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FACHTEIL<br />
Personalentwicklung<br />
Entspannt durch das Assessment Center<br />
Die berufliche Weiterentwicklung ihrer Mitarbeiter unterstützt die Rehau AG + Co erstmalig durch ein<br />
Assessment Center, das ausschließlich am Telefon durchgeführt wird. Damit gewinnt das Unternehmen<br />
Zeit, erhöht die Flexibilität und spart 30 Prozent Kosten. Ein Praxisbericht.<br />
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ehau ist führender System- und Serviceanbieter<br />
polymerbasierter Lösungen<br />
in den Bereichen Bau, Automotive<br />
und Industrie. An mehr als 170 Standorten<br />
rund um den Globus beschäftigt das<br />
Unternehmen mehr als 15 000 Mitarbeiter.<br />
Die global vernetzte Rehau Academy<br />
ist gruppenweiter Partner für die fortlaufende<br />
Qualifizierung und Entwicklung<br />
der Rehau-Mitarbeiter über alle Bereiche,<br />
Fachabteilungen und Hierarchien hinweg.<br />
Sie erarbeitet gemeinsam mit der Unternehmensleitung,<br />
den Fachbereichen und<br />
den Vorgesetzten ganzheitliche Konzepte<br />
und Maßnahmen zur systematischen<br />
Aus- und Weiterbildung, Qualifizierung<br />
und Personalentwicklung. Darüber hinaus<br />
begleitet die Rehau Academy aktiv deren<br />
Einführung und Umsetzung und entwickelt<br />
diese stetig weiter.<br />
Entwicklungspotenziale per Telefon<br />
eruieren<br />
Als die Rehau Academy aus der Einkaufsorganisation<br />
den Auftrag erhält, die Chef -<br />
einkäufer mit einem differenzierten<br />
Stärken-Schwächen-Profil bei deren beruflicher<br />
Weiterentwicklung zu unterstützen,<br />
entscheidet sie sich zur Durchführung<br />
eines rein telefonbasierten<br />
Assessment Centers. Als externen Partner<br />
engagiert man die BORA International<br />
GmbH – ein Beratungsunternehmen,<br />
das sich auf die Durchführung von Personalentwicklungsmaßnahmen<br />
am Telefon<br />
spezialisiert und unter der Bezeich-<br />
nung „Remote Diagnostics“ ein eignungsdiagnostisches,<br />
rein telefonisches Verfahren<br />
entwickelt und eingeführt hat.<br />
In dem Weiterentwicklungsprozess geht<br />
es Rehau vor allem darum, die Einkäufer<br />
zu Unternehmern im Unternehmen zu<br />
machen. Eigeninitiative, Innovationsverhalten<br />
und konzeptionelles Denken sind<br />
dabei genauso wichtig wie die Fähigkeit,<br />
eine eigene Einheit zu steuern und die<br />
Mitarbeiter zu führen. Das Assessment<br />
liefert wertvolle Informationen, die dazu<br />
genutzt werden, um die richtigen Entwicklungsmaßnahmen<br />
aufzuzeigen, auszuwählen<br />
und diese dann anschließend<br />
wirkungsvoll einzusetzen.<br />
BORA begleitet Rehau schon bei der Definition<br />
derjenigen Kompetenzen, die im<br />
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FACHTEIL<br />
Personalentwicklung<br />
Einkauf wichtig sind und im Assessment<br />
eingeschätzt werden sollen. Anschließend<br />
übernimmt der externe Partner die passgenaue<br />
Konzeption des Assessments und<br />
ist als externer Assessor verantwortlich<br />
für die Durchführung der Verfahren am<br />
Telefon.<br />
In einer Konferenzschaltung informieren<br />
die Geschäftsleitung und die Academy alle<br />
Teilnehmer gleichzeitig über das Ziel und<br />
die Besonderheiten des Verfahrens. Hier<br />
können bereits erste Fragen und Bedenken<br />
besprochen werden. Anschließend<br />
erläutert BORA jedem Teilnehmer in einem<br />
halbstündigen persönlichen Telefonat den<br />
genauen Ablauf und die Übungen des<br />
Remote Assessments. Durch maximale<br />
Transparenz über das Verfahren (zum Beispiel<br />
werden Fragen aus dem Interview<br />
exemplarisch besprochen) entsteht hier<br />
das Vertrauensverhältnis zwischen Assessor<br />
und Teilnehmer. Natürlich werden die<br />
Besonderheiten der Remote Diagnostics<br />
dargestellt und technische Details zum<br />
Headset und der Einwahl in den virtuellen<br />
Besprechungsraum erläutert.<br />
Assessment ohne Gegenüber<br />
Mario Kraft (Name geändert) ist schon einige<br />
Jahre bei Rehau tätig und hat im Unternehmen<br />
viel erreicht. Mittlerweile hat Kraft<br />
die Teamleitung übernommen. Zusammen<br />
mit seinem Team ist er für den Einkauf von<br />
Fertigungsmaterial für die Werke verantwortlich.<br />
Die damit erzeugten Produkte findet<br />
man nahezu in jedem deutschen Automobil.<br />
Die Rehau Academy ermöglicht Kraft<br />
mit dem Assessment, mehr über seine eigenen<br />
Stärken und Schwächen zu erfahren.<br />
„Am Anfang konnte ich mir wirklich nicht<br />
vorstellen, wie das funktionieren soll. Jetzt<br />
haben Sie mich überzeugt. Ich konnte mich<br />
viel besser auf meine Aussagen konzentrieren,<br />
weil ich einfach nicht auf meine<br />
Körpersprache achten musste. Während<br />
des Interviews bin ich sogar in meinem<br />
Büro umher gelaufen.“ Mario Kraft hat<br />
gerade vier Stunden am Telefon verbracht<br />
und dabei ein komplettes Assessment Center<br />
mit Fallstudie, Interview und Rollensimulationen<br />
absolviert.<br />
Die Aufgabe zur Fallstudie erhält Mario<br />
Kraft bereits mit der Einladung. Um Stress<br />
durch Zeitdruck auszuschließen, hat er<br />
mehrere Tage Zeit, eine schriftliche Ausarbeitung<br />
zu einer komplexen Fragestellung<br />
anzufertigen. In der ersten Assessment-Übung<br />
erläutert und verteidigt er<br />
dann seine Analysen, Thesen und Konzepte.<br />
Auf diese Weise werden die intellektuellen<br />
Kompetenzen eingeschätzt.<br />
An die analytische Übung schließt sich ein<br />
halbstrukturiertes Interview an: „Zeigen<br />
Sie uns an einem konkreten Beispiel, wie<br />
Sie Ihre Mitarbeiter motivieren und auf<br />
zukünftige Aufgaben vorbereiten. Was war<br />
Nachgefragt<br />
Interview<br />
„Viel sanfter als ein klassisches Assessment<br />
Andreas Amstutz ist Personalleiter Schweiz<br />
der Rehau GmbH, in die auch die globale<br />
Einkaufszentrale der Rehau Gruppe, mit Sitz<br />
in Muri bei Bern (Schweiz), eingebettet ist.<br />
Er verantwortet den Einsatz des Remote<br />
Diagnostics-Verfahrens. Wir haben ihm dazu<br />
einige Fragen gestellt.<br />
Torsten Hahn: Was dachten Sie als erstes, als Sie von der Idee hörten, ein<br />
AC ausschließlich am Telefon durchzuführen?<br />
Andreas Amstutz: Da wir bereits Verkaufsschulungen im Vertrieb und Coachings<br />
über Telefon durchgeführt hatten, kannte ich die Idee bereits aus einem<br />
anderen Zusammenhang. Das Telefoncoaching hat bis heute gute Ergebnisse<br />
gebracht und die Beteiligten waren davon begeistert. Also war ich auch dem<br />
Telefon-Assessment gegenüber aufgeschlossen.<br />
Wie haben Sie den beteiligten Kandidaten das Verfahren vorgestellt und<br />
etwaige Bedenken genommen?<br />
Wir haben die Teilnehmenden gut und sanft vorbereitet und das Verfahren<br />
transparent gemacht. Niemand wurde einfach so ins kalte Wasser geworfen.<br />
Bei den Reaktionen gab es zwei Lager: Kollegen, die eine hohe physische Präsenz<br />
haben und viel Wirkung über ihre Körpersprache erzielen, witterten Nachteile<br />
durch das Verfahren. Auf der anderen Seite waren die etwas introvertierteren<br />
Mitarbeiter froh, dass unser Verfahren sich eher auf das „Was“ – also<br />
den Inhalt der Aussagen – und weniger auf das „Wie“ konzentriert.<br />
Wie waren die Reaktionen der Beteiligten nach der Durchführung?<br />
Insbesondere die Transparenz über das Verfahren, die gute Vorbereitung<br />
durch die internen und externen Verantwortlichen sowie die professionelle<br />
Durchführung haben alle überzeugt. Der Prozess war einfach viel sanfter als<br />
ein klassisches Assessment, zu dem die Teilnehmer morgens kommen und<br />
nicht wissen, was auf sie zukommt. Auch die Pausen – also die klare Trennung<br />
zwischen den Übungen – und das offene Feedback wurden sehr<br />
gelobt.<br />
Was hat vielleicht nicht so funktioniert, wie Sie es sich gewünscht<br />
hätten?<br />
Es gab keine fundamentale Kritik. Die Geschäftsleitung und ich bestanden<br />
auch darauf, die Resultate nicht im Detail zu erhalten. Das haben wir der<br />
Rehau Academy überlassen. Uns war wichtig, neutrale Beobachter von außen<br />
einzusetzen, damit erst gar kein Misstrauen aufkommen kann. Auch die abgeleiteten<br />
Folgeveranstaltungen sind sehr gut angekommen und werden als<br />
passend und nützlich erlebt.<br />
Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem Verfahren gezogen?<br />
Meine Erkenntnis war, dass die Applikation über Telefon auch tatsächlich bei<br />
Assessments funktioniert. Die Vorteile der einfacheren Organisation überwiegen,<br />
solange es ein Einzelverfahren ist. Natürlich kommt es auch sehr stark<br />
auf die untersuchte Position an. In bestimmten Positionen muss man die<br />
Bewerber einfach auch physisch vor sich sehen, zum Beispiel bei einem<br />
Pressesprecher als öffentliches Gesicht einer Organisation.<br />
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Ihre beste Idee, die im Unternehmen zur<br />
Verbesserung von Arbeitsabläufen geführt<br />
hat? Wie gelingt es Ihnen, andere für Ihre<br />
Ideen zu gewinnen?“ Durch diese Fragen<br />
erhalten die Assessoren eine Einschätzung<br />
über Kompetenzen in den Bereichen Führung,<br />
Mitarbeiterentwicklung, Innovationsverhalten,<br />
et cetera.<br />
In der abschließenden Simulation zeigt<br />
Mario Kraft, wie er in kritischen Situationen<br />
Gespräche steuert, die Perspektive seines<br />
Gegenübers übernehmen kann und<br />
dabei seine Ziele verfolgt.<br />
Die Bestandteile von Remote Diagnostics<br />
sind also identisch mit einem herkömmlichen<br />
Assessment. Besonders ist jedoch,<br />
dass sich die Beteiligten zu keinem Zeitpunkt<br />
sehen, sondern ausschließlich hören.<br />
Mario Kraft wird von zwei Assessoren<br />
„beobachtet“: Der externe Berater von<br />
BORA leitet das Assessment, führt in die<br />
Übungen ein, gestaltet das Interview und<br />
simuliert den Gesprächspartner im Rollenspiel.<br />
Außerdem moderiert er die Beobachterkonferenzen<br />
und sichert die Ergebnisse.<br />
Die Assessoren der Rehau Academy<br />
bringen die interne Perspektive in die Beobachtung<br />
und Bewertung des Kandidaten<br />
ein.<br />
Keine Beeinflussung durch<br />
Sympathie- und Ähnlichkeitseffekte<br />
Remote Diagnostics macht es besonders<br />
leicht, Linienvertreter als weitere Beobachter<br />
dem Verfahren zuzuschalten. Es braucht<br />
nur einen Anruf. Alle Beteiligten sitzen in<br />
ihren eigenen Büros am Telefon und wählen<br />
sich über eine inländische Festnetznummer<br />
in den virtuellen Besprechungsraum<br />
ein. Zwischen den einzelnen<br />
Übungen des Assessments hat Mario Kraft<br />
kurze Pausen. In diesen Pausen steigt er<br />
aus der Konferenz aus und die Beobachter<br />
bewerten die vorangegangene Leistung.<br />
Erst zur nächsten Übung wählt sich der<br />
Kandidat wieder ein.<br />
Remote Assessments sind leicht umsetzbar.<br />
Eine besondere Technik wird nicht benötigt.<br />
Wichtig sind eine gute Telefonverbindung,<br />
eine geräuscharme Umgebung, in<br />
der die Teilnehmer für die Zeit des Verfahrens<br />
nicht gestört werden, sowie ein Headset<br />
oder eine gute Freisprecheinrichtung.<br />
Schon kann es losgehen, egal wo auf der<br />
Welt die Teilnehmer gerade sind.<br />
Für Mario Kraft ist die telefonische Version<br />
des Assessments sogar entspannter als<br />
ein Präsenzverfahren. „Ich fühlte mich<br />
nicht so überwacht und konnte dadurch<br />
viel freier denken und sprechen. Ich erinnere<br />
mich an ein Assessment, in dem ich<br />
einem Gremium von vier Beobachtern<br />
gegenüber saß. Das war sehr einschüchternd<br />
für mich. Heute habe ich von den<br />
Beobachtern am Telefon nahezu nichts mitbekommen“,<br />
sagt er im Rückblick.<br />
Gerade in der aktuellen Diskussion um allgemeine<br />
Gleichbehandlung bietet Remote<br />
Diagnostics neue Möglichkeiten. Am Telefon<br />
spielen Aussehen, Alter und Kleidung<br />
keine Rolle. Die Beobachter werden weniger<br />
von Sympathie- und Ähnlichkeitseffekten<br />
beeinflusst, was die Objektivität der<br />
diagnostischen Aussage erhöht und die<br />
Fairness positiv beeinflusst.<br />
Auch muss sich der Kandidat nicht auf Gestik<br />
und Mimik konzentrieren, sondern<br />
kann alle Kraft in den Inhalt seiner Aussagen<br />
legen. Damit kommt er an das<br />
Maximum seiner Leistungsfähigkeit heran.<br />
Gerade im Bereich der intellektuellen Kom -<br />
petenz wird durch die Konzentration auf<br />
das Hören besonders deutlich, wie substanziell<br />
und überzeugend dieser Inhalt<br />
ist. Dies hat einen positiven Einfluss auf die<br />
Validität des Verfahrens.<br />
Voraussetzung: Kommunikation als<br />
Schlüsselqualifikation<br />
Assessments über das Telefon sind für alle<br />
Tätigkeiten denkbar, in denen die Kommunikation<br />
eine Schlüsselqualifikation darstellt.<br />
Der Teilnehmer muss in der Lage<br />
sein, seine Gedanken und Überlegungen<br />
über die Sprache zu transportieren. Diese<br />
Anforderung trifft auf nahezu alle Dienstleistungsberufe<br />
mit Kundenkontakt und<br />
alle Führungsfunktionen zu. Natürlich können<br />
Kompetenzen, die sich direkt auf nur<br />
visuell beobachtbares Verhalten beziehen<br />
(wie zum Beispiel Präsentations-Methoden),<br />
nicht mit Remote Diagnostics untersucht<br />
werden. Auch klassische handwerkliche<br />
Kompetenzen sind in dieser Form der<br />
Personaldiagnostik nicht darstellbar.<br />
Mario Kraft bekommt direkt nach der letzten<br />
Beobachterkonferenz ein erstes Feedback<br />
über seine gezeigten Stärken und Entwicklungsfelder.<br />
In den nächsten Tagen<br />
verfasst BORA einen ausführlichen Report,<br />
der die Ergebnisse zusammenfasst und<br />
Entwicklungsempfehlungen ausspricht.<br />
Noch einmal kommen die am Assessment<br />
beteiligten Personen im virtuellen Besprechungsraum<br />
zusammen, um abschließend<br />
dem Kandidaten den Bericht ausführlich zu<br />
erläutern. Danach übernimmt die Rehau<br />
Academy wieder exklusiv die weitere<br />
Begleitung von Mario Kraft und nutzt dazu<br />
die im Unternehmen etablierten Personalentwicklungsinstrumente.<br />
Sicherlich ist Remote Diagnostics ein Verfahren,<br />
das für Kandidaten und Beobachter<br />
bei der ersten Anwendung erklärungsbedürftig<br />
ist. Obwohl keine besondere<br />
Hardware zur Durchführung benötigt wird,<br />
ist doch die Kompetenz des Assessors, über<br />
die akustische Ebene die Verbindung zum<br />
Kandidaten zu halten, ein entscheidender<br />
Erfolgsfaktor. Der Charme des Verfahrens<br />
liegt ganz klar in seiner hohen Flexibilität,<br />
den kurzen Vorlaufzeiten und der deutlichen<br />
Kostenersparnis im Vergleich zu<br />
herkömmlichen Assessments. Falls sich<br />
der Trend, Personalauswahl und -diagnostik<br />
möglichst unabhängig von Alter, Aussehen<br />
und Geschlecht zu gestalten, weiter<br />
verstärkt, kann Remote Diagnostics hinsichtlich<br />
Chancengleichheit ganz neue Perspektiven<br />
eröffnen.<br />
Autorin<br />
Heike Woltmann,<br />
Leiterin REHAU Academy,<br />
REHAU AG + Co, Rehau,<br />
heike.woltmann@rehau.com<br />
Autor<br />
Torsten Hahn,<br />
Berater, BORA International<br />
GmbH, Scherzlingen (CH),<br />
torsten.hahn@<br />
bora-consulting.com<br />
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