Borlinghaus-Pommesrotweiss-Yumpu
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Die Autoren
Ralf Borlinghaus
Studium der Gemanistik, Geschichte,
Philosophie (Promotion) in Heidelberg
und Betriebswirtschaft in St. Gallen
Verschiedene Management-Positionen in
Deutschland, Belgien und der Schweiz
sowie Gründung und Betrieb eines Beratungsunternehmens
Coach, Wortkünstler und Schriftsteller
www.ralfborlinghaus.de
Thomas Schulz
Studium der Rechtswissenschaften in
Marburg, Canterbury (GB) und Trier
sowie Rechtsreferendariat in Düsseldorf.
Verschiedene Leitungsfunktionen im
Personalmanagement, insbesondere in
der Lebensmittelindustrie
Unternehmer, Rechtsanwalt, Trainer,
Systemiker, Blogger, Speaker
www.schulz-thomas.eu
2
Pommes Rot-Weiss
Leckere Gedanken für
zwischendurch
von
Ralf Borlinghaus
Thomas Schulz
Mit uns und 53 philosophischen Kurzdialogen
über Gott und die Welt reichlich
bebildert durch das Jahr
3
ISBN 978-0-244-82968-1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Verfasser unzulässig. Das
gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright BORA TEXT, Ralf Borlinghaus, DE Gorxheimertal 2019
(www.ralfborlinghaus.de) und Thomas Schulz, Warburg (www.schulz-thomas.eu)
4
Vorwort
Kennen Sie die Wurstbraterei unter der Rheinbrücke – jene legendäre
Pommesbude, an der Max Ballauf und Freddy Schenk ihren harten Alltag
als Kölner Tatortkommissare ausklingen lassen? Dieses sonntägliche Stillleben
hat uns, die Autoren, inspiriert, ein Jahr lang jede Woche einer von
gedankenlosen Alltagsroutinen entnervten Laufkundschaft für den kleinen
intellektuellen Hunger zwischendurch ein paar kluge Gedanken zu servieren.
Heiß, fettig, manchmal schwer verdaulich, aber immer lecker mit direktem
Zugang zur Seele – das war unser Anspruch als philosophische Blogger.
Bei 53 Menüs aus philosophischen Kurzdialogen über Gott und die Welt
können Sie ein Jahr lang jede Woche bei uns vorbeischauen ohne intellektuelles
Übergewicht befürchten zu müssen. Da ist für jeden Geschmack
etwas dabei. Mit der Dialogform kehren wir übrigens an die Anfänge der
Philosophie zurück. Gedacht wurde in der Antike zuallererst im Gespräch
nach dem Motto: Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was
ich gesagt habe? Bei uns ist allerdings der gediegene Sokratische Slow Food
Dialog dem Zeitgeist entsprechend zum geistreichen Fast Food mit je maximal
350 Worten pro Menü mutiert.
Der Name unserer Bloggerbude – Pommes Rot-Weiss – ist Programm. Unsere
Texte wollen dialogisch pointiert und gewürzt sein und in zugiger Umgebung
verspeist werden. Wir nötigen unsere Kundschaft heraus aus der
luftdichten Echokammer an die frische Luft, wo die Gedanken frei sind.
Statt schabloniertes Schwarz-Weiss-Denken begeben sich ROT und
WEISS selbstkritisch ins Einerseits und Andererseits und laden Jedermann
und Jedefrau ein, den eigenen Senf dazu zu geben.
Wie in der Gastronomie üblich gilt auch bei uns: Das Auge isst mit. Jeder
Dialog ist mit einer mitunter rätselhaften Prise Wortkunst gewürzt, Dabei
handelt es sich um Wort-Grafiken aus der Feder von Ralf Borlinghaus, bei
der aus seiner Handschrift heraus ein Bild entsteht, durch das das so Ge-
5
schriebene seine besondere Bedeutung erhält. Übrigens sind die Bildunterschriften
rückwärts geschrieben, um einer eigenständigen Auflösung der
grafischen Rätsel durch den Betrachter nicht zuvorzukommen. Der weitergehend
Kunstinteressierte wird fündig unter www.wortkunst-grafik.de.
Warum erscheint unser Internet Blog www.pommesrotweiss.info jetzt im altmodisch
unzeitgemäßen Format eines Buches? – Mit dem vorliegenden
Bändchen erhalten Sie Ihre persönliche Sicherungskopie, auf die Sie auch
dann noch verlässlich zugreifen können, wenn überall der Strom ausfällt.
Das Internet vergisst zwar angeblich nichts, doch die Geschichte zeigt, dass
Papier immer noch der sicherste und dabei handlichste Datenträger ist. So
ist dieses Stück Hardware in Form und Inhalt Resultat unseres ehernen
Grundsatzes: Hoffe stets das Beste und rechne mit dem Schlimmsten.
Bevor wir Sie nun endlich einladen Platz zu nehmen, es sich gemütlich zu
machen und ordentlich zuzugreifen, wollen wir Köche uns herzlich bei unserem
Freund Georg Riepe bedanken, ohne dessen technische und intellektuelle
Emsigkeit unsere philosophische Blogger-Bude und dieses Büchlein
nicht das geworden wären, was sie heute ist: freigeistige Raststätten in einer
rastlosen Zeit.
Lassen Sie es sich schmecken!
Ralf Borlinghaus und Thomas Schulz im Oktober 2019
6
Speisekarte
1. Sind gute Vorsätze strafbar? ...........................................10
2. Disziplin?!......................................................................12
3. Ist Demut dämlich? .......................................................14
4. Antoinette, mehr Nettiquette! s’il te plaît .......................16
5. Let’s Twain again – von Sucht und Sehnsucht ...............18
6. Neu aus der Mottenkiste: Respekt!............................... 20
7. Wollt ihr den totalen Irrsinn?......................................... 22
8. Fasten – Materialismus in seiner schönsten Form......... 24
9. Freiheit – ein chinesischer Alptraum............................. 26
10. Verlässlichkeit – Von allen guten Geistern verlassen?.... 28
11. Über Rassismus und kulturelle Betriebssysteme ........... 30
12. Schuld – Demonstrieren auf Pump................................ 32
13. Die letzte Meile meistern .............................................. 34
14. Mehr Realismus! – Oder: Am deutschen Wesen wird
die Welt verwesen ......................................................... 36
15. Leidenschaft – Oder: ohne Fleiß kein Preis................... 38
16. Was macht Macht mit Menschen? ................................ 40
17. Kann denn Reisen Sünde sein?...................................... 42
18. Ist Menschenwürde Geschmackssache?........................ 44
19. Ist Mut eine Frechheit? ................................................. 46
20. Auf jedem Schiff das dampft und segelt…..................... 48
21. Loyalität ist nichts für Anfänger .................................... 50
22. Alle Zeit muss durch den Augenblick gehen ................. 52
23. Das kannst du dir schenken.......................................... 54
24. Den Bock zum Gärtner machen.................................... 56
25. Ich denke nichts, bin ich dann trotzdem?...................... 58
26. Jeder Mensch ist ein Künstler........................................ 60
27. Panem et Circenses ....................................................... 62
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28. Wenn einem der Zufall auf die Füsse fällt......................64
29. Diskretion in der Aufmerksamkeitsökonomie................66
30. Sphärenmusik? – Bei dir piepst’s wohl!..........................68
31. Ein Freund, ein guter Freund…....................................70
32. Keine Angst! – Das bringt dich nicht um.......................72
33. Trauer: Don’t worry – be happy!....................................74
34. Ich weiß, dass ich nicht weise .......................................76
35. Kairos oder die göttliche Versuchung............................78
36. Mammon unser, der du regierst auf Erden….................80
37. Meinungsfreiheit ist Mist!.............................................82
38. 'tschuldigung ................................................................84
39. Heimat haben ist gut… .................................................86
40. Was, wenn Demokraten zu Demokretins mutieren? ......88
41. Versuch’s mal mit Gemütlichkeit ..................................90
42. Da guckst du – Mann, bin ich stolz...............................92
43. Geht doch: mal richtig durchatmen ...............................94
44. Beitrag zur Senkung der Arbeitsmoral...........................96
45. Lügen haben gelbe Haare .............................................98
46. Primawandel durch Faulheit ........................................100
47. Zum Erfolg verdammt..................................................102
48. Feiertagslaune: Der Welt einfach mal den Stecker
ziehen ..........................................................................104
49. Comes Rain – Comes Shine..........................................106
50. Barmherzigkeit – steuerlich abzugsfähig......................108
51. Kunst ist Opium fürs Volk............................................110
52. Ist Liebe ein Lebensmittel? ..........................................112
53. Immer, wenn’s am Schönsten ist – Das letzte Mahl!.....114
8
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1. Sind gute Vorsätze strafbar?
ROT: Alle um mich herum gehen mit ihren Vorsätzen zum neuen Jahr
hausieren. Das ist doch wie damals in der Schule: Man fing ein neues
Schreibheft an und schaffte es genau über zwei Seiten in aller schönster
Schönschrift zu kalligraphieren, bevor man wieder in die gewohnte Sauklaue
verfiel. Das mache ich nicht mehr. Heute stehe ich zu meiner Unvollkommenheit.
WEISS: Da passt es gut, dass ihr Juristen Vorsatz als Wissen und Wollen
der Verwirklichung eines subjektiven Straftatbestandes definiert.
ROT: Wo ist denn hier der Bezug zu uns?
WEISS: Im Grunde genommen ist doch ein Vorsatz, und sei er noch so
gut, nichts anderes als eine vorsätzlich gegen sich selbst gerichtete Gewalttat...
ROT: ...eine Selbstvergewaltigung gewissermaßen, weil man der eigenen
Natur zuwider handelt! Das schmerzt, führt zu Frust und macht unglücklich.
Darum sollte man das mit den Vorsätzen vielleicht einfach sein lassen.
Verstehe!
WEISS: Wie wird dann aber ein neues Jahr zu einem glücklichen, wenn
nicht durch gute Vorsätze?
ROT: Wohl nicht dadurch, dass man den alten Schlendrian einfach weiter
treibt.
WEISS: Vielleicht sollte man sich zum Jahresende mit seinem alter Ego
zusammensetzen, einander tief in die Augen schauen und sich gegenseitig
fragen: Was brauchst du, um glücklich zu sein, und was bist du bereit dafür
zu tun?
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ROT: Und wenn ich gerne eine sportliche Figur hätte, mein alter Ego aber
vom Bier nicht lassen will? Nicht umsonst nennen wir unser inneres Ich
oft rundheraus einen Schweinehund.
WEISS: Wie wäre es mit einem Kompromiss, von dem ihr beide etwas
habt: Für dich mehr Sport und zur Belohnung dem Hund seinen Knochen
bzw. ein Bier. Und Silvester würde dann zum Datum, an dem wir
auf die Freundschaft mit uns selbst anstoßen, die Erfolge und Versäumnisse
des vergangenen Jahres feiern und betrauern – und die Grundlage
legen für ein gesundes, glückliches und erfolgreiches neues Jahr! Meinst
du, dein alter Ego würde sich darauf einlassen?
ROT: Einen Versuch wäre es wert.
TLA UEN
Das Neue wirft seinen Schatten schon voraus
11
2. Disziplin?!
ROT: Disziplin ist eine Sekundärtugend, mit der man nach Oskar Lafontaine
auch prima ein Konzentrationslager führen kann. Das will ich nicht!
Ich finde, ein gewisser Mangel an Disziplin macht uns eher locker und
liebenswert, irgendwie mediterraner – persönlich und gesellschaftlich. Ich
plädiere für mehr Disziplinlosigkeit in diesem Land
WEISS: Wenn ich diszipliniert bin, gehorche ich mir selbst, folge also meiner
inneren Stimme; auch und gerade dann, wenn ich unbeobachtet bin!
Dazu muss ich dieser meiner Stimme Raum geben und in mich hineinhorchen.
Je lauter und klarer ich sie höre, desto leichter kann ich ihr folgen.
Disziplin hilft mir bei der Umsetzung dessen, was ich will. – Mehr
Disziplin wäre toll.
12
NILPIZSID
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3. Ist Demut dämlich?
ROT: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke
hin. – Ist das nicht dämlich? Ist Demut nicht moralisch verbrämtes Appeasement,
mit dem man die eigene Kreuzigung riskiert? Und im besten
Fall vielleicht mit Auferstehung belohnt wird?
WEISS: Es kommt darauf an, wem die Backen gehören. Es ist wie mit dem
Verzicht. Verzichten kann nur der, der hat. Wer nicht hat, kann nur entbehren
oder sich bescheiden. Nur der Große kann sich klein machen.
ROT: Dann ist Demut nur eine weitere Waffe in der Hand der Mächtigen
und Reichen, mit der sie ihre Größe im sich Verkleinern noch einmal vergrößern?
WEISS: Wenn Franziskus den Flüchtlingen auf Lampedusa die Füße
wäscht, dann ist das Demut vom Feinsten. Das muss man als Flüchtling
erst mal aushalten können.
ROT: Demütigt Demut?
WEISS: Für den, der sie erlebt, fühlt sie sich zunächst einmal unerwartet
und komisch an. Aber dort, wo sie ehrlich ist, wird sie zum großen Geschenk,
das den Beschenkten tief berührt.
ROT: Woran erkenne ich ehrliche Demut?
WEISS: Echte Demut macht andere groß. Nicht klein.
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ICIV◦IDIV◦INEV
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4. Antoinette, mehr Nettiquette! s’il te plaît
ROT: Verrohung, wohin das Auge blickt! Rücksichtnahme? – Analog wie
digital Fehlanzeige! Sind wir in punkto Höflichkeit nicht längst auf den
Hund gekommen?
WEISS: Nach Abschaffung von Hof und Adel im Jahr 1789 war das längst
überfällig. Höfisches Getue bei gleichzeitig hinterfotzigem Intrigieren
braucht kein Mensch.
ROT: Also bei uns herrscht heute bodenständige Biederkeit?
WEISS: Schön wärs! Unsere Eliten ergötzen sich an ausziselierter political
correctness, auf deren blankpoliertem Parkett sie sich eleganter und weltfremder
bewegen, als weiland die Höflinge Ludwigs des XVI. im Spiegelsaal
von Versailles.
ROT: Tu as raison! So wie Marie-Antoinette seinerzeit dem Volk zurief,
doch Kuchen zu essen, als es kein Brot hatte, bekommen heute die Leute
Gesetze und Urteile zu verdauen, die sie immer weniger verstehen und
die mit ihrer Lebenswirklichkeit kaum noch etwas zu tun haben. Robespierre
lässt grüßen! – Mit der Höflichkeit ist es also aus und vorbei?
WEISS: Vielleicht wird so ein Schuh daraus: Höflichkeit ist die Art und
Weise, wie sich Respekt gegenüber anderen Menschen im Sprechen und
Handeln positiv ausdrückt. Anders als bei Hofe geht es hier nicht um ein
genormtes sondern um ein situativ angemessenes Verhalten.
ROT: Du meinst also Höflichkeit ist heute so etwas wie soziale Geländegängigkeit,
die sich gerade dann bewährt, wenn es holprig wird? D` accord!
Mehr davon!
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ADIGEP
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5. Let’s Twain again – von Sucht und
Sehnsucht
ROT: Ich bin genervt! Ich habe mal wieder den Twain gemacht: zum hundertsten
Mal mit dem Rauchen aufgehört (ein Kinderspiel!) und wieder
angefangen (ein Drama!). Zum Teufel mit der Sucht!
WEISS: Da bist du doch in guter Gesellschaft. Schon Goethe lässt seinen
Mephisto (als Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute
schafft) auf den armen Faust los, der sich in seiner Studierstube vor Sehnsucht
nach dem echten Leben verzehrt. Bei seiner Suche danach verführt
ihn Mephistopheles als sein Alter Ego ständig auf neue Um- und Abwege.
ROT: Du meinst, jeder Sucht liegt eine unerfüllte Sehnsucht zugrunde?
Und bei der Suche danach gerät man in eine Sucht wie in eine Sackgasse?
Was könnte der Treiber meiner ewigen Raucherei sein?
WEISS: Das Verlangen nach Entspannung, Harmonie, Leichtigkeit? Sag du
es mir! Der Preis Deines vordergründigen nikotinoiden Nirvanas ist vermutlich
ein schaler Nachgeschmack und eine um zehn Jahre verkürzte
Lebenserwartung.
ROT: Dann weißt du Bildungsbürger sicher auch, wie sich aus der Sucht
heraus mit Goethe das eigentlich Gesuchte finden lässt?
WEISS: Schon möglich. Erstens brauchst Du ein faustisches Verlangen
nach dem Ersehnten (...zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!)
Zudem einen wertschätzend-gnädiger Umgang mit Dir selbst im Fall des
Falles (Es irrt der Mensch solang er lebt.) Und nicht zuletzt eine unerschütterliche
Aufstehermentalität (Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.)
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ROT: Mehr nicht? – Na denn, let's Twain again. Vielleicht wachse ich ja
mit meinem Mephisto über mich hinaus.
THCUS
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6. Neu aus der Mottenkiste: Respekt!
ROT: Ich sag ja, schmeiß keine Klamotten weg, es kommt alles wieder.
1968 kam der talarummantelte Respekt in die Mottenkiste, unter dem es
mächtig gemüffelt hatte. Respektspersonen waren seitdem erledigt. –
Fünfzig Jahre später ist Respekt auf einmal wieder schick! – Was ist da
los?
WEISS: Na ja, die Zeit ist eine geschickte Änderungsschneiderin. Respekt
wurde kurzerhand in Gleichgültigkeit umgenäht.
ROT: Wie jetzt? Sind denn Gleichgültigkeit und Respekt keine Gegensätze?
WEISS: Gleichgültigkeit hat zwei Bedeutungen, eine schwache und eine
starke. In seiner schwachen Bedeutung ist mir alles andere egal, solange
es mir nicht in die Quere kommt. Frei nach dem Motto: Leben und leben
lassen. Funktioniert prima, wenn viele Leute auf engem Raum friedlich
zusammen leben sollen. Der Nachteil: Es kann schon mal sein, dass der
Nachbar unbemerkt verwesend in seiner Wohnung liegt.
ROT: Und die starke Bedeutung...
WEISS: ...ist die, wenn etwas in Bezug auf ein anderes gleich gültig ist. Als
jemand, der mit Religion nichts am Hut hat, kann mir der Muslim egal
sein. Aber als überzeugter Christ kann ich in ihm einen Glaubensbruder
anerkennen, der sich auf einem anderen Weg auf Gott zu bewegt. In diesem
Fall wäre für mich der Islam gleich gültig und die dazu passende
Empfindung wäre Respekt.
ROT: Das heißt, der früher empfundene Respekt als ein Gefühl der Unterlegenheit
gegenüber etwas Mächtigerem ist heute Anerkennung, die dem
Anderen auf Augenhöhe begegnet und in ihm interessiert das Eigenständige
und Berechtigte wertschätzt? Cool, so sieht Respekt richtig gut aus!
20
THCAMNHO - THCAM
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7. Wollt ihr den totalen Irrsinn?
ROT: Alle Jahre wieder, Deutscher Humor auf Knopfdruck: Seit dem
11.11. um 11:11 Uhr wird zurückgelacht. Nun wird Büttenrede mit Büttenrede
vergolten. Zunächst in kleinen Scharmützeln. Mit Weiberfastnacht
beginnt dann der totale Karneval und die Jecken liefern sich einen
alkoholisierten Straßenkampf bis auf den dämlichsten Scherz. Erst am
Aschermittwoch übernehmen traditionell die Trümmerfrauen von der
Stadtreinigung den Wiederaufbau...
WEISS: Deine faschistoide Verwechslung von Sportpalast mit Gürzenich
ist ziemlich daneben. Die Faschingszeit hat gemäß Wikipedia als mehrtägige
Außeralltäglichkeit und antirationale Gegenwelt von Tanz, Maske, Rollenspiele
und Mummenschanz ihre Vorlage bereits in den antiken Bacchanalien.
ROT: Und dadurch wird die allgemeine orgiastische Enthemmung geadelt?
WEISS: Für ein paar Tage in Kostüm und Rolle zu schlüpfen von Jemandem,
der du in deinen Träumen immer schon sein wolltest, ist heilsam.
Einmal Pirat, Elvis oder James Bond sein! Das kann dich mit einer Biographie
versöhnen, die dich vielleicht in eine ungewollte Richtung geführt
hat?
ROT: Dann wird der Karnevalist also für sechs Tage zum Freigänger, der
ansonsten lebenslang im eigenen Alltagsgefängnis einsitzt?
WEISS: Ist es nicht so, dass wir im Alltag in unseren verschiedenen Rollen
kostümiert und verkleidet herumlaufen und niemand mitkriegt, wer wir
wirklich sind...
ROT: ...während wir beim Karneval – unerkannt! – unser wahres Gesicht
zeigen? Das ist paradox. Aber richtig, es gibt uns so die Gelegenheit,
Nachbarn und Obrigkeit anonym einmal gehörig die Meinung zu sagen.
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WEISS: Wir befinden uns in Punkto Meinungsfreiheit mit Hate-Speach
dank Netz und Social Media doch längst im Dauerkarneval.
ROT: Wie wahr. Auch das Tanzverbot gibt es nur noch am Karfreitag.
WEISS: Dann können wir den Karneval immer noch als Hommage an die
Fruchtbarkeit in Vorfreude auf die neue Vegetationsperiode schätzen und
schützen: Bützchen hier, Bützchen da.
ROT: Auch da braucht man nicht auf eine fünfte Jahreszeit zu warten. Online
und offline ist der brave Karneval vertikal durch alle Gesellschaftsschichten
ganzjährig zu Sodom und Gomorra mutiert... Ich höre jetzt
besser auf.
WEISS: Wollen wir diese kulturpessimistische Einlassung wirklich veröffentlichen?
Die Leute sind doch am Aschermittwoch mit ihrem Kater
schon genug gestraft.
RRAN
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8. Fasten – Materialismus in seiner
schönsten Form
ROT: Und was fastest du so?
WEISS: Du meinst, worauf ich in der Zeit zwischen Aschermittwoch und
Ostern verzichte? Auf nichts Besonderes.
ROT: Das ist uncool. Fasten ist mega in. Kein Fleisch war mal. Jetzt geht
es ums Entgiften: Kein Alkohol, keine Zigaretten, nix Süßes, kein Gluten.
Statt Facebook und Whatsapp Digital Detox. Fasten ist, wenn man
irgendetwas – oder am besten alles – weglässt, was Spaß macht.
WEISS: Kein, nichts oder weniger wohin man guckt: Keine neuen Klamotten,
keine SUVs, keine Flugreisen, weniger CO2. Die Kids von Fridays for
Future wollen dem Kapitalismus gerade eine Fastenkur verordnen, die
seine Eingeweide gehörig rumoren lassen wird.
ROT: Völlig offen, ob der Patient das überlebt. Auf jeden Fall wird er toben.
– Warum fasten die Leute denn überhaupt?
WEISS: Der Verzicht bedeutete früher Selbstreinigung und –heiligung.
Gewissermaßen haben die Gläubigen versucht, sich als Paradiesanwärter
zu qualifizieren. Fasten war die Vorwegnahme des paradiesischen Zustands
der Reinheit. Gleichzeitig stärkte das Fasten die jüdische, christliche
oder islamische Identität.
ROT: Und heute?
WEISS: Heute ist Fasten eine Kombination aus Mentaltraining und Bodybuilding.
Im Grunde folgen wir damit dem antiken Ideal von mens sana in
corpore sano –frei übersetzt: Einen sexy Körper krönt ein smarter Kopf.
Wir fasten, weil wir es können. Weil nach dem Schmerz die Endorphine
kommen. Dabei ist Fasten heutzutage maximal individuell.
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ROT: Stimmt – man bekommt ja heute keine Tischrunde mehr zusammen,
in der alle Gäste auf das gleich verzichten.
WEISS: Wir sind die Generation Kein Bock auf Himmel, die Christoph
Schlingensief gemäß Wikipedia schon todkrank gemäß Wikipedia so despektierlich
pointiert hat: Ich habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen
Bock auf Harfe spielen und singen und irgendwo auf einer Wolke herumgammeln.
Diesseitigkeit pur. Wenn uns Fasten
dem Himmel tatsächlich näher
bringen würde, dann würden
wir es sofort sein lassen.
ROT: Dann soll Fasten uns also fit
fürs Leben bzw. for fun halten!
WEISS: Und damit dieses unser
eines Leben weiterhin einen Ort
hat, an dem wir gut und gerne leben,
den Planeten gleich mit.
ROT: Somit wäre Fasten Materialismus
in seiner schönsten und
nachhaltigsten Form! Wann
fängst du mit Fasten an?
MEID EPRAC
25
9. Freiheit – ein chinesischer Alptraum
ROT: Im Traum hat mir letzte Nacht Xi Jinping auf dem Oktoberfest zugeprostet
und mich gefragt: Wie viel Maß Freiheit verträgt ein Volk, bevor
es besoffen wird? Ich blickte mich um und sah meine Landsmänner
und –männinnen bedenklich schwanken. Schweißnass aufgewacht konnte
ich danach nicht mehr schlafen. – Was soll das?
WEISS: Tja mein Lieber, Freiheit wird leicht zur Sauerei: Lässt man die
Schweine aus den Ställen, werden sie wieder wild statt frei, denn sie folgen
nur ihren Trieben und Lüsten.
ROT: Also einfach die Fesseln abzustreifen reicht nicht, um frei zu sein?
Was fehlt der Freiheit noch zur Freiheit?
WEISS: Freiheit ist der individuelle, mit einem Gewissen behaftete Wille,
der sich im Wissen um Gut und Böse entscheidet, dieses zu tun und jenes
zu lassen.
ROT: Das heißt, je individueller der Wille, desto einsamer die Entscheidung?
Macht Freiheit am Ende einsam?
WEISS: Ja, Einsamkeit ist die Nachtseite der Freiheit.
ROT: Und was ist, wenn ein freier Wille mit einem anderen freien Willen
über Kreuz liegt?
WEISS: Dann gibt es Despotie oder Demokratie. Entweder bezwingt der
eine den anderen, oder beide verhandeln – zuweilen ziemlich nervenaufreibend
– einen Konsens.
ROT: Und inwiefern macht Freiheit besoffen?
WEISS: Vielleicht meint Jinping es in deinem Traum so: Die mit dem zunehmenden
Individualismus alias Egoismus verbundene Freiheit führt
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wie Alkohol leicht zu Wahrnehmungstrübungen und Kontrollverlust.
Während ein Gläschen Bier gesellig macht, geht es bei einem Übermaßkrug
Freiheit offenbar aus östlicher Perspektive im Westen derzeit über
Tisch und Bänke. – Übrigens sehr treffend geträumt, finde ich.
ROT: Und wie bekommen wir jetzt wieder Ordnung ins Zelt?
WEISS: Jinping würde jetzt den Zapfenstreich blasen. – Ich würde stattdessen
alkoholfreie Freiheit in den Ausschank nehmen. Schmeckt vielleicht
nicht jedem. Doch was muss, das muss. Wie man die destilliert,
weiß ich allerdings auch nicht. Vielleicht hat jemand eine Idee?
TIEHIERF
27
10. Verlässlichkeit – Von allen guten Geistern
verlassen?
ROT: Seit Ende August spendieren wir Woche für Woche eine digitale
Portion Pommes Rot-Weiss. Ich finde wir sind da inzwischen sehr verlässlich.
WEISS: Wir haben uns halt beide verbindlich darauf eingelassen, jede Woche
ein Thema zu finden, es zu schälen und die Gedankenschnitzel zu frittieren
und der werten Stamm- und Laufkundschaft zu servieren.
ROT: Stimmt. Und ohne unsere treuen Leser und Kommentatoren könnten
wir die Pommesbude schließen. – Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Treue!
– Diese Trias klingt aber ziemlich altmodisch, oder? Wir wollen doch
»State-Of-The-Art« sein!
WEISS: Das sind Klassiker. Und als solche zeitlos:
28
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn,
So nehmet auch mich zum Genossen an,
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.
ROT: Schon klar – Schillers Bürgschaft. Ich musste (durfte?) das früher
noch auswendig lernen. Heute ist uns Verlässlichkeit in vielen Lebensbereichen
abhandengekommen. Unsicherheit, wohin das Auge blickt: in
Partnerschaft und Familie, Arbeit und Rente, in Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft. Sogar auf das Wetter ist kein Verlass mehr. Wem der Boden
einmal unter den Füßen schwankt, der verliert sein Urvertrauen.
WEISS: Das Klima können wir beide nicht retten. Aber immerhin können
wir in unserer Bude auf Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Treue achten.
Sonst wären wir doch von allen guten Geistern verlassen und könnten
dicht machen!
ROT: Mir scheint nicht nur wir, sondern die ganze Menschheit.
EUERT
Wenn du einen Freund brauchst, kauf dir einen Hund. – Gordon Gekko
29
11. Über Rassismus und kulturelle
Betriebssysteme
ROT: Hab mir einen alten Landrover gekauft. Voll der Anachronismus.
Der Händler ist Albaner. Ich war ziemlich misstrauisch. Dann habe ich
den Mann gegoogelt. Der Herr ist Maschinenbauingenieur und hat nebenher
ein Startup laufen. Irgendwas mit E-Mobilität. – Mein Alltagsrassismus
widert mich an!
WEISS: Das ist kein Rassismus. Das ist Vorsicht. Rassismus ist heute ein
Kampfbegriff ohne Substanz. Kein Mensch glaubt heute noch im Ernst
an eine genetische Über- oder Unterlegenheit irgendeiner Ethnie. Stattdessen
geht es meistens um Marketing: Der reiche Schweizer, der finstere
Russe, der distinguierte Engländer oder eben der schlitzohrige Albaner.
ROT: Du betrachtest Völker und Ethnien also als Marken, die immer auf
das jeweilige Individuum abfärben? Dann wäre ja jeder mit seinem Verhalten
ein Markenbotschafter (insbesondere wir Deutsche auf Malle)!
Worin liegen denn die konkreten Unterschiede zwischen den Völkern?
WEISS: Der Unterschied liegt in den kulturellen Betriebssystemen. Die
werden von den Eltern auf die Kinder überspielt. Diese beinhalten Religion,
Glauben, Traditionen und Wertvorstellungen. Auf den Betriebssystemen
laufen dann die unterschiedlichsten Apps, mit denen die Menschen
ihren Alltag gestalten: Partnerschaft & Familie, Beruf, Politik, Freizeit
etc.
ROT: Und wo fangen die Probleme an?
WEISS: Immer dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Betriebssystemen
kooperieren müssen und die Systeme nicht kompatibel sind. Dann
haben wir die Anwendungsprobleme bis hin zum Systemabsturz.
30
ROT: Aber was Apple, Microsoft und Google mit ihren Betriebssystemen
hinbekommen, das sollte uns durch intelligentes Schnittstellenmanagement
doch wohl auch gelingen!
WEISS: Der Westen hat lange geglaubt, dass er sein liberales Betriebssystem
weltweit ausrollen und die Völker zur Aufgabe ihrer traditionellen
Systeme motivieren könnte. Das war wohl eher ein Irrtum. Stattdessen
drängen immer mehr konkurrierende Systeme auf unseren lokalen Markt
und der hiesige Liberalismus scheint seine marktbeherrschende Stellung
zu verlieren.
ROT: Und da die Leute bei ihren Betriebssystemen ungern Kompromisse
machen (vgl. die Fundamentalisten rund um Apple), sprühen an den
Schnittstellen die Funken. Wie das wohl weitergeht....
LESEID
31
12. Schuld – Demonstrieren auf Pump
ROT: Ich hätte große Lust, mir ein Baumhaus zu bauen.
WEISS: Nicht sehr originell und etwas spät. Die Party im Hambacher Forst
hat bereits ohne dich stattgefunden.
ROT: Vom Fernsehsessel aus habe ich wehmütig die jungen Leute bewundert,
wie sie heroisch-konsequent für das kämpfen, was sie für gut und
richtig halten.
WEISS: Wir haben weiland zu Hunderttausenden gegen den Natodoppelbeschluss
demonstriert. Ich kenne das erhebende Gefühl, Partei zu ergreifen
und etwas zu unternehmen. Auch wenn ich hinterher feststellen
musste, dass wir falsch lagen. Ohne Menschen, die etwas unternehmen,
passiert eben nichts.
ROT: Dann sind Demonstranten Unternehmer?
WEISS: Stimmt. Unternehmer unternehmen etwas. Angestellte stellen sich
an.
ROT: Worauf willst du hinaus?
WEISS: Unternehmer sind überzeugt von sich und ihren Ideen. Sie lassen
sich nur ungern von anderen Ansichten irritieren. Nur durch konsequente
Einseitigkeit bewahren sie sich ihre Tat- und Durchschlagskraft...
ROT: …mit der Folge, dass sie mit ihren Initiativen auch mal daneben liegen
und floppen. Brauchen Demonstranten wie Unternehmer auch Kredit?
WEISS: Ja, die Hambacher Waldmenschen machen notgedrungen Schulden,
das heißt sie machen sich schuldig am Arbeitsplatzabbau in
Garzweiler, an Haushaltsengpässen der Gemeinden aufgrund von aus-
32
bleibenden Dividendenzahlungen von RWE, an möglichen Atomstromimporten
aus Frankreich… Diese Schulden sollen die Erreichung der
Klimaziele ermöglichen.
ROT: Mit der Energiewende hat das ja bisher nicht so geklappt. Und wer
sind dann die Gläubiger?
WEISS: Wir alle: die gesamte Gesellschaft. In der Demokratie gehen wir
hier bewusst ins Risiko und hoffen auf eine Dividende. Das kann auch
mal kostspielig werden wie z. B. die Antiatombewegung. Aber sonst würde
sich ja nichts bewegen.
ROT: Etwas zu bewegen ohne schuldig zu werden geht also nicht. Spannender
Gedanke.
TSGNA NAMREG
33
13. Die letzte Meile meistern
ROT: Meine alten Herrschaften machen sich so langsam auf den letzten
Weg.
WEISS: Und du bist ihnen dabei Wegweiser und Stütze?
ROT: Leider nein. Ich winke ihnen nur verzweifelt nach, während sie physisch
und mental gerade langsam im Nebel verschwinden. Die notdürftige
Begleitung haben Profis übernommen. Das ist ziemlich deprimierend.
WEISS: Es gibt tausend Wege in den Himmel. Da muss jeder seinen eigenen
finden.
ROT: Wenn es denn so wäre.
WEISS: Eine Schweizer Freundin organisiert gerade für einen Angehörigen
den Freitod bei einer Gesellschaft für Sterbehilfe. Der Todeszeitpunkt
steht jetzt schon fest: Heute in zwei Wochen. Alles wird bis dahin entsprechend
den Wünschen des Sterbewilligen geordnet.
ROT: Ein beeindruckender Abgang. Ist das die Zukunft?
WEISS: Eltern bestimmen doch längst, ob, wann und wie ein Kind ins Leben
tritt. Wieso soll der Mensch, der auf seinem Lebensweg in allen Bereichen
die Verantwortung für sich selbst übernommen hat, nicht auch
am anderen Ende des Lebens bestimmen, wann und wie er die Erde wieder
verlässt. Das Ob steht dabei ja – zum Glück – noch nicht zur Debatte.
ROT: Kann das Leben wirklich eine freiwillige Angelegenheit sein? Meiner
Beobachtung nach ist es doch wohl eher ein unreflektierter Trieb: Was
lebt, will leben. Bis zum letzten Atemzug. Punkt. Gegen den Lebenstrieb
ist der Sexualtrieb wahrscheinlich eine Quisquilie.
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WEISS: Damit wären wir mitsamt unserer medizinischen Wissenschaft alle
Triebtäter: getrieben von dem nackten Willen, uns am Leben zu erhalten.
ROT: Das klingt zwar ziemlich erbärmlich, doch ist das Leben eine wirklich
großartige Sache, die unter Billionen Sternen bislang nicht ein zweites
Mal gefunden wurde. Wäre das Leben tatsächlich unserer launischen
Willkür anheim gestellt, dann hätten wir diesen kosmischen Funken bestimmt
längst ausgeblasen.
WEISS: Das soll doch nun gewiss nicht heißen, dass wenn der Lebenstrieb
am Ende erschlafft,
man ihn mit einem Viagra-Pendant
zwanghaft
wieder zum Stehen
bringen muss. Doch
solange er kann, sollte
er sich auch regen.
ROT: Der Sterbewillige
hat seinen Lebenstrieb
also am Ende nicht
überwunden (das könnte
nur ein Heiliger),
sondern stellt nur dessen
Tod bei lebendigem
Leibe fest.
WEISS: Ja – und dann
sollte er auch eine Sterbehilfe
bekommen
können.
THCARBLLOV TSI SE
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14. Mehr Realismus! – Oder: Am deutschen
Wesen wird die Welt verwesen
ROT: Wenn es uns Deutsche nicht gäbe, müsste man uns erfinden.
WEISS: Wie bitte?
ROT: Wir haben unsere Geschichte vorbildlichst aufgearbeitet und sind
rastlos bemüht, diese verrückte Welt zu einem besseren Ort zu machen.
WEISS: Sind wir nicht eher wie dieser irre Krankenpfleger, der seine Patienten
hundertfach zum Herzstillstand gespritzt hat, um sie dann durch
spektakuläre Massagen wieder zu beleben? Damit er als Held dasteht!
ROT: Was soll das denn jetzt?
WEISS: Haben wir nicht Russen und Chinesen mit dem Marxismus eine
Ideologie geliefert, die über Jahrzehnte die halbe Welt ins Koma versetzt
hat, aus dem Abermillionen Menschen nicht wieder aufgewacht sind?
Haben wir nicht die Kernspaltung erfunden, die uns zu Hiroshima und
bis heute in ein permanentes Ringen um das Gleichgewicht des Schreckens
gebracht hat? Haben wir nicht mit dem Holocaust den letzten Impuls
zur Staatsgründung in Israel gegeben, die als schwärende Wunde seit
1948 Konflikte wie schwarze Fliegen anzieht?
ROT: Ich verstehe deinen Punkt. Aber heute sind wir doch die Guten!
WEISS: Mit unserem idealistischen Verzicht auf Atomwaffen (wir sitzen
bequem unter dem US-Schutzschild), auf Atomstrom (den importieren
wir nötigenfalls aus Frankreich), auf Militäreinsätze (wir liefern lieber das
Material) posieren wir vor unseren Partnern moralisch auf hohem Ross.
ROT: Aber wenigstens sind wir doch gute Europäer!
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WEISS: Mit dem, was wir in der Flüchtlingspolitik in unserer undiplomatischen
Art für richtig halten, haben wir es geschafft, die EU zu spalten
und die Briten zum Brexit inspiriert. Und nach zwanzig Jahren Klimagetöse
hat sich der deutsche CO²-Ausstoß kaum verringert. Machen wir so
weiter, so wird an unserem Wesen einmal mehr die Welt verwesen.
ROT: Hm, so sind wir Deutsche also – frei nach Goethe – mit unserem
Idealismus Teil der Kraft, die stets das Gute will und stets was Schlechtes
schafft? – Deine Empfehlung?
WEISS: Ich kehre vor meiner Haustüre und arrangiere mich mit meinen
Nachbarn mit einem Sinn für das Machbare. Und als ich neulich meine
Fassade gestrichen hatte, dauerte es nicht lange, da rollte eine Renovierungswelle
durchs Quartier. Vielleicht funktioniert das auch in der Politik.
SUMSILAER
ist die Balance aus SUMSIMITPO und SUMSIMISSEP
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15. Leidenschaft – Oder: ohne Fleiß kein
Preis
ROT: Wir produzieren seit August jede Woche mit vollem Einsatz einen
Blog-Eintrag und wir sind noch immer nicht über zehntausend Abonnenten.
Das ist doch Mist!
WEISS: Vincent van Gogh hat zu Lebzeiten der Sage nach nur ein einziges
Bild verkauft. Er hat still gelitten und unermüdlich geschafft. Das ist Leidenschaft!
Davon können wir uns ein Ohr abschneiden...
ROT: ...und andere machen dereinst den Reibach mit unserer Schreib- und
Wortkunst? Nein danke. Ich will den Erfolg hier und jetzt. Das ist Leidenschaft.
WEISS: Das ist Gier. Leidenschaft ist ein sich selbst verzehrendes Feuer,
das dich antreibt Dinge zu tun, mit denen du über dich hinaus wächst.
Bei echter Leidenschaft ist der Energiesaldo immer negativ. Du gibst
immer mehr als du bekommst. Leidenschaft ist volles Risiko bis hin zu
ohne Sinn und Verstand. Leidenschaft kennt keinen Urlaub. Nur Burnout
und den Märtyrertod.
ROT: Woher kommt Leidenschaft? Ist das eine Krankheit, womöglich sogar
ansteckend?
WEISS: Mir scheint sie am ehesten mit der Kernkraft vergleichbar: Im
Menschen schlummern wie im Atom ungeahnte Kräfte, die sich durch
einen entscheidenden Anstoß – durch Liebe oder Hass zum Beispiel – in
einer Kettenreaktion Bahn brechen. Unkontrolliert führen sie in die private
oder berufliche Katastrophe. Kontrolliert aber zu wissenschaftlichen,
kulturellen und politischen Ausnahmeleistungen – im Guten wie im
Schlechten.
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ROT: Der Anteil an spaltbarem Material ist dann wohl von Mensch zu
Mensch verschieden.
WEISS: Davon bin ich überzeugt. Und manche verbringen ihr ganzes Leben
an kümmerlichen Kokelfeuern.
ROT: Was heißt das jetzt für unseren Blog?
WEISS: Eine uns verzehrende Leidenschaft kann ich nicht erkennen. Uns
treiben die erneuerbaren Energien: Kreativität, Neugierde, Erkenntnisstreben,
Lust an der Provokation...
ROT: ...die uns mit Fleiß zum Preis und unseren zehntausend Abonnenten
beflügeln!
TNECNIV (mit nur einem Ohr)
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16. Was macht Macht mit Menschen?
ROT: Ich bin letzte Woche über diesen alten Sponti-Spruch gestolpert:
Wissen ist Macht, nichts wissen macht nichts. Macht ist Wissen – sonst nichts?
WEISS: Francis Bacon hat im 16. Jahrhundert mit dieser Pointe die Aufklärung
eingeläutet, mit der sich die Menschheit nach Immanuel Kant aus
ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit katapultiert hat. Aber erst Karl Marx
hat drei Jahrhunderte später gemerkt, dass dem Wissen noch etwas Entscheidendes
zur Macht fehlt.
ROT: Was denn?
WEISS: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber
darauf an, sie zu verändern. Wissen muss auf einen tatkräftigen Willen treffen,
um Macht zu sein.
ROT: Du meinst also, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen, die nichts
wollen, bewirken nichts? Ebenso wie ein Wille, der nichts kann?
WEISS: Der Mensch ist erst da ganz Mensch, wo sich Wollen und Können
verbinden. Erst Macht macht den Menschen zum ganzen Menschen.
ROT: Impotent und damit kein Mensch seiner Möglichkeit nach wäre er
also immer da, wo er will und nicht kann. Oder wo er kann, aber nicht
will. Oder gar, wenn beides zusammenkommt. Damit wäre Macht ein
Menschenrecht?
WEISS: Ja. Jeder Mensch soll die Macht haben zu wollen und zu können.
Macht ist damit ein wesentlicher Aspekt der Freiheit.
ROT: Ist das nicht gefährlich? Hat nicht Abraham Lincoln schon warnend
gesagt: Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gibt ihm Macht?
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WEISS: Da halte ich es noch einmal mit Kant: Es ist überall nichts in der
Welt..., was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter
Wille.
ROT: Seit Erich Kästner wissen wir: Es gibt nichts Gutes außer man tut es. Also
ist Macht dann gut, wenn sie das Gute will und tut? Ist Macht denn nicht
auch böse?
WEISS: Macht ist wie Beton: Es kommt drauf an, was man draus macht.
Ist TLAWEG männlich?
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17. Kann denn Reisen Sünde sein?
ROT: Ich liebe es fremdzugehen!
WEISS: Du bist ein Wüstling. Weiß Deine Frau davon?
ROT: Die ist immer mit dabei. Zuhause fällt uns nach ein paar Wochen
immer die Decke auf den Kopf. Dann setzen wir uns ins Wohnmobil
und machen uns auf in die Fremde. Manchmal reicht schon ein One-
Night-Stand am Straßenrand und wir haben unser Travelsteron wieder
unter Kontrolle.
WEISS: Travelsteron?
ROT: Unsere Neugierde! Unsere Lust auf Abwechslung, Ungesehenes,
Exotisches und Exklusives. Ich sag dir: je jungfräulicher und kurvenreicher
die Gegend, desto mehr macht uns das an. Andere stehen ja mehr
auf Gruppeneskapaden. Aber für uns ist das nichts. Und Sadomaso-
Action-Urlaub in der Natur-Sport-Kombi schon gar nicht. Und bei Sonnenuntergang...
WEISS: ...da sieht Mutter Erde immer noch sehr sexy aus. Doch im grellen
Tageslicht wirkt sie von der touristischen Potenz und den Reisevorlieben
der Menschheit ganz schön zerzaust und mitgenommen. Ehrlich, mir tut
Mutter Natur leid.
ROT: Um unserem Planeten zu helfen, müssen wir ihn verstehen. Deswegen
reisen wir, denn Reisen bildet.
WEISS: Statt fern zu sehen, gehen wir fern. Was ist der Unterschied? Hier
wie dort zappen wir uns durch die Welt. Im Urlaub begeben wir uns ins
3D-Kino. Licht aus – Film ab. Action. Traumschiff. Ballermann. Zugegeben,
es gibt auch anspruchsvolle Filme. Doch spätestens nach zwei
Wochen geht das Licht wieder an – und wir machen exakt dort weiter,
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wo wir aufgehört haben. Wir lassen uns von unseren Reisen nicht bilden
und verändern sondern nur unterhalten und amüsieren.
ROT: Zu kein Fleisch kommt jetzt noch kein Ballermann? Du Puritaner
zählst unsere touristische Neugierde als Gier in den Kreis der Todsünden?
Im Ernst? Rätst du uns am Ende zu touristischer Enthaltsamkeit?
WEISS: Letzte weiße Flecken gibt es nur noch auf unseren inneren Landkarten.
Dort sind noch echte Abenteuer zu bestehen, von denen du garantiert
verändert zurückkehrst – wenn du dich wirklich darauf einlässt.
ROT: Ach geh – du wirst die Menschheit nicht ändern.
DEIHCSBA
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18. Ist Menschenwürde Geschmackssache?
ROT: Lange schien mir, Menschenwürde sei einer der geschmackvollsten Begriffe
unserer Zeit. Doch je länger ich daran kaue, desto fader schmeckt er.
Ich gebe zu, dass auch ich die Unmöglichkeit, Intensivtäter zum Beispiel
nach Afghanistan abzuschieben, nicht mehr goutiere.
WEISS: Wir glauben an das Gute im Menschen. In einer Schale des
Menschlich-Allzumenschlichen steckt nach unserer Auffassung immer
ein wertbeständiger und würdevoller Kern, den wir leichtfertig mit abschieben
würden.
ROT: Und den Menschen in Afghanistan fehlt der Geschmack dafür? Die
gucken nur auf die Schale und werfen den wertvollen Kern im Zweifel
mit der schlechten Schale einfach weg?
WEISS: Die Afghanen haben eine ziemlich traditionelle Küche und kochen
Recht und Moral nach jahrhundertealten Rezepten. Menschenwürde in
unserem Sinne gibt's dort nicht einmal als Beilage.
ROT: Du hältst die universelle Menschenwürde für reine Geschmackssache?
WEISS: Sieh es mal so: Früher haben wir im Westen an Gott, Kaiser und
Vaterland geglaubt und uns im Zweifel dafür geopfert. Diese Dreifaltigkeit
haben wir nach und nach – und in Deutschland besonders gründlich
– abgeschafft. Seitdem glauben wir nur noch an uns selbst, das heißt an
den Menschen als Prinzip und nennen das Menschenwürde.
ROT: An irgendetwas muss eine Gesellschaft ja auch glauben, wenn sie
sich nicht ins Chaos stürzen will.
WEISS: Das ist gewissermaßen die umgekehrte kopernikanische Wende.
Während heute selbst der Vatikan anerkennt, dass sich die Erde um die
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Sonne dreht, glauben wir seit der Aufklärung fest daran, dass sich das
Universum um das Individuum dreht.
ROT: Trotz unserer vielen Kreuzzüge im Namen des Individualismus
konnten wir den Osten bislang von unserer neuen Weltsicht nicht überzeugen.
In China dreht sich das Individuum nach wie vor ums Kollektiv.
WEISS: Schau Dir doch unsere Welt an. Es ist offenbar völlig egal, wer
sich hier um wen dreht. Am Ende ist es ein einziger wilder Tanz der
Menschheit ums goldene Kalb.
RABTSATNANU TSI NEHCSNEM SED EDRÜW EID
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19. Ist Mut eine Frechheit?
ROT: Der Wutbürger ist tot, es lebe der Mutbürger!
WEISS: Heute mal in gelber Warnweste?
ROT: Bis jetzt haben sich die Menschen nur über die Zustände geärgert.
Jetzt ist die Zeit gekommen, die Zustände zu ändern. Aufstehen! Durch
Mut wird Wut gut.
WEISS: Des einen Mut ist des anderen Frechheit. Muss man nicht dem
Häuflein AfD-Abgeordneten im Bundestag Mut dafür zuerkennen, dass
sie sich gegen den liberalen Mainstream stellen und ihre steilen Thesen
vertreten? Mut hat immer einen Preis, den nur die wenigsten zu zahlen
bereit sind.
ROT: Damit wäre Mut eine ambivalente Energie und in ihrem moralischen
Wert abhängig davon, vor welchen Karren sie sich spannt?
WEISS: Die Herrschenden lieben den Mutigen eigentlich nicht. Die Helden
der Vergangenheit ehren sie zwar, doch in der Gegenwart bevorzugen sie
den braven Bürger, der sich leichter regieren lässt. Mit Brecht warnen sie:
Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Mut bringt Unruhe.
ROT: Und zugleich macht Mut Veränderung erst möglich. Denn der Mutige
sieht Chancen dort, wo andere nur Risiken sehen. Der Vernünftige
geht nur kalkulierbare Risiken ein, der Mutige auch unkalkulierbare.
WEISS: Mut ist eine disruptive Kraft, die uns zu schöpferischer Zerstörung
befähigt. Doch wären alle Bürger einer Gesellschaft gleichermaßen mutig,
würde die Gesellschaft ins Chaos stürzen. Bei allgemeiner Mutlosigkeit
dagegen würde sie erstarren. Die Mutigen sind das Salz der Erde.
ROT: Ich will aber gar nicht, dass sich alles ändert. Nur ein bisschen anders
soll es werden.
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WEISS: Wie heißt es in Goethes Zauberlehrling:
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht wieder los.
ROT: Jetzt wird es mir in meiner Weste langsam zu heiß. Eigentlich möchte
ich doch lieber, dass am Ende alles so bleibt wie es ist.
WEISS: Da bist du hierzulande guter Gesellschaft. Es hat schon so mancher
Angst vor der eigenen Courage bekommen!
NEDWONS DRAWDE
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20. Auf jedem Schiff das dampft und segelt…
ROT: Ein guter Bekannter ist stolze Führungskraft geworden – und hat
nun einen Führerschein als Lokführer.
WEISS: Zigeunerschnitzel darf man nicht mehr sagen. Der Negerkuss ist
verpönt. Aber Führerschein ist immer noch erlaubt?
ROT: Ja – denn ohne große und kleine Führer kommen Politik und Wirtschaft
eben nach wie vor nicht aus. Jeder Deutsche weiß wie weiland
Guido: Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt's einen, der die Sache regelt.
WEISS: Am Ende muss Führung in einer Demokratie jedoch immer eine
möglichst professionelle Dienstleistung sein. Der Reiseführer zeigt uns
den Kölner Dom. Der Bergführer bringt uns auf den Watzmann. Selbst
Friedrich der Große hat sich in einem weisen Moment lediglich als erster
Diener seines Preußenstaates verstanden. Als Kunde von politischen
Führungsdienstleistungen ist in der Demokratie immer das Volk König.
ROT: Und in der Wirtschaft? Da ist doch jedes Unternehmen immer noch
ein Fürstentum für sich, in dem sich Herrschaft und Knechtschaft allenfalls
gemildert durch Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht ausleben! Die
Führungskraft führt dort den abhängig Beschäftigten – weil der sich doch
wohl nicht selber führen kann?
WEISS: Sieh es mal so: Die sogenannte Führungskraft ist doch bei Licht
betrachtet nichts anderes als ein Einkäufer, der vom Unternehmen die
Erlaubnis bekommen hat, bei anderen Mitarbeitern des Hauses Leistungen
einzukaufen, die er selbst nicht erbringen kann, für die er aber gesamthaft
verantwortlich ist. Daher muss eine Führungskraft nicht viel
mehr können als ein Einkäufer kann.
ROT: Die Führungskraft muss also seine Mitarbeiter-Lieferanten genau
kennen und wissen was sie bei wem in welcher Komplexität, Qualität,
Menge und Zeit bekommt. Dann sollte sie präzise Bestellungen abgeben
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und das Gelieferte prüfen und gegebenenfalls reklamieren – auf jeden
Fall aber pünktlich und wertschätzend bezahlen. Dabei sollte die Führungskraft
immer darauf achten, zu ihrem Lieferanten eine vertrauensvolle,
belastbare und auf Langfristigkeit angelegte Beziehung zu gestalten.
WEISS: So ist es! Und glaub mir: So geführt werden die Mitarbeiter-
Lieferanten stolz sein, ihren Beitrag in der Wertschöpfungskette zu leisten.
ROT: Dann ist Führen im Grunde so einfach wie Einkaufen?
RELTIH – der große Ver-Führer
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21. Loyalität ist nichts für Anfänger
ROT: Was ist eigentlich aus Oliver Schmidt geworden?
WEISS: Aus Oliver wem?
ROT: Aus jenem VW Manager, der 2017 wegen des Dieselskandals in den
USA für sieben Jahre in den Knast eingefahren ist.
WEISS: Dem Vernehmen nach sitzt Schmidt immer noch in Michigan ein.
– Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Presse hat ihn längst vergessen...
ROT: ... und sein Arbeitgeber sowieso. Der hat ihn fallen lassen wie eine
heiße Kartoffel. Ich sag ja: Loyalität lohnt sich nicht. Nur wenn jeder an
sich denkt, ist an alle gedacht.
WEISS: Tatsächlich scheinen sich Individualismus und Loyalität schlecht
zu vertragen. Loyalität erfordert ein Denken und Fühlen im Kollektiv, sei
es nun das einer Familie, eines Betriebes oder einer Nation.
ROT: Das heißt, nur innerhalb des Kollektivs wird gestritten, dieses nach
außen aber immer resolut verteidigt?
WEISS: Menzius, ein Schüler des Konfuzius, treibt das Loyalitätsprinzip
auf die Spitze: Als er gefragt wurde, was ein König tun solle, dessen Vater jemanden
ermordet habe, antwortete er, der Sohn dürfe seinen Vater nicht bestrafen lassen,
sondern solle abdanken und mit ihm irgendwohin gehen, wo das Gesetz sie nicht erreicht.
ROT: Dann hätte Menzius die Wikipedia-Definition von Loyalität sicherlich
gefallen: Loyalität als das Teilen und Vertreten von Werten und Ideologien eines
Anderen im Interesse eines gemeinsamen höheren Zieles – und zwar auch dann,
wenn man dieses nicht vollumfänglich teilt.
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WEISS: Verständlich, dass der Rechtsstaat diese Form von Loyalitätsbeziehungen
ganz und gar nicht mag. So bewegt sich das Zeugnisverweigerungsrecht
in engen Grenzen und auch das Ehegattensplitting ist ihm ein
Dorn im Auge. Ihm sind 1 zu 1 Beziehungen zu seinen Bürgern in rechtlicher
und finanzieller Hinsicht am liebsten – divide et impera.
ROT: Richtig. Der Rechtsstaat erkennt bei seinen Bürgern letztlich nur eine
Loyalität an – nämlich die zum geltenden Recht. Diese Einsicht kam Oliver
Schmidt ganz offenbar zu spät.
ODU – Und ich mach mein Ding
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22. Alle Zeit muss durch den Augenblick
gehen
ROT: Ich hasse es zu warten! Am meisten, wenn mein Akku leer ist. Wenn
der Zug wieder einmal nicht kommt, es gerade dann kalt und windig ist
und selbstverständlich in Strömen regnet.
WEISS: Ja, in diesen Augenblicken hat man nichts: die Zukunft ist noch
nicht da, die Vergangenheit längst vergangen und die Gegenwart ist maximal
leer. Das ist das pure Alleinsein mit sich selbst. Existenzialismus in
Reinform.
ROT: Eben. Kein Wunder, dass die Leute ihre Smartphones zücken und
sich in virtuelle Gesellschaft flüchten.
WEISS: Andererseits gibt es auch kulturell erwünschte Wartezeiten...
ROT: ...zum Beispiel die Adventszeit?
WEISS: Ja – wenn sich die Gläubigen bewusst in Erwartung üben und sich
auf das kommende Ereignis vorbereiten. Dabei versuchen sie sich meditativ
von allen Störungen des Augenblicks frei zu machen, um sich für
das Erwartete zu rüsten.
ROT: Ich kenne das eher so: Verliebt kann ich mich auf die Forderungen
des Moments nicht konzentrieren, weil ich mir die abwesende Geliebte
mit der ganzen Macht meiner Vorstellungskraft vergegenwärtige und ihr
Kommen nicht abwarten kann. Übrigens für mich eine höchst lustvolle
Passionszeit.
WEISS: Dann fehlt nach dem Himmelhochjauchzen nur noch die Hölle
der Prokrastination: auch ein Warteverhalten, bei dem allerdings das unweigerlich
kommende Ereignis, zum Beispiel eine Prüfung, gefürchtet
und ausgeblendet wird und in der Gegenwart zu Untätigkeit führt.
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ROT: Aber was soll ich deiner Meinung nach nun tun, wenn der Zug wieder
einmal nicht kommt?
WEISS: Dir das Einfahren des Zuges lustvoll vorzustellen wäre sicherlich
Zeitverschwendung.
ROT: Und mich vor denselben
zu werfen, weil
ich mir während der
Wartezeit der Sinnlosigkeit
und Leere meines
Daseins bewusst
geworden bin, empfiehlst
Du doch wohl
auch nicht.
WEISS: Deine Wartezeit
muss, wie alle Zeit,
durch den Augenblick
gehen. Diesen Moment
kannst du mit Vergangenem,
mit Zukünftigem
oder mit reiner
Gegenwart füllen. Auf
die Fülle kommt es dabei
an. Du hast die
Wahl: Past is history, tomorrow
is mystery and today
is a gift. That's why it
is called present.
NEHEG KCILBNEGUA NED
DCRUD SSUM TIEZ ELLA
53
23. Das kannst du dir schenken
ROT: Kein Tag, an dem mir nicht irgendein Geschenkgutschein ins Emailpostfach
flattert. Die schenken mir doch nur etwas, weil sie eigentlich etwas
von mir wollen. Ich will aber nichts geschenkt.
WEISS: Das Leben mit allem drum und dran doch schon – oder nicht?
ROT: Stimmt – und bis jetzt habe ich auch noch keinen Muttertag verpasst.
Aber das ist lange her.
WEISS: Du meinst, heutzutage ist ein Geschenk eher ein Störfall und im
Grunde etwas für die Compliance-Abteilung?
ROT: Schenken ist doch ein einziger Krampf. Die Leute dürfen nichts nehmen,
oder sie haben schon alles, oder sie können den Hals nicht vollkriegen.
Und von dem ganzen Kommerz rund um Valentin & Co ganz zu
schweigen. Ein Geschenk ist doch nichts anderes als ein Gleitmittel für
Zwischenmenschliches...
WEISS: ...und hat dabei die Wunderkraft – wie dazumal Lessings Ring –
vor Gott und den Menschen angenehm zu machen.
ROT: Das heiß, man gibt etwas ohne, zumindest unmittelbar, etwas dafür
zu bekommen – außer Dank und warme Worte.
WEISS: Und was macht ein Geschenk wertvoll?
ROT: Für den Beschenkten doch wohl seine Brauchbarkeit. Unbrauchbare
Geschenke werden gerne zu Wanderpokalen.
WEISS: Stimmt, bei nüchterner Betrachtung ist das so. Der Geber seinerseits
verschenkt in der Regel schmerzfrei aus seinem Überfluss heraus.
Ein Geschenk bleibt dabei so lange billig, wie es nicht weh tut. Es wird
dagegen umso teurer, je mehr es für den Schenkenden selbst Entbehrung
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bedeutet. Verschenkt er (oder sie) dabei sich selbst, nennt man das Hingabe
– und das Geschenk transformiert zu Liebe.
ROT: Und erweist sich der so Beschenkte hernach als unwürdig, dann
war's Verschwendung – oder?
WEISS: Aber nur dann, wenn das Geschenk eine als Geschenk getarnte
Investition in den Beschenkten war und die Rechnung nicht aufgegangen
ist...
ROT: ...und mein Herr Sohn die von mir geschenkten Studienjahre nicht in
einen Abschluss verwandelt hat.
WEISS: Ein echtes Geschenk dagegen ist in seiner höchsten und wertvollsten
Form freilassend – und Ausdruck eines interesselosen Wohlgefallens
des Schenkenden an dem Beschenkten.
ROT: Ja – das würde mir auch gefallen.
ZIEG – nicht geil!
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24. Den Bock zum Gärtner machen
ROT: Er macht es einfach! Ich werde irre! Ich will ihm an die Gurgel!
WEISS: Ruhig, mein Brauner. Was ist denn los?
ROT: Ich denke wir sind ein Team – und der zieht einfach seinen Stiefel
durch. So ein sturer Bock!
WEISS: Und das Ergebnis – ist es Mist?
ROT: Nein, das ist es ja. Das Ergebnis ist klasse – sagen die anderen.
WEISS: Dann ist das Genialität, gepaart mit Durchsetzungsstärke. Du solltest
stolz auf deinen Kollegen sein.
ROT: Das ist jetzt nicht dein Ernst. Wenn ich was will, macht der auf Esel
und ich werde zum Affen dabei. So geht das nicht.
WEISS: Du machst dich zum Affen. Denk doch mal nach: Der Esel macht
die ganze Arbeit. Du brauchst dich nur noch drauf zu setzen und ein
bisschen lenken. Und schon bist du da, wo Du hin willst. Du darfst ihn
die Zügel nur nicht allzu sehr spüren lassen.
ROT: Aber was, wenn das Ergebnis Mist wäre?
WEISS: Der Sture, der nicht nützt, wird gemieden. Es ist wie mit einem
Verkehrshindernis. Kann man es nicht beseitigen, dann baut man eine
Umgehung. Zuletzt endet jeder Esel als Salami.
ROT: Du meinst: statt integrieren ignorieren, isolieren, ausgrenzen. Dabei
würde er als Eigenbrötler vereinsamen und wahrscheinlich sogar früher
sterben. Meinst du nicht, dass wir meinen Kollegen vor diesen Zukunftsaussichten
warnen sollten?
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WEISS: Eigentlich magst du deinen Kollegen, gell? – Halt ihm statt der
Möhre zwischendurch immer mal die Salami hin. Wenn der Esel klug ist,
wird er es mit seiner Störrigkeit nicht übertreiben.
ROT: Danke. Mir geht es schon besser.....
EEFFAK – Entspann dich!
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25. Ich denke nichts, bin ich dann trotzdem?
ROT: So schweigsam heute?
WEISS: Ich bin etwas verunsichert. Ich denke die ganze Zeit nach und mir
fällt nichts ein.
ROT: Und wo genau ist das Problem?
WEISS: Descartes sagt: Cogito ergo sum. – Ich denke, also bin ich. Oder umgekehrt:
Solange ich nicht denke, kann ich mir meiner Existenz auch
nicht sicher sein. Und wenn ich nun die ganze Zeit denke, mir aber einfach
nichts einfällt? Bin ich dann trotzdem?
ROT: Dann wirst du deiner Existenz eben in ihrer ganzen Schlichtheit gewahr.
Das macht dich menschlicher. Und es ist der Moment Demut zu
üben und anderen beim Denken den Vortritt zu lassen, ihnen zuzuhören
und nach zu denken.
WEISS: Das ist beruhigend. Denn das cogito ergo sum kreiert doch eine sehr
einsame Existenz. Das Nach- und Mit-Denken dagegen entspricht vielmehr
der Seinsart des Menschen als zoon politikon, als Gemeinschaftswesen.
ROT: Cogitamus ergo sumus. Wir denken, also sind wir zusammen.
WEISS: Schön, dass mir heute nichts eingefallen ist.
ROT: Da trinken wir einen drauf!
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Weißes Blatt
.IEBAD SE BEILB ,IELREHCNAM OS REBÜ NEKNEDHCAN
MIEB .TTALB SESSIEW NIE NEBEIRHCSEBNU
DNREDROFSUAREH
59
26. Jeder Mensch ist ein Künstler
ROT: Alle um mich herum sind künstlerisch unglaublich kreativ:
Robert spielt Gitarre, Britta macht mit Holz, Udo malt, Siegfried strickt,
Susanne spielt Theater.
Ich dagegen kann nur meinen Job - sonst nix.
WEISS: Aber wir sind doch das Volk der Dichter und Denker - kein
Schreiberling unter deinen Freunden?
ROT: Nicht, dass ich wüsste - warum?
WEISS: Ich denke an Biographien - die sind eine anerkannte Literaturgattung
und gehören zu den sogenannten schönen Künsten.
ROT: Aber sind Biographien nicht eine Beschreibung gelebten Lebens herausragender
Persönlichkeiten? Und werden zumeist in der Retrospektive
von Außenstehenden verfasst - für mich interessiert sich doch kein Biograph.
WEISS: Daher gibt’s die Form des Tagebuchs und der Autobiographie,
also den schriftlichen Nachvollzug des eigenen Lebens. Dafür reicht es,
wenn du dich selbst interessant findest. Und mit Print-on-demand
brauchst du noch nicht einmal einen interessierten Verleger, um deinen
Aufschrieb unters Volk zu bringen.
ROT: Wie traurig ist das denn? Und Aufsätze konnte ich schon in der
Schule nicht schreiben.
WEISS: Du kannst gar nicht anders, als Biograph deines eigenen Lebens zu
sein. Dein Leben ereignet sich immer schon aus einem intuitivkünstlerischen
Prozess heraus. Dabei bist du ein Multitalent: Du bist Autor,
Regisseur und Schauspieler in einem. Und deinem Umfeld erscheint
ein Abschnitt in deinem Leben je nachdem mal als Tragödie, als Drama
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oder als Komödie. Damit wird das Leben zu Lebenskunst - und nach Joseph
Beuys jeder, der lebt, selbst zum Künstler…
ROT: …und die ganze Welt zum Theater. Ich bin schon auf die nächsten
Kapitel gespannt.
SYUEB
Jeder Mensch ist ein Künstler
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27. Panem et Circenses
ROT: Ich versuche mir seit einigen Tagen die unfassbare Anzahl von bald
acht Milliarden Menschen vorzustellen, zusammen mit dem Gefühl jedes
Einzelnen, etwas Besonderes zu sein. Ich muss gestehen, das fällt mir
schwer. In meinen Augen verschwimmt die Menschheit zur puren bedrohlichen
Masse.
WEISS: Zwei Milliarden von denen haben doch einen Facebook-Account.
Guck dir die Profile und die Posts an, dann werden auch für dich die einzelnen
User in ihrer Individualität, mit ihren persönlichen Erlebnissen,
Fähigkeiten und Vorlieben leicht unterscheidbar.
ROT: Für mich sind die Petabytes an Foto- und Videomaterial über Katzen,
Urlaube und Mahlzeiten absolut austauschbar und die Individuen für
die Facebook-Algorithmen bekanntermaßen bis ins Wahlverhalten hinein
vorhersehbar. Das vermeintlich Besondere kehrt sich ins Banale und Berechenbare,
das Einzigartige ins Normale und Genormte. Die empfundene
Individualität erweist sich als Illusion. – Warum ist Facebook damit
so erfolgreich?
WEISS: Sobald der Mensch einigermaßen satt, behaust und beschäftigt ist,
sehnt er sich nach Freunden, Anerkennung und Wertschätzung und
strebt nach Selbstverwirklichung. Diese maslowschen Sehnsüchte bedient
Facebook und bietet dafür einen grenzenlosen Spielplatz, auf dem sich alle
austoben und als vermeintlich einzigartig erleben können.
ROT: Dabei stört es niemanden, dass alle die gleichen Förmchen und
Schäufelchen haben und die meisten Sandburgen am Ende des Tages
zum Verwechseln ähnlich aussehen?
WEISS: Die Kids haben auf jeden Fall eine Menge Spaß – und darauf
kommt es an.
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ROT: Du meinst es geht nicht um Einzigartigkeit an sich – sondern nur um
das Gefühl von Einzigartigkeit?
WEISS: Ja, so ist es wohl. Den meisten Leuten wird unwohl, wenn sie sich
zur sehr aus der Menge hervorwagen. Ihnen reicht das Gefühl von Freiheit
und Abenteuer und sie finden nichts dabei, wenn sie in ihrem Handeln
zuletzt berechenbar bleiben.
ROT: Anders wird der Planet mit seinen 8 Milliarden Menschen wohl nicht
zu navigieren sein: Brot und Spiele auf der Benutzeroberfläche und kalkuliere
und herrsche in den Tiefen des Betriebssystems.
NEDRAILLIM 8 NOV RE1
63
28. Wenn einem der Zufall auf die Füsse fällt
ROT: Du besteigst zur falschen Zeit am falschen Ort ein Flugzeug – und
verschwindest vom Radar. Was ist das: ein unglücklicher Vorfall, ein
nachrichtlicher Zwischenfall, ein tragischer Unfall oder einfach nur ein
dummer Zufall?
WEISS: Das haben die Dinos vor 65 Millionen Jahren auch gedacht, als
ihnen ein Meteor mir nichts dir nichts den Garaus gemacht hat. Astronomen
hätten das Desaster mit den entsprechenden Instrumenten sicherlich
kommen sehen und den Einschlagsort und –zeitpunkt exakt vorherbestimmen
können.
ROT: Du meinst, für jede Wirkung gibt es immer auch eine Ursache? Die
Flugschreiber werden sicher auch in diesem Fall diese an den Tag bringen.
Aber was ist es auf der Individualebene: Zufall oder Schicksal?
WEISS: Die beiden Alternativen sind doch vielmehr Zufall oder Zuteil. Sage
ich Zufall, dann interessiert mich: Was ereignet sich, wo und mit welcher
Wirkung drängt das Ereignis in mein Leben? Sage ich Zuteil respektive
Schicksal, dann richtet sich mein Fragen nach dem Woher und Warum des
Ereignisses.
ROT: Und dann kommt doch in der Regel Gott ins Spiel.
WEISS: Gott ist der große Platzhalter fürs Unbegreifliche. Er ist die transzendentale
Blackbox, die noch niemand ausgelesen hat. Und dabei halten
doch sowohl die Schlichtesten wie auch die Gelehrtesten ihre Ohren
ganz genau hin – als könnten sie etwas Sicheres vernehmen.
ROT: Was hat er wohl dabei gedacht, als die Passagiere vor ihren Rechnern
gesessen und ihre Flüge gebucht haben; als sie am Morgen ihre Koffer
gepackt haben und mittags eingecheckt sind; als kurz nach dem Start die
Strömung über den Tragflächen abgerissen ist – und alle ins Verderben
gestürzt sind.
64
WEISS: Wir Christen versuchen uns damit zu trösten, dass denen, die Gott
lieben, alle Dinge zum Besten dienen. (Römer 8,28)
ROT: Ja sicher – diese Hoffnung stirbt zuletzt.
TOT TSI TTOG oder EHCSZTEIN
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29. Diskretion in der
Aufmerksamkeitsökonomie
ROT: Wenn du mich fragst, dann ist Mark Zuckerberg in Holland auf die
Idee für sein Facebook gekommen. Dort guckst du am Abend durch die
Windows und siehst die Wohnzimmeraccounts der Einheimischen in
Full HD: Sie posten sich beim Abendessen, beim Spiel mit den Kindern,
beim Fernsehen, am Schreibtisch. Und Unanständiges siehst du, wie bei
Facebook, nirgends. Da musst du schon ins Dark-Street-Net gehen...
WEISS: Ja und?
ROT: Wenn du als Deutscher – geprägt von unserem strengen Gardinenschutz
– durch die Gassen scrollst, fängst du bei soviel Offenheit automatisch
an zu gaffen, surfst von Adresse zu Adresse und verläufst dich
dabei natürlich. Eigentlich wolltest du direkt ins Rijksmuseum, um echte
Kunst zu sehen. Stattdessen bleibt dein Blick an den billigen Van Gogh-
Kopien, an Souvenirs, sonstigem Kitsch in den Wohnzimmern und natürlich
an den unvermeidlichen süßen Kätzchen hängen. Die ersten drei
Tage ist das wahnsinnig spannend, doch dann nervt diese kostenlose Banalität
des Alltäglichen nur noch. Dann willst du das Besondere und landest
doch im Van Gogh-Bezahl-Museum.
WEISS: Stimmt – solange allgemein Diskretion geboten ist, bleibt der Blick
durch das zufällig offene Fenster aufregend und spannend. Sobald aber
niemand mehr Gardinen hat, guckt man auch nirgends mehr hin.
ROT: Und so hat man mehr Licht im Zimmer – und einen freien Blick auf
die Straße.
WEISS: Den Holländern macht es offenbar nichts aus, wenn Passanten ins
Fenster schauen – sie haben ja schließlich nichts zu verbergen. So erzielen
sie Diskretion durch Indiskretion.
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ROT: Die Facebook-User erscheinen mir dagegen als Super-Holländer,
indem sie sogar ausdrücklich wollen, dass man ihnen direkt und möglichst
lange ins digitale Wohnzimmer schaut. Man soll ihnen dabei möglichst
noch zuwinken und idealerweise noch ein kleines Schwätzchen halten.
WEISS: Und da man als virtueller Passant aber nicht an allen Windows
stehen bleiben kann, werden nun Heerscharen von Beratern engagiert,
die die digitalen Wohnzimmer auf ihren Aufmerksamkeitswert hin optimieren.
ROT: Ich fasse das mal so zusammen: In der Heimat ziehen wir diskret die
Gardinen zu, in Holland spannen wir indiskret in die Wohnzimmer und
im WorldWideWeb prostituieren wir unser Privatleben in aller Freimütigkeit
– das ist krass!
GREBREKCUZ KRAM
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30. Sphärenmusik? – Bei dir piepst’s wohl!
ROT: Zwei Dinge nerven meine Nachbarin als notorische Langschläferin
am Frühling: Die Zeitumstellung und das frühmorgendliche Geplärre der
Vögel. – Ich fasse es nicht. Für mich ist das fröhliche Gezwitscher Musik,
bei der mir das Herz aufgeht.
WEISS: Musik? Laut Wikipedia ist Musik eine Kunstgattung, deren Werke aus
organisierten Schallereignissen bestehen. Das scheint mir trotz der lieblichen
Vielstimmigkeit beim natürlichen Vogelkonzert nicht der Fall zu sein. Bei
der Sphärenharmonie ist das schon etwas anderes. Diese erklingt, wenn wir
Pythagoras folgen, weil der Kosmos nach den gleichen mathematischen
Proportionen organisiert ist wie die Musik von uns Erdlingen.
ROT: Ich erinnere mich mit Schaudern an meinen Musikunterricht. Tonleitern,
Quintenzirkel, Harmonielehre... Das war mehr Mathematik als Musik,
die so eigentlich zu den MINT-Fächern gehören müsste.
WEISS: Im Mittelalter war das so. Da gehörte Musik zu den septem artes
liberales. Mir scheint, Musik ist Mathematik in ihrer ästhetischsten Form.
Sie zielt durch das Ohr als den differenziertesten unserer Sinne direkt ins
Herz (dabei lässt sie den Verstand bei den Meisten rechts und links liegen).
Während wir Farben, Geschmack und Gerüche nur grob beschreiben
können, können wir bei entsprechender Schulung Töne bis auf die
Frequenz genau unterscheiden und benennen.
ROT: Stimmt, Musik geht von simpel bis komplex. In der Mathematik beherrschen
nur die wenigsten Differenzial- und Infinitesimalrechnung aus
dem Effeff, so dass sich die Mehrheit mit den Grundrechenarten begnügen
muss. Die den Letzteren entsprechende Musik nennt man dann wohl
Pop.
WEISS: Spannend finde ich noch folgendes: Bei der bildenden wie bei der
Kochkunst fallen Entstehung und Genuss auseinander. Erst muss gemalt
respektive gekocht werden, dann erst wird betrachtet und gespeist. Musik
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dagegen kann Musiker und Publikum auf sehr intensive Weise synchron
verbinden und jeden Einzelnen mit allen anderen zum Schwingen bringen.
ROT: Wie kommt es dann zur babylonischen Musikverwirrung, durch die
wir so viele unterschiedliche Musikstile haben und die Musikgeschmäcker
so fragmentiert sind?
WEISS: Wie beim Humanismus geht es auch in der Musik zuerst und zuletzt
um Vereinigung, um Zusammenklang und Harmonie. Dazwischen
suchen und betonen wir das Eigenartige und Unterschiedliche und würzen
uns mit Disharmonien und Inkompatibilitäten das Leben. Das nennt
man Individualismus.
KISUM
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31. Ein Freund, ein guter Freund…
ROT: ...das ist das Beste, was es gibt auf der Welt!
WEISS: Ja, ja – Liebe vergeht, Freundschaft besteht! Die Comedian Harmonists
und das hohe Lied auf die Freundschaft! Wie kommst du darauf?
ROT: Warum heiraten wir nicht einfach unseren besten Freund? Wenn die
Comedians recht haben, dann müsste doch eine Ehe, die auf Freundschaft
statt auf Liebe gründet, haltbarer sein. Die Libido lässt sich dann
nach Gusto extern bedienen und tangiert die Freundschaft nicht. Und für
die, die Kinder wollen, gibt es ja inzwischen einen bunten Strauß an
Möglichkeiten...
WEISS: Ich muss zugeben, das klingt verlockend. Schon in Schillers Ode
an die Freude verschwimmt die Grenze zwischen Ehe und Freundschaft:
Wem der holde Wurf gelungen
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer's nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!
ROT: Was ist denn Freundschaft überhaupt?
WEISS: Sie ist ihrem Wesen nach das Eingehen einer Wahlverwandtschaft.
Sie bedeutet die freie Wahl eines Bruders oder einer Schwester als Seelenund/oder
Geistesverwandte. Auf diesem Prinzip beruhen die Klostergemeinschaften.
Und anders als in der Normalehe ist dort – abgesichert
durch das Keuschheitsgebot – die Vielfreundschaft möglich.
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ROT: Ist die Wahl eines Ehepartners nicht auch eine Wahlverwandtschaft?
Übrigens – kennst du den Unterschied zwischen Ehe und Demokratie?
In letzterer kannst Du alle vier Jahre eine neue Regierung wählen...
WEISS. Die Ehe war mal Wirtschafts- und Aufzuchtgemeinschaft. Das
heißt, in dem Maße, in dem der Staat Grundsicherung, Aufzucht und
Rente garantiert, wird die Ehe als Institution überflüssig.
ROT: Demnach wäre die Haltbarkeit von Beziehungen immer mehr davon
abhängig, inwieweit es gelingt, auf eigenen Beinen stehend den Ehe- beziehungsweise
Lebenspartner zum (besten) Freund zu machen.
WEISS: Richtig – und dass Treue damit nicht zum leeren Wahn wird, lehrt
uns Schiller mit seiner Bürgschaft...
GNUNNERT
71
32. Keine Angst! – Das bringt dich nicht um
ROT: Wir Menschen sind doch merkwürdig programmiert. Meistens ist
doch die Angst vor dem Zahnarzt peinvoller als der Zahnarztbesuch
selbst. Wahrscheinlich ist es beim Tod genauso.
WEISS: Ja, meistens wird heißer gekocht als gegessen. Von diesem Faktum
leben die Versicherungen genau so gut wie die Religionen.
ROT: Evolutionsbiologisch macht Angst durchaus Sinn: Man kann sie als
eine mehr oder weniger sensibel eingestellte Alarmanlage verstehen, die
uns vor den verschiedensten Gefahren warnt und bewahrt.
WEISS: Der feine Unterschied: Das Gefühl Angst ist bereits eine Alarmanlage
im Alarmzustand. Dummerweise handelt es sich dabei meistens um
einen Fehlalarm. Dann erweist sich Angst als ebenso unerträglich wie das
penetrante Piepen eines Rauchmelders, der lediglich signalisiert, dass er
eine neue Batterie benötigt.
ROT: Für mich ist Angst wie ein kläffender, schlecht erzogener Hofhund,
der ständig bezähmt und gefüttert werden will: mit Versicherungspolicen,
mit Vorhängeschlössern, mit Misstrauen aller Art, und am Ende wird
man seiner doch nicht Herr. Ab ins Tierheim mit ihm!
WEISS: Ja – Angst ist ganz offensichtlich ein schlechter Hofhund. Doch
deinen Hof gänzlich unbewacht lassen willst du doch nicht? Wie wäre es
mit der Vorsicht als von der Vernunft gezähmte Angst. Ihr sollten wir
den Wachdienst anvertrauen.
ROT: Damit bezwingen wir vielleicht die Furcht vor dem Zahnarztbesuch.
Doch alle Vorsicht bewahrt uns nicht vor dem Tod. Wie werden wir zuletzt
auch unsere Todesangst los?
WEISS: Ein weiser Mensch hat einmal folgende Geschichte erzählt:
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Zwei Zwillinge lebten bereits seit Monaten zusammen im wohlig warmen
Bauch ihrer Mutter und genossen eine heitere und unbeschwerte Zeit.
Doch je mehr sie ihrem Ende entgegen wuchsen desto enger wurde ihnen
ums Herz. Schließlich konnte der eine Zwilling seine Angst nicht
mehr verbergen und fragte den anderen: Sag mal, glaubst du an ein Leben
nach der Geburt?
Wir wissen, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Warum nicht auch eins
nach dem Tod? Dort, wo der Verstand mit seiner Vorsicht nicht mehr
hinreicht, muss er sich zur Weisheit steigern.
TSGNA ENIEK
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33. Trauer: Don’t worry – be happy!
ROT: Eben habe ich meine Frau zum Flieger gebracht. Ayurveda-Kur auf
Sri Lanka. Sie war ganz aufgekratzt. Ich habe ziemlich cool getan, aber
eigentlich bin ich echt traurig, weil sie jetzt drei Wochen weg ist.
WEISS: Hättest ja mitfliegen können ins Wellnessparadies.
ROT: Ayurveda – das ist nichts für mich.
WEISS: Trauer ist ja schon ein ziemlich egoistisches Gefühl. Anstatt dich
für deine Frau zu freuen, die jetzt in ihrem Paradies ist, bist du traurig,
weil du jetzt deine Hemden selbst bügeln musst.
ROT: Stimmt. Als sie mich neulich zur Bahn gebracht hat, war es genau
andersrum. Ich habe mich aufs Spiel Dortmund-Schalke gefreut und sie
wirkte leicht angetrauert. Wer zurück bleibt hat ein Problem.
WEISS: Das passiert in den besten christlichen Kreisen. Statt den Verstorbenen
zu beglückwünschen, dass er das irdische Jammertal gegen das
himmlische Jerusalem eingetauscht hat, und Trauer darüber zu empfinden,
dass man selbst noch nicht hinein darf, lamentiert man über den
Verlust des Gefährten.
ROT: Da dominiert wohl die Selbstliebe die Nächstenliebe. Demnach wäre
Trauer Ausdruck der eigenen Unfähigkeit los zu lassen – und ziemlich
dicht am Selbstmitleid.
WEISS: Ja, ich betrauere und bedaure nicht meine Katze, die unter die Räder
gekommen ist, sondern mich selbst, weil ich diese Katze nicht mehr
habe.
ROT: Und was passiert auf Dauer mit der Trauer?
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WEISS: Trauer ist gewöhnlich nur ein temporäres Gefühl. Das Antidotum
ist Trost. Eine neue Katze zum Beispiel. Aber vorher geht das Verlusterlebnis
durch verschiedene Metamorphosen:
Schock: Das ist doch nicht etwa meine Katze da unter dem Auto.
Zorn: Dieses verflixte Auto. Wieso meine und nicht Nachbars Katze?
Trauer: Mein liebes Kätzchen, dein Schnurren fehlt mir so.
Akzeptanz: Immerhin
musste sie
nicht lange leiden.
Sie war ja auch
schon ziemlich alt.
Trost: Ach, ist die
aber süß. Kann ich
sie gleich mitnehmen?
ROT: Wohl wahr –
das ist des Lebens
Lauf.
HCILGNÄGREV – Alles hat seine Zeit
75
34. Ich weiß, dass ich nicht weise
ROT: Mir graut vor dem Alter.
WEISS: Man graut mit dem Alter! – Wo ist Dein Problem?
ROT: Nie war Alter so wertlos wie heute. Wissen ist alles – Weisheit gilt
nichts. Früher musste man die Alten fragen, um die Welt zu verstehen.
Heute erklären die Jungen den abgehängten Alten die neue Zeit.
WEISS: Was ist denn der Unterschied zwischen Wissen und Weisheit?
ROT: Ein Professor kann viel wissen, ist aber nicht notwendigerweise weise.
Meine Oma war definitiv weise, obwohl sie nur die Volksschule besucht
hatte. Weisheit ist Lebenserfahrung.
WEISS: Dann wären ja alle alten Leute weise. Viele Alte sind doch einfach
nur engstirnig und borniert. Sie leben von ihren Vorurteilen und dem
Glauben, dass früher alles besser war.
Aber zur Weisheit braucht es schon ein wenig mehr.
ROT: Wie wäre es mit Weisheit als reflektierte Lebenserfahrung?
WEISS: Aus Erfahrung wird man klug, nicht weise.
ROT: Ist denn Weisheit überhaupt an das Alter und die Erfahrung gebunden?
Denn es heißt doch auch: Kindermund tut Weisheit kund.
WEISS: Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Was haben Kinder und
Alte gemeinsam?
ROT: Kinder stehen noch nicht, Alte nicht mehr mitten im Leben.
WEISS: Weisheit bedeutet die Dinge aus einem gewissen Abstand zu betrachten,
mit der Gelassenheit des Unbeteiligten. Ganz so wie Brecht in
76
seinem Gedicht an die Nachgeborenen schreibt:
Ich wäre gern auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten
und die kurze Zeit
Ohne Furcht zu verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen,
sondern vergessen
Gilt für weise…
ROT: Ich wünschte,
ich könnte all das...
Wirklich, ich lebe in
finstren Zeiten!
WEISS: Ja, Weisheit
muss ohne Macht
sein – sonst pervertiert
sie. In der Weisheit
kommt die Welt
zur Ruhe.
TIEHSIEW
77
35. Kairos oder die göttliche Versuchung
ROT: Mein Briefkasten quillt schon wieder vor günstigen Gelegenheiten
über. Bei mir landet das Zeug gleich in der Tonne.
WEISS: Warum bist du so sicher, dass nicht doch etwas Passendes für dich
dabei ist?
ROT: Ich habe alles, was ich brauche. Die wollen doch sowieso nur mein
Geld.
WEISS: Tja, so denken viele – auch dann, wenn sie Kairos begegnen.
ROT: Wer ist das denn jetzt schon wieder?
WEISS: Er ist der jüngste unter den Söhnen des Zeus. Mit seiner Stirnlocke
eilt er als Gelegenheit zwischen den Menschen umher in der Hoffnung,
dass man ihn beim Schopfe packe. Doch ist er einmal vorüber, dann ist
es zu spät – denn am Hinterkopf ist er kahl.
ROT: Kein Wunder, dass die Leute zögern. Wie sollen sie denn auch die
günstige Gelegenheit von einer billigen Versuchung unterscheiden?
WEISS: Tatsächlich ist es oft nur ein als Gelegenheit verkleideter Mephisto,
der verführerisch seinen Schopf darbietet. Denn während Kairos die
Menschen immer ihrem Zweck und Ziel näher bringen, führt Mephisto
sie gern auf Abwege.
ROT: Da winken dann die meisten lieber gleich ab. Denn seit Kindertagen
haben sie verinnerlicht: geh nicht mit fremden Männern. Und: Schuster
bleib bei deinen Leisten!
WEISS. Sicher kann man sich nie sein, wer einem da gerade als Kairos erscheint.
Doch wer den wahren Kairos zum Freund will, braucht eine gute
Portion Selbstbewusstsein und Wagemut.
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ROT: Ich bin Kairos noch nie begegnet.
WEISS: Dafür musst du raus an die frische Luft. Er wird sich nicht zu dir
ins heimische Sofa kuscheln.
ROT: Und wie erkenne ich ihn?
WEISS: Mit dem Herzen.
ROT: Und wenn ich mich irre?
WEISS: Es irrt der Mensch, solang er lebt, weil er so gern nach dem Falschen
strebt (Gerhard Uhlenbruck).
ROT: Dann werde ich auf jeden Fall mal die Augen offen halten.
KCÜLG
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36. Mammon unser, der du regierst auf
Erden…
ROT: Geld macht zwar nicht glücklich, aber reich, rief mir heute mein Abreißkalender
als morgendliche Ermunterung zu. Toller Start in den Tag!
WEISS: Stimmt, zum Golde drängt, am Golde hängt doch alles.
ROT: Hör mir auf mit Goethe. Es ist wie verhext: Alles dreht sich ums
Geld. Am Ende ist es doch nichts weiter als Papier.
WEISS: Nicht ganz: Es ist Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel, Leihmittel.
Es ist die Macht, Gutes zu tun. Allerdings nur so lange, wie die
Währungsgemeinschaft an den Wert ihrer Währung glaubt.
ROT: Dann sind die verschiedenen Währungen nur unterschiedliche Konfessionen,
die um den einen allmächtigen Mammon tanzen?
WEISS: Sozusagen. Das Schöne ist, jedweder Gottesdienst wird von Mammon
bereits im Diesseits belohnt. Während uns im Paradies Wolkendunst
und Engelsgesang erwartet, kann sich im Hier und Jetzt jeder sein
Paradies selbst nach Gusto zusammenkaufen. Ist doch riesig!
ROT: Und während im Himmel ein jeder selbst für sein Seelenheil sorgen
muss, kann man sein irdisches Wohlleben sogar vererben, so dass sich die
werte Nachkommenschaft ins gemachte Nest setzen kann. Kein Wunder,
dass sich die Kirchen leeren, während an den Börsen Hochbetrieb
herrscht.
WEISS: Das Geldwesen wird dabei noch virtueller als der klassische Glaubensbetrieb,
der sich wenigstens noch über handfeste Gleichnisse verständlich
machen konnte. Was da in Sekundenschnelle an Geldwerten
um den Globus gejagt wird, entzieht sich jeder Vorstellung.
ROT: Und wie beten wir zu Mammon?
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WEISS: Wie wäre es damit: Mammon unser, der du regierst auf Erden, geheiligt
sei deine unsichtbare Hand, rentieren sich sollen unsere Investitionen
und unsere Kurse steigen an der Wall Street wie auch in Europa. Unseren
täglichen Umsatz gib uns heute und gewähre uns Kredit, wie wir
ihn gewähren unseren Gläubigern. Und führe uns nicht in Konkurs, sondern
erlöse uns von den Krisen. Denn dein ist die Welt, und das Geld
und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
REIG
81
37. Meinungsfreiheit ist Mist!
ROT: Seit fast einem Jahr sagen wir hier Woche für Woche unsere Meinung
und keinen juckt es…
WEISS: …und Rezo dreht ein einziges Video und die ganze Republik steht
Kopf.
ROT: Meinungsfreiheit ist frustrierend.
WEISS: In China hätten wir uns bereits nach drei Blogeinträgen aus dem
Umerziehungslager heraus über unsere Berühmtheit freuen können. Diesen
Preis wollten wir beide nicht für das bisschen Philosophie bezahlen,
oder?
ROT: Doch was nützt die Meinung, wenn sie nicht gehört wird?
WEISS: Vielleicht gibt es so etwas wie Meinungsdarwinismus: The survival
of the smartest, the loudest or the simplest.
ROT: Du meinst, wir brauchen mindestens achtzig Millionen Meinungen,
damit am Ende etwas Vernünftiges dabei herauskommt?
WEISS: In der Mathematik reicht einer, der richtig rechnen kann, um ein
richtiges Ergebnis zu erzielen. Einem sozialen Gebilde ist mit exakter
Wissenschaft leider nicht beizukommen.
ROT: Aber muss denn der ganze Bullshit, der in der Meinungslandschaft
produziert wird und zum Himmel stinkt, wirklich sein?
WEISS: Mir kommt der Medienbetrieb von analog bis digital vor wie ein
riesiger Komposthaufen, auf dem zuletzt alles landet, was an Meinungen
produziert wird. Durch gesellschaftliche Gärungsprozesse entsteht daraus
der Humus, auf dem stabile demokratische Strukturen wachsen.
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ROT: Das heißt also, wir produzieren alles nur für die Tonne? Warum machen
wir das?
WEISS: Weil es ein Menschenbedürfnis ist, Meinungen zu bilden und zu
haben!
ROT: So wie Essen und
Trinken?
WEISS: Und genauso, wie
nicht nur die Kants und
Goethes dieser Welt das
Recht haben zu essen
und trinken, haben Normalos
wie du und ich das
Recht, wöchentlich unsere
intellektuelle Notdurft
auf dem großen Komposthaufen
zu verrichten.
ROT: Auch wenn Meinungsfreiheit
nicht
schmeckt, sie wirkt am
Ende doch fruchtbar....
NEHCILHCSNEMUZLLA SED NEFUAHTSIM
MED FUA TSHCÄW ETSHCILHCSNEM SAD HCUA
83
38. 'tschuldigung
ROT: 'tschuldigung.
WEISS: Ich warte schon seit 15 Minuten auf dich.
ROT: Reg dich ab – ich habe mich doch entschuldigt.
WEISS: Du meinst im Ernst, dass du dich selbst so mir nichts, dir nichts
entschuldigen kannst?
ROT: Also bitteschön noch mal: Hiermit entschuldige ich mich bei dir in
aller Form für mein Zuspätkommen. – Gut so?
WEISS: Nein, nicht gut.
ROT: Was denn noch?
WEISS: Du kannst mich doch allenfalls um Entschuldigung bitten, die ich
dir dann unter Umständen gewähre. Denn bei einer Schuld gibt es immer
zwei: den, der an jemandem schuldig geworden ist, und den Betroffenen,
der infolgedessen bei dem Schuldigen etwas gut hat.
ROT: Und wie funktioniert in dieser Konstellation eine Entschuldigung?
WEISS: Zunächst muss es ein Einverständnis darüber geben, dass es eine
Schuld gibt – und wie schwer diese wiegt.
ROT: Stimmt. In Südamerika wären 15 Minuten zu spät immer noch zu
früh. Der hiesige Taxifahrer dagegen lässt das Taxometer einfach laufen,
so dass sich die Schuld nach 15 Minuten genau taxieren lässt. Ich zahle
15 Euro und bin anschließend schuldenfrei. Würdest du mich gegen ein
frisch Gezapftes für mein Zuspätkommen entschuldigen?
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WEISS: Das klingt nach einem erfrischend fairen Angebot. Damit ist die
Sache für mich erledigt. – Ich hätte dir übrigens einfach auch verzeihen
können.
ROT: Was ist der Unterschied?
WEISS: Während zum Entschuldigen immer zwei gehören, reicht beim
Verzeihen einer. Ich hätte dir verzeihen können, ohne dass du es gemerkt
hättest, indem ich von deinem Zuspätkommen und meiner empfundenen
Langeweile keinerlei Aufhebens gemacht hätte.
ROT: Andererseits könntest du dich auch, wenn ich mich uneinsichtig zeige,
bei unserer nächsten Verabredung einfach rächen und mich 20 Minuten
warten lassen.
WEISS: Christlich gesprochen sind Entschuldigung und Rache Altes Testament:
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Verzeihen dagegen ist Neues
Testament: Ein einseitiges, liebevolles Heraustreten und Herausnehmen
der Schuld aus dem verhängnisvollen Kreis von Schuld und Sühne durch
bedingungsloses Vergeben und Vergessen. Aber in deinem Fall ist mir die
Entschuldigung dann doch lieber.
ROT: Na denn Prost!
RETREWHCS zu Pflugscharen
85
39. Heimat haben ist gut…
ROT: Wo machst du denn Hitzefrei dieses Jahr?
WEISS: In der Heimat.
ROT: Wo bitte soll das denn sein? Der Ort deiner Kindheit, das Sauerland,
Deutschland, der deutsche Sprachraum, Europa?
WEISS: Heimisch bin ich da, wo ich mich verstanden fühle.
ROT: Dann musst du Querkopf den Sommer wohl in den eigenen vier
Wänden verbringen.
WEISS: Im Ernst! Das Verstehen umfasst alles: Landschaft, Sprache, Humor,
Geschmack, Mode, Gewohnheiten…
ROT: Und ab wann wird’s spießig?
WEISS: Wenn die heimischen vier Wände keine Türen und Fenster mehr
haben, durch die Bekannte und Unbekannte herein- und vorbeischauen
können. Und man selbst nicht mehr vor die Tür kommt, um sich von
dem anregen zu lassen, was draußen in der Welt so vor sich geht.
ROT: Leben wir kulturell nicht längst schon und besser in einer riesigen
Gemeinschaftsunterkunft, in der alles bunt durcheinander geht und sich
jeder nach dem postmodernen Credo anything goes frei bedienen kann?
WEISS: Heimat ist immer ein Raum, der von dem, was nicht Heimat ist,
abgegrenzt ist.
ROT: Das heißt Heimat und Multikulti sind für Dich Gegensätze?
WEISS: Heimat ist immer ein Kollektiv. Schau Dir mal die Tracht als Beispiel
an. Die Norweger haben fast alle eine regionale Tracht im Schrank,
86
die am Nationalfeiertag selbstverständlich ausgepackt und getragen wird.
Das Individuum dagegen wählt eine Verkleidung, die in ihrer Austauschbarkeit
lediglich Mode ist. Das Individuelle trägt so in der Tendenz die
Zerstörung des Heimatlichen in sich. Wir sind da hierzulande inzwischen
ziemlich weit gekommen.
ROT: Schließlich wird so Heimat zum bloßen Sehnsuchtsort für den inzwischen
unbehausten Zeitgenossen und die Erinnerung daran zur Folklore?
WEISS: So ist es wohl. Aber jeder Verlust ist immer auch ein Gewinn:
GREBLEDIEH
Lange lieb ich dich schon und möchte dich, mir zu Lust, Mutter nennen und dir
schenken ein kunstlos Lied, Du, der Vaterlandsstädte Ländlichschönste, so viel ich
sah... – Hölderlin
87
40. Was, wenn Demokraten zu Demokretins
mutieren?
ROT: Ich sag's dir: Die Demokratie geht vor die Hunde.
WEISS: Bitte nicht so defätistisch.
ROT: Populisten! – wohin das Auge blickt! Warum sehnen sich mehr und
mehr Menschen nach starken Führern? Was haben wir falsch gemacht?
Waren wir nicht fast sicher, dass mit dem Ende des kalten Krieges und
dem umfassenden Sieg der Demokratie das Ende der Geschichte begonnen
hatte?
WEISS: Das haben die antiken Griechen nach dem Sieg über die tyrannischen
Perser sicherlich auch gedacht. Die attischen Demokratien wurden
jedoch nach langen Phasen der Selbst-Zerfleischung von dem Königtum
Mazedonien und Alexander dem Großen sang- und klanglos übernommen.
Auch die stolze römische Republik verendete zuletzt in den Fängen
der Cäsaren. Bis zur Morgenröte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
und der demokratischen Renaissance 1776 dauerte es dann noch
finstere 1800 Jahre.
ROT: Du meinst, dass unsere vielgepriesene Demokratie auch nur eine
vorübergehende Erscheinung ist?
WEISS: Wir sind derzeit Zeugen eines spannenden Systemwettbewerbs:
westliche Demokratien hüben – chinesischer Staatskapitalismus drüben.
Und mal ganz ehrlich: Der Westen macht in diesem Beauty Contest gerade
nicht die allerbeste Figur.
ROT: Das stimmt leider. Doch während die Amerikaner die Gefahr erkannt
haben und sich dieser geostrategisch zu stellen versuchen, zerlegen
wir Europäer uns derweil selbst.
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WEISS: Die Leute spüren, dass die Demokratie ein Effizienzproblem hat,
das angesichts der Komplexität der vielen Probleme, die es zu lösen gilt,
immer deutlicher zutage tritt. Da wünscht man sich eben einen Kapitän,
der das Staatsschiff souverän und kompetent durch die Krisen steuert.
ROT: Kein Wunder, dass sich auf See und in der Luft der Parlamentarismus
nie durchgesetzt hat.
WEISS: Andererseits können nicht nur die Chinesen ein Lied davon singen,
wohin es führt, wenn große Steuermänner dem Wahnsinn verfallen.
ROT: Dann hat Winston Churchill doch Recht, wenn er sagt: Democracy is
the worst form of government – except all those other forms that have been tried from
time to time.
WEISS: Das macht den Systemwettbewerb ja gerade so spannend: Der
Staatskapitalismus braucht einen klugen Führer, die Demokratie ein kluges
Volk. Was aber, wenn die Demokraten zu Demokretins mutieren?
Der FLOW im Schafspelz
89
41. Versuch’s mal mit Gemütlichkeit
ROT: Die Leute um mich herum wirken alle total gestresst.
WEISS: Versuch mal, dich als informierter Zeitgenosse angesichts der
Nachrichtenlage zu entspannen: Klimakrise, Flüchtlingskrise, Kapitalismuskrise,
Demokratiekrise, Demographiekrise – Krisen soweit das Auge
reicht.
ROT: Und die persönlichen Beziehungs- und Sinnkrisen kommen als Sahnehäubchen
noch oben drauf.
WEISS: Das alles führt zu permanenten Stress…
ROT: …und schließlich zu Burnout?
WEISS: Die Menschen reagieren unterschiedlich. Von Ignoranz bis zu permanenten
Schuldgefühlen ist alles drin. Das geht so weit, dass die Leute
an ihrer persönlichen Daseinsberechtigung zweifeln.
ROT: Das Essen schmeckt nicht mehr, der Urlaub wird ungenießbar,
Shoppen macht keinen Spaß mehr und selbst das Surfen und Streamen
zuhause wird einem verleidet angesichts des damit verbundenen Energieverbrauchs.
WEISS: Kein Wunder, wenn die Leute depressiv werden.
ROT: Und wie kommen wir raus aus dem Stress?
WEISS: Die Antistress-Ratgeber-Literatur füllt Bibliotheken.
ROT: Deine Empfehlung?
WEISS: Ich halte es mit Balu, dem Bär:
90
Probier’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag
und die Sorgen weg. Und wenn du stets gemütlich bist und etwas appetitlich ist, dann
nimm es dir – egal von welchem Fleck.
ROT: Das dürfte so ungefähr die Lebenseinstellung der Schönen und Reichen
sein, die auf diese Weise auf Kosten der anderen jeden Hitzesommer
überstehen.
WEISS: Du musst Balus Empfehlung schon zu Ende anhören:
Du musst bescheiden und nicht gierig sein…
ROT: Das sind doch platte Disney-Weisheiten. Was ist denn Bescheidenheit?
WEISS: Bescheidenheit ist mit weniger auszukommen als man hat.
ROT: Und was ist mit der Differenz?
WEISS: Da ist von Geiz bis Altruismus alles möglich. Balu befindet sich
übrigens mit Seneca, dem alten Stoiker, in guter Gesellschaft. Hier ist
dessen Glücksformel, mit der du dem Burnout garantiert entgehst:
Wer die Einsicht besitzt, ist auch
maßvoll; wer maßvoll ist, ist auch
gleichmütig; wer gleichmütig ist, lässt
sich nicht aus der Ruhe bringen, wer
sich nicht aus der Ruhe bringen
lässt, ist ohne Kummer; wer ohne
Kummer ist, ist glücklich – also ist
der Einsichtige glücklich, und die
Einsicht reicht aus für ein glückliches
Leben.
AHDDUB
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42. Da guckst du – Mann, bin ich stolz
ROT: Guck mal!
WEISS: Tolle Uhr – wo hast du die denn gefunden?
ROT: Weder gefunden noch geschenkt noch geklaut – das Geschmeide
hab ich mir verdient!
WEISS: Und darauf bist Du jetzt stolz?
ROT: Und wie! Ist das etwa verboten?
WEISS: Ja nun – die Kirchenväter haben weiland im Stolz die erste der
sieben Todsünden erkannt.
ROT: Das Leben lang in Sack und Asche gehen – das hätten die Herrschaften
wohl gerne. Leistung muss sich lohnen – und am Zahltag ist das dazu
gehörige Gefühl: Stolz! Den lasse ich mir nicht nehmen.
WEISS: Einverstanden: Stolz ist ein starkes positives Gefühl vom Wert der
eigenen Person. Insofern wäre Stolz für ein gesundes Selbstbewusstsein,
das auf eigenen Füßen steht, konstituierend.
ROT: Ah – darum hat die Kirche mit dem Stolz per se ein Problem: Der
Stolze spürt das Bedürfnis nach Erlösung nicht zuallererst – wodurch das
transzendentale Geschäftsmodell infrage gestellt ist.
WEISS: Allerdings läuft der Stolze in Gefahr, dass bei seinem positiven
Selbstbild Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander klaffen. Zudem
geht die Hochstimmung gern mit der Geringschätzung des Gegenübers
einher. Zwischen gesundem Stolz und abstoßendem Hochmut verläuft
keine klare Grenze.
ROT: Ja, ja – der Hochmut kommt vor dem Fall.
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WEISS: Vielleicht sollte man aber
noch differenzieren: Stolz gründet
entweder auf eigener Leistung,
oder auf Aneignung von
Leistung aufgrund von Zugehörigkeit.
ROT: Du meinst, wenn ich selbst
schon nichts zustande bringe,
kann ich immer noch stolz darauf
sein, Deutscher zu sein?
WEISS: Das wäre dann die krasse,
kahlköpfige Variante. Aber natürlich
gibt es für den Menschen
als Zoon Politikon auch eine
positive Selbstwahrnehmung als
Teil einer Gruppe, die sich in
dem Stolz ausdrückt dazuzugehören.
Aber auch hier ist die
Grenze zu ausgrenzendem und
abwertendem Hochmut schmal.
ROT: Ein bisschen Stolz ist also
ok. Dann behalte ich die Uhr…
LLAF MED ROV TMMOK TUMHCOH
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43. Geht doch: mal richtig durchatmen
ROT: Erholt und braungebrannt. Da werde ich glatt neidisch.
WEISS: Danke! Du wirkst ausgepowert und kaputt – ein Bild des Jammers!
ROT: Stimmt. Ich brauche dringend Erholung.
WEISS: Es scheint, dass Urlaubsreife etwas spezifisch Menschliches ist. In
der freien Natur sind Erholungsreisen unüblich.
ROT: Nach der Jagd sieht ein Löwe auch ziemlich ausgelutscht aus. Dem
begegnet er sogleich mit einem Mittagsschläfchen. Danach ist er wieder
fit.
WEISS: Wir dagegen leben, als würden wir ständig die Luft einhalten und
vergessen auszuatmen...
ROT: ...und laufen so ständig mit hochrotem Kopf durch die Gegend.
Richtig Durchatmen erlauben wir uns dann erst im Urlaub.
WEISS: Durch unsere Arbeitskultur haben wir quasi verlernt zu atmen.
Schon Goethe erkannte darin das Allegorische:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einzuziehn, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt; dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
ROT: Auf die Dauer ist Atmen doch wohl eine ziemlich langweilige Angelegenheit.
Wie bleibt das Leben aufregend?
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WEISS: Nicht das Leben passt sich einem gleichmäßigem Atmen an, sondern
das Atmen dem Leben. Entscheidend dabei ist, den zum eigenen
Leben passenden Atemrhythmus zu finden. Luftanhalten ist dabei keine
Option und führt auf Dauer zum Kollaps.
ROT: Jetzt mal praktisch – Deine Empfehlung für ein entspanntes und
braungebranntes Dasein?
WEISS: Mehr Arbeit bei offenem Fenster mit regelmäßigen Erholungspausen
und Ausgleichsaktivitäten.
ROT: Also nie wieder in den Urlaub fahren?
WEISS: Aber ja doch – allerdings nicht zum Ausatmen, sondern um neue
Erfahrungen zu machen, die den Alltag bereichern. Übrigens ist Urlaub
der Wortbedeutung nach die Erlaubnis des Brotherren, seinen Lebensumkreis
zu verlassen und sich temporär anderweitig umzutun.
ROT: Na – dann bin ich jetzt mal weg...
EHTEOG
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44. Beitrag zur Senkung der Arbeitsmoral
ROT: Warum haben wir eigentlich so einen Horror davor, dass uns Computer
die Arbeit abnehmen?
WEISS: Weil wir dann nicht mehr in den Urlaub fahren könnten, um uns
von der Arbeit zu erholen?
ROT: Aber wenn Computer und Roboter die ganze Arbeit machen würden,
dann wäre doch für unser Auskommen gesorgt. Wir könnten – wie
weiland Marx es für jedermann forderte – heute dies, morgen jenes tun, morgens
jagen, nachmittags fischen und abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren,
wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt und Kritiker zu werden.
Warum fürchten wir uns also vor Arbeitslosigkeit?
WEISS: Vielleicht weil wir damals bei der Vertreibung aus dem Paradies
mit einem Arbeitsfluch belegt wurden: Im Schweiße deines Angesichts sollst du
dein Brot essen. Aber die Bürger im antiken Griechenland haben gezeigt,
dass es auch anders geht: Sie haben die Arbeit verabscheut und diese gerne
ihren Sklaven überlassen. Umso mehr haben sie sich der Politik und
den schönen Künsten zugewandt.
ROT: Wer heute in diesem Sinne Bürger sein wollte, könnte der Arbeit
ohne weiteres entsagen und entspannt von der Grundsicherung leben.
Durch Sozialkaufhaus, Kleiderkammer, Gebrauchtmöbel und –technik
sowie öffentliche Büchereien mit W-LAN wäre dafür gesorgt, dass man
einen gewissen Wohlstand genießen und dabei am politischen, sozialen
und kulturellen Leben teilhaben könnte. Einschränkungen und Organisationsaufwand
würden überkompensiert durch einen Freiheitszuwachs,
von dem der normale Arbeitsbürger nur träumen könnte... Warum machen
wir das nicht?
WEISS: Weil der Bezug der Grundsicherung geächtet ist. Wäre sie als alternativer
Lebensentwurf akzeptiert, würde sich ziemlich bald die Systemfrage
stellen.
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ROT: Aber wir würden es lieben, Computer und Roboter für uns arbeiten
zu lassen – und eine Computerrente zu beziehen. Wir würden dann bemerken,
mit wie wenig man auskommen kann ohne auf etwas Wesentliches
zu verzichten – und der CO2-Ausstoß würde sich nebenbei halbieren.
WEISS. Na ja, ein bisschen menschlicher Gehirnschmalz wäre schon noch
von Nöten. Aber von dem biblischen Fluch – wer nicht arbeitet, soll auch
nicht essen – wären wir befreit.
Marx oder EKNIL EID
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45. Lügen haben gelbe Haare
ROT: Ist das hier der Ort, um sich über Trump aufzuregen? In der allgemeinen
Verfinsterung scheint Wahrheit ein Begriff aus helleren Tagen zu
sein. Wenn wir dann noch unsere hiesigen Denkverbote und Tabus hinzurechnen,
ist man sich seines gesunden Menschenverstandes nicht mehr
sicher.
WEISS: Entspann dich, mein Lieber, gelogen wurde schon immer und in
der Politik sowieso. Dort verkündete Wahrheiten sind immer interessengeleitete
Narrative, Geschichten und Legenden, die man sich entlang ausgewählter
Fakten um die jeweiligen politischen Lagerfeuer herum erzählt.
Der Unterschied zu vergangenen Jahrzehnten ist vielleicht, dass der Zeitgeschmack
gerade nach immer krasseren Stories verlangt.
ROT: Und Trump verwandelt Twitter in ein politisches Ballerspiel und bespielt
das diplomatische Parkett als Egoshooter? Die europäischen
Bridgespieler zeigen sich derweil geschockt und not amused. Mit Kim
und Putin sind längst weitere illustre Gamer eingeloggt, die um den
nächsten großen Deal nach der Devise zocken: the winner takes it all.
WEISS: So sieht’s aus. Es zeigt sich einmal mehr, dass es in der Politik
nicht um Wahrheit sondern um Deutungshoheit geht, d.h. um Macht.
Politiker folgen daher nur zu gern der Empfehlung Macchiavellis: Wahrheit
ist ein kostbares Gut, gehen wir sparsam damit um! – Wir erleben also aktuell
nicht den Untergang des Abendlandes sondern eine Politshow – aber
leider auf Dschungelcampniveau.
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PMURT
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46. Primawandel durch Faulheit
ROT: Die sympathischste Erscheinungsform der Faulheit ist das Faultier.
Es ist putzig, hängt rum, frisst fast nichts und macht kaum Ärger. Wäre
der Mensch ein Faultier: wir hätten weniger Konsum, weniger Kriege,
weniger Migration, weniger Bevölkerungswachstum und weniger Müll.
Ich glaube, Mutter Erde könnte so erleichtert aufatmen.
WEISS: Im Ernst? Du meinst, das wäre endlich eine Energiewende, die
funktioniert? Vermeidung eines planetarischen Burnouts durch Abschaltung
der Hyperaktiven und Installation eines allgemeinen nachhaltigen,
erneuerbaren Faultierlebens?
ROT: Warum denn nicht?
WEISS: Dann bin ich lieber Müßiggänger. Denn Muße verhält sich zu
Faulheit wie Genuss zu Völlerei. Faulheit legt in letzter Konsequenz
menschliches Leben lahm. Muße dagegen wirkt kultur- und sinnstiftend,
sie kompostiert Erfahrungen aus der Vergangenheit, katalysiert zukunftsträchtige
Ideen und gibt Raum für das Wesentliche. Wir sollten also einen
regelmäßigen Müßig-Gang in unser hektisches Alltags-Getriebe einbauen.
Das würde zwar nicht gleich das Weltklima retten – aber ein Arbeitsklima-Wandel
wäre doch auch schon was. Seien wir also öfter mal müßig
statt faul!
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LEDNAWAMILK
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47. Zum Erfolg verdammt
ROT: Und was machst du so beruflich? Das wurde ich gestern auf einer
Party mindestens zehnmal gefragt. Für mich schwingt da unterschwellig
immer die Frage mit, ob ich erfolgreich bin.
WEISS: Das war nicht immer so. Früher wäre es niemanden in den Sinn
gekommen, einen Bauern, Handwerker oder Beamten nach seinen Erfolgen
zu fragen.
ROT: Ach ja?
WEISS: Das größte Lob, das dem gemeinen Mann zuteil werden konnte
war, dass er für tüchtig befunden wurde. Und tüchtig war der, der einfach
das getan hat, was er tun sollte.
ROT: Oder mit Kant gesprochen: Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu
sein sondern um unsere Pflicht zu tun.
WEISS: Heute sagt uns niemand mehr, was wir tun sollen. Wir haben die
Wahl – und wer wählt, der will und muss zeigen, dass er richtig gewählt
hat.
ROT: Das heißt, wer die Selbständigkeit wählt, will ein florierendes Geschäft
vorweisen, und wer sich für eine Karriere entscheidet, will auf der
beruflichen Leiter sichtbar vorankommen.
WEISS: Auch Eltern, die sich bewusst für die Familie entschieden haben,
wollen sich mit wohlgeratenen Sprösslingen präsentieren.
ROT: Verdammt – ich will raus aus dem Erfolgszwang. Ich steige aus.
WEISS: Nur zu. Dann wird dir dein Umfeld gespannt dabei zusehen, ob
und inwieweit du dein persönliches Glück außerhalb der Gesellschaft findest.
– Viel Erfolg dabei!
102
GLOFRE
ist die Folge zielgerichteten Handelns
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48. Feiertagslaune: Der Welt einfach mal den
Stecker ziehen
ROT: Wir sollten den Black Friday zum internationalen Feiertag erklären.
Nach dem 1. Mai als Weltfeiertag des Geldverdienens hätten wir dann
den Freitag nach Thanksgiving als Tag des Geldausgebens.
WEISS: Nur, wenn man gleichzeitig einen verkaufsoffenen Sonntag daraus
machen würde...
ROT: ...wie beim Buß- und Bettag, den wir seit 1995 büßend und im
Schweiße unseres Angesichts am Arbeitsplatz verbringen dürfen? Ein
Black-Friday-Feiertag würde sich jedenfalls volkswirtschaftlich rechnen.
WEISS: Der erste Buß- und Bettag fand übrigens im 8. Jahrhundert vor
Christus in der Stadt Ninive statt. Dieser hatte der Prophet Jonas ob ihrer
Ausschweifungen und Maßlosigkeit im Auftrag des HERRN den Untergang
gepredigt. Daraufhin gingen alle auf Befehl der Obrigkeit in Sack
und Asche und konnten so das Unheil gerade noch abwenden und Gott
milde stimmen. Jonas aber war sauer, da er sich von seinem sicheren Beobachtungsposten
aus bereits klammheimlich auf ein spektakuläres Armageddon
gefreut hatte.
ROT: Gruselig. Klingt für mich eher nach Halloween.
WEISS: Im Ernst: Angesichts unserer hausgemachten Katastrophen sollten
wir den Buß- und Bettag in Kombination mit dem Black Friday weltweit
zu einem arbeits- und verkaufsfreien Ruhe- und Besinnungstag zusammenlegen.
ROT: Wie soll das gehen?
WEISS: Indem wir der zivilisierten Welt für einen Tag im Wortsinn den
Stecker ziehen.
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ROT: Du meinst, wir hocken dann alle besinnlich im Dunkeln und üben
uns in Bescheidenheit? Klasse! Und das nennen wir dann wie?
WEISS: Das ist der neue Blackout Rethinking Day!
SUMSILATIPAK
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49. Comes Rain – Comes Shine
ROT: Es ist ganz schön was los im Lande.
WEISS: Ja, es regt sich was: Wetterleuchten und Donnergrollen.
ROT: Zu Zeiten, als es den guten alten Landregen noch gab, habe ich mich
vor jedem Platzregen und Gewitter gefürchtet.
WEISS: Doch bei heutiger Dürre fürchtest du, dass ein unheimlichschwarzgrau
dräuender Himmel unverrichteter Dinge wieder aufklart und
die Sonne weiterhin unbarmherzig alles austrocknet, nicht wahr?
ROT: Stimmt, lieber 40 Liter auf den Quadratmeter als gar kein Wasser.
WEISS: Hochwasser und Erdrutsche sind dann notwendige Kollateralschäden?
– Beim Wetter ist es egal, was du dir wünschst. Das Wetter ist
wie es ist. Aber in der Partnerschaft bist Du fürs Klima selbst verantwortlich.
ROT: Du meinst, da kann auch nicht immer die Sonne scheinen? Und man
muss von Zeit zu Zeit streiten und Konflikte lösen?
WEISS: Ja! Eine Beziehung braucht fruchtbare Auseinandersetzungen, damit
die Partner an- und miteinander wachsen können. Wo das nicht passiert,
vertrocknet die Beziehung. Oder es kommt ein erlösendes Donnerwetter,
das einem am Ende womöglich 30 Ehejahre verhagelt.
ROT: Zu guter Letzt wird es jetzt wieder politisch, richtig?
WEISS: Na ja, wer die Debattenkultur vertrocknen lässt und jedwede kritische
Diskussion im Keim erstickt und diffamiert, darf sich nicht wundern,
wenn der Wutbürger endlich wie ein Sturmwind durch die politische
Landschaft zieht und eine Schneise der Verwüstung hinterlässt.
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ROT: Geht's auch weniger dramatisch?
WEISS: So engagiert wir derzeit das Weltklima milde zu stimmen versuchen,
so sehr sollten wir auch das politische Klima im Land durch eine
aktive Wiederbelebung wichtiger Debatten zu mäßigen versuchen, in der
alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden.
ROT: Wohl wahr – oder es wird uns die Demokratie verhageln.
NEGER
ENNOS
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50. Barmherzigkeit – steuerlich abzugsfähig
ROT: Bin ich hartherzig, wenn ich Bettlern nichts gebe? Ich meine, wir
haben doch Hartz IV, das auch von meinen Steuern finanziert wird.
Muss ich dann noch Geld in den Hut werfen?
WEISS: Unser Sozialstaat ist über Bande gespielte Barmherzigkeit, die sich
dabei in einen institutionalisierten Rechtsanspruch verwandelt. Weil du
nicht weißt, ob deine Steuern gerade in einer Dauerbaustelle versenkt
werden oder wirklich Bedürftigen zukommen, wird dir die Steuerlast zur
lästigen, aber dich entlastenden Pflicht. Da sitzt dann das Geld in der
Fußgängerzone halt nicht mehr so locker. Versteh´ ich schon.
ROT: Und wenn ich Weihnachten mal spende, dann bitte nur gegen Quittung,
damit ich mir das Verschenkte zumindest zum Teil von der Steuer
zurückholen kann?
WEISS: Und schon fühlst du dich wieder mies, da deine vermeintliche
Barmherzigkeit innerlich zum Steuersparmodell verkommen ist.
ROT: Immerhin hat der Staat sich seit 2015 Barmherzigkeit auf die Fahnen
geschrieben. Seitdem ist Theater in diesem Land...
WEISS: ..., und zwar weil die Leute merken, dass aus ihrer Einmalspende
plötzlich ein Dauerabo wird, das durch Rechtsansprüche auf Jahrzehnte
hinaus in Budgets und Gesellschaft nachwirkt. Da wird freiwillige Barmherzigkeit
zur institutionellen Zwangsjacke, die den Bürgern dann doch
wieder zu eng wird.
ROT: Dann ist Barmherzigkeit am Ende unzeitgemäß?
WEISS: Barmherzigkeit ist nicht Sache des Staates, sondern die Tugend
von Individuen. Der einzelne Staat und auch Europa sind mit ihren Institutionen
dem Willen und Wohle seiner Bürger verpflichtet. Wenn wir uns
jedoch als Gesellschaft nicht an Hartherzigkeit erkälten wollen, dann soll-
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te sich jeder von uns nach seinen Möglichkeiten in Warmherzigkeit üben.
Folgen wir dabei der Ermunterung Leo Tolstois: Wer anderen nützen will,
findet überall zu tun.
EFLIH
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51. Kunst ist Opium fürs Volk
ROT: Soviel Kunst wie heute war nie.
WEISS: Stimmt: Egal was man in die Hand nimmt, stets hat ein Designer
seine Finger mit im Spiel gehabt. Wir sind umgeben von schnöder
Gebrauchskunst.
ROT: Ach ja? Was ist schlecht an schönen nützlichen Dingen?
WEISS: Nichts – nur dass die höhere Kunst keine Dinge, sondern Ideen
designed.
ROT: Damit ist Kunst am Ende nichts weiter als Propaganda?
WEISS: Richtig. Und nicht nur totalitäre Regime pflegen Künstler für sich
zu vereinnahmen. In Deutschland geriert sich der künstlerische
Mainstream aller Kunstgattungen gegenwärtig gerne links.
ROT: Und heraus kommt gesellschaftspolitische Gebrauchskunst.
WEISS: Ihre letzte Steigerung findet Kunst dort, wo sie selbst zur Religion
wird. Im Mittelalter war Kunst Gottesdienst, wobei der Künstler in und
hinter dem Werk verschwand. Erst mit der Renaissance löste sich die
Kunst vom Religiösen – und wurde zusehends weltlich.
ROT: Damit ist Kunst doch gerade nicht Religion?
WEISS: Mit fortschreitender Entmachtung von Kirche und Priesterschaft
entstand eine Lücke, in der die Kunst Stellung bezogen hat. Die frühere
Heiligenverehrung hat sich in einen Kult um den Künstler transformiert.
Kunstwerke werden heute wie Reliquien gesammelt und zu astronomischen
Preisen gehandelt. Kathedralen und Monstranzen haben sich in
Museen und Galerien verwandelt, in denen Besucher andächtig Erbauung
suchen – und oft verstört zurück bleiben.
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ROT: Du meinst, die Dekadenz des vor-reformatorischen Papsttums wiederholt
sich im zeitgenössischen Gebaren des Kunstmarktes? So gesehen
hat sich die Avantgarde längst von der Gemeinde gelöst und kehrt ihr
den Rücken zu. Je unverständlicher und kruder wird Kunst zum ihren
Individualismus zelebrierenden Hokuspokus. Anstelle echter ästhetischer
Teilhabe verlangt sie vom Kunstsuchenden dummen Glauben und Bewunderung.
WEISS: Mit guter Kunst sollte es sich aber wie mit biblischen Gleichnissen
verhalten: Sie sprechen zu den Ungebildeten ebenso wie zu den Gebildeten
– und geben uns ein Leben lang zu denken.
ROT: Sonst wäre sie nur Opium fürs Volk.
TSNUK
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52. Ist Liebe ein Lebensmittel?
ROT:Lidl mahnt: Weihnachten ist das Fest der Liebe. Vermasseln wir es nicht.
Penny sekundiert: Weihnachten braucht nicht viel. Nur Liebe.
Da drängt sich beim weihnachtlichen Shopping doch die Frage auf: Ist Liebe
jetzt ein Lebensmittel?
WEISS: Dem Apostel Paulus zufolge auf jeden Fall:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so
wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle... Und wenn ich alle meine Habe
den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre
mir's nichts nütze.
ROT: Ohne Liebe wäre demnach alles nichts und wir längst emotional vehungert.
Doch was ist das, Liebe?
WEISS: Auch hier ist Paulus nicht verlegen (1. Kor. 13):
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht
Mutwillen, sie blähet sich nicht..., sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles,
sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.
ROT: Dann hat außer Mutter Theresa wohl niemand wahrhaft geliebt! Liebe
bleibt also für uns Normalsterbliche ein unerreichbares Ideal?
WEISS: Wohl wahr. Aber schaffen wir uns nicht gerade in der dunklen
Weihnachtszeit mit unseren schummrigen Behausungen jene Höhlen, in
denen uns Platon in seinem berühmten Gleichnis verortet: Mit dem Rücken
zum Eingang gefesselt im Alltäglichen werfen die göttlichen Ideale
– und eben auch die Liebe – bestrahlt von der ewigen Sonne, ihre Schatten
an die hintere Höhlenwand. Diesen immer noch wärmenden Abglanz
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nehmen wir dann wahr und erleben ihn als Freundschaft, Selbstlosigkeit,
Hingabe – oder eben Liebe. Und die hält uns am Leben!
EBEIL
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53. Immer, wenn’s am Schönsten ist – Das
letzte Mahl!
ROT: War's das jetzt?
WEISS: Ja mein Lieber. Wir haben uns über ein Jahr lang 53 Mal bei
Pommes Rot-Weiss getroffen und über Gott und die Welt philosophiert.
ROT: Eine Delle haben wir damit nun nicht gerade ins Universum geschlagen...
WEISS: ...aber immerhin unseren Geist überall hin schweifen lassen – und
den einen oder anderen Leser bei unseren Gedankenflügen zu eigenen
Beiträgen beflügelt.
ROT: Besonders Georg ist uns dabei zuverlässig mit seinen Kommentaren
in die Quere gekommen. Ihn habe ich richtig lieb gewonnen. Und jetzt
ist tatsächlich Schluss?
WEISS: Ja. Wir haben jetzt das Material für unseren Almanach zusammen.
Das war unser Ziel für das Jahr 2020: die Herausgabe eines philosophischen
Vademecums in der altmodischen Form eines kleinen gedruckten
Buches – das auch dann noch funktioniert, wenn überall der Strom ausfällt.
ROT: Stimmt – es ist gut, eine kleine intellektuelle Taschenlampe in der
Hosentasche zu haben, wenn der Handyakku längst leer ist.
WEISS: Ich denke, also bin ich. – Uns dessen zu vergewissern, das war die
Idee zu unserem Blog in einer Zeit, in der Google vermeintlich schon
weiß, was wir wollen, bevor wir es gedacht haben.
ROT: Immerhin weiß Google nach einem Jahr, dass es uns gibt und setzt
uns auf Platz 10 von 500'000 Resultaten zu Pommes Rot-Weiss. Wer uns
sucht findet uns also. Intellektueller Influencement geht allerdings anders.
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WEISS: Jetzt werde ich aber doch ein wenig wehmütig.
ROT: Geht mir genauso. Lass uns den unvermeidlichen Abschiedsschmerz
mit unserer tief empfundenen Dankbarkeit gegenüber der werten Leserschaft
stillen, die über 53 Portionen unseren Einladungen gefolgt ist –
und zuweilen gerne ihren scharfen Senf dazu gegeben hat.
WEISS: Allseits ein herzliches Dankeschön!
Zeit und Reim
EDNEUZ RIEH EMIER IED DNIS ,EDNÄWHCSREV IIEZ LEIVUZ
THCIN SSAD .TNNIRREZ EIS SSAD ,TSEF THETS SNIE ,TNNIS
HCUA IIEZ REBÜ NAM SAW
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