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Wildnis - Urwald vor den Toren der Stadt

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<strong>Wildnis</strong><br />

„<strong>Wildnis</strong>“, dieses Wort lässt eine Saite in uns klingen. Wenn wir die Augen schließen und „<strong>Wildnis</strong>“<br />

<strong>den</strong>ken, dann entstehen Bil<strong>der</strong>. Von weiter unberührter Natur. Wir verspüren die Lust auf Abenteuer,<br />

auf sportliche Herausfor<strong>der</strong>ungen. Aber wir verspüren auch Ängste, genau diesen Herausfor<strong>der</strong>ungen,<br />

<strong>der</strong> Weite und Abgeschie<strong>den</strong>heit, dem Unbekannten nicht gewachsen zu sein.<br />

<strong>Wildnis</strong> ist die Abwesenheit von Kultur. Wir Reihenhausbewohner assoziieren ungepflegte Gärten und<br />

Unkraut zwischen <strong>den</strong> Gehwegfugen. Egal, was – bei jedem löst dieser Begriff Gefühle aus. Gute und<br />

ungute. <strong>Wildnis</strong> ist nichts für Harmoniebedürftige, <strong>Wildnis</strong> ist stark, <strong>Wildnis</strong> spaltet.<br />

<strong>Wildnis</strong> kann man kommunizieren. Das unterscheidet dieses Wort von einem Gutteil unseres<br />

Naturschützervokabulars. Schließen sie einmal die Augen und <strong>den</strong>ken an „Biotopverbund“ – verstehen<br />

Sie, was ich meine? An die Suggestionskraft von „<strong>Wildnis</strong>“ reichen nur wenige an<strong>der</strong>e Begriffe heran.<br />

Woher kommt das? Es fällt auf, dass <strong>Wildnis</strong> dort Konjunktur hat, wo es sie nicht mehr gibt. In <strong>den</strong><br />

westlichen Industrielän<strong>der</strong>n eher als in dünn besiedelten Weltgegen<strong>den</strong>; bei Städtern eher als bei<br />

Landbewohnern. <strong>Wildnis</strong> ist ein Phantomschmerz <strong>der</strong> Zivilisation.<br />

Das gilt nicht erst seit heute. So hat sich die <strong>Wildnis</strong>bewegung ausgerecht im 19. Jh. in <strong>den</strong><br />

Vereinigten Staaten entwickelt, zu einer Zeit, zu <strong>der</strong> <strong>der</strong> weite Westen <strong>der</strong> USA noch in Teilen wild war.<br />

Aber mit <strong>der</strong> Besiedlung des Westens fuhr <strong>der</strong> jungen Nation eine archetypische Sorge in die Glie<strong>der</strong>:<br />

Die Angst, dass die last Frontiers gefallen sein könnten, <strong>der</strong> vermeintlich unendliche Kontinent<br />

erschlossen und seiner Grenzenlosigkeit beraubt. Amerika, das war ganz plötzlich nicht mehr <strong>der</strong><br />

Trost, dass irgendwo hinterm Horizont noch ein unentdeckter Flecken Land darauf wartet, erobert zu<br />

wer<strong>den</strong>.<br />

Es gehört zu <strong>den</strong> großen Kulturleistungen <strong>der</strong> Vereinigten Staaten, dass sie, an<strong>der</strong>s als die<br />

wildnisentwöhnten Europäer, frühzeitig anfingen, ihre <strong>Wildnis</strong>se zu schützen. 1872 wurde <strong>der</strong><br />

Nationalpark Yellowstone vom Kongress gebilligt, <strong>der</strong> erste Nationalpark <strong>der</strong> Welt und das erste<br />

<strong>Wildnis</strong>schutzgebiet. In Deutschland wurde dieser Schritt mit dem Nationalpark Bayerischer Wald erst<br />

100 Jahre später vollzogen.<br />

Überhaupt: Deutschland und <strong>Wildnis</strong>, das ist die Geschichte einer gestörten Beziehung. Trotz hohen<br />

Waldanteils (aber was ist das für ein geordneter erschlossener Wald?) ist Deutschland mit seiner<br />

dichten Besiedlung, <strong>den</strong> günstigen Siedlungslagen und einer traditionell ordnungslieben<strong>den</strong><br />

Bevölkerung geradezu ein Niemandsland <strong>der</strong> <strong>Wildnis</strong> gewor<strong>den</strong>. Wild und Wald, die gemeinsame<br />

etymologische Wurzel <strong>der</strong> Wörter ist lange verschüttet – tief verschüttet.<br />

Zu <strong>der</strong> Zeit, zu <strong>der</strong> Amerika anhob, großartige <strong>Wildnis</strong>se in Nationalparken zu schützen, erreichte die<br />

deutsche Forstwirtschaft ihren Durchbruch. Ein Blick in die klassischen Waldbaulehrbücher des<br />

deutschen Forstwesens genügt, um je<strong>den</strong> Zweifel zu verlieren: Im deutschen Wald herrscht Ordnung:<br />

Gepflanzt in Reihen, Dreieck- o<strong>der</strong> Viereckverbän<strong>den</strong>, nach Arten streng getrennt, sortiert nach<br />

Altersklassen, und nach festgelegter Umtriebszeit im noch frühreifen Alter geerntet.<br />

Doch längst hat <strong>der</strong> Phantomschmerz auch das deutsche Forstwesen erreicht, peripher noch, aber<br />

zitierfähig. So bekennt sich mit dem Züricher Professor Hans Leibundgut ein Großer seiner Zunft im<br />

Vorwort eines seiner Bücher ganz offen zum <strong>Urwald</strong>: Ich wurde durch meine Mutter von früher Jugend<br />

an mit dem Wald verbun<strong>den</strong>. Was „Wald“ wirklich ist, wurde mir aber erst im <strong>Urwald</strong> voll bewusst“.<br />

„<strong>Urwald</strong>“, als Begriff ähnlich schillernd wie „<strong>Wildnis</strong>“, ist längst zu einem Leitbild einer naturnäheren<br />

Waldwirtschaft und einem an tatsächlicher Natur ausgerichteten Naturschutz gewor<strong>den</strong>. Der Weg zur<br />

<strong>Wildnis</strong> führt in unseren Breiten fast zwangsläufig über <strong>den</strong> <strong>Urwald</strong>.<br />

Hätte <strong>der</strong> Mensch nie eingegriffen wäre Deutschland fast vollständig mit Wald bedeckt. Es wäre ein<br />

<strong>Urwald</strong>. Ohne menschliche Eingriffe wüchsen die Bäume in ein hohes Alter bis schließlich <strong>der</strong><br />

natürliche Tod einzelner Baumindividuen einen erst punktuellen, dann kleinflächigen Zerfall des<br />

Altbestandes einleitete. Prozesse des Absterbens und Heranwachsens gäben dem <strong>Urwald</strong> eine<br />

ungeheure Dynamik. Altwäl<strong>der</strong> mit Baumriesen und Totbaumruinen fän<strong>den</strong> sich neben Lichtungen, die<br />

von Sturm, Feuer o<strong>der</strong> Überschwemmungen in <strong>den</strong> Wald gerissen wur<strong>den</strong>. Verschie<strong>den</strong>e<br />

Altersstadien, Verjüngungsdickichte, Lichtungen und Altholzbestände mit Baumriesen und mächtigen<br />

Totbäumen wären in einem mal großflächigen, mal kleinflächigen Nebeneinan<strong>der</strong> verwoben und<br />

wechselten sich in zeitlicher Folge ab. Der Naturwald selektiert in hohem Maße. Nur wenige Individuen<br />

gehen aus einer zahlreichen Keimlingsgeneration als Gewinner eines harten Ausleseprozesses her<strong>vor</strong><br />

– ein Prozess, <strong>der</strong> bis ins höchste Alter nicht seine Schärfe verliert. Ein alter Baum muss im Laufe


seines Lebens mehrfach Verän<strong>der</strong>ungen in seiner Umwelt und Massenentwicklungen von Pilzen und<br />

Insekten meistern. Nur wenige, sehr angepasste Bäume überschreiten das durchschnittliche<br />

artspezifische Lebensalter und überdauern ihre Generation für ein bis zwei Jahrhun<strong>der</strong>te(!). Sie<br />

reproduzieren sehr viel länger und damit wahrscheinlich auch erfolgreicher. Neben seiner Dynamik<br />

und Wandlungsfähigkeit zeichnet sich <strong>der</strong> Naturwald <strong>vor</strong> allem durch seine Beständigkeit aus. Auf<br />

kleiner Fläche kann die Naturwalddynamik dramatische Verän<strong>der</strong>ungen herbeiführen. In <strong>der</strong><br />

Flächensumme <strong>der</strong> beteiligten Biotop- und Strukturtypen ist hingegen langfristig eine erstaunliche<br />

Kontinuität <strong>vor</strong>zufin<strong>den</strong>. Auf das dauerhafte Vorkommen von Lebensraumrequisiten in einer<br />

erreichbaren Entfernung sind insbeson<strong>der</strong>e Arten mit geringer Mobilität und Anpassungsfähigkeit<br />

angewiesen. Sie können vielfach als Indikatoren für alte, störungsarme Waldorte mit einer naturnahen<br />

Strukturenausstattung herangezogen wer<strong>den</strong>.<br />

Die ungestörte Alterung prägt nicht nur die Struktur des Naturwaldes entschei<strong>den</strong>d. Sie ist als<br />

konservatives Element auch ein wichtiger Faktor, dem stetigen Drang nach Erneuerung zu begegnen<br />

und an - genetisch fixierten - bewährten Eigenschaften und Strategien festzuhalten. Nichts entfernt <strong>den</strong><br />

Wirtschaftswald so sehr vom Naturzustand wie <strong>der</strong> Mangel an Alterungsprozessen.<br />

Hätte <strong>der</strong> Mensch nie eingegriffen, wäre <strong>der</strong> Wald eine <strong>Wildnis</strong>. Der Mensch hat jedoch eingegriffen<br />

und <strong>den</strong> wil<strong>den</strong> Wald auch in <strong>den</strong> verborgensten Winkeln mit Kultur durchdrungen. Ungestörte<br />

Prozesse und Strukturen natürlicher Waldökosysteme, die Quellen <strong>der</strong> biologischen Vielfalt, sind im<br />

menschgemachten Wald heute ebenso selten wie bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Auf einem Teil<br />

<strong>der</strong> deutschen Waldfläche sollte sich daher ein "<strong>Urwald</strong> von morgen", und gerne auch ein „<strong>Urwald</strong> <strong>vor</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>Toren</strong> <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>“ mit <strong>den</strong> natürlichen Entwicklungs- und Wandlungsprozessen europäischer<br />

Waldökosysteme entfalten können.

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