sich Gedanken gemacht haben um<br />

die Adda-Sümpfe, die, Grenzgebiet zwischen Mailand und den Drei Bünden,<br />

über Jahrhunderte auch politisch schwieriges Terrain waren.<br />

Seit 1858 leitet ein Kanal die Adda direkt in den Comersee, auch die<br />

Mera wurde begradigt. Das Valchiavenna, einst berüchtigt für seine furchtbaren<br />

Berge und fiebrigen Sümpfe, wurde fruchtbar und verlor endgültig<br />

seinen Schrecken.<br />

Nicht aber den Charme. Der kleinen Pfade sind viele, die zwischen glatten<br />

Felshöckern und Kastaniensenioren, zwischen Efeu, Haselsträuchern<br />

und eingewachsenen Schafweiden die Hänge hochschlängeln. Die Geschichten<br />

da<strong>zu</strong> mag sich jede und jeder selber ausdenken.<br />

Giovanni Giorgetta, Enrico Jacomella, Valchiavenna. Itinerari storici, Historische Wanderwege,<br />

Lyasis, Sondrio 2000.<br />

6G Dascio–Gravedona 4 h 30<br />

Nach Gravedona nicht ohne San Silvestro<br />

Dascio 208m<br />

Gera Lario Brücke 210m 1h45<br />

Gravedona *202m 4h30<br />

Höhendifferenz Aufstieg 600m, Abstieg 600m<br />

Unterwegs<br />

Gera Lario Hotel, Restaurant<br />

Domaso Trattoria San Silvestro, Tel.0344 95274<br />

Gravedona<br />

Übernachten **Lauro, DZF 65–80 Euro, Tel.0344 85255, albergolauro@tiscalinet.it;<br />

Bar Centrale (mit Zimmern), DZ ca. 40 Euro, Tel.0344 85141; ***La Villa,<br />

DZF 86–100 Euro, Tel.0344 89017, www.hotel-la-villa.com<br />

Essen Osteria Ca de Mätt, Tel.0344 85640, Mittwoch Ruhetag<br />

Wir steigen neben der Kirche von Dascio ein paar Schritte an und verlassen<br />

den Ort auf der oberen Dorfstraße. Am Dorfrand, bei einem Kandelaber<br />

und einem Nussbaum, beginnt der Weg, der <strong>zu</strong>r Ponte del Passo führt. Hier<br />

gehen wir gleich auf dem alten Weg weiter, der, schon bald im Wald, ansteigt<br />

und in die Albonico-Straße mündet. Dieser folgen wir, bis sie <strong>zu</strong> sinken beginnt.<br />

Bei einem Straßenspiegel können wir auf den ausgeschilderten Saumweg<br />

nach San Miro einschwenken.<br />

Wir steigen bis <strong>zu</strong>r Häusergruppe an, die den (vorläufig) höchsten Punkt<br />

der Wanderung markiert. Die Steinwanne einer alten Weinpresse zeugt vom<br />

früheren Rebbau. Etwas weiter vorn und leicht tiefer liegt das Kirchlein San<br />

Miro, seinen Schwestern gleich an bester Aussichtslage über dem Lario. Ein<br />

erster Stundenhalt. Gegenüber grüßt als alter Bekannter der dominante<br />

Monte Legnone, der Wächter des Veltlins.<br />

Auf einem Treppenweg steigt man <strong>zu</strong>r Seestraße ab. Links haltend kann<br />

man dieser ein Stück weit in einer Grünanlage ausweichen. Bei der Kirche<br />

von Gera Lario (kurz vor dem Albergo Pace) wechselt man in die Via Antica<br />

Regina und quert später den Bergbach aus dem Vincenzo-Tal wieder auf der<br />

Straße und steht vor der Kirche, die dem heiligen San Vincenzo gewidmet<br />

ist. Zwischen Kirche und Friedhof fädeln wir in den Weg ein, der <strong>zu</strong>erst in<br />

der Falllinie ansteigt und dann auf der Straße weiter nach Aurogna führt.<br />

Zum Teil kann man die Straßenkurven abkürzen, so bei einem Bildstock,<br />

vor allem aber in der Rechtskurve, wo man an Friedhof und Kirche vorbei<br />

direkt hochzieht – hoch bis <strong>zu</strong>r engen Dorfgasse von Aurogna, der Via Re-<br />

209


210<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

gina. Die Hauptfraktion der Gemeinde Trezzone liegt gut zweihundert Meter<br />

über dem See.<br />

Auch hier oben hat der Rebbau Spuren hinterlassen, einige Fassaden sind<br />

kupfersulfatimprägniert. Jetzt, <strong>zu</strong>r Mittagszeit, wirkt das Dorf wie ausgestorben.<br />

Die Gasse führt uns am Dorfende <strong>zu</strong> einer kleinen neuen Steinbrücke<br />

und <strong>zu</strong> einem Sentiero, der einer Trockenmauer folgt. Die Querung<br />

durch das Tobel ist neu hergerichtet. Später geht der Wanderweg in einen<br />

Fahrweg über, der eben verläuft (man braucht nicht mehr nach Caino an<strong>zu</strong>steigen).<br />

Bevor der Fahrweg deutlich ansteigt (etwa 100 Meter vor/unter der<br />

Kurve der Caino-Straße mit Wegkapelle), steigen wir an einem Haus vorbei<br />

über die Treppe mit grünem Geländer <strong>zu</strong>m alten, wenig begangenen Fußweg<br />

hinunter. Nächstes Ziel ist die gut sichtbare Kirche von Arbosto/Vercana<br />

mit der ebenso sichtbaren Pizzeria Bellavista. Eine schattige Laube vor einer<br />

Dorfbar kommt uns gerade recht.<br />

Beim Kirchplatz beginnt der Prachtweg, der via die Madonna della Neve<br />

<strong>zu</strong>m Bergfuß führt, wo uns nicht die Frau vom Schnee erscheint, sondern<br />

das Ristorante San Silvestro. <strong>Von</strong> solchen Überraschungen träumt man. Nur<br />

haben wir erstens bereits gepicknickt und zweitens, beziehungsweise eher<br />

erstens, sitzt die Küchencrew bereits beim Kaffee unter der Pergola. (Wir<br />

sind wieder gekommen, an einem kühlen regnerischen Tag. Mit Draußensitzen<br />

ist nichts, wir werden in den ersten Stock komplimentiert. Der schlichte<br />

Raum gefällt uns, die alten Fotos an der Wand, auch der freundliche Service,<br />

der Brasato und der lokale Wein aus den Rebbergen ob Domaso. Ende des<br />

Werbespots.) Eine alte Brücke führt über den Bergbach Livo. Danach steuern<br />

wir auf die unübersehbare Kirche San Bartolomeo in Domaso <strong>zu</strong>.<br />

Nochmals steigen wir auf fast 400 Meter Höhe an. Und zwar so: Bei der<br />

Kirche San Bartolomeo geht man am Asilo infantile vorbei nach rechts,<br />

nimmt die Via Valsecchi und gelangt ansteigend in eine gepflästerte Mulattiera<br />

(wo geradeaus keine Pflästerung mehr ist, die Rechtskurve nehmen und<br />

später, bei einem alten Wegstein, die Linkskurve). Den Weiler Poz<strong>zu</strong>olo verlassen<br />

wir über die obere Dorfgasse, steigen <strong>zu</strong>m Waldrand über den Reben<br />

hinauf und spazieren <strong>zu</strong>m Pässchen von Segna hinüber. Nun geht es abwärts.<br />

Eingangs von San Carlo wechseln wir in den alten Weg und unterqueren<br />

eine Druckleitung und dann die Straße. Später, dem Ziel Gravedona schon<br />

nahe, kann man so (oder anders) absteigen: auf einem rot gepflästerten Weg<br />

direkt hinunter oder etwas versetzt auf der Via Regina weiter auf die Piazza<br />

Motta, unter einem Bogen durch, schließlich vor oder nach dem Castello<br />

6G Dascio–Gravedona<br />

runter, vorbei am Restaurant Ca de Mätt. Man landet so oder so auf der<br />

Piazza Mazzini am See. Due prosecchi per Giuseppe (Mazzini). Oder auch<br />

ein Gelato. Die große Gelateria ist umschwärmt wie ein Bienenhaus, reihenweise<br />

sitzen Männlein, Weiblein und Kinderlein auf den Bänken am Seeufer<br />

und schlecken vor sich hin.<br />

Wo nächtigen? Es sei ein Mittelding zwischen Bruchbude und Geheimtipp,<br />

haben wir einmal über das Italia, die Visitenkarte an der Schifflände,<br />

geschrieben. Jetzt hat die Bruchbude obsiegt, die Türe ist vernagelt. Ruhig<br />

gelegen ist das Lauro (mit Piazza und Pizza und großer Bocciabahn). Es liegt<br />

zentral, aber etwas versteckt in einem Hof (von der Via Sabbati durch ein<br />

Seitengässchen hoch). Zimmer hat auch das Ristorante Centrale unten am<br />

See. Und an der Hauptstraße oben im Dorf findet man das auf elegant restaurierte<br />

Dreisternhaus La Villa.<br />

Wo essen? In der Osteria Ca’ de Mätt natürlich. Dort betreut die Schangnauerin<br />

Rita Siegenthaler fachkundig eine Weinauswahl, die einer mittleren<br />

Enoteca wohl anstünde. Gatte Pierangelo Gurini kocht. Er ist unweit des<br />

Pian del Vino bei Bormio aufgewachsen. Damit sind wir in der angenehmen<br />

Osteria dem Veltlin entschieden näher als dem Emmental.<br />

Gravedona um 1838 (Aquatinta von Pompeo Pozzi).<br />

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212<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6H Gravedona–Menaggio 6 h 30<br />

Magnolien, Menaggio, Meneghet<br />

Gravedona *202m<br />

Dongo 208m 1h00<br />

Rezzonico 225m 4h00<br />

Menaggio 202m 6h30<br />

Höhendifferenz Aufstieg 500m, Abstieg 500m<br />

Unterwegs<br />

Dongo *Dongo, Tel.0344 81344<br />

Vignola Bar<br />

Rezzonico Trattoria<br />

Menaggio<br />

Tisch und Bett ***Bellavista, DZF 90–140 Euro, Tel.0344 32136, www.hotel-bellavista.org;<br />

**Meneghet, DZ 70 Euro, Tel.0344 32081, albergomeneghett@libero.it;<br />

**Corona, DZF 70–95 Euro, Tel.0344 32006, www.hotelgarnicorona.com;<br />

weitere Hotels<br />

ÖV Buslinien C20 (Westufer) und C12 (nach Lugano); Comersee-Schiffe;<br />

Fähre nach Varenna<br />

Taxi Tel.0344 31244<br />

Die erste Stunde halten wir uns nicht an die Regina, die, historisch korrekt,<br />

dem Bergfuß entlang zieht. Weit attraktiver ist der Uferweg am See. Wir verlassen<br />

Gravedona auf der Seepromenade, einer uritalienischen Heldenmeile,<br />

von der Piazza Mazzini über die Piazza Cavour und dito Garibaldi in die Via<br />

Roma. Das Ristorante Cardinello weckt Interesse, aber halt noch keinen<br />

Hunger. Wir halten uns an die Heiligen. An den Kirchen Santa Maria und<br />

San Vincenzo – ein schönes Ensemble in der kleinen Schwemmebene am<br />

Rande von Gravedona – und am Friedhof vorbei gelangen wir <strong>zu</strong>r untersten<br />

Liro-Brücke und <strong>zu</strong>m neuen Uferweg nach Dongo.<br />

Jogger, Hunde und Kinderwagen in Begleitung – viel eifriges Fußvolk ist<br />

auf der neuen Freizeitstrecke unterwegs. Beim Bach vor Dongo hat die Idylle<br />

ein Ende. Wir queren den Albano auf der Hauptstraße und erreichen durch<br />

ein paar Gassen den Hauptplatz am See. Ein schönes Geviert mit allem, was<br />

man so braucht: mit Tourismusinformation, einer interessanten Buchhandlung,<br />

mit der Bar Gottardo und dem Museo della Resistenza. Wäre das Albergo<br />

Dongo etwas attraktiver und die verkehrsreiche Straße etwas ferner –<br />

man könnte sich in diese Ecke verlieben.<br />

Im obersten Stock des Palazzo comunale wurde Benito Mussolini am<br />

27. April 1945 arretiert, nachdem Partisanen den flüchtenden Duce bei<br />

Musso erkannt und festgenommen hatten. Am nächsten Tag erschossen sie<br />

6H Gravedona–Menaggio<br />

ihn und seine Geliebte Claretta Petacci in Mezzegra (da kommen wir morgen<br />

vorbei).<br />

Den »kleinen« Rest des heutigen Wandertags sind wir in den breit auslaufenden<br />

Hängen des Bregagno unterwegs. Er ist zwar »nur« ein Zweitausender,<br />

aber ein Monte mit der stolzen relativen Höhe von 1900 Metern –<br />

das wäre eine saftige Tagestour. Vom Hauptplatz in Dongo gehen wir nach<br />

Barbignano hinauf, dem alten Dorfteil hinter der weitläufigen ehemaligen<br />

Falck-Fabrik. Hier beginnt der Fußweg <strong>zu</strong>r Kirche Santa Eufemia. Sie sitzt,<br />

natürlich wieder in schönster Lage und im Gegensatz <strong>zu</strong>r höher gelegenen<br />

ehemaligen Burg unversehrt, auf dem Sasso di Musso.<br />

Musso. Das Wort war den Bündnern vor einem halben Jahrtausend ein<br />

Stachel im Fleisch. Über den Burgherrn von Musso, Gian Giacomo Medici,<br />

berühmt und berüchtigt als Il Medeghino, lesen wir im Historischen Lexikon<br />

der Schweiz: »Dieser Abenteurer besaß im Solde des mailändischen<br />

Herzogs die Burgvogtei Musso, von der aus er Angriffe auf Chiavenna und<br />

das Veltlin unternahm«, unverschämterweise auf Gebiete, die sich die Bündner<br />

gerade untertan gemacht hatten. Eine Zeitlang besetzte »dieser Abenteurer«<br />

(andere Quellen reden vom »Piraten, König, Räuber, Verräter,<br />

Rebell, Mörder, Helden«) sogar Chiavenna und später Morbegno. »Zusammen<br />

mit den eidgenössischen Truppen vertrieben die Bündner die Müsser<br />

aus dem Veltlin und erreichten endlich die Schleifung der Raubritterfestung<br />

am Comersee.« Womit die Welt über und hinter uns endlich wieder in Ordnung<br />

war.<br />

Für die nächsten zwei Stunden gerät die Beschreibung etwas ausführlicher,<br />

wir durchwandern immer wieder Weiler und besiedeltes Gebiet. Wer<br />

Albano Marcarinis Regina-Führer bei sich hat, sollte ihn spätestens jetzt<br />

aufklappen; seine Kartenaquarelle sind hilfreich.<br />

Für alle andern: <strong>Von</strong> der Kirche Santa Eufemia steigen wir auf dem alten<br />

Weg nach Genico ab, wo es am untern Dorfrand auf Nebenstraßen weitergeht:<br />

leicht sinkend auf der Via al Castello, auf der Via Falco della Rupe aufwärts<br />

und weiter auf der Via della Filanda, dem Spinnereiweg. Unten in<br />

Campagnano rückt die rosa Kirche San Rocco (auch »D. Rocho«, Punkt<br />

261) ins Blickfeld; <strong>zu</strong> dieser steigen wir ab. Sie blickt über den See <strong>zu</strong> einer<br />

Namensschwester, <strong>zu</strong>m San-Rocco-Kirchlein am Sentiero del Viandante.<br />

Bei San Rocco gehen wir nicht weiter abwärts, sondern nach rechts, verlassen<br />

Campagnano auf der gepflästerten Dorfgasse und queren den kleinen<br />

Seitenbach. Etwas ansteigend kommt man in einen Waldweg und quert<br />

dann einen weiteren Seitenbach. Die Holzschilder des Giubileo-Wegs, »ge-<br />

213


214 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6H Gravedona–Menaggio<br />

pflanzt« im Heiligen Jahr 2000, bestätigen uns, dass wir noch immer auf<br />

dem Weg nach Rom (via Como) sind.<br />

Fürs Erste wollen wir weiter nach Maggiana, was nicht ohne Querung<br />

des Val Grande geht, und dies nicht ohne Anstieg auf 150 Meter über See:<br />

Man nimmt vor der Kirche Madonna della Neve die Treppe und später die<br />

Quartierstraße bis <strong>zu</strong> den obersten Häusern. Auf der Höhe der Hochspannungsleitung<br />

wechselt man über eine alte Brücke auf die andere Bachseite,<br />

steigt noch ein wenig an und erst dann nach Maggiana ab, bis <strong>zu</strong>m Parkplatz<br />

am untern Dorfrand.<br />

Einen Kilometer folgen wir Nebenstraßen (die zwei Abzweigungen Richtung<br />

Sant’Anna usw. nicht berücksichtigen) und erreichen eine Häusergruppe.<br />

Nach einer Bachrinne kommen wir <strong>zu</strong> einer Doppelgarage. Hier gelangen<br />

wir über den Betonaufgang auf den Weg, der einem Zaun entlang <strong>zu</strong><br />

einem Bildstock und dann durch ein lauschiges Waldtälchen Richtung Vignola<br />

ansteigt. Am Dorfrand (wo man auf die Straße stößt) kann man rechts<br />

versetzt eine Hintergasse nehmen. Unter der ehemaligen Seidenspinnerei<br />

queren wir einen kleinen Bach, kommen ins Dorf und steigen <strong>zu</strong>m Municipio<br />

der weitläufigen Gemeinde Cremia ab.<br />

Am Sportplatz vorbei verlassen wir die Hauptfraktion Vignola, umrunden<br />

auf einer Quartierstraße einen Häuserhügel bis <strong>zu</strong>m Parkplatz und wandern<br />

auf einer neu gepflästerten Gasse und dann auf einer Nebenstraße weiter.<br />

Schafe blöken, Hühner gackern, ein Mann und ein Frau tragen geschickt<br />

geschultertes Leseholz nach Hause. Via die Häuser von Cheis gelangt man,<br />

nach Parkplatz und Bach, <strong>zu</strong>m Flecken Vezzedo.<br />

Nach ein paar Schritten halten wir – noch vor einem Torbogen – links abwärts<br />

und steigen zwischen alten Reben und neuen Olivenbäumen zehn Minuten<br />

ab, bis <strong>zu</strong> einer Nebenstraße, die bald in einen bequemen Waldweg<br />

übergeht – die historische Strada Regina. Ein großer Stein mit den Jahreszahlen<br />

1660 und 1764 markiert die Grenze zwischen Cremia und Rezzonico.<br />

Der Waldweg entlässt uns gegenüber der Bushaltestelle von Rezzonico<br />

und vor einem Straßentunnel. Über dem Tunnelportal quert man ins Dorf.<br />

Das Häusernest mit Turm könnte auch irgendwo am Mittelmeer sitzen. Eine<br />

Bar/Trattoria mit Terrasse und Pizza und Blick auf den See verstärkt das Feriengefühl<br />

noch.<br />

Nach dem Dorf achten wir auf die Verbotstafel für Motorräder (und das<br />

ewige Giubileo-Schild). Nun können wir auf gepflästerten Fußwegen längere<br />

Zeit geradeaus gehen – außer bei der Villa Camilla, deren Besitzer keine<br />

Wanderer in ihrem Park wünschen (kleine Umgehung <strong>zu</strong>r stark befahrenen<br />

Straße hinunter und gleich wieder hinauf). Wir halten weiter geradeaus,<br />

durch Sant’Abbondio. Wir verlassen das lang gezogene Dorf ansteigend und<br />

gehen nach der Bachquerung noch <strong>zu</strong> einem Bildstock hinauf.<br />

Nun folgen wir dem schönen Waldweg und steigen dann, wie die Stromleitung,<br />

<strong>zu</strong>m See ab. Hier treffen sich drei Generationen Straßen: die heutige,<br />

auf der wir nur wenige Meter gehen, die rund hundertjährige, der wir<br />

am See bis <strong>zu</strong>m nächsten Wanderwegweiser folgen, und schließlich der alte<br />

Saumweg, auf dem wir erneut ansteigen (mehr als man denkt). Eine neuere<br />

Ferienhaussiedlung lassen wir links unter uns liegen und erreichen auf einem<br />

oberen Weg, der sehr schön durch die Felsen des Sasso Rancio führt, Nobiallo.<br />

»Via Regina«, verraten die Hausnummern. Wir bleiben auf der Königlichen,<br />

bis sie uns am südlichen Dorfende von Nobiallo bei den Carabinieri<br />

auf die Seestraße entlässt.<br />

Für fünf Minuten halten wir uns ans Trottoir, dann an das alte, seenahe<br />

Trassee – und bald schlendern wir zwischen Friedhofzypressen <strong>zu</strong>r Parkpromenade<br />

von Menaggio.<br />

Als die Schweizer Alpenpost in den 1930er Jahren die Linie St. Moritz–<br />

Menaggio–Lugano einrichtete und Promotionsfilme für die Frühlingsfahrt<br />

<strong>Von</strong> Elizabeth Main fotografiert: Die Kulisse von Menaggio.<br />

215


216<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

ins südliche Ausland drehen ließen, zeigten diese in Menaggio jeweils blühende<br />

Magnolien, waschende Frauen am See und Eisverkäufer mit einem<br />

fahrbaren Stand. Die Frauen waschen nicht mehr am See, aber die Magnolien<br />

blühen wie im Film, und Gelatistände sprießen allenthalben.<br />

Wenn uns der Sinn nach Gründerzeit-Feeling und verblichener Seeromantik<br />

steht, steigen wir im Bellavista ab, <strong>zu</strong>sammen mit Dutzenden comerseeseligen<br />

Briten. Im Gegensatz <strong>zu</strong> den beiden durchrenovierten Grand Hotels<br />

in ähnlicher Lage ist das Bellavista noch bezahlbar, und der See<br />

plätschert hier unter den Fenstern genau so schön. Günstiger logiert man an<br />

der Piazza im Corona garni oder in der Du-Lac-Dependance. Den Liebhabern<br />

von Vielleicht-ist-es-das-letzte-Mal-Herbergen empfehlen wir das Meneghet,<br />

ein einfaches Hotel mit einem verwunschenen Garten in einem alten<br />

Patrizierhaus (fünf Minuten am Weg von morgen hochgehen).<br />

Ein Fotogeschäft hat sein Schaufenster mit Aufnahmen vom letzten großen<br />

Schnee vollgestellt, an den oberitalienischen Seen kein alltägliches Ereignis<br />

und beliebtes Sujet für Neujahrskarten. Wir stöbern, natürlich auch<br />

dieses Mal vergeblich, nach den Postkarten, die, um 1900 in den Handel gekommen,<br />

Aufnahmen vom Comersees zeigen. Geknipst wurden sie von der<br />

englischen Winteralpinistin und St. Moritzianerin Elizabeth Main, die in jenen<br />

Jahren als eine der ersten Velofahrerinnen überhaupt bis nach Rom radelte.<br />

Der Prosecco von heute geht an die sportliche Britin.<br />

Am Lario kann man das ganze Jahr wandern, Ausnahmen vorbehalten (Menaggio, Januar 2007).<br />

Am Comersee spinnen auch Zürcher<br />

Ein schöner Maiensonntag im Jahre 1852. Die Gärten der Comersee-Villen blühen<br />

in ihrer ganzen Pracht, bestaunt von den vorbeigleitenden Reisenden auf dem<br />

Dampfschiff nach Como. An Bord ist auch Carl Abegg, Sohn des Küsnachter Seidenhändlers,<br />

Weinbauern und Gemeindeammanns Abegg. Der Sechzehnjährige<br />

ist auf dem Weg <strong>zu</strong> seiner Mailänder Lehrstelle in der Seidenspinnerei Fierz, ebenfalls<br />

eine Zürcher Familie.<br />

Ob der junge Abegg kurz nach Lenno <strong>zu</strong>r Villa Balbiano hinüberschaute, diesem<br />

herrschaftlichen Bau am Ufer zwischen der Halbinsel Lavedo und der kleinen Insel<br />

Comacina, wissen wir nicht. Vielleicht machte ihn ein zeitgenössischer Reiseführer<br />

auf die »schöne Villa Balbiano an der Mündung der aus wilder Schlucht mündenden<br />

Perlana« aufmerksam.<br />

Sicher ist, dass Carl Abegg nicht ahnt, dass er in ein paar Jahrzehnten Mitbesitzer<br />

dieser Villa sein und mit seiner Frau, einer geborenen Arter, im Zimmer des ver-<br />

Die Villa Balbiano zwischen Lenno und Osuccio, vom Schiff aus gesehen.<br />

217


218<br />

In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

storbenen Kardinals Angelo Maria Durini logieren wird, dass sein Sohn in der Filanda<br />

hinter der Villa das Spinnen der Seide erlernen wird – wie er selber jetzt, im<br />

Sommer 1852, in der Umgebung von Mailand.<br />

Carl Abegg hat seine dreitägige Reise vom Zürichsee nach Mailand am Freitagmorgen<br />

mit dem Dampfschiff angetreten, von Küsnacht bis Schmerikon noch begleitet<br />

von Mutter und Schwester und ein paar Freunden. Dann reist er allein weiter,<br />

mit der Postkutsche nach Weesen und mit dem nächsten Dampfschiff nach<br />

Walenstadt. Die »Schiffstafel«, das Mittagessen, sei »nichts weniger als gut« gewesen,<br />

wird er aus Chur, wo er abends um halb neun Uhr mit der Pferdepost ankommt,<br />

nach Hause schreiben.<br />

Am Samstag ruft des Posthorn die Reisenden nach Chiavenna schon morgens<br />

um fünf Uhr <strong>zu</strong>sammen. Unterwegs besichtigt man die Viamala. Eines der schönsten<br />

Naturschauspiele, findet Carl. Pünktlich <strong>zu</strong>m Mittagessen fährt der Postwagen<br />

in Splügen vor. Danach geht es hinauf <strong>zu</strong>m Splügenpass, doch ist die Reisepost<br />

dem Sechzehnjährigen <strong>zu</strong> langsam. »Ich ging mit dem Conducteur meistens <strong>zu</strong><br />

Fuß, um die unzähligen Zickzack ab<strong>zu</strong>schneiden. Dann kamen wir <strong>zu</strong>r Douane, wo<br />

es dem Frischankommenden im Anfang nicht gar heimelig ist wegen dem <strong>zu</strong>r<br />

Hälfte unverständlichen Geschnäder.« Es sollte noch schlimmer kommen, unten<br />

im südlichen Alpenstädtchen Chiavenna.<br />

Auch heute erreicht die Reisegesellschaft<br />

ihr Ziel abends um<br />

halb Neun. »Ein nichts weniger als<br />

schönes Nest«, bringt Carl <strong>zu</strong> Papier.<br />

Aber: »Ich logierte im Conradi<br />

(Primo Albergo), wo man gar nicht<br />

gut isst, sodass ich mit der Nachtpost<br />

verreist wäre, wenn es die<br />

Umstände erlaubt hätten.«<br />

Nun, am dritten Reisetag, geht<br />

es mit dem Omnibus nach Colico,<br />

»wo es schon recht italienerlet«,<br />

schreibt der Jüngling nach Küsnacht.<br />

»Auf dem Weg trifft man<br />

sehr viele Pflan<strong>zu</strong>ngen; die schöneren<br />

sind mit Mauern umgeben, da<br />

man hier an Steinen reicher ist als<br />

Abegg-Arter, der spätere SKA-Präsident:<br />

Das Spinnen von der Pike auf gelernt …<br />

an Geld. In Colico besteigt er <strong>zu</strong>m<br />

dritten Mal das Dampfschiff. Dem<br />

Zürichseebuben gefällt auch der Comersee, den er noch oft sehen wird. Mit dem<br />

Pferdeomnibus gelangt er von Como nach Camerlate und von dort mit dem Zug<br />

nach Mailand. Mit dem Hotelomnibus des Albergo Marino fährt der angehende<br />

Lehrling <strong>zu</strong>m Domplatz, wo an diesem Sonntagabend alles <strong>zu</strong>sammenströmt. Hier<br />

erwartet ihn sein Küsnachter Jugendfreund Eduard Fierz.<br />

Schon bald besorgt Carl Abegg in einer Fierzschen Filanda bei Monza die Lohnbuchhaltung<br />

der 250 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen, darunter auch achtjährige<br />

Kinder. Um »die Spinnerinnen besser <strong>zu</strong> beurteilen«, lernt er selbst Haspeln<br />

und Spinnen. Ein Muster der ersten selbstgesponnenen Seide schickt er stolz seiner<br />

Mutter. Aus dem eifrigen Lehrling wird dereinst der erfolgreiche Seidenindustrielle<br />

und, als Nachfolger von Alfred Escher, der langjährige Präsident der Schweizerischen<br />

Kreditanstalt Carl Abegg-Arter werden. Nennen wir ihn Abegg I.<br />

25 Jahre später wiederholt sich die Geschichte. Die Lehr- und Wanderjahre führen<br />

auch den siebzehnjährigen Carl Abegg junior nach Oberitalien, in die Filanda<br />

von Campo bei Lenno, an der sein Vater seit kurzem beteiligt ist. Am 31. Mai 1878<br />

schreibt er nach Zürich, wo die Abegg nun wohnen: »Gestern haben die Seidenwürmer<br />

den vierten Schlaf vollendet, und heute hat man ihnen <strong>zu</strong>m ersten Mal wieder<br />

<strong>zu</strong> Fressen gegeben«; es habe viel Laub an den Maulbeerbäumen. »Das war ein Gesurr,<br />

als ich sie heute morgen besuchte. In fünf bis zehn<br />

Tagen werden sie sich verpuppen. Die Proben haben<br />

wunderschöne Cocons gegeben. In 14 Tagen wird die Filanda<br />

laufen.« Dann, im Juli und August, spinnt der Sohn<br />

wie einst der Vater, jeden Tag eine halbe Stunde. »Es geht<br />

schon ordentlich, obschon mir das Hinwerfen der Fäden<br />

anfangs etwas schwer fiel.«<br />

<strong>Von</strong> den Spinnversuchen erholt er sich beim Baden,<br />

schwimmt mit Kameraden <strong>zu</strong>r kleinen Insel Comacina,<br />

steigt mit ihnen am Sonntag auf den nahen Monte Generoso<br />

und <strong>zu</strong>m Tessiner Dörfchen Melano ab. Oder er<br />

sammelt Schmetterlinge und »erfreut sich der Pfirsiche<br />

und Pflaumen«, lesen wir in der Familiengeschichte der<br />

Abegg. Oder er besucht die Seenachtsfeste, die Fürst<br />

Melzi im nahen Bellagio gibt. Jeunesse dorée, die zweite<br />

Generation.<br />

Gelegentlich wollen Vater und Mutter den Sohn bei<br />

der Arbeit sehen; das Ehepaar Abegg-Arter nächtigt im<br />

großen Bett im Kardinalszimmer der Villa Balbiano, die<br />

<strong>zu</strong>r Filanda gehört. Nach vier Jahren in der Lombardei<br />

… wie später Sohn<br />

Abegg-Stockar und<br />

Enkel Carl Julius.<br />

219


220 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

lernt der junge Carl Abegg New York und den Fernen Osten kennen. Bereits mit 24<br />

Jahren übernimmt er 1885 die Führung der Familienfirma Abegg & Co. In Kolomna<br />

bei Moskau baut Abegg II beziehungsweise Abegg-Stockar, wie er nun heißt, eine<br />

Seidenzwirnerei auf, die mit der Revolution von 1917 ein jähes Ende findet. Wie seinen<br />

Vater wird es auch Abegg II früh ins Banken- und Versicherungsgeschäft ziehen.<br />

Wer Seide in die Finger nimmt, hat bald auch Geld in den Händen.<br />

In der Stadt Zürich ist die Seidenindustrie seit Jahrhunderten heimisch. Nicht<br />

<strong>zu</strong>letzt die Glaubensflüchtlinge aus den norditalienischen Produktionsgebieten der<br />

Seide, darunter Familien aus Chiavenna, haben Know-how an die Limmat gebracht.<br />

Dank den politischen Umwäl<strong>zu</strong>ngen des 19. Jahrhunderts steigen nach<br />

1830 viele Zürcher Landfamilien neu ins Seidengeschäft ein, darunter die Abegg in<br />

Küsnacht. Die Mechanisierung lässt die Seidenindustrie in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts boomen (wenn auch mit einer Krise in den 1880er Jahren). Keine<br />

andere Industrie beschäftigt in der Schweiz von 1900 so viele Leute. Die Zürcher<br />

Firmen kaufen von den norditalienischen Bauern die Seidencocons und lassen<br />

diese vor Ort in eigenen Fabriken <strong>zu</strong> Rohseide spinnen und zwirnen. In der Schweiz<br />

veredelt man die Rohseide <strong>zu</strong> Stoffen und wickelt den Handel ab.<br />

Der Baumeister des größten Seidenkonzerns der Welt, Robert Schwarzenbach-<br />

Zeuner, umreißt 1883 die Standortvorteile in Italien so: »In Italien arbeitet man solange<br />

es den Fabrikanten beliebt, Winderlöhne sind etwas, Zettlerlöhne erheblich<br />

billiger als in Zürich. Weberinnen für mechanische Stühle findet man ohne Zweifel<br />

genug <strong>zu</strong> 1.50 Fr. bis 2 Fr. per Tag. Dagegen ist dort die Erstellung eines Etablissements,<br />

dank dem unsinnigen Schutzzollsystem, teurer als bei uns; ebenso sind<br />

Kohlen noch teurer als bei uns; aber dafür erspart man den (ebenfalls lächerlichen)<br />

Ausgangszoll auf Rohseide, Fracht und Eingangszoll in die Schweiz und hat den<br />

Vorteil, die Seide aus erster Hand <strong>zu</strong> kaufen. Summa Summarum bleibt ein bedeutender<br />

Überschuss <strong>zu</strong> Gunsten Italiens.«<br />

Das sehen auch die Abegg so. 1919 steht in ihrem Familienunternehmen, das in<br />

Italien weiterhin Seidenspinnereien betreibt und von Zürich weltweit mit Rohseide<br />

handelt, der nächste Generationenwechsel an. Abegg-Stockar übergibt die Abegg<br />

& Co. seinem 28 Jahre alten Sohn Carl Julius. Auch Abegg III haben die Lehr- und<br />

Wanderjahre <strong>zu</strong>erst nach Italien geführt, noch vor dem Weltkrieg. Er hat gehaspelt<br />

und gesponnen wie einst Großvater und Vater. Drei Jahrzehnte führt Abegg III die<br />

Firma. Dann, 1949, übergibt er sie seinem Sohn Carl A. Abegg.<br />

Das Italiengeschäft der Abegg & Co. wird von 1917 bis 1951, also während der<br />

ganzen Ära von Abegg III, von Mailand aus von Carlo Job dirigiert. Wie viele Betriebe<br />

es genau waren, konnte selbst Hans Rudolf Schmid, der Verfasser der Familiengeschichte,<br />

angesichts der vielen Wechsel nicht genau eruieren. Die Filanda in<br />

<strong>Von</strong> der Straße her präsentiert sich die Villa Balbiano in ihrer ganzen Pracht.<br />

Campo bei Lenno hatten die Abegg schon im 19. Jahrhundert ihrem früheren Angestellten<br />

H. Gessner aus Zürich übergeben. Noch heute erinnert ein Schild »Filandone<br />

Gessner« an das große Fabrikgebäude, das vor Jahrzehnten abgerissen<br />

wurde.<br />

Als Carlo Job Chef der Abegg-Fabriken in Italien wird, unterstehen ihm zehn Betriebe<br />

in Barzano, Brancilione, Ciserano, Garlate, Lurano, Olginate, Ponte, Sant’-<br />

Omobono, Valmolina und Villa. Da<strong>zu</strong> kommen weitere Fabriken, an denen die<br />

Firma maßgeblich beteiligt ist. Die Zahl der Abegg-Beschäftigten in Italien steigt<br />

von 450 nach dem Ersten Weltkrieg auf 1700 im Crashjahr 1929. Dann sinkt sie<br />

bis 1951 auf 415; Betrieb um Betrieb wird geschlossen. 1956 geht die Abegg & Co.<br />

in der Abegg Holding AG auf, die vor allem Vermögen verwaltet.<br />

Hans Rudolf Schmid, Die Familie Abegg von Zürich und ihre Unternehmungen, Zürich 1972.<br />

Robert Schwarzenbach-Zeuner, Schweizerische Landesausstellung Zürich 1883. Bericht über<br />

Gruppe 1. Seidenindustrie, Zürich 1884.<br />

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222 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6J Menaggio–Lenno oder Como<br />

6J Menaggio–Lenno oder Como 4h15<br />

Zu Fuß über Nava – e la nave va<br />

Menaggio 202m<br />

Bocchetta di Nava 848m 2h00<br />

Lenno Schifflände *202m 4h15<br />

Como *202m mit dem Schiff<br />

Höhendifferenz Aufstieg 700m, Abstieg 700m<br />

Lenno<br />

Tisch und Bett San Giorgio (Gemeinde Tremezzo, offen ab 11. April) , DZF 100–145 Euro,<br />

Tel.034440415, www.sangiorgiolenno.com; **Plinio (ganzes Jahr offen),<br />

DZF 75 Euro, Tel.034455158; ****Lenno, DZF 130–180 Euro,<br />

Tel.0344 57051, www.albergolenno.com<br />

Essen Trattoria San Stefano<br />

ÖV Schiff und Bus nach Como<br />

Como<br />

Übernachten **Posta, DZ 52–78 Euro, Tel.031 266012, www.hotelposta.net;<br />

*Piazzolo, DZ 70 Euro, Tel.031 272186; B & B In riva, DZF 63 Euro,<br />

Tel.031 302333, www.inriva.info; weitere Hotels<br />

Info www.comoeilsuolago.it<br />

Wie die Bischöfe von Menaggio nach Como (oder umgekehrt) reisten, wenn<br />

sie es denn je taten, können wir nur vermuten: im Boot. Das haben auch wir<br />

vor, später. Doch <strong>zu</strong>erst wandern wir über die Bocchetta di Nava. Tönt doch<br />

schon fast wie Nave. Nava là, e la nave va. (Dass Wandern in erster Linie<br />

den Geist auf Trab hält … hier der Beweis.)<br />

Der stolzeste und, besonders in Wintermonaten, sonnigste Aufgang<br />

kommt nur noch für haselnussstock- oder gartenscherenbewehrte kratzfeste<br />

Kreuzritter der À-la-recherche-du-chemin-perdu-Bewegung infrage: an<br />

Schifflände und Youth Hostel vorbei Richtung Pastura, beim Hof vor der<br />

vergitterten Villa direttissima zwischen Brombeeren <strong>zu</strong> einem Leitungsmast<br />

hoch und dann (leicht rechts haltend und etwas bequemer) zwischen Birken<br />

und Schützengräben bis <strong>zu</strong>r Lichtung bei Punkt 496, einer kleinen abgelegenen<br />

Schafweide (unweit der nachts beleuchteten Alpini-Kapelle), dann via<br />

Quai <strong>zu</strong>m Pässchen neben Sasso San Martino.<br />

Vielleicht aufersteht ja dieser Aufgang dereinst. Für die Zwischenzeit<br />

empfehlen wir die Variante via Croce und Madonna di Paullo. Die Fraktion<br />

Croce erreicht man von Menaggio in einer guten halben Stunde: links der<br />

Kirche einfädeln und auf folgenden Straßen hochgehen (auch auf die Hausnummern<br />

achten): Caronti, Leoni, Castello, Rezia, Grappa. Ein gerades<br />

Stück lang folgt man der stark befahrenen Porlezza-Lugano-Straße und<br />

dann dem Wegweiser Ospedale bis vor den Eingang des Spitalkomplexes.<br />

Beim Bildstock der glücklichen Vergine di Caravaggio steigt man auf dem<br />

gepflästerten Weg weiter an. In Croce empfangen uns das Albergo Adler<br />

und danach die Bar Stella Alpina.<br />

Gegenüber der Bar ist der Wanderweg Nr. 2 Monti Lariani ausgeschildert.<br />

Wir folgen ihm ein paar Schritte, am Waschbrunnen vorbei bis <strong>zu</strong>m<br />

Haus mit den Palmen. Gleich danach steigen wir auf der Betonpiste hoch<br />

und dann rechts haltend <strong>zu</strong>r Straße. Hier geht es (zwischen zwei Ferienvillen)<br />

auf einem alten Fußweg gleich weiter aufwärts. Auf der kleinen Ebene<br />

halten wir eher rechts und erreichen die Straße, der wir bis fast <strong>zu</strong>r Madonna<br />

di Paullo (Kapelle, Trattoria) folgen. Der Giubileo-Weg und die Via<br />

Monti Lariani ziehen von hier direkt, aber leider betonbetont <strong>zu</strong>r Bocchetta<br />

di Nava an.<br />

Ungleich attraktiver und nur eine halbe Stunde länger ist folgende Route:<br />

Hundert Meter vor der Paullo-Kapelle nehmen wir den Fahrweg zwischen<br />

zwei Steinsäulen, dem wir bis <strong>zu</strong>m Pässchen neben Sasso San Martino folgen<br />

(im Schlusshang bei einer Abzweigung nicht geradeaus, sondern weiter<br />

im Zickzack auf dem inzwischen schmaleren Weg hoch). Ein kurzer Abstecher<br />

würde einen <strong>zu</strong>m aussichtsreichen Sasso bringen.<br />

Wir gehen ein paar Meter abwärts, hinunter <strong>zu</strong> den traumhaft gelegenen<br />

Alphütten von Pilone beziehungsweise Nonu Gelest. Danach steigen wir auf<br />

dem alten Militärweg wieder an – eine großartige Passage mit einer spektakulären<br />

Sicht auf den See und in die Grigne. Nach der Geländekante zieht der<br />

Weg leicht sinkend durch halboffenes Gelände <strong>zu</strong>r Bocchetta di Nava hinunter.<br />

Die Idylle wird untermalt von fernen Geräuschen eifrigen Handwerkens.<br />

Wir steigen ab, dem mehrstimmigen Chor von Hammerschlägen und<br />

Motorsägengebrumm entgegen. Die Häuserhäufchen von Nava liegen, unter<br />

kahlen Kalkkuppen, in einem Wiesenhang. Es geht aufs Wochenende <strong>zu</strong>,<br />

man gibt sich rundherum geschäftig. Gerne würden wir auf dem ansteigenden<br />

Fahrweg weitergehen (die Nr. 2 Monti Lariani) in die weiten sonnigen<br />

Hänge hinein. Stattdessen wechseln wir auf die gepflästerte Mulattiera, die<br />

im Wald abwärts zieht, rechts der Bachrinne und mitunter recht steil. Wo<br />

unser Abstieg den Crociano-Aufstieg trifft, gehen wir möglichst direkt weiter<br />

abwärts, auf dem Weg mit der markanten Mittelstreifenpflästerung und<br />

gewaltigen Trockenmauern.<br />

Viano verlassen wir am Waschbrunnen vorbei, gehen kurz danach <strong>zu</strong>r<br />

Brücke hinunter und dann hinüber nach Bonzanigo. Einladend sanft liegt<br />

die Ebene von Tremezzo und Lenno unter uns, die Sonne glitzert auf dem<br />

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224 In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

6J Menaggio–Lenno oder Como<br />

Wäre er doch in Bern geblieben: Polizeifoto von »Benedetto« Mussolini, 19. Juni 1903,<br />

Untersuchungsgefängnis Bern.<br />

See. Gut gekleidete Kleingruppen streben dem blumengeschmückten Friedhof<br />

von Sant’Ambroggio <strong>zu</strong> – und wir dem nahe liegenden Mezzegra. (Weiter<br />

unten, vor einem Villentor an der Via XXIV maggio 14, wurden am<br />

28. April 1945 Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci von Partisanen<br />

erschossen. »Fatto storico, site of historical event«, steht auf einer Tafel.)<br />

Wir gehen durch Mezzegra weiter bis <strong>zu</strong>m Wegweiser »Pola« und hier<br />

links abwärts. So stoßen wir auf die Via Pola (<strong>zu</strong>erst eine Mulattiera, dann<br />

eine Nebenstraße). Nun wandern wir die Höhe haltend weiter. Beim Wegweiser<br />

»Lenno« wird der Weg wieder schmaler und führt hinunter <strong>zu</strong>r<br />

schattigen Brücke über den Pola-Bach. Ein lauschiger, moosiger Winkel.<br />

Nach der Brücke kann man in einer guten Viertelstunde direkt nach Lenno<br />

absteigen, hinunter auf die Straße und <strong>zu</strong>r Schifflände.<br />

Lenno ist ein wahrer Traum für müde Wanderer. Man kann aus drei ruhig<br />

gelegenen Hotels auswählen, die das ganze Spektrum abdecken. Aus den<br />

Korbsesseln vor dem durchrenovierten teuren Viersternhaus Lenno hat man<br />

die Schifflände direkt vor der Nase und damit die Kontrolle über alles, was<br />

über den See kommt und geht. Das ganze Jahr offen ist das günstige, ebenfalls<br />

am See gelegene Zweisternhaus Plinio (drei Minuten seeabwärts).<br />

Ein paar Schritte seeaufwärts landet man im Park des San Giorgio, unserem<br />

Liebling am Lario: eine sehr gut erhaltene Fast-Neunzigerin von gelassener,<br />

ungelifteter Schönheit, dezent umweht vom Duft der Kletterrosen und<br />

vom Jasmin im Park. »Relax assoluto« heißt hier das Motto, kein Fernseher<br />

und kein Radio, kein Fitnessraum, dafür wahnsinnig bequeme alte Sessel<br />

und Sofas, in denen man sich in anderen Zeiten verlieren kann, »un po’<br />

fuori del mondo«.<br />

Im Nebenhaus, einer ehemaligen Seidenspinnerei und späteren Ölmühle aus<br />

dem 18. Jahrhundert, erzählte uns die grauhaarige, sportlich elegante Hotelière<br />

Margherita Cappelletti Redaelli vor Jahren die Geschichte des Hauses. Großvater<br />

Giulio führte das Hotel Lenno, das damals noch Roma hieß. England hatte<br />

den Comersee entdeckt, das Geschäft lief gut. Als eine Krankheit die Olivenhaine<br />

zerstörte und die Ölpressen stillstanden, erwarb der Nonno das Land neben<br />

dem Roma und baute sein eigenes Hotel. 1920 hatte das San Giorgio seine<br />

erste Saison. Es sah Ruhe suchende Feriengäste und auch italienische Faschisten,<br />

deutsche Besatzer, amerikanische<br />

Befreier. Ein halbes Jahrhundert<br />

lang prägte Luigi Cappelletti,<br />

Giulios Sohn, das San Giorgio.<br />

Seine Tochter Margherita, Mutter<br />

von vier Kindern, übernahm um<br />

1980 – jetzt sind Tochter und<br />

Sohn am Ruder.<br />

Wer in Lenno übernachtet,<br />

kann dem See entlang und dann<br />

auf der Hauptstraße nach Ossucio<br />

hinüber wandern. Direkt am<br />

Belvedro-Bach liegt unübersehbar<br />

die Villa Balbiano, in deren<br />

schönem Park seit den 1960er<br />

Jahren nur noch ein Schild an<br />

die Filanda Gessner, ehemals<br />

Abegg erinnert.<br />

Heute nehmen wir das Nachmittagsschiff<br />

nach Como, lassen<br />

bescheidene Dörfer und traumhafte<br />

Villen an uns vorbeiziehen,<br />

ein Bilderbuchland für<br />

Halbgötter wie George Clooney<br />

und Co. Das war schon 1849<br />

so, wie wir in Johann Georg<br />

Heute noch eine lauschige Ecke am See:<br />

das Hotel Plinio in Lenno.<br />

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In 9 Tagen von Chur nach Como<br />

Kohls »Alpenreisen« lesen: »Im Paradiese darf der Comersee nicht fehlen,<br />

denn es ist unmöglich, dass ihn irgendein anderer See an Naturschönheiten<br />

übertreffe. Er ist daher auch so <strong>zu</strong> sagen der Lieblingssee der ganzen gebildeten<br />

Welt geworden, und eine Villa am Comersee <strong>zu</strong> haben, gehört eben so <strong>zu</strong><br />

den Träumen geschmackvoller Europäer wie der Wunsch, ein Zimmer im<br />

Grosvenor-Square <strong>zu</strong> besitzen, <strong>zu</strong> den Lieblinswünschen eines Londoner<br />

Fashionable. Sehr viele haben jenen Traum <strong>zu</strong> verwirklichen gewusst, und es<br />

gibt jetzt nicht nur lombardische Nobili, sondern auch russische Fürsten,<br />

deutsche Prinzen und Prinzessinnen, Pariser Tänzerinnen oder Banquiers,<br />

die sowohl ein Winterhaus in Berlin oder Petersburg, in Mailand oder Venedig,<br />

in London oder Paris, als <strong>zu</strong>gleich auch ein Sommerhaus am Comersee<br />

besitzen. Es gibt zwar auch Villen genug am Lago di Garda, am Luganer See,<br />

so wie am Lago Maggiore, allein diese gehören meistens nur einheimischen<br />

Besitzern. Ein so großes Gemisch von allerlei Besitzern Europas, ein solches<br />

Rendezvous für die die Natur bewundernde Welt aller Länder findet man<br />

nur an den Ufern des Comersees.«<br />

Das Kursschiff hält in elegantem Bogen auf die Hafenmole von Como <strong>zu</strong>.<br />

Die Kuppel des Domes fällt uns <strong>zu</strong>erst auf, noch vor dem Hotel Marco’s<br />

(links) oder dem Metropole & Suisse (rechts), dem Heldendenkmal aus den<br />

heroischen 1920er Jahren (noch mehr rechts), noch vor den Boulevardcafés<br />

an der Piazza Cavour (in der Mitte des Bildes). Der Dom liegt absolut zentral,<br />

ein Kunstwerk von hellem Marmor, eine Pracht. Bescheiden waren sie<br />

nicht, die Kollegen in Como. Die Kathedrale von Chur hätte (so überschlagen<br />

wir) wohl im Schiff des Domes von Como Platz. Dafür wirkt der Sitz der<br />

Diözese an der Piazza Grimoldi bescheidener als der Churer Schlosshügel.<br />

Gleich hinter dem Dom (oder auch neben, wie man will) lag bis 2007 das<br />

einfache Albergo Sociale mit einer guten Trattoria. Sommers saß man unter<br />

den Bögen, die Türme und Türmchen der Kathedrale vor der Nase, nachts<br />

fast fluoreszierend weiß im Scheinwerferlicht. 2008 war das Haus im Umbau;<br />

ob das Sociale neu eröffnet wird, wusste niemand so genau. Günstig und<br />

weiterhin offen ist das Piazzolo an einem kleinen, ruhigen Platz zwischen<br />

Dom und Bahnhof. Architekturinteressierte logieren vielleicht im Posta, das<br />

der berühmte Comeser Architekt Giuseppe Terragni (1904–1943) fertigbaute.<br />

Versteckt in Seitengassen des Dreiecks Piazza Cavour, Dom und westlicher<br />

Stadtmauer finden sich kleine Trattorien, die gut sind und günstig,<br />

etwa in der Via Vitani die Osteria und Enoteca del Gallo oder das Nostrad’-<br />

Amos oder das Rino. Um die hungrigen Mägen der Touristen buhlen in<br />

Como viele. Im Sommer ist die attraktive Ecke beim Hotel San Marco ein<br />

Mit vollen Segeln über den Comersee – das war einmal.<br />

6J Menaggio–Lenno oder Como<br />

Rummelplatz, freie Tische in den Restaurants sind rar. Wer im Herbst oder<br />

Winter herkommt, kann das kaum glauben, dann ist sogar im gediegenen<br />

i Tigli ohne Reservation ein Tisch <strong>zu</strong> haben.<br />

Für den ganz großen Überblick ist gleich nebenan gesorgt. Eine Standseilbahn<br />

führt in spektakulärer Steigung nach Brunate hoch, ob Sommer oder<br />

Winter. So manche Jugendstilvilla dämmert schön herausgeputzt in den<br />

schattigen Gärten des ehemaligen Luftkurortes vor sich hin – im Gegensatz<br />

<strong>zu</strong>m alten Hotel Milano, einst Flagschiff der gehobenen Hotellerie an stolzester<br />

Aussichtslage. Abheben wird der Kasten sicher nicht mehr, auch wenn<br />

er heute den Yogis gehört.<br />

Das Ristorante Bellavista (Dienstag geschlossen) ist ein kleiner tröstlicher<br />

Kontrapunkt, bietet nicht nur eine großartige Sicht und im Sommer lauschige<br />

Apero-Winkel, auch die Karte animiert <strong>zu</strong>m Wiederkommen, von<br />

den Vorspeisen Assortito al pesce di lago oder Affetato di salumi del territorio<br />

bis <strong>zu</strong>m Käse aus den umliegenden Tälern Valsassina, Valchiavenna, Val-<br />

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tellina und Val d’Intelvi. Noch mehr Aussicht gibt es ein »Stockwerk« weiter<br />

oben, bei San Maurizio.<br />

Und am nächsten Tag? Der alte <strong>Bischof</strong>ssitz Como, die Stadt der Banken<br />

und der Modeboutiquen, ist auch eine Seidenmetropole. Und zeigt dies anschaulich<br />

im Museo didattico della Seta (Via Castelnuovo), das vom Maulbeerbaum<br />

und den Seidencocons der gefräßigen Raupen bis <strong>zu</strong> den kunstvollsten<br />

Plisseestoffen die ganze Fabrikationskette vorführt. Die riesigen<br />

hölzernen Spindelanlagen, die Webmaschinen, die reiche Farbpalette der<br />

Seidenzwirne wird man nicht so schnell vergessen. Und zwischen allem<br />

hängt eine Aufnahme der Fabrik der Fratelli Schwarzenbach, der Zürcher<br />

Seidendynastie, die es <strong>zu</strong>m Global player brachte und in San Pietro Seveso<br />

von 1884 bis 1909 eine ihrer Fabriken betrieb.<br />

Und die Heimreise? Zum Bahnhof ist es eine Viertelstunde. Sollte gerade<br />

ein Sciopero angesagt sein, nimmt man unten an der Nordseite der Piazza<br />

Cavour den Bus Nr. 1<br />

nach Ponte Chiasso.<br />

Oder man bleibt in<br />

Como. Langweilig wird<br />

es einem auch am nächsten<br />

Tag nicht werden.

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