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Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 4 von 54<br />

<strong>zu</strong>rückgetreten sind, die dessen gesellschaftliche Ver<strong>mit</strong>tlung betonen <strong>und</strong> hält auch zehn Jahre später fest: "Die<br />

Tatbestände Behindertsein <strong>und</strong> <strong>Behinderung</strong> sind sozial ver<strong>mit</strong>telt [...]. Darum sind alle Aussagen darüber, wer gestört,<br />

behindert, beeinträchtigt, geschädigt usw. ist, relativ, von gesellschaftlichen <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> diagnostischen<br />

Zuschreibungen abhängig" (BLEIDICK 1995, 4). Dennoch scheint er an einer medizinisch-defektologischen Definition von<br />

<strong>Behinderung</strong> fest<strong>zu</strong>halten. Trotz der o.g. Aussagen besteht der Ausgangs- <strong>und</strong> Kernpunkt einer <strong>Behinderung</strong> für<br />

BLEIDICK im erstgenannten Modell, das die Ursache <strong>und</strong> den Defekt in der betroffenen Person sucht. So formuliert er,<br />

dass <strong>Behinderung</strong> "als ein persönliches, weitgehend unabänderliches Schicksal hingenommen [wird]. Der Defekt ist kausalätiologisch<br />

in der Person lokalisiert" (1985, 254). "<strong>Behinderung</strong>", so BLEIDICK (1995, 3), "ist fast immer die Folge einer<br />

Schädigung, eines Mangels oder eines Defektes." BLEIDICKs Theorie reduziert meiner Ansicht nach das Phänomen<br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> einseitig auf die subjektorientierte Seite, während gesellschaftliche Zusammenhänge keine adäquate<br />

Beachtung finden. <strong>Behinderung</strong> wird dadurch <strong>zu</strong> einem statischen Zustand, der keine Veränderung <strong>zu</strong>lässt.<br />

Auch in der Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter <strong>und</strong> von <strong>Behinderung</strong> bedrohter Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendlicher" des Deutschen Bildungsrats nimmt <strong>Behinderung</strong> von der biologischen Schädigung aus ihren Ausgang <strong>und</strong><br />

führt von da aus <strong>zu</strong> Beeinträchtigungen des Sozialen:<br />

"Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen, die in ihrem<br />

Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit<br />

beeinträchtigt sind, daß ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. [...]<br />

<strong>Behinderung</strong>en können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens, der Sprache, der Stütz- <strong>und</strong><br />

Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der Emotionalität, des äußeren Erscheinungsbilds sowie von bestimmten<br />

chronischen Krankheiten. [...]"<br />

Wie JANTZEN (1992) formuliert, ist der Benennung der Ebenen (biologische, psychologische, soziale) durch die<br />

Definition der WHO durchaus <strong>zu</strong><strong>zu</strong>stimmen, wobei jedoch die Wechselwirkungen der einzelnen Ebenen, die <strong>Behinderung</strong><br />

als einen Prozess erscheinen lassen, <strong>zu</strong> berücksichtigen bleiben. Die "bio-psycho-soziale Einheit Mensch" wird nicht allein<br />

durch eine Schädigung in ihrem innersten Kern (der biologischen Ebene) behindert. Die lineare <strong>und</strong> kausalattribuierte<br />

Annahme, dass Schädigungen un<strong>mit</strong>telbar <strong>und</strong> zwangsläufig <strong>zu</strong> einer Beeinträchtigung der gesellschaftliche Teilhabe führe<br />

(ohne dabei die gesellschaftliche Verhältnisse <strong>zu</strong> reflektieren), trifft meines Erachtens nicht <strong>zu</strong>. Soziale bzw.<br />

gesellschaftliche Prozesse <strong>und</strong> Verhältnisse wirken auf die Entwicklung menschlicher Individuen <strong>zu</strong>rück. Der<br />

gesellschaftliche Kontext ist immer entscheidend, wie, also auf welche Weise <strong>und</strong> in welchem Ausmaß, <strong>Behinderung</strong> -<br />

unabhängig von der Art <strong>und</strong> Schwere einer ggf. existierenden Schädigung - im Bewusstsein der einzelnen<br />

Gesellschafts<strong>mit</strong>glieder existent wird! GOFFMAN (1975) versteht <strong>Behinderung</strong> als ein Stigma, d.h. ein Individuum ist in<br />

unerwünschter Weise anders, als es von den Gesellschafts<strong>mit</strong>gliedern antizipiert wurde. JANTZEN (1992) sieht den Kern<br />

einer gesellschaftlichen Definition von <strong>Behinderung</strong> in der Abweichung des Individuum von den geltenden<br />

Leistungsnormen, welche sich vorwiegend am Verwertungsmaßstab einer Leistungsgesellschaft unter kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnissen herleiten lassen. So betrachtet er <strong>Behinderung</strong> als eine Möglichkeit menschlichen Lebens, die es<br />

<strong>zu</strong> bekämpfen gilt: jedoch ausschließlich als Ausdruck historisch entstandener Lebensumstände, die es <strong>zu</strong> verändern gilt<br />

<strong>und</strong> nicht am einzelnen <strong>Menschen</strong> als Störpotential, das sich unserem Willen <strong>und</strong> unseren Normvorstellungen<br />

entgegenstellt.<br />

Da <strong>Behinderung</strong> nur aus gesellschaftlichen Verhältnissen heraus begreifbar ist, kann "Isolation" als zentralste Kategorie <strong>zu</strong>r<br />

begrifflichen Fassung des Wesens von <strong>Behinderung</strong> angesehen werden. Isolation ist dabei Ausdruck jener Bedingungen, die<br />

ein Individuum im adäquaten Austausch <strong>mit</strong> seiner Umwelt beeinträchtigen. Die Isolation vom außerindividuellen,<br />

kulturellen Erbe kann sowohl durch innere (z.B. veränderte Wahrnehmungsstrukturen) als auch durch äußere (z.B.<br />

Vorenthaltung von Erfahrung <strong>und</strong> Wissen) isolierende Bedingungen begründet sein.<br />

Insbesondere die Theorie der Selbstorganisation lebendiger Systeme sowie die Übertragung postrelativistischer<br />

Erkenntnisse auf die Humanwissenschaft, wie sie vor allem in den jüngeren Veröffentlichungen von FEUSER (1994, 1995)<br />

dargestellt werden, ermöglichen ein <strong>Menschen</strong>bild, in dem "<strong>Behinderung</strong>" als eine von vielen möglichen Formen<br />

menschlicher Entwicklung sowie eine für dieses Individuum höchst sinnvolle <strong>und</strong> " entwicklungslogische" Integration von<br />

div. Bedingungen menschlichen Lebens verstanden werden kann. "Wie werden nicht umhinkommen, ´<strong>Behinderung</strong>´,<br />

´Entwicklungsstörungen´ <strong>und</strong> ´psychische Krankheit´ als Konfliktlösungsstrategien <strong>zu</strong> begreifen" (FEUSER 1995, 123).<br />

"Erst wenn organische Beeinträchtigungen <strong>zu</strong> solchen sozialer Ächtung <strong>und</strong> Ausgren<strong>zu</strong>ng führen, findet <strong>Behinderung</strong> der<br />

Persönlichkeitsentwicklung eines <strong>Menschen</strong> statt, die <strong>zu</strong>r ´<strong>Behinderung</strong>´ des betroffenen <strong>Menschen</strong> gemacht<br />

wird." (FEUSER 1995, 51)<br />

"<strong>Behinderung</strong> verstehen wir als Ausdruck jener gesellschaftlichen, ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Prozesse, die auf einen<br />

<strong>Menschen</strong> hin <strong>zu</strong>r Wirkung kommen, der durch soziale <strong>und</strong>/oder biologisch-organische Beeinträchtigungen<br />

gesellschaftlichen Minimalvorstellungen <strong>und</strong> Erwartungen hinsichtlich seiner individuellen Entwicklung, Leistungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Verwertbarkeit in Produktions- <strong>und</strong> Konsumtionsprozessen nicht entspricht.<br />

Sie definiert folglich einen sozialen Prozeß <strong>und</strong> ist in diesem selbst wiederum eine wesentliche Variable. Davon<br />

unterscheiden wir humanbiologisch-organisch, neurophysiologisch <strong>und</strong> neuropsychologisch erklärbare Beeinträchtigungen<br />

eines <strong>Menschen</strong>, die als Bedingungen den Prozess der ´Be´-Hinderung seiner Persönlichkeitsentwicklung im o.a.<br />

gesellschaftlichen Kontext auslösen <strong>und</strong> modifizieren. Die Gr<strong>und</strong>strukturen menschlicher Aneignungs-, Entwicklungs- <strong>und</strong><br />

Lernprozesse bleiben davon unberührt.<br />

<strong>Behinderung</strong> ist letztlich das Produkt der sozialen Beantwortung einer Beeinträchtigung eines <strong>Menschen</strong>. D.h. wir<br />

unterscheiden Beeinträchtigungen in der Entwicklung eines <strong>Menschen</strong> von seiner <strong>Behinderung</strong> als soziale Kategorie. Ferner<br />

verstehen wir, was im sozialen Kontext eines <strong>Menschen</strong> als Folge von Beeinträchtigungen resultiert <strong>und</strong> sich sichtbar<br />

dokumentiert (physisch, psychisch, sozial), als ein logisches Produkt seiner Entwicklung unter den für ihn gegebenen<br />

Bedingungen , die wir <strong>mit</strong> dem Begriff der Isolation beschreiben" ( *Feuser 1989, 20).<br />

http://bidok.uibk.ac.at/texte/nickel-einstellungen.html 03.07.02

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