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Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 34 von 54<br />

Behindertenfeindlichkeit« an, das dramaturgisch gekonnt, eine <strong>zu</strong>nehmend schärfere Wür<strong>zu</strong>ng aufweist. (...) Die Bilder <strong>und</strong><br />

Lösungsvorschläge von Gudrun Pausewang, deren Bücher mehrfach ausgezeichnet wurden, fügen sich reibungslos in ein<br />

wachsendes gesellschaftliches Klima der Behindertenfeindlichkeit ein <strong>und</strong> wirken - wenn auch unbeabsichtigt - <strong>mit</strong> ihr<br />

<strong>zu</strong>sammen. Atomare Bedrohung <strong>und</strong> Behindertenfeindlichkeit sind zwei existentiell wichtige Themen unserer Zeit. Beide<br />

müssen dringend thematisiert werden. In diesen Büchern [ergänzend <strong>zu</strong> "Die letzten Kinder von Schewenborn" ist "Die<br />

Wolke" gemeint, ein Buch von PAUSEWANG <strong>mit</strong> der gleichen Thematik; SN] werden sie unselig <strong>mit</strong>einander verknüpft."<br />

Nach der Herauskristallisierung der "heimlichen Lernziele" bringen BOBAN / HINZ das ver<strong>mit</strong>telte Behindertenbild <strong>mit</strong><br />

einem Ausspruch von FRANZ CHRISTOPH auf den Punkt: "Es gibt Entsetzlicheres als den Atomtod. Nämlich mich."<br />

8.6 Darstellung von gesellschaftlichen Reaktionen auf behinderte Personen<br />

"Jeder sieht sich am deutlichsten in den Augen des anderen"<br />

(aus: "Die Reise <strong>zu</strong>m Meer", GüNTHER 1994, S. 59)<br />

"Der Mensch wird am Du <strong>zu</strong>m Ich." (MARTIN BUBER)<br />

"Er wird <strong>zu</strong> dem Ich, dessen Du wir ihm sind." (GEORG FEUSER)<br />

Die Hauptproblematik von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> innerhalb der Darstellungen in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur liegt<br />

eindeutig in der sozialen Isolation (ZIMMERMANN 1982). Die Ursachen dieser Isolation werden häufig reduziert auf<br />

ablehnende Nachbarskinder etc.; andere Gründe, wie z.B. getrennte Schulbesuche, die eine soziale Integration erschweren,<br />

finden selten Niederschlag in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Entsprechend werden Annahmen, Set<strong>zu</strong>ngen wie auch<br />

Vorurteile selten hinterfragt <strong>und</strong> deren mögliche Gründe wie politische <strong>und</strong> soziale Funktionen nicht aufgezeigt.<br />

Anhand der Interaktionen in einem literalen Werk kann bewertet werden, inwieweit es der Autorin / dem Autor gelungen<br />

ist, soziale Sachverhalte einer gesellschaftlich theoretischen Ebene <strong>zu</strong> konkretisieren <strong>und</strong> auf einer sozialen Mikroebene als<br />

Interaktion zwischen mindestens zwei <strong>Menschen</strong> ab<strong>zu</strong>bilden.<br />

Die typische Entwicklung einer kinder- <strong>und</strong> jugendliteralen Handlung beginnt <strong>mit</strong> der Darstellung der gesellschaftlichen<br />

Isolation <strong>und</strong> der Angst vor Mitleid. Durch die Ver<strong>mit</strong>tlung von Information <strong>und</strong> Wissen sowie möglichst da<strong>mit</strong><br />

einhergehende persönliche, emotionale Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> der behinderten Person, verändert sich die Einstellung ihr<br />

gegenüber deutlich. Zu beobachten ist außerdem ein wachsendes Selbstbewusstsein bei allen literalen Figuren - bei der<br />

behinderten Person wie auch bei den Personen, die sich in stärkerem Maße <strong>mit</strong> ihr umgeben.<br />

Das aufgezeigte Muster folgt eindeutig der Intention von Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur, die Modelle aufzeigen <strong>und</strong><br />

Problemlösungsmöglichkeiten anbieten will. Die Häufung von "Strickmustern" wie in DESMAROWITZ 1979 ("Dann<br />

kroch Martin durch den Zaun") sind die Ausnahme. ZIMMERMANN (1982, 124) kam schon vor zehn Jahren <strong>zu</strong><br />

folgender Auffassung: "Einer Mehrzahl von Erzählungen, in denen gegen übertriebene Hilfsbereitschaft, falsch verstandene<br />

Rücksichtnahme <strong>und</strong> Fürsorge, gegen Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Mitleid Stellung bezogen wird, steht eine kleinere Anzahl von<br />

Geschichten gegenüber, in denen eine ´Sonderbehandlung´ des fiktiven Behinderten befürwortet wird."<br />

Diese Auffassung besitzt meiner Ansicht nach mehr Gültigkeit denn je. Dies entspricht ebenso der Veränderung der<br />

gesellschaftlichen Einstellungsstruktur, da vor allem schulische Sonderbehandlung in immer stärkerem Maße <strong>zu</strong>gunsten der<br />

Integration <strong>und</strong> des Normalisierungsprinzips abgelehnt wird.<br />

Ein verschöntes Bild wird in den aktuellen Werken der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur in aller Regel ebensowenig gezeichnet<br />

wie stereotypes Darstellen <strong>mit</strong>tels bekannter "Strickmuster". Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher greifen die aus dem ersten Teil<br />

dieser Arbeit bekannten Kategorien auf <strong>und</strong> verarbeiten sie literarisch im o.g. Sinne, d.h. im Verlauf der Handlung ist immer<br />

eine Lösung der Probleme <strong>zu</strong> erkennen. Begonnen wird die Darstellung <strong>zu</strong>meist <strong>mit</strong> der Darstellung negativer Reaktionen.<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

»Kaum war die junge Frau ausgestiegen, begannen die Fahrgäste <strong>zu</strong> reden.<br />

"Armes Tschapperl, ich mag gar nicht hinschauen, wenn ich so was seh´".<br />

"Die hat es nötig, sich so auffallend her<strong>zu</strong>richten! Mit so einem Kind lackiert man sich doch nicht die Fingernägel blau."<br />

"Bin ich froh, daß meine Tochter nicht <strong>mit</strong>gefahren ist, eigentlich wollte sie, aber dann hat sie sich´s anders überlegt. Sie ist<br />

schwanger, <strong>und</strong> wer weiß, wenn sie so was sieht..."<br />

"Also ich würde nicht <strong>mit</strong> so einem Kind auf die Straße gehen, das kann man doch den Leuten nicht <strong>zu</strong>muten."<br />

Anne wollte sich die Ohren <strong>zu</strong>halten, aber sie saß steif da, <strong>und</strong> die Sätze prasselten weiter:<br />

"Was hat denn so ein Kind von seinem Leben?"<br />

"Unverantwortlich ist das, was die Ärzte heute tun, früher wär so ein armes Wurm einfach gestorben."<br />

"Aber eines muss man sagen, sie war nett <strong>zu</strong> dem Kind."<br />

Anne stand auf, (...).« (S. 35)<br />

Eine solche Kumulation von offenen, verbalisierten <strong>Einstellungen</strong> gegenüber einem Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong>, in<br />

der Abscheu / Ekel, Scham, Hintergründe von Isolation, Mitleid, projiziertes Leid <strong>und</strong> sogar Lebensrechte innerhalb nur<br />

http://bidok.uibk.ac.at/texte/nickel-einstellungen.html 03.07.02

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