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Rede zum Volkstrauertag am 18. November 2012 Liebe ...

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<strong>Rede</strong> <strong>zum</strong> <strong>Volkstrauertag</strong> <strong>am</strong> <strong>18.</strong> <strong>November</strong> <strong>2012</strong><br />

<strong>Liebe</strong> Mitbürgerinnen und Mitbürger,<br />

„Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder menschenwürdigen<br />

Existenz“. Mit diesem Wort von Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler<br />

der Bundesrepublik Deutschland, möchte ich Sie auf der heutigen<br />

Gedenkfeier <strong>zum</strong> <strong>Volkstrauertag</strong> begrüßen. Ich danke Ihnen, dass Sie an<br />

das Ehrendenkmal gekommen sind, um der vielen Frauen, Männer und<br />

Kinder aus unserem Land und vielen anderen Ländern zu gedenken, die<br />

Opfer von Krieg und Gewalt geworden sind. Sie alle mussten viel zu jung<br />

sterben, weil Frieden und Freiheit der Boden entzogen worden war.<br />

Wir erinnern heute an die schlimmsten Zeiten deutscher Geschichte, an<br />

die beiden Weltkriege und die Nazidiktatur. Wir gedenken der gefallenen<br />

Soldaten und der getöteten Zivilisten; wir erinnern an Menschen, die in<br />

der Gefangenschaft oder auf der Flucht umk<strong>am</strong>en; wir gedenken der<br />

Männer und Frauen, die ihren Widerstand gegen die Diktatur mit ihrem<br />

Leben büßen mussten.<br />

Der Zweite Weltkrieg und die NS-Diktatur liegen lange zurück, aber ihre<br />

Schatten reichen bis heute. Noch weilen Menschen unter uns, die<br />

d<strong>am</strong>als Angehörige und Freunde verloren; noch leben viele, die als Kind<br />

ihre Väter oder Mütter kaum oder gar nicht kennenlernen konnten und<br />

unter dieser Lücke bis heute leiden. Die Zeit lindert den Schmerz, aber<br />

sie heilt nicht alle Wunden.<br />

Am heutigen Tag gedenken wir gleichfalls der Opfer aus unserem Land<br />

und in vielen anderen Ländern, die die Kämpfe und Gewaltausbrüche<br />

unserer unmittelbaren Gegenwart gefordert haben. Auch jetzt, während


wir uns zu einer stillen Stunde des Innehaltens, der Trauer und des<br />

Erinnerns vers<strong>am</strong>melt haben, kämpfen woanders Menschen um ihr<br />

Leben oder sind in ihrer Freiheit bedroht. Die Frage nach Krieg und<br />

Frieden ist aktuell geblieben.<br />

<strong>Liebe</strong> Mitbürgerinnen und Mitbürger, uns führt heute die Trauer<br />

zus<strong>am</strong>men, verbunden mit dem Bestreben, die Opfer vor dem<br />

Vergessen zu bewahren. Denn wenn niemand mehr an sie denkt, dann<br />

sind sie endgültig tod, dann kann ihr Schicksal keinem mehr etwas<br />

sagen. Der <strong>Volkstrauertag</strong> setzt hier ein Zeichen: Und er fragt danach,<br />

welche Schlüsse sich aus der Vergangenheit ziehen lassen; er fragt, wo<br />

wir heute stehen und welche Werte uns wichtig sind.<br />

Deshalb verwahren wir uns auch gegen alle Versuche der Neonazis, den<br />

<strong>Volkstrauertag</strong> für sich zu instrumentalisieren. Uns geht es um eine Welt,<br />

in der die Menschen in Frieden und Freiheit zus<strong>am</strong>menleben können.<br />

Uns geht es um ein Gedenken, das sich der Geschichte stellt und<br />

deshalb nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart<br />

blickt. <strong>Volkstrauertag</strong> heißt der heutige Tag und zu Recht nicht mehr<br />

Heldengedenktag. Denn der Krieg kennt keine Helden. Er kennt in erster<br />

Linie den Tod sowie traumatisierte, eins<strong>am</strong>e, um ihre Jugend betrogene<br />

Männer und Frauen, deren Wunden noch immer nicht geheilt sind, auch<br />

nach über 60 Jahren nicht.<br />

Erich Maria Remarque entschleiert in seinem Buch „Im Westen nichts<br />

Neues“ von 1929 den Krieg und zeigt uns hinter seiner heldenhaften<br />

Maske sein wahres Gesicht – eine schreckliche Fratze, in der sich nur<br />

Angst, Schmerz, Verderben und Tod wiederspiegelt. Wir lesen dort über<br />

eine Gruppe junger Soldaten, die direkt von der Schulbank in den Krieg,


den ersten Weltkrieg, geschickt wurden: „Während sie“, gemeint sind die<br />

Lehrer, während sie „noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette<br />

und Sterbende; - während sie den Dienst <strong>am</strong> Staate als das Größte<br />

bezeichneten, wussten wir bereits, dass die Todesangst stärker ist“. Die<br />

jungen Soldaten hatten schnell alle Illusionen verloren; sie hatten<br />

erkannt, dass die Welt, an der ihre Lehrer festhielten, längst in Stücke<br />

fiel. Sie fühlten sich allein, allein gelassen von denen, die sie an die<br />

Front geschickt hatten.<br />

Krieg ist Wahnsinn<br />

Mehr als 80 Jahre später entlarvt die deutsche Rockgruppe „Pur“ aus<br />

Bietigheim den Mythos „Krieg“ wie folgt: „Kein Krieg ist heilig, kein Krieg<br />

ist gerecht.“ Stattdessen, fährt der Song fort, sei jeder Krieg graus<strong>am</strong><br />

und auch die Sieger seien Verlierer. Krieg ist Wahnsinn.<br />

Gedenken ist das zentrale Leitwort des heutigen Tages. Wir gedenken<br />

der Opfer von Unrecht und Gewalt, der Gefallenen und Vermissten<br />

sowie ihrer Hinterbliebenen. Wir gedenken der Kinder, die in Lagern<br />

ermordet wurden; wir gedenken der Frauen, die im zweiten Weltkrieg<br />

und in heutigen Kriegen vergewaltigt wurden; wir gedenken der<br />

Zivilisten, die in Bombennächten Todesängste ausstanden. In diesem<br />

Gedenken nehmen wir Anteil <strong>am</strong> Grauen und Erschrecken, an der Angst<br />

und der Trauer derer, die direkt betroffen waren. Was sie erzählen, was<br />

sie erzählt haben, wird ein Stück unserer Erinnerung. Vor allem ihre<br />

Empfindungen und Gefühle: Die Trauer über das Verlorene und die Wut<br />

über die Sinnlosigkeit.<br />

Zugleich rückt uns vieles, was längst vergangen schien, ganz hautnah<br />

auf den Leib: Fast täglich werden wir multimedial ins Bild gesetzt über<br />

den Krieg in Afghanistan, über gefallene und traumatisierte deutsche


Soldaten. Auch Männer und Frauen aus Zell sind in Afghanistan im<br />

Einsatz. Wir erleben, wie die Bevölkerung in vielen Staaten Nordafrikas<br />

und des Nahen Ostens revoltiert, gegen staatliche Unterdrückung<br />

aufbegehrt und von den Diktatoren in regelrechte Bürgerkriege<br />

verwickelt wird. Täglich werden uns schreckliche Bilder aus Syrien in der<br />

Tagesschau präsentiert.<br />

Die meisten Konflikte und Gewaltausbrüche unserer Zeit tragen sich in<br />

Ländern und Regionen zu, die weit entfernt von uns liegen. Doch gehen<br />

sie uns deshalb nichts an? Meine D<strong>am</strong>en und Herren, es ist allein ein<br />

Gebot der Mitmenschlichkeit, nicht wegzuschauen. Aber es ist auch ein<br />

Gebot der Vernunft, zu versuchen, Krisen einzudämmen, denn Konflikte<br />

greifen oft und manchmal sehr schnell über ihren Ursprungsort hinaus.<br />

Und, wie Sie wissen, sind wir ja auch längst in einige dieser fernen<br />

Konflikte involviert. Seit fast 20 Jahren beteiligt sich Deutschland an<br />

internationalen Einsätzen; seit fast 11 Jahren stehen Truppen in<br />

Afghanistan. Das ist länger, als die beiden Weltkriege des vorigen<br />

Jahrhunderts zus<strong>am</strong>men gedauert haben. Wie gehen wir d<strong>am</strong>it um?<br />

Dass deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland geschickt werden,<br />

dass sie dort kämpfen, dass sie ihr Leben riskieren, das ist im<br />

öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Das liegt sicher mit daran, dass<br />

die Einsatz- und Kriegsschauplätze nicht nur geografisch weit von uns<br />

weg sind. In unserem friedlichen Land kann man es sich kaum<br />

vorstellen, wie das ist, in einem Krisenherd zu agieren und in Kämpfe<br />

verwickelt zu werden, und viele möchten das auch gar nicht.<br />

Doch wenn wir Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete schicken,<br />

dann sind wir es ihnen schuldig, dass sich unsere Gesellschaft mit ihrer


Lage und ihrem Auftrag auseinandersetzt. Sie haben ein Anrecht auf<br />

eine stichhaltige Begründung und eine genaue Zielvorgabe. Ebenso<br />

müssen wir uns der Tatsache stellen, dass Soldatinnen und Soldaten<br />

verletzt oder traumatisiert zurückkehren. Auch das wird kaum<br />

wahrgenommen und die Versehrten brauchen mehr Unterstützung, als<br />

sie heute finden.<br />

Und vor allem müssen wir uns angesichts anhaltender Konflikte immer<br />

wieder fragen: „Tun wir genug und tun wir vor allem das Richtige, um<br />

Krieg, Gewalt und Terror heute und künftig zu vermeiden?“<br />

Ist es nicht an der Zeit, genau zu analysieren, was militärische<br />

Interventionen wie die in Afghanistan wirklich bringen? Und müssen wir,<br />

wenn wir militärische Gewalt anwenden, nicht darüber diskutieren, wie<br />

Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Antrittsbesuch bei der<br />

Bundeswehr hervorhob, „ob wir mit ihr die gewünschten Ziele erreichen<br />

oder ob wir schlimmstenfalls neue Gewalt erschaffen“?<br />

Ich gehöre zu einer Generation, die keinen Krieg erlebt hat, der in einer<br />

seit zwei Generationen friedlichem Land leben darf. Daher sollte man<br />

sich immer wieder bewusst werden, es nicht als Selbstverständlichkeit<br />

ansehen. Es ist das allerwichtigste, allerbeste was einem zuteilwerden<br />

kann.<br />

Frieden lässt sich dauerhaft nur dann ermöglichen, wenn einer<br />

gemeinschaftlichen Gerechtigkeit ein höherer Stellenwert eingeräumt<br />

wird. Gemeinschaftsgerechtigkeit hat das Zus<strong>am</strong>menleben der<br />

Menschen auf allen Ebenen im Blick. Es geht also nicht darum, dass der<br />

eine gegen den anderen Recht bekommt oder dass Menschen<br />

unterschiedlich bewertet werden aufgrund ihrer Herkunft oder ihres


sozialen Status. Es geht vielmehr darum, das gesellschaftliche Leben so<br />

zu regeln, dass es den Lebensbedürfnissen eines jeden besser gerecht<br />

wird. Dass jeder Raum bekommt, um seine Gaben und Fähigkeiten zu<br />

entwickeln, dass jeder die Möglichkeit hat, sein Leben selbstbestimmt zu<br />

gestalten.<br />

Der Gegenentwurf dazu lautet: „Survival oft the fittest.“ Also ein soziales<br />

Gegeneinander, bei dem der Stärkste, der Klügste, der Einflussreichste<br />

oder der Reichste das Maß aller Dinge ist und vorgibt, was die gute und<br />

rechte Sache unserer sozialen Gemeinschaft sei.<br />

Gemeinschaftsgerechtigkeit im wohlverstandenen Sinne sucht aber<br />

genau nach dem Gegenteil, sie sucht nach einem Ausgleich zwischen<br />

Schwach und Stark in Bezug auf Bildung, Herkunft, die wirtschaftlichen<br />

Möglichkeiten. Und das gilt nicht nur vor Ort, sondern weltweit.<br />

Denn die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich heute nur noch global.<br />

Die Welt ist zus<strong>am</strong>mengewachsen, wirtschaftliche und finanzielle<br />

Netzwerke erstrecken über den ges<strong>am</strong>ten Erdball – von daher haben wir<br />

auch eine globale Verantwortung. Dabei haben wir allerdings das<br />

Problem, dass wir zwar technisch jederzeit und überall auf der Welt sein<br />

können, unser Bewusstsein, unsere Seele da aber partout noch nicht<br />

nachgekommen sind. Wir denken und handeln vielfach noch so, als<br />

gingen uns die Menschen in Afrika, in Asien, in Latein<strong>am</strong>erika oder im<br />

Nahen Osten nichts an, als könnten wir unser Leben hier in Deutschland<br />

wie auf einer Insel gestalten.<br />

Doch was wir tun, was wir konsumieren, was wir denken, das kann heute<br />

im Zuge der Globalisierung Frieden fördern, aber auch Krieg. Frieden ist<br />

mehr als nur das Schweigen der Waffen. Und Frieden hat seinen Preis.


Wer Frieden will, muss vor allem für Gerechtigkeit sorgen. Er muss sich<br />

um eine gemeinschaftliche Gerechtigkeit kümmern – weltweit, aber auch<br />

in unserer örtlichen Gemeinschaft, in unserem direkten Lebensumfeld.<br />

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