Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der Dritte Stand? - Franz Steiner ...
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Rezensionen<br />
119<br />
steht sie Überlegungen Thomas Jeffersons<br />
aus dem Jahre 1787 5 dort sehr nahe, wo<br />
auch <strong>Sieyès</strong> die Wahl „außerordentlicher<br />
Stellvertreter“ zu einer verfassunggebenden<br />
Versammlung for<strong>der</strong>t (S. 157), die, wie<br />
<strong>Sieyès</strong> in an<strong>der</strong>en Schriften (S. 180, 209)<br />
ebenfalls 1789 entwickelt, auf einem selbst<br />
dem pouvoir constituant vorgeordneten pouvoir<br />
commettant (<strong>der</strong> beauftragenden Gewalt)<br />
<strong>der</strong> Wählerschaft beruht. Über dieses<br />
Problem hinaus geht <strong>Sieyès</strong> 1795 mit <strong>der</strong><br />
umfassenden Behandlung des Problems <strong>der</strong><br />
teilweisen und totalen Verfassungsrevision<br />
und des Hüters <strong>der</strong> Verfassung (S. 339 f.).<br />
Dort betont er, dass eine Verfassung „etwas<br />
Dauerhaftes <strong>ist</strong>, gemacht nicht für diese o<strong>der</strong><br />
jene Generation“ (S. 339) – worin sich dann<br />
doch eine ganz an<strong>der</strong>e Grundtendenz zeigt<br />
als bei Jefferson, <strong>der</strong> noch 1824 Wert darauf<br />
legt, dass eine Generation nicht die auf sie<br />
folgende binden kann. 6<br />
Damit <strong>ist</strong> die Erkenntnis angedeutet, dass<br />
<strong>Sieyès</strong>’ Leben und Werk – assoziiert mit „Anfang<br />
und Ende <strong>der</strong> <strong>Franz</strong>ösischen Revolution“<br />
(S. 13, ähnl. S. 25) – viel zu facettenreich<br />
sind, um allein mit einem groben Blick auf<br />
die Schrift zum <strong>Dritte</strong>n <strong>Stand</strong> angemessen<br />
wahrgenommen zu werden. Dies springt geradezu<br />
ins Auge, wenn man die in so vielen<br />
Hinsichten sehr gelungene Textsammlung<br />
aufschlägt. Der erste Satz des Vorworts verdeutlicht<br />
denn auch, dass sie gegen die Reduktion<br />
auf das „Pamphlet über den <strong>Dritte</strong>n<br />
<strong>Stand</strong>“ und ein hierauf gestütztes, einseitig<br />
rational<strong>ist</strong>isches Politikverständnis gerichtet<br />
<strong>ist</strong>, gegen die Zurückführung allein auf jenes<br />
„Me<strong>ist</strong>erstück revolutionärer Polemik“, welches<br />
sich „jedoch nur als die Spitze des Eisbergs<br />
an fundierter Politiktheorie“ erwe<strong>ist</strong> (Zitate<br />
S. 9). Dies zu zeigen <strong>ist</strong> zentrales Motiv<br />
<strong>der</strong> Herausgeber (deutlich S. 24 f.), prägend<br />
für das Programm des Buches, entfaltet in<br />
seinem Aufbau und Inhalt.<br />
Auf ein kurzes Vorwort folgt eine ausführliche,<br />
sehr detail- und aufschlussreiche,<br />
gut und aktuell belegte, dabei spannend geschriebene<br />
„Einleitung: Revolution und Konstitution:<br />
Zur politischen Theorie von <strong>Sieyès</strong>“<br />
(S. 13 – 89). Sie stellt <strong>Sieyès</strong> den Lesenden<br />
als einen Menschen mit seinen Stärken und<br />
Schwächen in wechselhaften Funktionen<br />
und Zeiten lebendig vor und rechtfertigt die<br />
Auswahl <strong>der</strong> Schriften (S. 24 – 27), v. a. die<br />
Nichtaufnahme <strong>der</strong> Frühschriften Abhandlung<br />
über die Privilegien und des Überblick<br />
über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten<br />
Frankreichs 1789 zur Verfügung<br />
stehen mit einer überzeugend explizierten<br />
Ausgewogenheit im Rahmen des Gesamtwerks.<br />
Nichts verliert sie an Lebendigkeit,<br />
wo sie die Fäden in <strong>Sieyès</strong>’ Werk gedrängt<br />
nachvollzieht, wo sie es theoretisch einordnet<br />
und sich dabei, begrifflich immer klar und<br />
nachvollziehbar operierend, auch auf abstrakte<br />
Höhen von Metaphysik und Erkenntn<strong>ist</strong>heorie<br />
(S. 28, 33 – 37), Anthropologie,<br />
Sozial- und Rechtsphilosophie (S. 37 – 56)<br />
sowie Demokratie- und Verfassungstheorie<br />
(S. 57 – 89) emporschwingt, wo sie Beziehungen<br />
aufzeigt zu Rousseau und zum<br />
Rousseauismus (S. 26 f., 42, 57 – 60), den<br />
französischen Sensual<strong>ist</strong>en (S. 28, 34, 35),<br />
Kant (S. 28, 30, 34 f., 36) und Fichte (S. 34<br />
f.), zu Leibniz (S. 35), Descartes (S. 36), den<br />
Physiokraten (S. 39, 41) im Gegensatz zu<br />
einerseits teleologischen Naturrechtlern (S.<br />
38 f.) und an<strong>der</strong>erseits zu Hobbes’ Kontraktualismus<br />
(ebda.) o<strong>der</strong> wo sie spätere Urteile<br />
Burkes und Tocquevilles über <strong>Sieyès</strong> (S. 33)<br />
aufgreift und ins rechte Licht rückt. Deutlich<br />
wird diese Lebendigkeit ganz beson<strong>der</strong>s an<br />
<strong>der</strong> brillant formulierten Stelle, wo die Spannung<br />
zwischen dem „metaphysischen Materialismus“<br />
(S. 36, 38) und <strong>der</strong> Annahme eines<br />
vorgängigen Bezugspunktes aller Erkenntnis<br />
aufgebaut wird und sich dann wie<strong>der</strong> aufhebt<br />
in <strong>Sieyès</strong>’ ausführlich entfaltetem Verweis auf<br />
einen „dynamischen Einheitspunkt“ (S. 36),<br />
<strong>der</strong> als psychologische Realität „vollständig<br />
auf zelebrale Strukturen“ zurückführbar<br />
(S. 36) sei. Ähnliches begegnet aber immer<br />
wie<strong>der</strong>, etwa bei <strong>der</strong> Darstellung von Sieyes’<br />
„Anthropologie <strong>der</strong> Bedürfnisse“ (S. 38) und<br />
<strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> auf sie aufbauenden politi-<br />
5 Zur Fragestellung <strong>der</strong> Schaffung einer “form of government unalterable by ordinary acts of assembly”<br />
und zur Lösung durch die Wahl von „special conventions to form and fix … governments“ s.<br />
Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia (1787), Query XIII, Abschn. 5, in: <strong>der</strong>selbe, Writings,<br />
New York, N Y. [Library of America], 1984, S. 121 – 325, 250.<br />
6 Thomas Jefferson, Letter to Major John Cartwright, 5.6.1824, in: <strong>der</strong>selbe, Writings (Fn. 5), S. 1490<br />
– 1496, 1493.<br />
ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 99/1 (2013)<br />
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