Zahnextraktion, Blutung und perioperatives ... - Vascularcare.de
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Kasuistik<br />
<strong>Zahnextraktion</strong>, <strong>Blutung</strong> <strong>und</strong> <strong>perioperatives</strong> „Bridging“<br />
In <strong>de</strong>r hämostaseologischen Ambulanz <strong>de</strong>r<br />
Charité stellte sich ein 55-jähriger Patient<br />
(192 cm, 107 kg) mit einer akuten hämoglobinrelevanten<br />
<strong>Blutung</strong> <strong>und</strong> Meläna nach<br />
kieferchirurgischem Eingriff (Wurzelspitzenresektionen<br />
an 4 Zähnen <strong>und</strong> <strong>Zahnextraktion</strong><br />
1 prämolarer Zahn, Unterkiefer li., 2<br />
Tage zuvor) unter Dauerantikoagulation<br />
vor.<br />
Gerinnungsanamnese:<br />
Der Patient war seit März 2004 wegen nicht<br />
valvulärem Vorhofflimmern dauerantikoaguliert<br />
mit Marcumar ® (Phenprocoumon). Der INR-Einstellungsbereich<br />
war zwischen 2,0 – 3,0 vorgegeben.<br />
Zum Zeitpunkt <strong>de</strong>s kieferchirurgischen<br />
Eingriffs betrug die INR 2,08. Eine Umstellung<br />
auf Heparin erfolgte nicht. Als lokale blutstillen<strong>de</strong><br />
Maßnahme im Bereich <strong>de</strong>r W<strong>und</strong>flächen<br />
führte <strong>de</strong>r Zahnarzt eine Tamponierung durch.<br />
Als Analgetikum wur<strong>de</strong>n vom behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Kieferchirurgen Valoron ® -Tropfen (Tilidin-<br />
Naloxon) verschrieben. Thromboembolische<br />
Komplikationen waren bei <strong>de</strong>m Patienten in <strong>de</strong>r<br />
Vorgeschichte nicht bekannt. Eine hereditäre<br />
o<strong>de</strong>r erworbene Thrombophilie war im Vorfeld<br />
bereits ausgeschlossen wor<strong>de</strong>n. Die bisherige<br />
<strong>Blutung</strong>sanamnese, auch die <strong>de</strong>r Familie, war<br />
ebenfalls leer. Als Begleiterkrankungen waren<br />
eine medikamentös eingestellte arterielle Hypertonie<br />
<strong>und</strong> ein autonomes Schilddrüsena<strong>de</strong>nom<br />
bei euthyreoter Stoffwechsellage bekannt.<br />
Aktuelle Gerinnungsbef<strong>und</strong>e:<br />
Die Notfalldiagnostik zeigte eine hämoglobinrelevante<br />
<strong>Blutung</strong> (Hb: 10,2 mmol/l vor Eingriff auf<br />
Hb: 8,7 mmol/l zwei Tage nach <strong>de</strong>m Eingriff).<br />
Die INR war mittlerweile auf 2,87 angestiegen<br />
(Quick-Wert mit Da<strong>de</strong>-Behring-Reagenz 29%).<br />
Die weiterführen<strong>de</strong>n Screeningtests (Thrombozytenzahl,<br />
PFA-100, aPTT, Fibrinogen) waren<br />
unauffällig. Hinweise auf eine Hyperfibrinolyse<br />
fan<strong>de</strong>n sich nicht.<br />
Therapeutisches Vorgehen:<br />
Zur akuten Blutstillung wur<strong>de</strong> eine Infusion mit<br />
1.200 I.E. PPSB (Prothrombinkomplex-Präparat)<br />
ambulant durchgeführt. Parallel erhielt <strong>de</strong>r<br />
Patient 20 mg Konakion ® (Phytomenadion-Vitamin-K),<br />
d.h. zwei Trinkampullen täglich für<br />
fünf Tage. Die akute <strong>Blutung</strong> sistierte bei einem<br />
Quick-Wert von 48% (INR: 1,5). Die orale Antikoagulation<br />
mit Marcumar ® wur<strong>de</strong> sofort ausgesetzt.<br />
Das nun notwendige „Bridging“ erfolgte<br />
mit einer vollen therapeutischen Dosis eines<br />
nie<strong>de</strong>rmolekularen Heparins (1,0 ml s.c. 2 x täglich).<br />
Der Heparin-Effekt wur<strong>de</strong> anschließend<br />
mittels Bestimmung <strong>de</strong>r HEP-Zeit (Zielbereich<br />
60 – 80 Sek.) zwei St<strong>und</strong>en nach NMH-Gabe<br />
überwacht. Bei komplikationslosem Verlauf sollte<br />
fünf Tage nach <strong>de</strong>r beschriebenen <strong>Blutung</strong> einschleichend<br />
wie<strong>de</strong>r mit einer oralen Antikoagulation<br />
begonnen wer<strong>de</strong>n.<br />
Weiterer Verlauf:<br />
Vier Tage später stellte sich <strong>de</strong>r 55-jährige<br />
Patient nochmals mit einer akuten <strong>Blutung</strong> <strong>und</strong><br />
Meläna nach <strong>de</strong>mselben kieferchirurgischen<br />
Eingriff vor. Obwohl <strong>de</strong>r Patient ärztlicherseits<br />
hingewiesen wur<strong>de</strong>, ausschließlich Valoron ® -<br />
Tropfen (Tilidin-Naloxon) als Analgetikum zu benutzen,<br />
hatte er in <strong>de</strong>r Zwischenzeit das Analgetikum<br />
gewechselt. Da die Valoron ® -Tropfen<br />
aufgebraucht waren, nahm er – ohne ärztliche<br />
Rücksprache – aus einer noch weitestgehend<br />
ungenutzten, vormals verschriebenen Medikamentenpackung<br />
Diclac ® 50 (Diclofenac) mehrmals<br />
pro Tag als Schmerzmittel ein (unter NMH-<br />
Gabe).<br />
Die erneute Notfalldiagnostik zeigte keine<br />
hämoglobinrelevante <strong>Blutung</strong> (Hb: 8,7 mmol/l<br />
vor Eingriff auf Hb: 8,6 mmol/l sechs Tage nach<br />
Eingriff). Auffällig war <strong>de</strong>r PFA-100 mit Epinephrin/Collagen-Verschlusszeit:<br />
274 Sek. (normal<br />
< 165 Sek.) bei unauffälliger ADP/Collagen-Verschlusszeit.<br />
Die HEP-Zeit zeigte ebenfalls eine<br />
über <strong>de</strong>n angestrebten Zielbereich hinausgehen<strong>de</strong><br />
Verlängerung (105 Sek. sechs St<strong>und</strong>en<br />
nach letzter s.c.-Injektion von NMH 1,0 ml).<br />
60<br />
VASCULAR CARE 2/2005 VOL. 9
Kasuistik Referat<br />
Die weiterführen<strong>de</strong>n Screeningtests (Thrombozytenzahl,<br />
Quick, aPTT, Fibrinogen) waren<br />
unauffällig. Hinweise auf eine Hyperfibrinolyse<br />
fan<strong>de</strong>n sich wie<strong>de</strong>rum nicht. Somit war eine<br />
medikamenteninduzierte (NSAR – nicht steroidale<br />
Antirheumatika) Thrombopathie (Thrombozytenfunktionsstörung)<br />
sowie ein überschießen<strong>de</strong>r<br />
Heparin-Effekt zu diagnostizieren.<br />
Obgleich eine Minirin ® (Desmopressin)-Stimulation<br />
mit guter laboranalytischer Response<br />
(Verkürzung <strong>de</strong>r Epinephrin/Collagen-Verschlusszeit<br />
auf 104 Sek.) erreicht sowie eine mehrfache<br />
lokal orale Anwendung von Cyklokapron ® (Tranexamsäure)<br />
mit Tamponierung durchgeführt<br />
wur<strong>de</strong> <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Heparin-Effekt erwartungsgemäß<br />
acht St<strong>und</strong>en post injectionem <strong>de</strong>utlich<br />
abklang (HEP-Zeit: 72 Sek.), war klinisch keine<br />
suffiziente Blutstillung feststellbar. Erst durch<br />
eine Zirkumzision <strong>de</strong>r W<strong>und</strong>flächen <strong>und</strong> eine<br />
Okklusion <strong>de</strong>r W<strong>und</strong>rän<strong>de</strong>r gelang <strong>de</strong>m Kieferchirurgen<br />
eine klinisch erkennbare Blutstillung.<br />
Die NMH-Dosis wur<strong>de</strong> auf 0,8 ml s.c. 2 x täglich<br />
(subtherapeutische Dosierung) reduziert <strong>und</strong><br />
als Schmerzmittel <strong>de</strong>r COX-2-Hemmer Celebrex ®<br />
(Celecoxib) 2 x 100 mg/Tag für weitere fünf<br />
Tage verabreicht. Des Weiteren wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m<br />
Patienten angeraten, zukünftig bei Schmerzepiso<strong>de</strong>n<br />
zuerst Paracetamol als Selbstmedikation<br />
einzusetzen <strong>und</strong> dann stets unverzüglich Rücksprache<br />
mit <strong>de</strong>m Arzt zu halten.<br />
Nach einem mechanischen W<strong>und</strong>einriss durch<br />
scharfkantige Nahrung am elften postoperativen<br />
Tag mit einer kleineren Sickerblutung, die sich<br />
wie<strong>de</strong>r selbstständig zurückbil<strong>de</strong>te, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Patient acht Tage nach <strong>de</strong>r zweiten akuten<br />
Nachblutung wie<strong>de</strong>r auf eine orale Antikoagulation<br />
umgestellt. Eine thromboembolische<br />
Komplikation, z.B. TIA, wur<strong>de</strong> während <strong>de</strong>s<br />
gesamtem Zeitraums nicht beobachtet.<br />
Fazit:<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich ist bei nicht blutungsgefähr<strong>de</strong>ten<br />
Patienten ein Heparin-Bridging bei<br />
oral dauerantikoagulierten Patienten unter<br />
kieferchirurgischen Eingriffen nicht notwendig.<br />
Es ist aber ein exaktes Monitoring <strong>de</strong>s<br />
INR-Werts auch nach <strong>de</strong>m Eingriff notwendig.<br />
Ein zu schnelles Ansteigen <strong>de</strong>s INR-Werts<br />
über 2,5 lässt das <strong>Blutung</strong>srisiko postoperativ<br />
nochmals <strong>de</strong>utlich ansteigen.<br />
Zusätzlich ist ein kieferchirurgischer Patient<br />
stets auf eine präoperative (7–10 Tage) <strong>und</strong><br />
postoperative Karenz von Acetylsalicylsäure<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Derivate, insbeson<strong>de</strong>re frei verkäufliche<br />
Präparate, sowie von nicht steroidalen<br />
Antirheumatika (NSAR) wie z.B. Diclofenac<br />
hinzuweisen. Alternative oral zuführbare<br />
Analgetika wie Paracetamol, COX-2-<br />
Hemmer (z.B. Celebrex ® ), Tilidin-Naloxon<br />
(z.B. Valoron ® ) o<strong>de</strong>r Tramadol (z.B. Tramal ® )<br />
sind anzuraten. Diese besitzen in <strong>de</strong>r Regel<br />
keine Wirkung auf die Hämostase.<br />
Auch ein Bridging mit nie<strong>de</strong>rmolekularen<br />
Heparinen ist zu überwachen (Monitoring<br />
über HEP-Zeit o<strong>de</strong>r Anti-Xa-Aktivität), um<br />
rechtzeitig ein Übersteuern <strong>de</strong>s Heparin-<br />
Effekts zu erkennen <strong>und</strong> damit früh eine<br />
Dosisanpassung vornehmen zu können. Hierbei<br />
sind die unterschiedlichen Dosierungs<strong>und</strong><br />
Applikationsempfehlungen <strong>de</strong>r Hersteller<br />
von <strong>de</strong>n jeweiligen nie<strong>de</strong>rmolekularen<br />
Heparinen unbedingt zu beachten!<br />
PD Dr. med. Jürgen Koscielny<br />
Oberarzt <strong>de</strong>r Gerinnungsambulanz,<br />
Institut für Transfusionsmedizin,<br />
Universitätsmedizin Berlin Charité,<br />
Campus Charité Mitte,<br />
Schumannstraße 20/21<br />
10117 Berlin<br />
VASCULAR CARE 2/2005 VOL. 9 61