16.07.2014 Aufrufe

Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 26 von 54<br />

Beispiel: "Dann kroch Martin durch den Zaun", DESMAROWITZ 1979<br />

Der Bilderbuch-Martin - von KRENZER (1981) ironisch als Universal-Behinderter bezeichnet - soll offensichtlich<br />

emotional betroffen machen <strong>und</strong> an den Pflege- <strong>und</strong> Schutztrieb der Leser/innen appellieren.<br />

Da<strong>mit</strong> er so recht armselig wirkt, müssen alle nur erdenklichen <strong>Behinderung</strong>en auf ihn einwirken: Geistige <strong>Behinderung</strong>,<br />

Motorische <strong>Behinderung</strong>, Sprachbehinderung (Stottern), Sehbehinderung. Der "krumme dumme Martin" kann schlecht<br />

laufen, schlecht sprechen, er hält den Kopf schief, hinter dicken Brillengläsern wirken die Augen riesig. "Martin sieht<br />

wirklich anders aus: Sein M<strong>und</strong> steht meistens offen <strong>und</strong> auf der Unterlippe glänzt ein Speicheltropfen."<br />

Verstärkt wird die Personenbeschreibung durch die Beschreibung der Interaktionen von Martin <strong>mit</strong> seiner Umwelt: Von<br />

den anderen Kindern wird er gehänselt, von Erwachsenen als behindert abgestempelt. Martin scheint gesellschaftlich<br />

hochgradig isoliert.<br />

Doch auch ohne die schriftsprachlich codierten Informationen des Textes gelingt es der Autorin anhand nur einer einzigen<br />

Darstellung, ihren Protagonisten auf der visuellen Ebene für die Rezipient/innen so schutzbedürftig wie nur irgend möglich<br />

dar<strong>zu</strong>stellen, um an das Mitleid der Leser/innen <strong>zu</strong> appellieren.<br />

In dem beschriebenen Beispiel handelt es sich eindeutig nicht um die Zurücknahme einer gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />

durch "niedliche" Bilder. Dieses Buch ist ein Beispiel für eine Kompatibilität von Bild <strong>und</strong> Text: Beide Botschaftsebenen<br />

unterstützen sich gegenseitig. In guter Absicht hat hier eine Autorin versucht, Emotionalität (Mitleid) für behinderte<br />

Personen <strong>zu</strong> wecken. Für diesen Zweck bedient sie sich neben der angesprochenen Visualisierung mehrerer linearer<br />

Denkmuster, die ich etwas später unter dem Begriff "Strukturelle Strickmuster" aufzeigen werde. Zu vermuten wäre, dass<br />

die Einstellung der Autorin wesentlich auf Mitleid gegenüber behinderten <strong>Menschen</strong> basiert. Dabei kann sie als<br />

Repräsentantin des überwiegenden Teils unserer Gesellschaft gelten: Laut VON BRACKEN (1976) empfanden 98,6% aller<br />

Respondenten seiner Studie Mitleid gegenüber einem Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong>. Dass Mitleid gegenüber<br />

behinderten Personen eine Form eigenen, projizierten Leids darstellen kann <strong>und</strong> dabei stark isolierend wirkt, wurde im<br />

ersten Teil der Arbeit bereits deutlich gemacht.<br />

Zu vermuten ist weiterhin, dass <strong>Menschen</strong>, die eigene Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> oder <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong><br />

gemacht haben, ihre Erfahrungen auch in Bildern ausdrücken. Das veränderte Welt- <strong>und</strong> <strong>Menschen</strong>bild derjenigen<br />

Autor/innen drückt sich entsprechend in ihren Werken aus, die <strong>mit</strong>hin andere "Behindertenbilder" ver<strong>mit</strong>teln, als dies<br />

beispielsweise DESMAROWITZ tut.<br />

http://bidok.uibk.ac.at/texte/nickel-einstellungen.html 03.07.02

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!