Nr. 21 · Januar 2010 · www.stattblatt-neuss.de ... - Der Neusser
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Wir sind Familie<br />
Auch Streiten will gelernt sein<br />
Re<strong>de</strong>n statt runterschlucken, zuhören statt übertrumpfen<br />
Es gibt Dinge, die glaubt man nicht, auch wenn man sie hört. Anfänglich<br />
zumin<strong>de</strong>st. Denkt man nach, ahnt man vage, was dahinter stecken könnte.<br />
Fängt man an zu recherchieren, so erscheint <strong>de</strong>r gleiche Sachverhalt plötz-<br />
lich folgerichtig, ja fast zwangsläufig. Noch nie erlebt? – In Thailand er-<br />
schoss ein Mann seine Frau, da sie während <strong>de</strong>r WM-Fußballübertragung<br />
Italien – Mexiko das TV-Programm zugunsten einer Seifenoper wechselte.<br />
Unvorstellbar? Die Frau habe ihm die Fernbedienung einfach aus <strong>de</strong>r Hand<br />
gerissen, verteidigte er sich später. Dies sei zu viel gewesen, da habe er ab-<br />
gedrückt. Nach all <strong>de</strong>n Jahren. All <strong>de</strong>n Schikanen.<br />
Gibt’s doch gar nicht!? Doch so was passiert. „Aus einer Mücke einen Elefanten<br />
machen“, heißt das im Alltagsgebrauch. Aber meist kreiste die Mücke<br />
schon Wochen, gar Monate durch Geist und Körper, hat einige verletzen<strong>de</strong><br />
Einstiche hinterlassen, so dass schon ein kleines fiepsiges Summen<br />
in weiter Ferne reicht, um die Zielperson in höchste Alarmbereitschaft zu<br />
versetzen. Die Fachwelt spricht da von Eskalation <strong>de</strong>s Streites, von schwelen<strong>de</strong>n<br />
Konflikten, die in <strong>de</strong>r Luft liegen, aber nicht vernünftig angesprochen<br />
wer<strong>de</strong>n. Eine nicht verschraubte Zahnpastatube, ein Socken, unachtsam<br />
auf <strong>de</strong>m Ba<strong>de</strong>zimmerbo<strong>de</strong>n vergessen, o<strong>de</strong>r ein Bartrasierer, <strong>de</strong>r zur<br />
Beinenthaarung umfunktioniert wur<strong>de</strong>, und im Nu explodiert die Situation.<br />
Ein falsches Wort, eine kleine Unterstellung o<strong>de</strong>r eine winzige Provokation,<br />
und Schmerz, Enttäuschung und Wut, die mühsam in <strong>de</strong>n tiefsten Winkeln<br />
<strong>de</strong>s eigenen Daseins in Schach gehalten wur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n auf Knopfdruck<br />
freigesetzt und entla<strong>de</strong>n sich mit zerstörerischer Macht.<br />
Gleicht je<strong>de</strong>s Gespräch einem Gang über ein verbales Minenfeld und schlagen<br />
einzelne Äußerungen direkt tiefe emotionale Krater, so hat sich die Streitspirale<br />
schon lange hochgeschraubt, dass sie zu irreparablen Beziehungsstörungen<br />
führt. <strong>Der</strong> Ausweg wur<strong>de</strong> verpasst, <strong>de</strong>nn die Arbeit beginnt viel<br />
früher. Probleme wur<strong>de</strong>n nicht rechtzeitig erkannt o<strong>de</strong>r ernst genommen.<br />
Vielen Menschen fehlen Mittel, Konflikte richtig auszutragen. Ärger wird unterdrückt<br />
o<strong>de</strong>r runtergeschluckt. Normale Meinungsdifferenzen wachsen zu<br />
gravieren<strong>de</strong>n Problemen heran, die allen Beteiligten eine Menge Zeit, Kraft<br />
und nicht selten zu<strong>de</strong>m Geld kosten. Oft belasten sie die Gesundheit und<br />
richten langfristigen körperlichen und seelischen Scha<strong>de</strong>n an. Aber warum<br />
Menschen | StattBlatt 01.<strong>2010</strong><br />
das alles? Denn eigentlich ist Auseinan<strong>de</strong>rsetzung etwas Produktives, verbin<strong>de</strong>t<br />
Menschen und schweißt zusammen. Kritik ist bereichernd, so die Experten.<br />
Aber: Streiten will gelernt sein. In <strong>de</strong>r Verhaltenspsychologie nimmt<br />
die Wissenschaft <strong>de</strong>s Streitens einen weiten Raum ein. Konstruktiv können<br />
Konflikte nur ausgetragen wer<strong>de</strong>n, wenn sich die Betroffenen fair begegnen<br />
und klare Spielregeln befolgen. Dabei ist das Zuhören beson<strong>de</strong>rs wichtig, hat<br />
sogar höhere Priorität als das Re<strong>de</strong>n. Denn nur wer sein Gegenüber richtig<br />
wahrnimmt und <strong>de</strong>ssen Bedürfnisse erkennt, kann angemessen positiv reagieren.<br />
Strittige Situationen und eigene Gefühle sollten in „Ich-Aussagen“<br />
konkret beschrieben, aber nicht interpretiert wer<strong>de</strong>n. Abwertungen, Vorwürfe<br />
und Verallgemeinerungen scha<strong>de</strong>n und entzün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Konflikt erst<br />
richtig. Besser ist, Fragen zu stellen. Sie entkrampfen Dialoge, da sie Interesse<br />
bekun<strong>de</strong>n und zu neuen Ansätzen verhelfen. Und sinnvoll ist, das Ganze<br />
nicht unter Zeitdruck o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit auszutragen.<br />
Aber so verständig sich die Theorie auch anhört, im Ernstfall sieht die Praxis<br />
schnell an<strong>de</strong>rs aus. Eine kleine Kränkung und schon gibt ein Wort das an<strong>de</strong>re.<br />
Daher raten Psychologen und Pädagogen zu gezieltem Training. Kin<strong>de</strong>r müssen<br />
die Kunst <strong>de</strong>s Streitens grundsätzlich erst lernen und auch Erwachsene weisen<br />
nicht selten große Defizite auf. So sind aus <strong>de</strong>n betrieblichen Fortbildungsprogrammen<br />
die Angebote zum Konfliktmanagement nicht mehr wegzu<strong>de</strong>nken,<br />
ähnlich wie Anleitungen zum konstruktiven Streiten aus <strong>de</strong>r Paartherapie. Auch<br />
in <strong>de</strong>n Familienbildungsstellen gibt es eine Vielzahl an Kursen, ob zur „Familienkonferenz<br />
nach Gordon“ o<strong>de</strong>r zum „Familienrat-Training nach Dreikurs“.<br />
Galt früher Streit als Tabu, so weiß man heute, wie wichtig er für die Gemeinschaft<br />
ist. Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten sind keine Störgröße. Abweichen<strong>de</strong><br />
Ansichten sind normal. Streiten gehört zur Alltagskommunikation.<br />
Drum gilt: Abschied nehmen vom fragwürdigen Harmoniekult, aber die<br />
Aufgabe nicht unterschätzen. Wenn <strong>de</strong>r Ärger um die zu trockene Weihnachtsgans<br />
entbrennt, ist die Glut schon lange vorm Heiligen Abend angeheizt.<br />
Dazwischen liegt eine Menge Zeit, noch das Richtige zu tun. Streiten<br />
kostet Kraft. Aber ist <strong>de</strong>r Konflikt erst einmal eskaliert, dann wer<strong>de</strong>n die<br />
Energie<strong>de</strong>pots um Längen überzogen.<br />
Marion Stuckstätte