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KASIMIR UND KAROLINE - Schauspiel von ... - Theater Lüneburg

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Kasimir und Karoline<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>von</strong> Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

Materialien<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

Besetzung …………………………………………………………….. Seite 3<br />

Zum Autor ……………………………………………………………... Seite 4<br />

Zum Stück ………………………………………………………………Seite 7<br />

Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik …………………………..Seite 8<br />

Literarische Epoche ………………. ………………………………….Seite 9<br />

Das Märchen vom Fräulein Pollinger . …………………………… Seite 15<br />

Wiesnbraut …………………………………….. Seite 16<br />

2


<strong>KASIMIR</strong> <strong>UND</strong> <strong>KAROLINE</strong><br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>von</strong> Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

In einer Fassung für das <strong>Theater</strong> <strong>Lüneburg</strong> <strong>von</strong> Sabine Bahnsen<br />

Personen<br />

Kasimir………………..<br />

Karoline………………<br />

Schürzinger………….<br />

Der Merkl Franz /Rauch<br />

Dem Merkl Franz seine Erna<br />

Fabian Kloiber<br />

Claudia Grottke<br />

Martin Skoda<br />

Thorsten Dara<br />

Olga Prokot<br />

Inszenierung<br />

Bühne und Kostüme<br />

Choreographie<br />

Dramaturgie<br />

Regieassistenz/Abendregie<br />

Technik<br />

Maske<br />

Gewandmeisterin<br />

Gewandmeister<br />

Requisite<br />

Tischlerei (Vorstand)<br />

Malersaal<br />

Sabine Bahnsen<br />

Petra Maria Wirth<br />

Heidrun Kugel<br />

Katja Stoppa<br />

Dario Barbato/Laura Benetschik<br />

Richard Busse<br />

Britta Bannemann<br />

Frauke Ollmann, Helena Wachauf<br />

Kay Horsinka<br />

Rolf Seichter, Heidi Böhm<br />

Walter Zimmermann<br />

Tamiko Unger, Gerhard Janz<br />

3


Der Autor: Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

AUTOBIOGRAPHISCHE NOTIZ<br />

Geboren bin ich am 9. Dezember 1901, und zwar in Fiume an der Adria,<br />

nachmittags um dreiviertelfünf (nach einer anderen Überlieferung um<br />

halbfünf). Als ich zweiunddreißig Pfund wog, verließ ich Fiume, trieb mich<br />

teils in Venedig und teils auf dem Balkan herum und erlebte allerhand, u.<br />

a. die Ermordung S. M. des Königs Alexanders <strong>von</strong> Serbien samt seiner<br />

Ehehälfte. Als ich 1,20 Meter hoch wurde, zog ich nach Budapest und lebte<br />

dort bis 1,21 Meter. War dortselbst ein eifriger Besucher zahlreicher<br />

Kinderspielplätze und fiel durch mein verträumtes und boshaftes Wesen<br />

unliebenswert auf. Bei einer ungefähren Höhe <strong>von</strong> 1,52 erwachte in mir<br />

der Eros, aber vorerst ohne mir irgendwelche besonderen Schererein zu<br />

bereiten – (meine Liebe zur Politik war damals bereits ziemlich<br />

vorhanden). Mein Interesse für Kunst, insbesondere für die schöne<br />

Literatur, regte sich relativ spät (bei einer Höhe <strong>von</strong> rund 1,70), aber erst<br />

ab 1,79 war es ein Drang, zwar kein unwiderstehlicher, jedoch immerhin.<br />

Als der Weltkrieg ausbrach, war ich bereits 1,67 und als er dann aufhörte<br />

bereits 1,80 (ich schoss im Krieg sehr rasch empor). Mit 1,69 hatte ich<br />

mein erstes ausgesprochen sexuelles Erlebnis – und heute, wo ich längst<br />

aufgehört habe zu wachsen (1,84), denke ich mit einer sanften Wehmut<br />

an jene ahnungsschwangeren Tage zurück.<br />

Heut geh ich ja nunmehr in die Breite – aber hierüber kann ich Ihnen noch<br />

nichts mitteilen, denn ich bin mir halt noch zu nah.<br />

Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

4


Lebensdaten<br />

* 9. Dezember 1901 Susak (Vorort <strong>von</strong> Fiume; heute:<br />

Rijeka)<br />

+ 1. Juni 1938 Paris (durch herabfallenden Ast)<br />

begraben: Paris, Friedhof St. Ouen; seit 1988 Ehrengrab in<br />

Wien, Heiligenstädter Friedhof<br />

Sohn des österreichisch-ungarischen Diplomaten Dr. Ödön Josef <strong>von</strong> Horváth (1874-1950; 1909<br />

geadelt) und seiner Frau Maria Hermine, geb. Prehnal (1882-1959); der Vater stammt aus Sla<strong>von</strong>ien,<br />

die Mutter aus Siebenbürgen (Sprache der Mutter ist Deutsch). Bruder: Lajos (1903-1968).<br />

Ungarischer Staatsbürger; häufiger Ortswechsel während der Schulzeit (Belgrad, Budapest,<br />

München, Wien, Preßburg); H. wechselt viermal die Unterrichtssprache: "Erst mit vierzehn Jahren<br />

schrieb ich den ersten deutschen Satz". - "'Heimat'? Kenn ich nicht. Ich bin eine typische altösterreichisch-ungarische<br />

Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch - mein Name ist<br />

magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch."<br />

1933 Heirat mit Maria Elsner (1905-1981, Sängerin); 1934 Scheidung<br />

Dramatiker und Erzähler. Will in seinen Volksstücken die Entwurzelung des modernen Menschen<br />

aufzeigen. Ziel: "Demaskierung des Bewußtseins", der Kleinbürgermentalität durch die Sprache, den<br />

"Bildungsjargon" seiner Figuren; seine Stücke sind eine "Synthese <strong>von</strong> Ernst und Ironie" .<br />

Grundelemente: "mißlingende menschliche Kommunikation, verfehltes Leben, gegenseitiger Haß,<br />

latente Gewalt, trügerische Idylle und Fassadenmoral, Zweifel an der Existenz Gottes" (Theo Buck).<br />

Nach 1933 wendet sich H. zunehmend ethisch-moralischen, metaphysischen Problemen zu;<br />

resignativer Grundton. "Entdeckung" in den 60er Jahren. Der Roman Jugend ohne Gott ist zum<br />

Klassiker der Schullektüre geworden.<br />

Auszeichnung:<br />

1931 Kleist-Preis<br />

wichtige Lebensdaten:<br />

1902 Umzug der Familie nach Belgrad.<br />

1908 Übersiedlung nach Budapest.<br />

1909 Der Vater wird nach München versetzt; H. bleibt in Budapest; Besuch des<br />

Rákóczianum (erzbischöfliches Internat).<br />

1913 Übersiedlung zu den Eltern. Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, später Realgymnasium.<br />

1916 Umzug der Familie nach Preßburg.<br />

1918 Übersiedlung nach Budapest.<br />

1919 Versetzung des Vaters nach München. H. in Wien bei seinem Onkel Josef Prehnal;<br />

Privatgymnasium der Salvatorianer.<br />

1919-22 Abitur in Wien; Studium an der Universität München (Philosophie und Germanistik);<br />

5


ohne Abschluss.<br />

1923 Übersiedelung in die elterliche Villa nach Murnau; intensive schriftstellerische<br />

Tätigkeit<br />

1924 Parisreise. Übersiedelung nach Berlin.<br />

1924-33 Überwiegend Aufenthalt in Murnau.<br />

1927 Einbürgerungsgesuch <strong>von</strong> den bayerischen Behörden abgelehnt.<br />

1929 Monatliche Garantiesumme durch den Ullstein-Verlag für seine gesamte dichterische<br />

Produktion. Reise zur Weltausstellung in Barcelona.<br />

1930 12.9.: Austritt aus der katholischen Kirche.<br />

1931 Als Zeuge in einem Saalschlacht-Prozess; zunehmende Angriffe rechter Kritiker.<br />

1932 Auflösung des Vertrages mit dem Ullstein-Verlag.<br />

1933 Streit mit der SA in Murnau; Hausdurchsuchung; H. verlässt Deutschland; Leben in<br />

Pensionen: Salzburg, Wien, Henndorf bei Salzburg. 27.12.: Heirat.<br />

1934 Rückkehr nach Berlin. Auf eigenen Antrag Aufnahme in den nationalsozialistischen<br />

Reichsverband Deutscher Schriftsteller (bis 1937). Sept.: Scheidung.<br />

1935 Herbst: Übersiedlung nach Wien (gemeinsam mit der <strong>Schauspiel</strong>erin Wera Liessem).<br />

1936 Entzug der Aufenthaltserlaubnis für das Deutsche Reich. Wien und Henndorf.<br />

1937 Depressionen, finanzielle Probleme.<br />

1938 März: nach dem Anschluss Österreichs Emigration; Budapest, Fiume, Teplitz-<br />

Schönau (Teplice), Prag, Mailand, Zürich, Brüssel, Amsterdam; Mai: Paris; 1.6.:<br />

Treffen mit Robert Siodmak (Verfilmung <strong>von</strong> Jugend ohne Gott); gegen 19.30 Uhr<br />

wird H. auf den Champs-Elysées in der Nähe der Place Clemenceau (gegenüber<br />

Théatre Marigny) während eines Gewitters <strong>von</strong> einem herabfallenden Ast erschlagen.<br />

Quelle: www.lehrer.uni-karlsruhe.de Daten der deutschen Literatur<br />

Auf Einladung der <strong>Schauspiel</strong>erin Lydia Busch fährt Horváth nach Teplitz-<br />

Schönau. Als er <strong>von</strong> seinem holländischen Verleger aufgefordert wird,<br />

nach Amsterdam zu kommen, hält ihn<br />

Aberglaube da<strong>von</strong> ab, das Flugzeug <strong>von</strong> Prag aus zu benützen. Noch<br />

einmal kehrt er nach Budapest zurück, noch einmal reist er in seine<br />

Geburtsstadt Fiume und <strong>von</strong> dort über Venedig und Mailand nach Zürich.<br />

Nach einigen Wochen, die er unter anderem in Gesellschaft Ulrich Bechers<br />

verbringt, fährt Horváth doch nach Amsterdam. Auf der Rückreise nach<br />

Zürich macht er in Paris Station, um Besprechungen mit seinem<br />

französischen Übersetzer und mit dem Regisseur Robert Siodmak, der<br />

JUGEND OHNE GOTT verfilmen will, zu führen. Nach einer Begegnung mit<br />

Siodmak am Abend des 1. Juni wird Horváth auf den Champs Elysées bei<br />

einem heftigen Windstoß vom niederstürzenden Ast einer alten Kastanie<br />

am Hinterkopf getroffen. Er ist auf der Stelle tot. In der Rocktasche des<br />

Toten findet man Notizen für einen neuen Roman ADIEU EUROPA.<br />

Kurt Kahl<br />

6


<strong>KASIMIR</strong> <strong>UND</strong> <strong>KAROLINE</strong><br />

Auch diese melancholische Oktoberfest-Ballade, geschrieben 1931 in<br />

Murnau zwischen den Premieren <strong>von</strong> ITALIENISCHEN NACHT und<br />

GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD nennt der Autor ein Volksstück.<br />

Mit Recht, denn was das Volk damals bewegte, findet man in diesen<br />

Szenen: die Angst um das tägliche Brot und die Sehnsucht nach einem<br />

besseren Leben. Es illustriert, am Beispiel privaten Schicksals, die<br />

Massenarbeitslosigkeit auf dem Höhepunkt. […]<br />

Horváth liebte es, die stillen Schicksale <strong>von</strong> einem lauten Hintergrund<br />

abzusetzen. […] In Kasimir und Karoline schreibt der Autor genau die<br />

musikalische Kontrapunktisierung der Handlung vor: <strong>von</strong> der Münchner<br />

Hymne, dem Alten Peter, bis zur Petersburger Schlittenfahrt und dem<br />

Militärmarsch 1822 <strong>von</strong> Schubert hallt es in den Text hinein, und<br />

dazwischen dröhnt die Achterbahn, blinkt das Karussell, lockt die<br />

Abnormitätenschau nicht nur in einem Zelt.<br />

Doch meint der Autor hier ebenso wenig München allein wie in dem Stück<br />

vorher Wien. Alfred Kerr schrieb nach der Uraufführung: Auf einem<br />

Oktoberfest sind alle Begebnisse lokalisiert. Sie sind vielleicht<br />

unübersetzbar: doch nicht nur lokal. Warum? Weil hinter dem bayrischen<br />

Ulk ein Weltgefühl steht. Ein Lebensgefühl. Ein Menschengefühl. Ein<br />

soziales Gefühl. Weil die Oktoberwiese nur der Grundboden für etwas<br />

Nichtmehrbayrisches ist. Ein kostbarer Grundboden: indem er humorig<br />

hier den Unterschied zeigte zwischen einem höheren Wollen ethischer<br />

Geschöpfe und ihrer Geducktheit durch das Schicksal (welches zuweilen<br />

ein soziales Schicksal ist) … , Karoline liebt Kasimir, aber sie ist jung und<br />

will das Leben genießen, sie will lachen, auch wenn er seine Stelle als<br />

Chauffeur verloren har. Nicht seine Arbeitslosigkeit stört sie, sondern dass<br />

sie ihn misstrauisch und bitter macht. […]<br />

In dieser Stimmung stößt er Karoline vor den Kopf, dass sie sich <strong>von</strong> ihm<br />

trennt. […]<br />

An Karolines Liebe zu Kasimir ändert sich – zunächst – nichts, sie ist<br />

gekränkt, sie fände wieder zurück, wenn andere sich nicht dazwischen<br />

drängten, wenn Kasimir sie, <strong>von</strong> einem schlechten Freund beraten nicht<br />

noch einmal <strong>von</strong> sich stieße. […]<br />

Das Ende: Karoline, die – auf eine bessere Zukunft hoffend – zu Rauch<br />

ins Auto gestiegen ist, hat Glück und Pech gehabt; der Kommerzienrat<br />

landet mit einem Herzanfall in der Sanitätsbaracke. Der Merkl Franz wird<br />

beim Aufbrechen eines Autos ertappt und kommt wieder einmal ins<br />

Gefängnis. Kasimir und Erna trösten sich miteinander. Erna: So lange wir<br />

uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern. Karoline kann nicht<br />

mehr zu Kasimir zurück. Ihr bleibt Schürzinger.<br />

Horváth gab dem Stück, als er dem Regisseur der Uraufführung,<br />

Francesco <strong>von</strong> Mendelssohn, die überarbeitete Fassung schickte, den<br />

Untertitel: Sieben Szenen <strong>von</strong> der Liebe, Lust und Leid, und unserer<br />

schlechten Zeiten.<br />

Kurt Kahl<br />

7


DIE SOZIALE SITUATION VON ARBEITSLOSEN<br />

Nach stundenlangem Schlangestehen erhielten die unverschuldet in Not<br />

geratenen Menschen schließlich gegen einen Stempel auf dem<br />

Arbeitslosenausweis ihre Unterstützung ausgezahlt. Bis Juni 1932 war sie<br />

noch so bemessen, dass sie halbwegs für das Existenzminimum<br />

ausreichte. Dann aber kürzte das Kabinett des Barons <strong>von</strong> Papen die<br />

Summe auf einen Satz, der zum Leben nicht mehr ausreichte. So erhielt<br />

beispielsweise eine Familie mit zwei Erwachsenen und einem Kind<br />

monatlich 51 Reichsmark (RM) Unterstützung, <strong>von</strong> denen allein 32,50 RM<br />

für Miete, Heizung und Beleuchtung ausgegeben werden mussten. Für<br />

Nahrungsmittel blieben ganze 18,50 RM. Das heißt bei den damaligen<br />

Preisen eine Ration pro Kopf der Familie <strong>von</strong> einem halben Brot, einem<br />

Pfund Kartoffeln, 100g Kohl und 50g Margarine. Dreimal im Monat konnte<br />

man sich noch einen billigen Hering kaufen und für das Kind sogar einen<br />

Extra-Hering sowie täglich einen halben Liter Milch.<br />

Vergleichsweise ging es dieser Familie noch besser als vielen anderen,<br />

denn die Arbeitslosenunterstützung wurde längstens bis zu einem Jahr<br />

gewährt. Im Februar 1932 erhielten 12,6 % der Erwerbslosen überhaupt<br />

keine Unterstützung. 29,9 % = 1,833 Millionen, denen kein<br />

Arbeitslosengeld mehr gezahlt oder die wie viele Arme und Alte,<br />

Jugendliche und ehemalige Freiberufliche nie Mitglied der<br />

Sozialversicherung geworden waren, blieben auf die örtliche<br />

Wohlfahrtsunterstützung angewiesen. Sie reichte an vielen Orten nicht<br />

einmal dazu aus, um sich etwas zum Essen zu kaufen, geschweige denn<br />

eine Wohnung zu bezahlen. Im Freien, in Warteräumen und<br />

Obdachlosenasylen vegetierten die Menschen dahin […].<br />

Heinrich Potthoff<br />

8


Literarische Epoche:<br />

Neue Sachlichkeit (Literatur)<br />

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie<br />

Neue Sachlichkeit bezeichnet eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik, die sich<br />

nüchtern und realistisch vom Pathos des Expressionismus abgrenzt. An die Stelle<br />

emphatischer Wendungen und radikal-romantischer Bilder trat eine ernüchterte, oft kühldistanzierte,<br />

beobachtende Haltung, die dokumentarisch-exakt und scheinbar gefühllos die<br />

moderne Gesellschaft darstellte, wobei häufig Alltagsdokumente in die Werke einmontiert<br />

wurden. Die Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ ist auf die Abgrenzung zum Realismus als<br />

„alte Sachlichkeit“ zurückzuführen. Entstanden nach dem Ersten Weltkrieg, zeichnet sich die<br />

Neue Sachlichkeit durch schlichte Klarheit, sachliche Ausdrucksweise sowie teils hoch<br />

politische Inhalte aus.<br />

Die Beobachtung und Abbildung der äußeren Wirklichkeit wie die Konstruktion des Lebens<br />

auf der Basis <strong>von</strong> Fakten bestimmt die „neusachliche“ Literatur der 1920er und 1930er Jahre<br />

und schlägt über die Verwendung der „Montage“ die Brücke zum Film. Tendenz ist die<br />

Rückkehr zum verlässlichen Äußeren – die expressionistische Vorstellung vom visionären<br />

Dichter als „geistigem Führer“ scheint in einer durch den Krieg desillusionierten und dabei<br />

immer deutlicher vom Geist des technischen Fortschritts dominierten Welt nicht mehr<br />

adäquat. „Es handelt sich nicht mehr darum zu ‚dichten’. Das Wichtigste ist das<br />

Beobachtete.“ schrieb Joseph Roth 1927 im Vorwort seines Romans Die Flucht ohne Ende.<br />

Bereits hier entbrennt eine Diskussion über die Angemessenheit und Beschaffenheit dieser<br />

Sachlichkeit, die zwischen Vorwürfen der affirmativen Haltung und Bekräftigung ihres<br />

kritischen Potenzials schwankt. Während die einen die Wirkung der unmittelbar beobachteten<br />

„Krassheit“ der Realität betonen, kritisieren andere, dass ohne die verbindende und<br />

einordnende Instanz des Denkens überhaupt keine Erkenntnis über die Wirklichkeit zu<br />

erlangen sei.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

[Verbergen]<br />

• 1 Geistige Voraussetzungen<br />

• 2 Zeitliche Einordnung<br />

• 3 Merkmale der Neuen Sachlichkeit<br />

• 4 Literarische Gattungen<br />

• 5 Das Anliegen der Neuen Sachlichkeit<br />

• 6 Bedeutung für Literaturgeschichte<br />

• 7 Vertreter<br />

• 8 Siehe auch<br />

• 9 Weblinks<br />

• 10 Literatur<br />

Geistige Voraussetzungen<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg waren den Menschen alle Illusionen genommen. Die Wirklichkeit<br />

in der Weimarer Republik wurde als feindselig empfunden, in der Bevölkerung herrschte eine<br />

sehr depressive Stimmung. Hinzu kam die neue Massen- und Mediengesellschaft, in der der<br />

Einzelne nur noch Teil einer großen Gruppe war. Auch verloren große Teile der Bevölkerung<br />

9


durch den Krieg ihre Ersparnisse und verfielen so in Armut. Die Gesellschaft, vor 1918 eine<br />

Monarchie, nun zu einer Republik geworden, musste sich völlig neu orientieren, da die alten<br />

Werte und Normen als hinfällig gesehen wurden. Die auf geistiger Ebene vielleicht größte<br />

Neuerung war jedoch die neue Freiheit. Zudem wurden im Vorfeld der Neuen Sachlichkeit<br />

<strong>von</strong> den großen Denkern neue Theorien und Ideologien aufgestellt. Zu nennen wären Freud<br />

und Lenin. Freud reflektierte über die Stellung und das Handeln des Individuums und Lenin<br />

nach marxistischem Vorbild über neue kommunistische Theorien für das Zusammenleben der<br />

Menschen in der Gesellschaft. Nicht zuletzt hatte Lenin mit der Verwirklichung dieser<br />

Theorien in der Russischen Revolution 1917 Einfluss auf das Leben in der Weimarer<br />

Republik. Auch die Emanzipation der Frau schritt voran. Nun nahmen auch Frauen am<br />

literarischen Leben teil. Speziell in den Städten konnten Frauen in Kleidung und Lebensstil<br />

neue Wege erproben, die konträr zu der traditionellen Frauenrolle standen. Sie wurden oft <strong>von</strong><br />

Konservativen als "unweiblich" bezeichnet.<br />

Auch das kulturelle Leben der 1920er Jahre, vor allem in Berlin und den großen deutschen<br />

Städten, war passend zu einer neuen literarischen Kultur. Das Leben derer, die es sich leisten<br />

konnten, war schrill und wild. Vieles, was bis dahin bestand, wurde verworfen, man lebte<br />

einen völlig neuen Lebensstil. Um in der neuen Zeit bestehen zu können, versuchte man<br />

möglichst sachlich zu leben, trieb viel Sport und bevorzugte auch bei der Wahl der Möbel<br />

klare und leichte Formen.<br />

Das alles wirkte als neuer Impuls unter den Künstlern. Diese wollten etwas Neues schaffen,<br />

frei <strong>von</strong> den althergebrachten Formen und Stilen. Damals suchten die Menschen Orientierung,<br />

um nach dem Weltkrieg erneut leben zu können. Der Stil der Neuen Sachlichkeit bot sich an,<br />

den Bürgern neue Leitbilder für das Leben in der Moderne zu geben.<br />

Zeitliche Einordnung<br />

Die Periode der Neuen Sachlichkeit war in den 20er und frühen 30er Jahren des 20.<br />

Jahrhunderts. Bei einer Literaturströmung kann man schwer festlegen, wann sie begann und<br />

wann sie endete. Man könnte Hartlaubs Meinung folgen und 1920 als Anfang der Bewegung<br />

definieren. Auch die Kunstausstellung Neue Sachlichkeit in Mannheim könnte als Beginn<br />

gesehen werden. 1926 wurde der Name <strong>von</strong> der niederländischen Kunstzeitschrift De Stijl auf<br />

die Literatur übertragen. Im größeren Kontext, historisch gesehen, ist der Beginn des Stils eng<br />

mit der Gründung der Weimarer Republik, sowie der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges<br />

verbunden. Durch die völlig neue Zeit, die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen,<br />

wurden die kulturellen Potentiale gefördert und es kam zu einer Blüte der Kultur. Schon 1929<br />

zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ging die Kunst der Neuen Sachlichkeit zu Ende. Damals wie<br />

heute sterben die Künste in schweren Zeiten zuerst aus. Das Ende für die Literatur kam 1933<br />

mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Da die Schriften der Autoren oft politische<br />

Inhalte hatten, die nicht in das Bild der Nationalsozialisten passten, wurden Bücher verbrannt<br />

und Autoren gefangen genommen. Viele der Autoren mussten im Frühjahr 1933 ins Exil<br />

flüchten.<br />

Merkmale der Neuen Sachlichkeit<br />

Die Autoren waren meist demokratisch orientiert oder wollten eine sozialistische<br />

Räterepublik. Oft hatten sie auch eine links-liberale Haltung.<br />

Inhalte und Themen: Die Dichter orientierten sich an der Realität und stellten sie objektiv<br />

dar. Sie gingen in ihren Texten auf die damalige Gesellschaft und auf deren Probleme ein, z.<br />

10


B. die Armut vieler Menschen. Die Voraussetzung dafür war ein kritischer Blick auf die<br />

damalige Gegenwart. Die Umgebung wurde nüchtern und realistisch dargestellt. Die Autoren<br />

waren mit der damaligen Zeit eng verbunden und beschreiben sie in ihren Texten. Die soziale,<br />

politische und wirtschaftliche Wirklichkeit der Weimarer Republik (z. B. Hans Fallada:<br />

Kleiner Mann – was nun?), die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges und die Inflation<br />

waren beliebte Motive. Die Themen, die die Gesellschaft bewegten, fanden sich in der<br />

Literatur wieder. Die Figuren müssen mit den enormen gesellschaftlichen und technischen<br />

Veränderungen und Fortschritten leben. Diese schaffen oft soziale, wirtschaftliche und<br />

persönliche Probleme, mit denen die Akteure zurechtkommen müssen oder untergehen. Die<br />

Schriftsteller übten sich auch immer wieder in Gesellschaftskritik. Ebenfalls wurden<br />

historische Ereignisse aufgegriffen und auf andere moderne Personen übertragen (z. B. Joseph<br />

Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes, Bezug zu Hiob aus dem Alten Testament); aber<br />

auch aktuelle Ereignisse wurden verarbeitet.<br />

Sprache: Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein<br />

Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Die Schriftsteller<br />

wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine<br />

einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Diese war für jeden Leser verständlich,<br />

dadurch wurden breite und unterschiedlich gebildete Schichten der Bevölkerung erreicht. Die<br />

Autoren der Neuen Sachlichkeit verfassten die Texte im Stil einer dokumentarisch-exakten<br />

Reportage und strebten nach Objektivität. Beliebt war auch die Montagetechnik. Dabei<br />

werden unterschiedliche Texte zusammengefügt, z. B. werden Zeitungsartikel oder Lieder mit<br />

in den Text eingebaut. In der Neuen Sachlichkeit ist die Bedeutung wichtiger als die Form.<br />

Figuren: Die Autoren schufen sachliche Figuren. Die Gefühle der Personen sind zwar<br />

vorhanden, aber werden kaum gezeigt. Oft sind Ingenieure, Arbeiter, Sekretärinnen,<br />

Angestellte oder Arbeitslose die Hauptfiguren, also einfache Leute aus der modernen<br />

Massengesellschaft.<br />

Zitat: Egon Erwin Kisch erklärte, warum er im Stil der Neuen Sachlichkeit schrieb:<br />

„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt,<br />

nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es,<br />

als die Zeit in der man lebt.“ (Vorwort aus: Der rasende Reporter <strong>von</strong> Egon Erwin Kisch)<br />

Literarische Gattungen<br />

In der Weimarer Republik gab es verschiedene literarische Strömungen, auch neben der<br />

Neuen Sachlichkeit. Die Neue Sachlichkeit umfasste alle Gattungen der Literatur. Die am<br />

häufigsten verbreiteten sind hier mit je einem Beispiel aufgeführt:<br />

• Gebrauchslyrik<br />

Der Begriff wurde 1927 <strong>von</strong> Bertolt Brecht geprägt. Meist wurden Gedichte so bezeichnet,<br />

die aufgrund eines bestimmten Zweckes geschrieben wurden, um auf die Menschen zu<br />

wirken. Oft handeln sie <strong>von</strong> Problemen der damaligen Zeit, damit der Leser auf Missstände<br />

aufmerksam wird. Wie in der Neuen Sachlichkeit üblich, wurde alles in einer einfachen und<br />

leichtverständlichen Sprache formuliert, damit viele Menschen den Inhalt verstanden. Die<br />

Wirkung sollte sofort erfolgen. Die Gebrauchslyrik sollte einen Nutzen/Gebrauchswert für<br />

den Leser haben. Vor allem in den 20er Jahren war die Gebrauchslyrik eine beliebte<br />

Ausdrucksform. Wichtige Vertreter sind Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht.<br />

11


Kurt Tucholskys „Angestellte“ zählt zur Gebrauchslyrik. Tucholsky spricht das Problem der<br />

Angestellten in der Weimarer Republik, sowie deren soziale Realität an. Die Angestellten<br />

müssen lange arbeiten und fürchten sich, noch entlassen zu werden. Der Leser soll auf diese<br />

Zustände aufmerksam gemacht werden. Gegenüber dem höhnenden Chef sind die<br />

Angestellten hilflos. Auch dass es keine Gewerkschaft gibt, dass sie sich nie „geeint“ haben,<br />

ist ein Problem. Eine Wirkung des Gedichtes ist, dass man nun versuchen will, die<br />

Angestellten zu unterstützen und ihnen zu helfen, falls sie sich erheben sollten. Die Sprache<br />

ist leicht verständlich und dadurch gleichzeitig sehr einprägsam. Das „Wenns Ihnen nicht paßt<br />

–: bitte!“ ist zum Schluss wie eine Handlungsaufforderung, diese Zustände zu ändern.<br />

• Zeitroman<br />

Ein Zeitroman versucht dem Leser umfassende Informationen über die Zeit, in der er handelt,<br />

zu vermitteln. Er geht besonders auf die oft schwierigen Lebensbedingungen ein, unter denen<br />

die Gesellschaft und der Einzelne leben müssen. Oft wird deshalb die Zeit kritisiert.<br />

Ein bekanntes Beispiel für einen Zeitroman ist „Im Westen nichts Neues”, ein<br />

Antikriegsroman <strong>von</strong> Erich Maria Remarque, der 1929 veröffentlicht wurde. Der Roman<br />

handelt <strong>von</strong> Paul Bäumer, der im patriotischen Taumel sich freiwillig zum Kriegsdienst im<br />

Ersten Weltkrieg meldet. In den Schützengräben und zwischen den Toten verstummen alle<br />

seine Illusionen und patriotischen Gefühle. Nach und nach erkennen Paul und mit ihm die<br />

Leser die Sinnlosigkeit des Krieges. Am Ende stirbt Paul Bäumer. Der Roman geht kritisch<br />

mit der Zeit des Ersten Weltkrieges um. Der Krieg wird sehr genau beschrieben, wie üblich,<br />

ist der Roman leicht verständlich. Er hatte zum Ziel, die Menschen zu überzeugen, dass der<br />

Krieg keine gute Sache ist und dass er das Leben vieler Menschen sinnlos zerstört.<br />

Ein weiteres Beispiel für einen Zeitroman der Neuen Sachlichkeit ist Erich Kästners „Fabian<br />

– Die Geschichte eines Moralisten“ aus dem Jahr 1931. Jakob Fabian, der Protagonist, ein<br />

arbeitsloser Germanist, durchstreift das Berlin der 1930er Jahre und studiert als Beobachter<br />

das Leben in dem Durcheinander des Niedergangs der Weimarer Republik. Kästners Roman<br />

ist eine Großstadtsatire, die die gesellschaftlichen Probleme durch Übertreibung anprangert<br />

und der Epoche einen Zerrspiegel vorhält. Der Autor orientiert sich an der Realität und wirft<br />

einen kritischen Blick auf die damalige Gesellschaft und deren Probleme. Die soziale,<br />

politische und wirtschaftliche Wirklichkeit der Weimarer Republik ist dafür ein beliebtes<br />

Motiv. Der Protagonist des Romans zeigt typische Züge einer Figur der Neuen Sachlichkeit.<br />

Er ist ein einfacher Mann aus der modernen Massengesellschaft und zeigt kaum Gefühle bei<br />

der Verarbeitung aktueller Ereignisse, an denen er letztendlich scheitert. Kästners „Fabian“ ist<br />

mit dem Minimum an Sprache und dem Maximum an Bedeutung somit ein typischer<br />

Zeitroman der Neuen Sachlichkeit.<br />

• Reportageliteratur<br />

Das sind Texte, die in einem journalistischen Stil geschrieben sind. Es wird unmittelbar aus<br />

der Situation heraus, aber auch distanziert berichtet. Sachlich werden alle Fakten geschildert.<br />

Das bringt den Leser sehr nah an das Geschehen heran. Natürlich wird diese Literatur in einer<br />

einfachen Sprache verfasst, so dass jeder den Inhalt versteht. Sie zeichnet sich ebenfalls durch<br />

ein hohes Maß an Objektivität aus. Die Reportageliteratur hat einen hohen Wahrheitsanspruch<br />

und ist so geschrieben, dass sie eine spannende Erzählung wird.<br />

„Der Rasende Reporter“ <strong>von</strong> Erwin Kisch ist solch eine Sammlung <strong>von</strong> Reportagen. Oft<br />

handeln die Texte an ungewöhnlichen Orten in ganz Europa. Mit knapper Sprache werden<br />

12


einige Informationen genannt. Es ist ein einfacher Bericht der Tatsachen, unterlegt mit einem<br />

teilweise trockenen Humor. E. Kisch geht dabei genau und sorgfältig auf die<br />

Handlungsumgebung ein.<br />

• Episches <strong>Theater</strong><br />

Das epische <strong>Theater</strong> steht im Gegensatz zum aristotelischen <strong>Theater</strong> aus der Antike in<br />

Griechenland. Dabei wurde versucht, den Zuschauer mitfühlen zu lassen und ihn so zu<br />

bessern. Bertolt Brecht prägte das epische <strong>Theater</strong>. Er wollte den Zuschauer für politische<br />

Ideen begeistern. Es sollte so erzählt werden, dass die Menschen „aktiviert“ werden. Sie<br />

sollten sich mit dem Gesehenen auseinandersetzen und sich für eine Meinung entscheiden.<br />

Brecht wollte, dass die Handlung <strong>von</strong> den <strong>Schauspiel</strong>ern gezeigt wird und gleichzeitig auch<br />

eine Bewertung geschehen solle. Um nicht zu tief in die Handlung einzutauchen, wird das<br />

Stück immer wieder durch Lieder, Kommentierungen und z. B. Textprojektionen<br />

unterbrochen. Um Nachdenken bei <strong>Theater</strong>besuchern zu erzeugen, wollte er, dass man nicht<br />

zu sehr <strong>von</strong> dem Stück gefangengenommen wird. Deshalb hat Brecht immer wieder<br />

Unterbrechungen eingebaut. So erhält der Zuschauer Abstand zu dem Stück und zu den<br />

Darstellern, um alles besser zu begreifen. Er wollte, dass die Menschen über politische Ideen<br />

durch das epische <strong>Theater</strong> aufgeklärt werden. Der Zuschauer soll die im Stück aufgeworfenen<br />

Fragen selbst beantworten.<br />

„Die Dreigroschenoper“ <strong>von</strong> Bertolt Brecht wird zum Epischen <strong>Theater</strong> gezählt. Die<br />

Dreigroschenoper spielt im Londoner Stadtteil Soho im 19. Jahrhundert. Dieser Ort war zu<br />

der damaligen Zeit <strong>von</strong> zwielichtigen Gestalten, sowie Prostituierten und Bettlern bevölkert.<br />

Insgesamt eine verruchte, unmoralische Welt. Die Handlung erzählt <strong>von</strong> dem<br />

Konkurrenzkampf zwischen einem Mafiachef und einem Verbrecher. Der Mann der Mafia<br />

erpresst Bettler und der Verbrecher hat gute Kontakte zum Londoner Polizeichef.<br />

Es geht um „Geschäfte“, einer bürgerlichen Tätigkeit, die jedoch im kriminellen Milieu<br />

ablaufen. Es kommt zu einer Verwischung zwischen Recht und Verbrechen. Es entsteht eine<br />

Synthese <strong>von</strong> Gut und Böse, die man nicht klar trennen kann.<br />

Brecht wollte so die gesellschaftlichen Strukturen (Kapitalismus) mit dem Verbrechen<br />

gleichsetzen. Er wollte, dass sich die Zuschauer damit auseinandersetzen und eine eigene<br />

Meinung über die nun fragwürdig erscheinenden bürgerlichen Machenschaften bilden.<br />

• Kritisches Volkstheater<br />

Das Volkstheater gab es schon im 19. Jahrhundert. Zu jener Zeit wurde gespielt, was das Volk<br />

sehen wollte. Häufig wurde im einheimischen Dialekt gesprochen. Jedoch ist das Volkstheater<br />

des 20. Jahrhunderts anders. Es handelt <strong>von</strong> Arbeitern, Angestellten, Handwerkern und<br />

Kleinbürgern. Oft wird Gesellschaftskritik geübt oder werden politische Ideen mit<br />

eingearbeitet. Die Stücke handeln <strong>von</strong> den politischen und wirtschaftlichen Problemen der<br />

damaligen Zeit.<br />

„Geschichten aus dem Wienerwald“ <strong>von</strong> Ödön <strong>von</strong> Horváth, im Jahr 1931 in Berlin<br />

uraufgeführt, werden dem Kritischen Volkstheater zugerechnet. Die Geschichte spielt in<br />

Österreich in der Wachau, in der Josefstadt und im Wiener Wald. Es handelt <strong>von</strong> Marianne,<br />

der Tochter eines Spielwarenhändlers, der beinahe bankrott ist. Sie ist mit dem<br />

Fleischermeister Oskar verlobt. Allerdings lernt sie Alfred kennen, der <strong>von</strong> Wetten und<br />

fragwürdigen Geschäften lebt. Marianne ist noch unerfahren und so kann Alfred sie<br />

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verführen. Kurz darauf zieht sie zu Alfred und bekommt ein Kind. Alfred findet Marianne<br />

aber bald lästig. Oskar mag Marianne immer noch, aber der Heirat steht das Kind im Weg, da<br />

er das Kind nicht aufnehmen will. Ihr Vater verstößt sie. In ihrer Not muss Marianne ihr Kind<br />

zu Alfreds Großmutter geben und fast nackt für „Lebende Bilder“ posieren. Sie hat kein Geld<br />

und stiehlt. Deswegen landet sie im Gefängnis. Dann kehrt sie zu ihrem Vater zurück, der ihr<br />

inzwischen verziehen hat. Auch Oskar ist nun bereit, mit dem Kind zu leben. Aber die<br />

Großmutter hat inzwischen das Kind sterben lassen, um ihren Enkel Alfred <strong>von</strong> dieser Last zu<br />

befreien. Nach diesem tragischen Vorfall geht Marianne mit Oskar da<strong>von</strong>.<br />

Das <strong>Theater</strong>stück wird nicht, wie bei anderen Stücken, im Dialekt gesprochen. Oskar liebt<br />

zwar Marianne, aber als es darauf ankam, blieb er nicht standhaft. Im Stück werden eben<br />

solche sozialen Probleme behandelt. Frauen müssen arbeiten und ihre Kinder weggeben, um<br />

zu überleben.<br />

Das Anliegen der Neuen Sachlichkeit<br />

Ein Ziel der damaligen Schriftsteller war die objektive und genaue Wiedergabe der Realität.<br />

Man wollte den Menschen Leitbilder geben, um in der neuen Massen- und<br />

Mediengesellschaft bestehen zu können. Man reagierte auf den Pathos des Expressionismus<br />

und schrieb desillusionierte Texte. Die Neue Sachlichkeit wollte in ihren Schriften die<br />

Alltagssorgen der Menschen widerspiegeln. Breite Teile der Bevölkerung sollten durch diese<br />

neue Literatur am kulturellen Leben teilhaben. Man beschrieb die Realität so exakt und ohne<br />

Übertreibungen, um die Menschen durch diese Missstände wachzurütteln und so die<br />

Gesellschaft zu verändern. Die Bevölkerung sollte durch die „Massenkultur“ für die<br />

Demokratie begeistert werden.<br />

Bedeutung für Literaturgeschichte<br />

Viele Schriftsteller erlebten, dass traditionelle Themen in der Literatur ausstarben. Durch die<br />

rasanten technischen, politischen und sozialen Veränderungen in der damaligen Zeit, setzten<br />

sich die Literaten mit neuen Trends und Moden auseinander. In diesem neuen Zeitalter musste<br />

die Literatur massenwirksam vermarktet werden, da sie oft nur als Ware angesehen wurde.<br />

Die Autoren wurden zu Lieferanten der bürgerlichen Kultur. Diese Veränderungen wirkten<br />

sich auch auf die zukünftige Geschichte der Literatur aus.<br />

Auch in der Filmproduktion gab es Neuerungen z. B. stand bis dahin das Individuum im<br />

Zentrum eines Films, nun rückte die Gesellschaft mit ihren Hintergründen in den<br />

Vordergrund. Zudem gab es gestalterische Veränderungen, die Filme sind betont dynamisch,<br />

benutzen Archivmaterial oder verzichten auf fiktive Handlungen.<br />

Die Wurzeln der heutigen Kulturszene liegen in der Epoche der Neuen Sachlichkeit. In dieser<br />

Zeit machte die Literatur den Sprung in die Moderne. Ebenfalls haben neu entstandene<br />

Formen der Literatur wie die Reportage ihren Ursprung in dieser Zeit.<br />

Quelle: www.wikipedia.org<br />

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Das Märchen vom Fräulein Pollinger<br />

Es war einmal ein Fräulein, das hieß Anna Pollinger und fiel bei den<br />

besseren Herren nirgends besonders auf, denn es verdiente monatlich nur<br />

hundertundzehn RM und hatte nur eine Durchschnittsfigur und ein<br />

Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur<br />

nett. Sie arbeitete im Kontor einer Autoreparaturwerkstätte, doch konnte<br />

sie sich höchstens ein Fahrrad auf Abzahlung leisten. Hingegen durfte sie<br />

ab und zu auf einem Motorrad hinten mitfahren, aber dafür erwartete man<br />

auch meistens was <strong>von</strong> ihr. Sie war auch trotz allem sehr gutmütig und<br />

verschloß sich den Herren nicht. Oft liebte sie zwar gerade ihren einen<br />

nicht, aber es ruhte sie aus, wenn sie neben einem Herrn sitzen konnte,<br />

im Schellingsalon oder anderswo. Sie wollte sich nicht sehnen und wenn<br />

sie dies trotzdem tat, wurde ihr alles fad. Sie sprach sehr selten, sie hörte<br />

immer nur zu, was die Herren untereinander sprachen. Dann machte sie<br />

sich heimlich lustig, denn die Herren hatten ja auch nichts zu sagen. Mit<br />

ihr sprachen die Herren nur wenig, meistens nur dann, wenn sie gerade<br />

mal mußten. Oft wurde sie dann in den Anfangssätzen boshaft und<br />

tückisch, aber bald ließ sie sich wieder gehen. Es war ihr fast alles in<br />

ihrem Leben einerlei, denn das mußte es ja sein. Nur wenn sie unpäßlich<br />

war, dachte sie intensiver an sich.<br />

Einmal ging sie mit einem Herrn beinahe über das Jahr, der hieß Fritz.<br />

Ende Oktober sagte sie: »Wenn ich ein Kind bekommen tät, das war das<br />

größte Unglück.« Dann erschrak sie über ihre Worte. »Warum weinst du?«<br />

fragte Fritz. »Ich hab es nicht gern, wenn du weinst! Heuer fällt<br />

Allerheiligen auf einen Samstag, das gibt einen Doppelfeiertag und wir<br />

machen eine Bergtour.« Und er setzte ihr auseinander, daß bekanntlich<br />

die Erschütterungen beim Abwärtssteigen sehr gut dafür wären, daß sie<br />

kein Kind kriegt.<br />

Sie stieg dann mit Fritz auf die Westliche Wasserkarspitze, 2037 Meter<br />

hoch über dem fernen Meer. Als sie auf dem Gipfel standen, war es schon<br />

ganz Nacht, aber droben hingen die Sterne. Unten im Tal lag der Nebel<br />

und stieg langsam zu ihnen empor. Es war sehr still auf der Welt und Anna<br />

sagte: »Der Nebel schaut aus, als würden da drinnen die ungeborenen<br />

Seelen herumfliegen.« Aber Fritz ging auf diese Tonart nicht ein.<br />

Seit dieser Bergtour hatte sie oft eine kränkliche Farbe. Sie wurde auch<br />

nie wieder ganz gesund und ab und zu tat ihrs im Unterleib schon sehr<br />

verrückt weh. Aber sie trug das keinem Herrn nach, sie war eben eine<br />

starke Natur. Es gibt so Leut, die man nicht umbringen kann. Wenn sie<br />

nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch.<br />

Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

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WIESENBRAUT <strong>UND</strong> ACHTERBAHN<br />

Ein Abend auf dem Oktoberfest.<br />

… Unter einer Wiesenbraut versteht man in München ein Fräulein, das<br />

man an einem Oktoberfestbesuch kennen lernt, und zu dem die Bande der<br />

Sympathie je nach Veranlagung und Umständen mehr oder weniger<br />

intimer geschlungen werden. Meistens wird die Wiesenbraut vom<br />

Standpunkt des Herrn aus gesehen – aber die Geliebte samt der<br />

Sehnsucht, die in der Wiesenbraut leben, werden selten respektiert. Oft<br />

will die Wiesenbraut nur lustig sein und sonst nichts, häufig will sie sonst<br />

auch noch etwas; nie aber denkt sie momentan materiell. Aber in der<br />

Wiesenbraut lebt häufig die Sehnsucht, dass es immer ein Oktoberfest<br />

geben soll; immer so ein Abend; immer eine Achterbahn; immer die<br />

Abnormitäten; immer Hippodrom im Kreise. Seit es eine Oktoberfestwiese<br />

gibt, seit der Zeit gibt es eine Wiesenbraut. Die Wiesenbraut verlässt die<br />

Ihren, verlässt ihr Milieu – geht mit Herren, die sie nicht kennt,<br />

interessiert sich wenig für den Charakter, mehr für die Vergnügungen. Die<br />

Wiesenbraut denkt nicht an den Tod. Die Wiesenbraut opfert ihren<br />

Bräutigam, sie denkt nicht, sie lebt. Sie verliert ihre Liebe wegen einem<br />

Amüsement. Sie vergisst wohin sie gehört. Und der Kreis um die<br />

Wiesenbraut empfindet diese Störung. Er gerät durcheinander aus<br />

Enttäuschung. Aber bald ordnet sich wieder alles – und die Wiesenbraut<br />

ist ausgeschaltet. Nur im Märchen bekommt die Wiesenbraut einen<br />

Prinzen. ln Wahrheit versinkt sie in das Nichts sobald die Wiese aufhört.<br />

Ödön <strong>von</strong> Horváth<br />

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