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Nr. 21 · Januar 2010 · www.stattblatt-neuss.de ... - Der Neusser

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8<br />

Wir sind Familie<br />

Auch Streiten will gelernt sein<br />

Re<strong>de</strong>n statt runterschlucken, zuhören statt übertrumpfen<br />

Es gibt Dinge, die glaubt man nicht, auch wenn man sie hört. Anfänglich<br />

zumin<strong>de</strong>st. Denkt man nach, ahnt man vage, was dahinter stecken könnte.<br />

Fängt man an zu recherchieren, so erscheint <strong>de</strong>r gleiche Sachverhalt plötz-<br />

lich folgerichtig, ja fast zwangsläufig. Noch nie erlebt? – In Thailand er-<br />

schoss ein Mann seine Frau, da sie während <strong>de</strong>r WM-Fußballübertragung<br />

Italien – Mexiko das TV-Programm zugunsten einer Seifenoper wechselte.<br />

Unvorstellbar? Die Frau habe ihm die Fernbedienung einfach aus <strong>de</strong>r Hand<br />

gerissen, verteidigte er sich später. Dies sei zu viel gewesen, da habe er ab-<br />

gedrückt. Nach all <strong>de</strong>n Jahren. All <strong>de</strong>n Schikanen.<br />

Gibt’s doch gar nicht!? Doch so was passiert. „Aus einer Mücke einen Elefanten<br />

machen“, heißt das im Alltagsgebrauch. Aber meist kreiste die Mücke<br />

schon Wochen, gar Monate durch Geist und Körper, hat einige verletzen<strong>de</strong><br />

Einstiche hinterlassen, so dass schon ein kleines fiepsiges Summen<br />

in weiter Ferne reicht, um die Zielperson in höchste Alarmbereitschaft zu<br />

versetzen. Die Fachwelt spricht da von Eskalation <strong>de</strong>s Streites, von schwelen<strong>de</strong>n<br />

Konflikten, die in <strong>de</strong>r Luft liegen, aber nicht vernünftig angesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n. Eine nicht verschraubte Zahnpastatube, ein Socken, unachtsam<br />

auf <strong>de</strong>m Ba<strong>de</strong>zimmerbo<strong>de</strong>n vergessen, o<strong>de</strong>r ein Bartrasierer, <strong>de</strong>r zur<br />

Beinenthaarung umfunktioniert wur<strong>de</strong>, und im Nu explodiert die Situation.<br />

Ein falsches Wort, eine kleine Unterstellung o<strong>de</strong>r eine winzige Provokation,<br />

und Schmerz, Enttäuschung und Wut, die mühsam in <strong>de</strong>n tiefsten Winkeln<br />

<strong>de</strong>s eigenen Daseins in Schach gehalten wur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n auf Knopfdruck<br />

freigesetzt und entla<strong>de</strong>n sich mit zerstörerischer Macht.<br />

Gleicht je<strong>de</strong>s Gespräch einem Gang über ein verbales Minenfeld und schlagen<br />

einzelne Äußerungen direkt tiefe emotionale Krater, so hat sich die Streitspirale<br />

schon lange hochgeschraubt, dass sie zu irreparablen Beziehungsstörungen<br />

führt. <strong>Der</strong> Ausweg wur<strong>de</strong> verpasst, <strong>de</strong>nn die Arbeit beginnt viel<br />

früher. Probleme wur<strong>de</strong>n nicht rechtzeitig erkannt o<strong>de</strong>r ernst genommen.<br />

Vielen Menschen fehlen Mittel, Konflikte richtig auszutragen. Ärger wird unterdrückt<br />

o<strong>de</strong>r runtergeschluckt. Normale Meinungsdifferenzen wachsen zu<br />

gravieren<strong>de</strong>n Problemen heran, die allen Beteiligten eine Menge Zeit, Kraft<br />

und nicht selten zu<strong>de</strong>m Geld kosten. Oft belasten sie die Gesundheit und<br />

richten langfristigen körperlichen und seelischen Scha<strong>de</strong>n an. Aber warum<br />

Menschen | StattBlatt 01.<strong>2010</strong><br />

das alles? Denn eigentlich ist Auseinan<strong>de</strong>rsetzung etwas Produktives, verbin<strong>de</strong>t<br />

Menschen und schweißt zusammen. Kritik ist bereichernd, so die Experten.<br />

Aber: Streiten will gelernt sein. In <strong>de</strong>r Verhaltenspsychologie nimmt<br />

die Wissenschaft <strong>de</strong>s Streitens einen weiten Raum ein. Konstruktiv können<br />

Konflikte nur ausgetragen wer<strong>de</strong>n, wenn sich die Betroffenen fair begegnen<br />

und klare Spielregeln befolgen. Dabei ist das Zuhören beson<strong>de</strong>rs wichtig, hat<br />

sogar höhere Priorität als das Re<strong>de</strong>n. Denn nur wer sein Gegenüber richtig<br />

wahrnimmt und <strong>de</strong>ssen Bedürfnisse erkennt, kann angemessen positiv reagieren.<br />

Strittige Situationen und eigene Gefühle sollten in „Ich-Aussagen“<br />

konkret beschrieben, aber nicht interpretiert wer<strong>de</strong>n. Abwertungen, Vorwürfe<br />

und Verallgemeinerungen scha<strong>de</strong>n und entzün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Konflikt erst<br />

richtig. Besser ist, Fragen zu stellen. Sie entkrampfen Dialoge, da sie Interesse<br />

bekun<strong>de</strong>n und zu neuen Ansätzen verhelfen. Und sinnvoll ist, das Ganze<br />

nicht unter Zeitdruck o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit auszutragen.<br />

Aber so verständig sich die Theorie auch anhört, im Ernstfall sieht die Praxis<br />

schnell an<strong>de</strong>rs aus. Eine kleine Kränkung und schon gibt ein Wort das an<strong>de</strong>re.<br />

Daher raten Psychologen und Pädagogen zu gezieltem Training. Kin<strong>de</strong>r müssen<br />

die Kunst <strong>de</strong>s Streitens grundsätzlich erst lernen und auch Erwachsene weisen<br />

nicht selten große Defizite auf. So sind aus <strong>de</strong>n betrieblichen Fortbildungsprogrammen<br />

die Angebote zum Konfliktmanagement nicht mehr wegzu<strong>de</strong>nken,<br />

ähnlich wie Anleitungen zum konstruktiven Streiten aus <strong>de</strong>r Paartherapie. Auch<br />

in <strong>de</strong>n Familienbildungsstellen gibt es eine Vielzahl an Kursen, ob zur „Familienkonferenz<br />

nach Gordon“ o<strong>de</strong>r zum „Familienrat-Training nach Dreikurs“.<br />

Galt früher Streit als Tabu, so weiß man heute, wie wichtig er für die Gemeinschaft<br />

ist. Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten sind keine Störgröße. Abweichen<strong>de</strong><br />

Ansichten sind normal. Streiten gehört zur Alltagskommunikation.<br />

Drum gilt: Abschied nehmen vom fragwürdigen Harmoniekult, aber die<br />

Aufgabe nicht unterschätzen. Wenn <strong>de</strong>r Ärger um die zu trockene Weihnachtsgans<br />

entbrennt, ist die Glut schon lange vorm Heiligen Abend angeheizt.<br />

Dazwischen liegt eine Menge Zeit, noch das Richtige zu tun. Streiten<br />

kostet Kraft. Aber ist <strong>de</strong>r Konflikt erst einmal eskaliert, dann wer<strong>de</strong>n die<br />

Energie<strong>de</strong>pots um Längen überzogen.<br />

Marion Stuckstätte

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