Personalisierte Medizin - MDK Nord
Personalisierte Medizin - MDK Nord
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Heft 2 /2013 Das Magazin der <strong>Medizin</strong>ischen Dienste der Krankenversicherung<br />
<strong>Personalisierte</strong><br />
<strong>Medizin</strong>
II<br />
mdk forum 2/13<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Wir schreiben das Jahr 2050: Von allen Menschen<br />
existieren komplette Genom register.<br />
Beim Arztbesuch wird online die Medikamentenmischung<br />
für das konkrete Risikound<br />
Wirksamkeitsmuster berechnet und<br />
vom Pharmakonzern patientenbezogen<br />
hergestellt. Sieht so die schöne neue<br />
Welt der medikamentösen Therapie aus?<br />
Fest steht: Die personalisierte <strong>Medizin</strong><br />
ist zur Chiffre für die <strong>Medizin</strong> der Zukunft<br />
geworden. Mit molekularbiologischen<br />
Methoden kann heute in einer Reihe von<br />
Fällen festgestellt werden, ob und wie<br />
ein Medikament im Einzelfall wirkt; Erkrankungsrisiko<br />
und Therapieerfolg sind besser<br />
zu kalkulieren. Die von den Genomforschern<br />
angekündigte »Revolutionierung der<br />
<strong>Medizin</strong>« ist zwar bisher ausgeblieben – ihre<br />
Folgen sind jedoch bereits unübersehbar.<br />
In der onkologischen Forschung dominieren<br />
derzeit »ziel gerichtete Therapien«, die sich<br />
gegen spezielle Eigenschaften von Tumoren<br />
richten – auf die Gefahr hin, dass andere<br />
Forschungsfragen vernachlässigt werden.<br />
Der Arzneimittelmarkt ändert sich, weil<br />
viele Pharmaunternehmen nicht mehr nach<br />
»Block busters«, sondern nach »Niche<br />
busters« suchen.<br />
Unser solidarisch aufgestelltes Gesundheitssystem<br />
steht vor der Frage, ob es diese<br />
Entwicklung überhaupt verkraften kann.<br />
Ihr Dr. Ulf Sengebusch<br />
Aktuelles<br />
Gute Frage Wird Shareconomy zum Megatrend<br />
im Gesundheitssektor? 2<br />
Bilanz schwarz-gelbe Gesundheitspolitik<br />
Enttäuschte Erwartungen 32<br />
titelthema<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> Patienten auf dem Weg<br />
ins Paradies – oder vor den Karren gespannt? 5<br />
Paradigmenwechsel in der Onkologie? Krebszellen<br />
im Visier der personalisierten <strong>Medizin</strong> 7<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> im KC Onkologie:<br />
Interview mit Prof. Dr. Axel Heyll<br />
Längst mehr als Zukunftsmusik? 9<br />
Kein Schnipselwerk Erbgutanalyse von Hirntumoren<br />
bei Kindern 11<br />
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler<br />
Lässt sich personalisierte <strong>Medizin</strong> evaluieren? 13<br />
Gefährdet die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> unser Solidarsystem? 14<br />
mdk | wissen und standpunkte<br />
Begutachtung von Behandlungsfehlern<br />
Ein Gutachten hilft in einem Fall … und alle zusammen? 16<br />
Interview mit Jörg Niemann »Überwunden geglaubte<br />
Konflikte nicht wiederbeleben« 18<br />
Hygiene im Krankenhaus »Modellregion Hygiene Ruhr gebiet«<br />
vor dem Start 20<br />
Demenz im Krankenhaus 22<br />
Weitblick<br />
Kindliche Selbstheilung dank Figurenspieltherapie<br />
Spiel mit dir 24<br />
Personalauswahl von Ärzten und Ärztinnen<br />
Der richtige Kopf an der passenden Stelle 26<br />
Gesundheit und Pflege<br />
EbM-Kongress 2013 Entscheiden trotz Unsicherheit 28<br />
Menschen mit geistiger Behinderung als Seniorenhelfer<br />
Ich arbeite in der Pflege! 30
aktuelles 1<br />
mdk forum 2/13<br />
Bewertung von Bestandsarzneimitteln<br />
– GBA legt Kriterien fest<br />
Der Gemeinsame Bundesausschuss<br />
(G-BA) hat am 18. April verbindliche<br />
Kriterien beschlossen, nach denen die<br />
Reihenfolge der Nutzenbewertung<br />
von Arzneimitteln im sogenannten<br />
Bestandsmarkt bestimmt wird.<br />
Entscheidend für die Reihenfolge der<br />
Nutzenbewertung ist die wirtschaftliche<br />
Bedeutung eines Arzneimittels.<br />
Diese wird – so der G-BA-Beschluss<br />
– am Umsatz und an der Zahl der<br />
verordneten Verpackungen gemessen,<br />
wobei der Umsatz mit 80%, die<br />
Verpackungszahl mit 20% gewichtet<br />
wird. Beginnen wird die Nutzenbewertung<br />
mit Arzneimitteln aus sechs<br />
Wirkstoffgruppen zur Behandlung<br />
von starken chronischen Schmerzen,<br />
Osteoporose, Diabetes mellitus<br />
Typ-2, Depression, rheumatoide Arthritis<br />
sowie Vorhofflimmern, Prophylaxe<br />
Schlaganfall und kardioembolischer<br />
Erkrankungen, tiefe Venenthrombose.<br />
BSG bestätigt Pflege-TÜV<br />
Pflegekassen dürfen Pflege-Transparenzberichte<br />
erstellen und veröffentlichen.<br />
Mit dieser Entscheidung hat das Bundessozialgericht<br />
(BSG) am 16. Mai den<br />
Pflege-TÜV grundsätzlich bestätigt. Im<br />
Jahr 2011 hatte ein Pflegeheim der<br />
Caritas vor dem Sozialgericht Köln<br />
zunächst gegen die Veröffentlichung<br />
seiner Pflegenoten geklagt, dann jedoch<br />
die Klage umgewandelt und den Pflege-<br />
TÜV grundsätzlich infrage gestellt<br />
(vorbeugende Unterlassungsklage). Die<br />
Klage war durch sämtliche Instanzen<br />
gegangen. Im letzten Schritt hielten die<br />
Richter des Bundessozialgerichts die<br />
vorbeugende Unterlassungsklage für<br />
unzulässig, da ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis<br />
des Pflegeheimes fehle.<br />
Der Klägerin drohen nach Auffassung<br />
des BSG keine unzumutbaren Nachteile,<br />
wenn sie auf nachgängigen Rechtsschutz<br />
verwiesen wird.<br />
PREFERE-Studie zu Therapien<br />
bei Prostatakrebs<br />
Ein Prostatakarzinom ist die häufigste<br />
Krebsart bei Männern. Doch welche<br />
Therapie ist im Frühstadium die richtige?<br />
Klarheit soll die PREFERE-Studie bringen,<br />
die die deutsche Krebshilfe, die deutsche<br />
Krebsgesellschaft sowie die gesetzlichen<br />
und privaten Krankenversicherungen<br />
im Januar gestartet haben.<br />
Untersucht wird, wie effektiv die<br />
Strahlentherapie, die Brachytherapie<br />
(die Behandlung des Tumors mittels<br />
vieler kleiner, dauerhaft in der Prostata<br />
platzierter Strahlenquellen) und die<br />
aktive Überwachung im Vergleich mit<br />
der Entfernung der Prostata sind. Bis<br />
2030 sollen etwa 7600 Patienten und<br />
1000 Urologen sowie 90 Prüfzentren an<br />
der Studie teilnehmen. Grundlage für<br />
PREFERE war ein Beschluss des Gemeinsamen<br />
Bundesausschusses. Danach<br />
wurde die Aufnahme der sogenannten<br />
Brachytherapie in den ambulanten<br />
Leistungskatalog der gesetzlichen<br />
Krankenkassen zunächst ausgesetzt.<br />
Der Grund: Es gab keine ausreichenden<br />
Daten, um diese Behandlungsform zu<br />
bewerten. Daraufhin wurde ein Studien -<br />
konzept entwickelt, um sie mit anderen<br />
Therapien vergleichen zu können.<br />
60. Jahrestag der sozialen<br />
Selbstverwaltung<br />
In diesem Jahr feiert die soziale Selbst -<br />
verwaltung ihr 60-jähriges Bestehen<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der<br />
Zerschlagung der Selbstverwaltung<br />
durch die Nationalsozialisten konnten<br />
am 16. und 17. Mai 1953 Versicherte<br />
und Arbeitgeber erstmals wieder in<br />
demokratischen Wahlen darüber<br />
abstimmen, wer ihre Interessen in den<br />
»Parlamenten« der Kranken-, Renten-,<br />
Unfall- und Arbeitslosenversicherung<br />
vertreten soll. Die ehrenamtlich tätigen<br />
Selbstverwalter entscheiden zum<br />
Beispiel über Finanzen, Leistungen sowie<br />
über Organisations- und Personalfragen<br />
bei ihren Sozialversicherungsträgern.<br />
Das Prinzip der Selbstverwaltung gilt<br />
auch für die <strong>Medizin</strong>ischen Dienste der<br />
Krankenversicherung. Jede Kassenart<br />
entsendet jeweils einen Arbeitgeberund<br />
einen Arbeitnehmervertreter<br />
bzw. -vertreterin in den Verwaltungsrat<br />
eines <strong>MDK</strong>.<br />
Patienten müssen ärztliche Fehler<br />
nicht »unumstößlich« beweisen<br />
Patienten müssen einen Behandlungsfehler<br />
nicht »unumstößlich« beweisen,<br />
um Schadensersatz zu erhalten. Es reicht<br />
aus, wenn sie das Gericht überzeugen,<br />
dass vermutlich ein Fehler passiert ist.<br />
Das stellte der Bundesgerichtshof (BGH)<br />
in einem Urteil vom 16. April klar. Die<br />
Klägerin erlitt nach einer Bandscheibenoperation<br />
eine Querschnittslähmung.<br />
Bei der Operation sollte eine verletzte<br />
Bandscheibe durch einen Platzhalter<br />
ersetzt werden, was im ersten Anlauf<br />
misslang. Nach dem erneuten Versuch<br />
wurde die Patientin mit neurologischen<br />
Ausfällen in eine andere Klinik verlegt.<br />
Dort entfernten die Ärzte den Platzhalter<br />
und entdeckten dahinter einen<br />
Bluterguss. Es sei davon auszugehen,<br />
bestätigte der BGH, dass der Arzt bei<br />
seinem ersten Befestigungsversuch den<br />
Platzhalter zu fest gegen das Halsmark<br />
geschlagen habe. Für einen Schadensersatzanspruch<br />
wegen eines Behandlungsfehlers<br />
bedürfe es »keiner<br />
absoluten oder unumstößlichen<br />
Gewissheit im Sinne des wissenschaftlichen<br />
Nachweises«. Es reiche ein »für<br />
das praktische Leben brauchbarer Grad<br />
von Gewissheit« aus, »der Zweifeln<br />
Schweigen gebietet, ohne sie völlig<br />
auszuschließen«, so die Karlsruher<br />
Richter.
2 gute frage<br />
mdk forum 2/13<br />
Gute Frage<br />
Wird Shareconomy zum Megatrend<br />
im Gesundheitssektor?<br />
Shareconomy beschreibt die Veränderung des gesellschaftlichen Verständnisses vom Haben zum Teilen. Soziale Netzwerke<br />
bieten die technischen Voraussetzungen, jedes Thema zu jeder Zeit mit jedem zu teilen. Und dies auch zu Fragen,<br />
die die eigene Gesundheit betreffen. Wird Shareconomy zum Megatrend im Gesundheitssektor? Wir sprachen mit<br />
Dr. Urs Vito Albrecht vom P. L. Reichertz Institut für <strong>Medizin</strong>ische Informatik der <strong>Medizin</strong>ischen Hochschule Hannover.<br />
Auf der Computermesse CeBIT in<br />
Hannover war Shareconomy das Top <br />
thema. Wird das Teilen von Informationen<br />
über die eigene Gesundheit<br />
zukünftig an Bedeutung gewinnen?<br />
Shareconomy ist eine Art »Nachbarschaftshilfe«<br />
im Internet und für den<br />
medizinischen Bereich können Foren,<br />
Blogs und »Patientenfacebooks« als<br />
solche eingeordnet werden. Es ist ein<br />
Fortschritt, dass Menschen in diesen<br />
Netzwerken die Möglichkeit haben,<br />
etwas mitzuteilen. Die Nutzung dieser<br />
Medien steigt allgemein stetig. Dies<br />
gilt auch für Informationen mit medi -<br />
zinischem Bezug. Für Nutzer besteht<br />
mitunter der Anreiz, dass kein Arzt<br />
nachfragt. So kann jeder steuern, was<br />
er von sich preisgibt. Auch der Arzt<br />
sollte sich auch als Teil der Shareconomy<br />
verstehen. Derzeit besteht ein<br />
Missverhältnis des Konsums von<br />
Inhalten und der aktiven Mitteilung<br />
durch die Nutzer. Das Konstrukt der<br />
Shareconomy lebt allerdings vom<br />
aktiven Mitmachen. Damit das Konzept<br />
aufgeht, braucht es ständig Autoren,<br />
die ihre persönlichen Gesundheitsinformationen<br />
teilen.<br />
Wird die Nutzung von sogenannten<br />
Patienten-Facebooks ein neuer Trend?<br />
Wenn man verschiedene Publikationen<br />
auswertet, könnte man fast den Eindruck<br />
gewinnen, dass es sich um einen neuen<br />
Trend handelt. Das Angebot reicht von<br />
Facebook-Gruppen, die das Abnehmen<br />
unterstützen sollen, bis hin zum Diabetes-<br />
Support oder auch zur Rekrutierung<br />
von Nieren-Lebendspendern in den USA.<br />
Ein Grund für die Beliebtheit der<br />
Nutzung dieser Gruppen – insbesondere<br />
Gruppen für chronische Erkrankungen<br />
– könnte z. B. darin liegen, dass die<br />
Hemmschwelle, bestimmte Fragen zu<br />
stellen, bei allen diesen Online-Medien<br />
sicherlich geringer ist, als das bei direkter<br />
Kommunikation mit einem Arzt der Fall<br />
ist. Doch manche Nutzer gehen sehr<br />
leichtgläubig sehr private Gesundheitsdaten<br />
im Netz preis. Auch Arbeitgeber<br />
und Versicherungsunternehmen inter -<br />
essieren sich dafür. Das kann mitunter<br />
nachteilig für die Person sein. Moderierte<br />
und geschützte Foren mit geschlossenem<br />
Nutzerkreis sind für den Austausch<br />
sensibler Daten eher geeignet.
gute frage 3<br />
mdk forum 2/13<br />
Nicht alle Portale sind auf die<br />
medizinische Selbsthilfe ausgelegt,<br />
viele zielen auf eine Beschreibung<br />
von Symptomen und Therapieerfahrungen<br />
ab, die dann aggregiert und<br />
auf Muster hin durchsucht werden.<br />
So können Nutzer sehen, welche<br />
Therapien bei ähnlichen Parametern<br />
und Symptomen am besten wirken.<br />
Sehen Sie darin mehr Nutzen oder<br />
Gefahren?<br />
Primär positiv zu werten ist sicherlich<br />
das Interesse des Nutzers an dieser<br />
Art Information, wenn sie als Teil des<br />
Prozesses der aktiven Auseinandersetzung<br />
mit seiner Erkrankung zu sehen<br />
ist. Mit der Recherche übernimmt er<br />
Verantwortung und beteiligt sich aktiv.<br />
Er erlangt Information zur Vorbereitung<br />
seines Arztbesuches, die er dann mit<br />
seinem Behandler im Idealfall diskutiert,<br />
um gemeinsam zu einer Lösung<br />
zu kommen. Damit kann sich der Patient<br />
in den Behandlungsprozess einbinden,<br />
was auch vom Gesetzgeber im SGB V §1<br />
Satz 2 »Die Versicherten sind für<br />
ihre Gesundheit mit verantwortlich«<br />
vorgesehen ist. Das unterstreicht den<br />
Wert der Gesundheitsinformation.<br />
Die im Netz dargebotene Information<br />
sollte allerdings nie unreflektiert<br />
bleiben und im Kontext ihrer Quelle<br />
gesehen werden: Manche Foren werden<br />
von Fachleuten moderiert, andere<br />
nicht. Die Information mag auf<br />
Erkenntnissen der evidenzbasierten<br />
<strong>Medizin</strong> beruhen, muss es aber nicht,<br />
Interessenkonflikte können zu verzerrten<br />
Ergebnissen führen, etc. Das<br />
ärztliche Gespräch ist daher zur<br />
Einordnung der Vertrauenswürdigkeit<br />
der recherchierten Information für<br />
den Patienten unerlässlich. Es hilft bei<br />
der Sondierung der Qualität der<br />
recherchierten Information und beim<br />
Abgleich der Information mit der<br />
individuellen Situation des Patienten.<br />
Und eines wird das Netz nie ersetzen<br />
können: die menschliche Nähe<br />
zwischen Arzt und Patient.<br />
Eine Maschine kann eben keine<br />
Empathie ausstrahlen.<br />
Es gibt Berichte, dass sich User<br />
mit ähnlichen Krankheitsbildern zu<br />
selbstorganisierten medizinischen<br />
Studien zusammenschließen.<br />
Was ist davon zu halten?<br />
Das »Crowdsourcing« in gesundheitsbezogener<br />
Forschung ist eine recht junge<br />
Methode, die eng mit der Entwicklung<br />
der Webtechnologien verbunden ist.<br />
Ein Beispiel stellt die eigenständig<br />
initiierte Forschung durch Patienten<br />
dar, die zugleich auch die Studienpopulation<br />
darstellen können. Es gibt<br />
mehrere Ansätze, wie das »Crowdsourcing«<br />
hier funktioniert: Es kann sich<br />
schlicht auf die Finanzierung einer<br />
Studie beschränken, die dann von<br />
professioneller Seite durchgeführt wird,<br />
es kann aber auch eine intensivere<br />
Beteiligung bedeuten. Zum Beispiel<br />
dergestalt, dass die »Crowd«-Ressource<br />
zur Sammlung von Forschungsdaten<br />
und ihrer Auswertung genutzt wird<br />
oder dass sie als Ideengeber und zur<br />
Hypothesengenerierung eingesetzt<br />
wird. Wesentliches Merkmal ist, dass in<br />
diesen Projekten die Beteiligung<br />
großgeschrieben und damit natürlich<br />
auch eine Mitsprache ermöglicht wird.<br />
So kann die Gemeinschaft über den<br />
Forschungsschwerpunkt entscheiden<br />
und auch, welche Daten wie erhoben<br />
werden sollen und wer daran partizipieren<br />
darf. Zu diskutieren ist, inwieweit<br />
ein Probandenschutz gewährleistet<br />
werden kann und wer diesen<br />
gewährleistet, falls die Forschung<br />
losgelöst von einer Regulation und<br />
verbundener behördlicher Überwachung<br />
betrieben wird. Aber sicherlich gibt es<br />
auch genügend Projekte, die ohne eine<br />
Probandengefährung durchgeführt<br />
werden können und wo die kosten- und<br />
zeitsparenden Aspekte gepaart mit<br />
der Anwendung der Grundsätze der<br />
wissenschaftlichen Praxis zu neuen<br />
Erkenntnissen führen, die ohne die<br />
Anwendung des »Crowdsourcing« nicht<br />
oder nur verzögert ans Licht kommen<br />
würden.<br />
Ärzten ermöglicht Social Media neben<br />
dem Update ihres eigenen Wissens den<br />
fachlichen Austausch mit Kollegen.<br />
Werden diese Möglichkeiten von<br />
<strong>Medizin</strong>ern ausreichend genutzt?<br />
Eine Befragung von 160 Allgemein- und<br />
Fachärzten durchgeführt von Harris<br />
interactive Inc. von 2012 bildet die<br />
Situation recht gut ab. Primär wird das<br />
Internet von der Berufsgruppe für<br />
die fachliche Recherche genutzt (95%),<br />
während nur knapp ein Drittel den<br />
ärztlichen Austausch über spezifische<br />
Arztforen nutzt. Lediglich 10% beteiligen<br />
sich durch die Kommentierung von<br />
Beiträgen oder die Erstellung eigener<br />
Inhalte aktiv. Doch damit verhalten<br />
sie sich nicht anders als andere User.<br />
Die Ärzte müssen diese Technologie<br />
annehmen und Wertschätzung dafür<br />
zeigen, wenn ihre Patienten sie nutzen.<br />
Die pharmazeutische Industrie ist<br />
in sozialen Netzwerken sehr aktiv,<br />
betreibt zum Teil eigene Seiten,<br />
bloggt oder lässt bloggen. Was<br />
bedeutet das für die Informationsqualität?<br />
Die Gefahr besteht hier nicht nur im<br />
Verbreiten bestimmter Informationen,<br />
sondern auch im Auslassen bestimmter<br />
Forschungsergebnisse, die z. B. darauf<br />
hinweisen, dass ein Präparat keinen<br />
größeren Nutzen als ein anderes hat.<br />
Im schlimmsten Fall könnten auch<br />
Hinweise auf möglichen Schaden<br />
zurückgehalten werden. Transparente<br />
Angaben über den Autor der Meinung<br />
in Blogs, Foreneinträgen. Tweets etc.<br />
und etwaige Interessenkonflikte<br />
sind als Basis der Beurteilung der<br />
Vertrauenswürdigkeit geeignet. Doch<br />
leider werden diese Informationen<br />
nicht immer preisgegeben.<br />
Das Gespräch führten<br />
Dr. Uwe Sackmann<br />
und Martin Dutschek<br />
Dr. Urs Vito Albrecht
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 5<br />
mdk forum 2/13<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong><br />
Patienten auf dem Weg<br />
ins Paradies – oder vor den<br />
Karren gespannt?<br />
Nicht jedes Medikament wirkt bei jedem Menschen gleich gut. Mit Hilfe der personalisierten <strong>Medizin</strong> soll sich das<br />
ändern: Die Analyse bestimmter Gene des Patienten ermöglicht Vorhersagen zum Therapieerfolg, und die Wirkstoffdosierung<br />
kann besser an den Patienten angepasst werden. Das ist die Idee; in der Realität zeigen sich einige Probleme.<br />
»Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten<br />
<strong>Medizin</strong> in das Paradies medizinischen Fortschritts<br />
gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen<br />
Forschung und der Pharmaindustrie ge <br />
spannt?« So zugespitzt formulierte Prof. Christina Woopen,<br />
Vorsitzende des deutschen Ethikrates, im Mai 2012 das<br />
Dilemma der personalisierten <strong>Medizin</strong>: Auf der einen<br />
Seite die Hoffnung, dass in Zu <br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> kunft jeder Patient eine maßgeschneiderte<br />
Therapie erhält: nur<br />
vor allem in der<br />
Krebstherapie bedeutsam die Therapie, die wirklich bei ihm<br />
wirkt. Auf der anderen Seite die<br />
Gefahr, dass von Ärzten und Patienten überschätzt wird,<br />
wie aussagekräftig genetische Analysen sind, und außerdem,<br />
dass Medikamente unbezahlbar werden.<br />
Was ist personalisierte <strong>Medizin</strong>?<br />
<strong>Personalisierte</strong> – oder auch individualisierte, wie sie manchmal<br />
genannt wird – <strong>Medizin</strong> bedeutet, dass medizinische<br />
Entscheidungen auch anhand von molekularbiologischen<br />
Untersuchungen des Patienten bzw. seiner Gewebeproben<br />
getroffen werden. Neben der Krankengeschichte, den<br />
bildgebenden Verfahren und anderen »klassischen Untersuchungsmethoden«<br />
werden damit dna, rna und Proteine<br />
ausschlaggebend: Das können bestimmte Genvarianten<br />
sein, die vorhanden sind oder nicht. Und manchmal<br />
ist es entscheidend, ob ein Protein in ausreichender<br />
Menge gebildet wird oder ob ein anderes Protein in überdurchschnittlicher<br />
Menge vorliegt.<br />
Genutzt werden diese zusätzlichen Informationen, um<br />
zu erkennen, ob ein Patient ein Medikament vertragen wird,<br />
ob ein Medikament bei ihm wirken wird oder auch – bei<br />
Krebspatienten – ob ein hohes Rückfallrisiko eine aggressivere<br />
Therapie notwendig macht.<br />
Die Vorteile: keine überflüssige Chemotherapie<br />
Vor allem in der Krebsmedizin spielt die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> eine Rolle. Ein Beispiel ist die Behandlung mit<br />
dem Wirkstoff Trastuzumab (Handelsname: Herceptin ® ).<br />
Nicht bei jeder Patientin mit Brustkrebs wirkt dieses<br />
Medikament. Bei etwa einem Viertel der Brustkrebspatientinnen<br />
findet sich auf den Tumorzellen in großer<br />
Menge der sogenannte her2 / neu-Rezeptor. Nur für diese<br />
Patientinnen ist eine Therapie mit dem Wirkstoff Trastuzumab<br />
sinnvoll, daher muss vor Beginn der Therapie<br />
durch einen Test festgestellt werden, ob die Patientin<br />
überdurchschnittlich viele her2 / neu-Rezeptoren besitzt.<br />
Ähnliches gilt für mehr als 20 weitere Wirkstoffe, die der<br />
Krebsmedizin derzeit zur Verfügung stehen: In der Regel<br />
dürfen sie nur eingesetzt werden, wenn ein entsprechender<br />
Test vorher ein bestimmtes Gen oder Protein nachgewiesen<br />
hat.<br />
Daraus ergibt sich das große Versprechen der personalisierten<br />
<strong>Medizin</strong>: Anhand von Tests kann der Arzt<br />
die für den Patienten passende Therapie heraussuchen.<br />
Dem Patienten wird z. B. eine belastende Chemotherapie<br />
erspart, weil sie bei ihm keine<br />
Wirkung zeigen würde. Oder die<br />
Dosierung eines Medikaments<br />
kann an den Patienten angepasst<br />
werden, je nachdem, wie schnell<br />
Absolute<br />
Erfolgssicherheit<br />
gibt es nicht<br />
er – genetisch bedingt – ein Medikament abbaut. Das<br />
Versprechen klingt verlockend, doch bisher kann es nur<br />
ansatzweise erfüllt werden.<br />
Zum einen spielen nicht nur die Gene alleine eine Rolle:<br />
So ist zum Beispiel nicht bei jeder Patientin, die laut<br />
Test für die Herceptin-Therapie geeignet ist, die Therapie<br />
wirklich erfolgreich. Anscheinend spielen noch andere<br />
Faktoren eine Rolle, die aber (noch) nicht bekannt sind.<br />
Das heißt, mit den Mitteln der personalisierten <strong>Medizin</strong><br />
kann zwar abgeschätzt werden, ob ein Medikament für<br />
einen Patienten geeignet ist – eine absolut sichere Aussage<br />
ist aber nicht möglich. Seriöse Ärzte weisen ihre<br />
Pa tienten auf diese Unsicherheit hin – doch es besteht die<br />
Gefahr, dass Anbieter von individualisierten diagnostischen<br />
Tests oder Therapien nicht derart ausgewogen<br />
informieren – vor allem, wenn sie sich direkt an den Patienten<br />
wenden.<br />
Droht eine Kostenexplosion?<br />
Ein weiteres Problem sind die Kosten. Wenn ein Medikament<br />
nur noch für eine kleinere Gruppe von Patienten<br />
zugelassen wird, dann muss der Hersteller den Preis<br />
erhöhen, um ausreichend zu verdienen. So kostet eine
6 Titelthema: personalisierte MEDIZIN<br />
mdk forum 2/13<br />
Ethische und juristische Probleme<br />
Prof. Kroemer, Vorstand des Ressorts Forschung und Lehre<br />
an der Universitätsmedizin Göttingen, koordinierte bis<br />
2012 das Forschungsvorhaben gani-med (Greifswald<br />
approach to individualized medicine) in Greifswald, das<br />
individualisierte <strong>Medizin</strong> umfassend untersucht. »Das be -<br />
sondere an gani-med ist, dass hier von Anfang an Ethiker<br />
und Juristen mit eingebunden waren«, sagt der Pharmakologe.<br />
»Denn der Weg zur individualisierten <strong>Medizin</strong><br />
beginnt mit der Sammlung von riesigen Datenmengen –<br />
und das bringt ethische und juristische Fragen mit sich.«<br />
Schließlich müssen die Werte, Daten und Gen-Sequenzen<br />
von vielen Menschen ausgewertet werden, um dann zu<br />
erkennen, welche Merkmale z. B. besonders günstig für<br />
eine bestimmte Therapie sind. Was aber, wenn im Rahmen<br />
einer solchen Datensammlung bei einem Patienten eine<br />
Krankheit entdeckt wird – muss er darauf hingewiesen<br />
werden? Was, wenn der Patient das nicht wissen will, auf<br />
sein Recht auf Nichtwissen verweist – er aber durch die<br />
Krankheit andere gefährdet, weil er z. B. dadurch fahruntüchtig<br />
ist? Riesige Datensammlungen bringen viele<br />
Fragen mit sich – und die sollten von Anfang an von Fachleuten<br />
behandelt werden, betont Prof. Kroemer.<br />
Nicht Individuen, sondern kleinere Gruppen<br />
werden gebildet<br />
Einige Wissenschaftler reiben sich an der Ungenauigkeit<br />
des Begriffes »<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong>«: In der Regel wird<br />
eine Therapie nicht individuell auf den Patienten zugeschnitten,<br />
also wirklich ein Wirkstoff speziell für den<br />
einzelnen Patienten entwickelt. Meistens entscheidet der<br />
Arzt anhand der molekularbiologischen Daten, in welche<br />
Gruppe der Patient gehört: Zählt er zu den Patienten, für<br />
die ein bestimmtes Medikament sinnvoll ist? Ist er einer<br />
von den Patienten, bei denen aufgrund der molekularbiologischen<br />
Daten der Krebs<br />
besonders aggressiv behandelt<br />
werden muss? Daher wird auch<br />
unter Fachleuten immer häufiger<br />
Gibt es ein Recht auf<br />
Nicht-Wissen?<br />
nicht von der »personalisierten«, sondern von der »stratifizierten«<br />
<strong>Medizin</strong> gesprochen, also von einer <strong>Medizin</strong>, die<br />
anhand von Merkmalen Patienten in Gruppen einordnet.<br />
einjährige Therapie mit einem Krebsmedikament wie<br />
z. B. Herceptin ungefähr € 40 000 oder mehr. Und auch<br />
die entsprechenden Tests müssen schließlich bezahlt<br />
werden. Schon jetzt warnen Fachleute, wie zum Beispiel<br />
der Sozialmediziner Heiner Raspe vom Akademischen<br />
Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung,<br />
dass solche teuren Medikamente eine deutliche<br />
Belastung für die Solidargemeinschaft darstellen. Dagegen<br />
argumentierte Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin<br />
des vfa (Die forschenden Pharma-Unternehmen), erst vor<br />
Kurzem in einer Pressemitteilung: »Schneller wirksam<br />
behandelte Patienten dürften oft auch weniger Folgekosten<br />
verursachen. Deshalb bedeutet personalisierte Me dizin<br />
nicht automatisch eine teurere <strong>Medizin</strong>.« Ob sich wirklich<br />
einmal die gestiegenen Medikamentenpreise wieder ausgleichen,<br />
weil dafür weniger Patienten eine überflüssige<br />
oder nutzlose Therapie erhalten, ist derzeit schwer zu sagen,<br />
dazu steckt das ganze Gebiet noch zu sehr in den Kinderschuhen.<br />
Pro und Contra<br />
Die personalisierte <strong>Medizin</strong> polarisiert: Auf der einen Seite<br />
steht die Hoffnung, dass Medikamente in Zukunft »passender«<br />
verordnet werden können: Für Patienten wäre das<br />
ein Schritt auf dem Weg in ein medizinisches Paradies,<br />
wo schwere Nebenwirkungen nur dann ertragen werden<br />
müssen, wenn die Therapie auch einen Nutzen bringt.<br />
Auf der anderen Seite gibt es die Befürchtung, dass man<br />
dieses Ziel nie erreichen wird, weil das Zusammenspiel<br />
von Genen, Proteinen und Umwelt zu komplex ist, um<br />
dort erfolgreich einzugreifen: Dann wären Patienten mit<br />
ihren Hoffnungen vor einen Karren gespannt, damit<br />
Wissenschaftler ihre Neugier befriedigen können und<br />
Pharmaunternehmen ein neues Geschäftsfeld gewinnen.<br />
Die Realität liegt wahrscheinlich dazwischen.<br />
Dipl.-Biol. Christina<br />
Sartori ist Wissenschafts-<br />
Journa listin in Berlin.<br />
info@christina-sartori.de
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 7<br />
mdk forum 2/13<br />
Paradigmenwechsel in der Onkologie?<br />
Krebszellen im Visier der<br />
personalisierten <strong>Medizin</strong><br />
in der Krebstherapie ist die personalisierte <strong>Medizin</strong> im Aufbruch. In Deutschland sind bereits 29 Medikamente<br />
für bestimmte Patientengruppen zugelassen, deren Wirksamkeit anhand vorhergehender Tests geprüft werden<br />
kann. 19 davon sind Krebsmedikamente, mit denen auch Prof. Dr. Michael Hallek in der Uniklinik Köln arbeitet.<br />
Der Patient, der in das Centrum für Integrierte Onkologie<br />
der Kölner Universitätsklinik kam, war 80 Jahre alt. Seine<br />
Diagnose lautete »fortgeschrittenes Lungenkarzinom mit<br />
einer egfr-Mutation«. Früher hätte er eine Chemotherapie<br />
erhalten mit Nebenwirkungen wie Übelkeit und<br />
Erbrechen, Müdigkeit, Schwäche oder Haarverlust. Doch<br />
Professor Hallek konnte ihn mit einem sogenannten<br />
egfr-Inhibitor behandeln. Das Medikament blockiert<br />
ein Eiweiß in der Wand der Krebszellen, das zu einem<br />
unkontrollierten Wachstum führt. »Auf eine Chemotherapie<br />
konnten wir verzichten und so dem Patienten in<br />
dieser Zeit eine hervorragende Lebensqualität bieten, die<br />
er sogar für eine Weltreise nutzte. Als es zu einem Therapieversagen<br />
kam, hatten wir die Möglichkeit, auf einen<br />
Zweitgenerationsinhibitor auszuweichen. Auch darauf<br />
sprach der Patient gut an. Er profitierte letztendlich mit<br />
insgesamt fünf Jahren bester Lebensqualität«, erinnert<br />
sich Hallek.<br />
Zielgenaue Wirkung, wo es darauf ankommt<br />
Die vfa-Liste des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen<br />
umfasst derzeit 29 Medikamente, die in Deutschland<br />
für eine gezielte Behandlung zugelassen sind. Vor<br />
der Anwendung müssen die Ärzte<br />
mit Hilfe molekulargeneti<br />
Wandelt sich der Krebs vom<br />
Todesurteil zur chronischen scher Untersuchungen wie Biomarker<br />
prüfen, ob die geneti<br />
Erkrankung?<br />
sche Konstellation des Patienten<br />
für einen Therapieerfolg spricht. Das Prinzip bedeutet<br />
also: Nur wer ein bestimmtes molekulares Bild zeigt,<br />
für den passt auch dieses Medikament. 19 solcher Arzneimittel<br />
sind Krebsmedikamente – wie Antikörper gegen<br />
Brustkrebs oder Enzymhemmer gegen die chronische<br />
myeloische Leukämie (cml).<br />
»<strong>Personalisierte</strong> molekulare <strong>Medizin</strong> ist längst keine<br />
Science-Fiction mehr. Die Forschung in der Krebsmedizin<br />
schreitet rasend schnell voran, hin zu einer Kombinationstherapie<br />
wie bei hiv beziehungsweise Aids. Unser<br />
Ziel ist es, eine Medikation zu entwickeln, die gezielt an<br />
molekularen Schaltern wirkt«, erklärt der Kölner Onkologe.<br />
Die Entschlüsselung eines Krebs-Genoms zeigt defekte<br />
Signalwege in der entarteten Zelle, so dass man an diesen<br />
Stellen mit maßgeschneiderten Therapiekombinationen<br />
gezielt ansetzen könne.<br />
Die Angriffspunkte dieser Medikamente liegen also direkt<br />
in oder an den Krebszellen. Deshalb schont die zielgenaue<br />
Wirkung das gesunde Gewebe, was weniger Nebenwirkungen<br />
als bei einer Strahlen- oder Chemotherapie<br />
bedeutet. Und sie wirkt meistens effektiver. Ein weiterer<br />
Vorteil der neuen Medikamente ist, dass es sie in der<br />
Regel in Tablettenform gibt – im Vergleich zu den Infusionen<br />
der klassischen Chemotherapie, deren Wirkstoffe<br />
recht aggressiv sind.<br />
Paradigmenwechsel in der <strong>Medizin</strong>?<br />
»Die personalisierte Therapie leitet gewissermaßen einen<br />
Paradigmenwechsel in der <strong>Medizin</strong> ein, indem sie die präzise<br />
molekulare Diagnostik mit therapeutischen Entscheidungen<br />
verknüpft. Dadurch entstehen passgenaue,<br />
Pathogenese-orientierte Behandlungen. Wenn es gelingt,<br />
wandelt sich der Krebs von einer lebensbedrohlichen Diagnose,<br />
die vor wenigen Jahren häufig noch ein Todesurteil<br />
bedeutete, zur chronischen Erkrankung«, ist Hallek überzeugt.<br />
Manche Kritiker zweifeln allerdings daran, da das<br />
Wechselspiel zwischen Genen und ihren Produkten, den<br />
Eiweißen, dem Stoffwechsel des Patienten und den Einflüssen<br />
aus der Umwelt zu komplex sei. Doch auch wenn<br />
es mehr als 400 verschiedene Arten bösartiger Tumoren<br />
gibt, bei denen letztendlich oft eine Reihe genetischer<br />
»Unfälle« zur Entartung der Zellen geführt hat, ist der
8 Titelthema: personalisierte MEDIZIN<br />
mdk forum 2/13<br />
Krebsmediziner zuversichtlich, dass – wenn auch langsam<br />
– irgendwann gegen alle Tumorarten ein Medikament<br />
gefunden wird: »Ich sehe da keine Grenzen, es wird<br />
nur einfach sehr, sehr lange, also Jahrzehnte, dauern, bis<br />
wirklich für die vielen unterschiedlichen Krebserkrankungen<br />
die richtigen Therapien oder Kombinationstherapien<br />
zur Verfügung stehen.«<br />
Bisher beobachtet der Onkologe die besten Erfolge bei<br />
gastrointestinalen Stromatumoren (gist), seltenen Bindegewebstumoren<br />
des Magen-Darm-Traktes, bei Brustkrebs<br />
(Mamma-Karzinomen) und der chronischen myeloischen<br />
Leukämie (cml).<br />
Suche nach verunglückten Genen<br />
Die cml ist eine Art Blutkrebs, der zu einer starken Vermehrung<br />
von weißen Blutkörperchen führt. Sie beruht<br />
auf einer einzigen Mutation im Erbgut der Zellen. Auf der<br />
Suche nach einem Medikament mussten die Wissenschaftler<br />
also »nur« ein entsprechendes Enzym blockieren,<br />
um die Krebszellen am Wachstum zu hindern.<br />
Schwieriger ist es bei sogenannten soliden Tumoren,<br />
deren Zellwachstum zu massiven Wucherungen im Körper<br />
führt. Hier spielen häufig mehrere Erbgutveränderungen<br />
eine Rolle bei der Entartung der Zellen – das macht es<br />
komplizierter, die Entstehungs- und Stoffwechselprozesse<br />
zu entschlüsseln.<br />
Diese Entschlüsselung führt die Wissenschaftler tief in<br />
das Erbgut der Krebszellen, bei denen es sich letztendlich<br />
um entartete Körperzellen des Patienten handelt. Voraussetzung<br />
für Krebsgenomanalysen war also die gesamte<br />
Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Sie lieferte<br />
die Basis für neue Ansatzpunkte zur Behandlung von Erkrankungen<br />
– nicht nur gegen<br />
Krebsforscher<br />
Krebs. »Derzeit befinden sich<br />
als Fahnder am Tatort<br />
einige Hundert weitere Substanzen<br />
in der Entwicklung. Bis-<br />
Tumor-Erbgut<br />
her gibt es meiner Ansicht nach<br />
neben der Krebstherapie auch bei der Therapie von hiv-<br />
Infektionen ähnliche Ansätze, in denen eine personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> mit maßgeschneiderten Medikamenten<br />
eine Rolle spielt«, so Hallek.<br />
Grenzenlose Therapiemöglichkeiten?<br />
Gewissheit, dass die Therapie den Krebszellen Einhalt gebieten<br />
kann, gibt es allerdings nicht. Manchmal versagt<br />
das Medikament trotz eines vielversprechenden Testergebnisses.<br />
Außerdem können sich die Zellen immer wieder<br />
verändern, so dass es zu einem Therapieversagen<br />
kommt. Oder aber die Medikamente können plötzlich gegen<br />
eine Metastase wirken, obwohl der Ursprungstumor<br />
zunächst resistent schien. Solche Fälle kennt auch Hallek:<br />
»Es gibt natürlich immer<br />
wieder Patienten, bei denen die<br />
Tests zunächst großen Erfolg<br />
versprachen, der dann aber ausblieb.<br />
Deswegen benötigen wir<br />
Manchmal versagt<br />
die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong><br />
immer auch nach der Zulassung neuer Präparate die kritische<br />
Prüfung des Therapiewertes dieser Substanzen im<br />
Rahmen von klinischen Studien.«<br />
Der Nachteil der neuen Medikamente ist, dass sie in<br />
der Regel recht teuer sind – und der Patient sie dauerhaft<br />
einnehmen muss. Kritiker der personalisierten <strong>Medizin</strong><br />
fürchten deshalb, die Kosten könnten explodieren und<br />
die personalisierte <strong>Medizin</strong> könnte die Finanzierbarkeit<br />
überstrapazieren. Doch diese Sorge teilt Hallek nicht:<br />
»Das ist eine unbegründete Befürchtung. Vorübergehend<br />
werden die Kosten vielleicht steigen. Aber langfristig wird<br />
es Krebsmedikamente geben, die man billig herstellen<br />
kann und die zum Preis von Aspirin als Therapie zur Verfügung<br />
stehen. Als Erstes werden wir dies beim Imatinib<br />
sehen, einem Medikament zur Behandlung der cml, von<br />
gist und anderen bösartigen Erkrankungen.«<br />
Dr. Martina Koesterke
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 9<br />
mdk forum 2/13<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> im KC Onkologie: Interview mit Prof. Dr. Axel Heyll<br />
Längst mehr als Zukunftsmusik?<br />
Axel Heyll leitet seit zwölf Jahren das Kompetenz-Centrum Onkologie (KC Onkologie) der <strong>MDK</strong>-<br />
Gemeinschaft beim <strong>MDK</strong> <strong>Nord</strong>rhein. Es berät die gesetzlichen Krankenkassen, ihre Verbände und die <strong>Medizin</strong>ischen<br />
Dienste bei Fragen der qualitätsgesicherten und wirtschaftlichen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit<br />
Krebserkrankungen. <strong>MDK</strong> Forum sprach mit dem Arzt für Innere <strong>Medizin</strong>, Hämatologie, Onkologie und Sozialmedizin<br />
über mögliche Vor teile der personalisierten <strong>Medizin</strong> für den Patienten und Herausforderungen für die ärztliche Praxis.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Ist die »personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong>« schon im KC Onkologie<br />
angekommen – oder handelt es sich<br />
dabei noch um Zukunftsmusik aus den<br />
Laboratorien der Wissenschaft?<br />
Prof. Dr. Axel Heyll Nach unserer<br />
Bewertung ist das ein modernes<br />
Schlagwort, das im Grunde genommen<br />
eine kontinuierliche Entwicklung<br />
beschreibt. Vor etwa 50 Jahren gab es<br />
beispielsweise Medikamente wie<br />
Alkylantien oder Nitrosoharnstoffe, die<br />
für alle Krebserkrankungen zugelassen<br />
wurden. Im Laufe der vergangenen<br />
Jahrzehnte haben Wissenschaftler<br />
erkannt, dass Krebserkrankungen sehr<br />
unterschiedlich auf bestimmte<br />
Medikamente ansprechen. Es ist dann<br />
durch klinische Studien gelungen,<br />
immer bessere Therapieprotokolle zuge <br />
schnitten auf einzelne Erkrankungen<br />
zu entwickeln. Und dank molekular biologischer<br />
Untersuchungsmöglichkeiten<br />
können wir jetzt sogar kleinste Verän <br />
derungen im Erbgut der Tumorzellen<br />
erkennen, sogenannte Punkt mutationen.<br />
Diese Entwicklung hat rasant<br />
zugenommen, so dass die »großen<br />
Krankheitsbilder« wie Lungen-, Brustoder<br />
Darmkrebs in unterschiedliche<br />
kleinere Erkrankungen zerfallen<br />
und sich anhand molekularer Marker<br />
identifizieren lassen.<br />
Angekommen ist die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> bei uns auf jeden Fall schon.<br />
Es gibt bestimmte Medikamente, von<br />
denen wir wissen, dass ihre Wirksamkeit<br />
davon abhängt, ob in den<br />
Tumorzellen eine bestimmte Mutation<br />
vorliegt oder nicht. Das lässt sich durch<br />
molekular-biologische Untersuchungen<br />
nachweisen. Die Anwendung des Medikaments<br />
setzt also den Nachweis der<br />
entsprechenden Mutation oder auch<br />
des Fehlens einer Mutation (»Wildtyp«)<br />
voraus, was auch teilweise schon in<br />
der Zulassung steht. Wenn dieses<br />
Merkmal nicht nachweisbar ist, dann ist<br />
das Medikament nicht nur nicht nützlich,<br />
sondern es kann sich sogar ungünstig<br />
auswirken: Patienten mit metastasiertem<br />
kolorektalen Karzinomen und mit<br />
KRAS-Wildtyp (ca. 50% aller Patienten)<br />
profitieren beispielsweise von einer<br />
Erstlinienbehandlung mit den EGF<br />
Rezeptor-Antikörper Panitumumab<br />
durch eine Verlängerung der medianen<br />
Überlebenszeit um etwa 4 Monate.<br />
Werden die gleichen Medikamente<br />
Patienten mit mutiertem KRAS gegeben,<br />
verkürzt sich die Überlebenszeit um<br />
fast den gleichen Zeitraum.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Die personalisierte <strong>Medizin</strong><br />
kann also auch Nebenwirkungen haben?<br />
Heyll Ja, wenn sie nicht richtig<br />
angewendet wird. Richtig gemacht, ist<br />
es ein sehr sinnvolles Instrument,<br />
mit dem wir dem Patienten gezielt<br />
Medikamente zukommen lassen, von<br />
denen er mit einer hohen Wahrschein<br />
lichkeit profitieren wird. Insofern ist<br />
die Entwicklung als solche sehr günstig,<br />
wenn man die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse dann auch qualitätsgesichert<br />
umsetzt.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Wie lässt sich das sicherstellen,<br />
d. h. wo genau begegnen<br />
Sie dem Thema im KC Onkologie?<br />
Heyll Wir begegnen dem Thema<br />
zum Beispiel bei der Medikamententherapie<br />
im Einzelfall, wenn wir beurteilen<br />
müssen, ob ein Medikament medizinisch<br />
notwendig ist oder nicht. Dann<br />
prüfen wir, ob der Patient die Merkmale<br />
aufweist, die einen Nutzen des<br />
Medikamentes anzeigen.<br />
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die<br />
Qualitätssicherung. Heute gehört<br />
eine molekularbiologische Diagnostik<br />
quasi zur klinischen Routine bei<br />
onkologischen Patienten, was früher<br />
nicht der Fall war. Zahlreiche dieser<br />
Untersuchungen werden immer häufiger<br />
durchgeführt, so dass in unserer Systemberatung<br />
plötzlich Fragen eine Rolle<br />
spielen wie »Was ist da überhaupt<br />
notwendig?« oder »Wie kann es qualitätsgesichert<br />
durchgeführt werden?«. Denn<br />
es wäre schlecht, wenn eine solche<br />
Untersuchung nicht qualitätsgesichert<br />
ablaufen würde und dem Patienten<br />
dadurch ein Medikament vorenthalten<br />
würde, das ihm hätte helfen können.<br />
Oder wenn der Patient umgekehrt ein<br />
für ihn nutzloses Medikament erhält<br />
und mit den Nebenwirkungen unnötig<br />
belastet wird. Wir müssen uns also<br />
darauf verlassen können, dass diese<br />
Tests funktionieren.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Das Thema ist also hoch <br />
komplex. Vor welche Herausforderungen<br />
stellt das die ärztliche Praxis?
10 Titelthema: personalisierte MEDIZIN<br />
mdk forum 2/13<br />
Heyll Es öffnet sich ein riesiger<br />
Markt. Plötzlich sind es nicht mehr nur<br />
Pathologen, die solche Tests klassischerweise<br />
durchführen – und wir meinen, dass<br />
sie das auch weiter machen sollten –,<br />
sondern jetzt drängen auch große<br />
Labors oder Hersteller von Diagnostika<br />
als Leistungsanbieter in den Markt.<br />
Wir beraten die Krankenkassen, die<br />
Versorgung onkologischer Patienten<br />
beispielsweise in onkologischen Fachabteilungen<br />
oder Schwerpunktpraxen<br />
zu konzentrieren, in denen die<br />
unterschiedlichen medizinischen<br />
Fachrichtungen eng zusammenarbeiten.<br />
Denn die immer größer werdende<br />
Diversifizierung erfordert ein Spezialwissen,<br />
das immer umfangreicher<br />
wird. Nach unserer Bewertung ist es<br />
heutzutage kaum möglich, dass eine<br />
medikamentöse Tumortherapie<br />
beispielsweise von einem Internisten<br />
ohne Schwerpunkt oder einem<br />
überwiegend chirurgisch tätigen Arzt<br />
»nebenbei« gemacht wird. Wir wollen,<br />
dass solche Behandlungen ausschließlich<br />
von Ärzten durchgeführt werden,<br />
die in der medikamentösen Tumortherapie<br />
auch den Schwerpunkt ihrer<br />
beruflichen Tätigkeit und damit die<br />
Möglichkeit haben, sich das notwendige<br />
Spezialwissen anzueignen und<br />
ständig zu aktualisieren. Und da<br />
es zunehmend eine interdisziplinäre<br />
Behandlung ist, müssen der Pathologe<br />
und der internistische Onkologe<br />
eng zusammenarbeiten und sich über<br />
die Befunde austauschen, um die<br />
Medikamentenauswahl zu steuern.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Auf welche Spezialkenntnisse<br />
kommt es genau an?<br />
Heyll Der Arzt muss beispielsweise<br />
wissen, welche Marker bei welchem<br />
Krankheitsbild bestimmt werden müssen.<br />
Dieses Wissen schreitet sehr schnell voran,<br />
zumal wir zunehmend Medikamente<br />
haben, die nur bei sehr kleinen Untergruppen<br />
von Patienten mit einem<br />
bestimmten Marker wirken. Ein solches<br />
Medikament ist gerade vom Gemeinsamen<br />
Bundesausschuss im Rahmen des<br />
AMNOG-Verfahrens bewertet worden:<br />
Crizotinib (Xalkori®) wirkt bei Patienten<br />
mit einem nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom<br />
– der häufigsten Form von<br />
Lungenkrebs. Aber die entsprechende<br />
ALK-Mutation, die Voraussetzung für<br />
die Wirksamkeit des Medikamentes,<br />
kommt nur etwa bei 3% aller Patienten<br />
mit Lungenkrebs vor.<br />
Vor der Anwendung des Medikamentes<br />
muss diese Mutation also<br />
unbedingt nachgewiesen sein und das<br />
kann nach unserer Bewertung qualitätsgesichert<br />
nur von einem Pathologen<br />
gemacht werden. Denn er muss an<br />
einem Gewebeschnitt auf den Bruchteil<br />
eines Millimeters genau erkennen, wo<br />
Tumorgewebe ist und wo gesundes<br />
Gewebe ist. Er muss das Gewebe dann<br />
ganz gezielt dort entnehmen, wo er<br />
im Mikroskop Tumorgewebe erkennen<br />
kann. Nur in einer solchen Gewebeprobe<br />
hat er die Chance, die ALK-Mutation<br />
zu entdecken. Wenn er aus nicht<br />
tumorbefallenem Gewebe die Probe<br />
entnehmen würde, wäre der Test<br />
negativ und man würde dem Patienten<br />
möglicherweise ein für ihn sehr<br />
nützliches Medikament vorenthalten.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Ist eine derart aufwendige<br />
Therapie nicht sehr teuer?<br />
Heyll Sicherlich handelt es sich bei<br />
Crizotinib um ein sehr teures Medi<br />
kament. Deshalb ist es schön, dass die<br />
Ansprechrate für dieses Medikament<br />
bei ALK-positiven Patienten immerhin<br />
bei 60–70% liegt. Wir können also sehr<br />
gezielt eine Patientengruppe auswählen,<br />
bei der wir wissen, dass das<br />
Medikament auch wirkt. Früher hatten<br />
wir mit einer normalen Chemotherapie<br />
bei Patienten mit nichtkleinzelligem<br />
Bronchialkarzinom eine deutlich<br />
geringere Ansprechrate von 20–30%.<br />
Der Vorteil der personalisierten<br />
<strong>Medizin</strong> ist, dass man die Medikamente<br />
viel gezielter einsetzen kann. Auch wenn<br />
es im Einzelfall teuer ist, ist es nicht nur<br />
aufgrund medizinischer Überlegungen,<br />
sondern auch gesundheitsökonomisch<br />
viel günstiger, ein Medikament gezielt<br />
ca. 3% aller Patienten mit Lungenkrebs<br />
zu geben, von denen die Mehrzahl<br />
anspricht, als ein preisgünstigeres<br />
Medikament bei allen Patienten mit<br />
Lungenkrebs einzusetzen, von<br />
denen nur ein kleiner Teil anspricht.<br />
Das Gespräch führte<br />
Dr. Martina Koesterke<br />
Prof. Dr. Axel Heyll
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 11<br />
mdk forum 2/13<br />
Kein Schnipselwerk<br />
Erbgutanalyse von Hirntumoren<br />
bei Kindern<br />
Sie passen auf jeden Schreibtisch und sehen unspektakulär aus. Der Schein trügt: Die 13 Sequenziermaschinen<br />
im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg enträtseln DNA-Sequenzen des menschlichen Erbguts<br />
und knacken die Codes der Krebszellen. Ziel ist die Totalsequenzierung des Krebsgenoms kindlicher Hirntumoren.<br />
Im Zellkern einer jeden Zelle des menschlichen Körpers –<br />
egal ob Auge, Haut oder Herzmuskelzelle – liegt das<br />
gesamte Genom, also das gesamte Erbmaterial des Menschen.<br />
Aus einem Stück menschlichen Gewebes lässt sich<br />
dementsprechend im Labor genetisches Material in<br />
Form von dna isolieren. Dazu wird die dna im Prinzip in<br />
Millionen von kleinen Teilen zerhackt. Am Ende erhalten<br />
die Wissenschaftler viele Kopien des Genoms, denn das<br />
Gewebestück bestand aus vielen Zellen.<br />
Gefüttert mit Erbmaterial<br />
In einem anderen Labor werden diese dna-Stücke über<br />
einen biochemischen Schritt vermehrt und sogenannte<br />
»dna libraries«, das heißt Genbibliotheken, vorbereitet,<br />
mit denen schließlich die Sequenziermaschine »gefüttert«<br />
wird. Prof. Peter Lichter ist Molekulargenetiker und<br />
arbeitet im dkfz mit den Sequenziermaschinen: »Diese<br />
dna libraries werden in der Maschine<br />
ausgelesen, und die dna-<br />
Die Sequenz von 50 000<br />
Krebsgenomen soll<br />
Sequenz wird über Lichtsignale<br />
entschlüsselt werden<br />
sichtbar gemacht. Das Ergebnis<br />
sind viele kurze Sequenzstücke,<br />
die wir dann bioinformatisch zu einen Genom zusammensetzen.<br />
Diese bioinformatische Analyse ist letztendlich<br />
die Hauptarbeit.« Dazu gleicht er die einzelnen Sequenzen<br />
mit einer Referenzsequenz des menschlichen Genoms ab.<br />
Was ist normal?<br />
Diese Referenzsequenz wird von Forschern auf der ganzen<br />
Welt verwendet und ständig verbessert. Sie geht von<br />
»gesunden Geweben« aus, wobei es auch im Bereich des<br />
»normalen«, also des klinisch unauffälligen, eine große<br />
Variationsbreite gibt. Deshalb haben Wissenschaftler im<br />
»one-thousand-genome-project« Daten von 1000 menschlichen<br />
Genomen analysiert und abgeglichen. So konnten<br />
sie beispielsweise angeben, welche Base im Referenzgenom<br />
häufig polymorph ist, also an welcher Position häufig verschiedene<br />
Basen auftreten können.<br />
Der Vergleich der dna-Sequenz aus der Sequenziermaschine<br />
mit dieser Referenzsequenz liefert letztendlich die<br />
Gesamtsequenz der Zellen aus dem untersuchten Gewebestück.<br />
Wie lange eine solche Genomentschlüsselung dauert,<br />
hängt von der Dringlichkeit ab – und vom Preis. Die<br />
biochemischen Schritte in der Maschine an sich dauern<br />
normalerweise zwei Wochen. Die dabei verwendeten Reagenzien<br />
sind günstiger als die für ein schnelleres Verfahren:<br />
»Wenn wir es ganz schnell wissen wollen, können<br />
wir die komplette Sequenz der Gene auch an einem Tag<br />
ermitteln«, erklärt Lichter. Dann benötigt er allerdings<br />
für jedes Genom eine eigene Maschine.<br />
Ziel der Forschung im dkfz ist es in erster Linie nicht,<br />
menschliches Erbmaterial zu entschlüsseln, sondern<br />
genomische Veränderungen in Tumorzellen zu finden.<br />
Trotzdem untersucht Professor Lichter immer zwei Gewebeproben:<br />
»Wir sequenzieren einmal Gewebe aus den Tumorzellen<br />
und zusätzlich auch Nichttumorzellengewebe<br />
vom gleichen Patienten, entschlüsseln also zwei Genome.<br />
Wenn wir beide miteinander vergleichen, können wir<br />
herausfinden, was in den Tumorzellen zusätzlich noch so<br />
alles passiert.«<br />
Erbgutanalyse kennt keine Grenzen<br />
Diese Methode nutzt der Molekulargenetiker auch für das<br />
erste große Projekt, das Deutschland zum Internationalen<br />
Krebsgenom-Konsortium (icgc) beiträgt – und das<br />
er zusammen mit Prof. Roland Eils koordiniert. Im icgc<br />
arbeiten Wissenschaftlern aus 14 Ländern in insgesamt<br />
51 Forschungsprojekten daran, die vollständige Sequenz<br />
von 50 000 Krebsgenomen zu entschlüsseln. Seit 2010<br />
gehört auch »PedBrain-Tumor« dazu, ein Projekt zur Untersuchung<br />
des Erbguts kindlicher Hirntumoren.<br />
Hirntumoren zählen zu den häufigsten tödlichen Krebs
12 Titelthema: personalisierte MEDIZIN<br />
mdk forum 2/13<br />
erkrankungen im Kindesalter. In Deutschland erkranken<br />
jedes Jahr etwa hundert Kinder an sogenannten Medulloblastomen<br />
und rund 200 Kindern an pilozytischen Astrozytomen.<br />
Selbst wenn der Krebs geheilt werden kann,<br />
belastet die Behandlung häufig das Gehirn, das sich noch<br />
im Wachstum befindet.<br />
Analyse des Genoms von Hirntumoren<br />
für neue Behandlungsstrategien<br />
Im Rahmen von PedBrain-Tumor wollen die Wissenschaftler<br />
von beiden Erkrankungen jeweils 250 Tumorproben<br />
analysieren. Hinzu kommen noch einmal je 250 Gewebeproben<br />
aus gesunden Geweben derselben Patienten. »Inzwischen<br />
sind wir schon über unserem Soll«, erklärt<br />
Lichter. »Laut Zeitplan wollten wir 500 Fälle in fünf Jahren,<br />
also bis 2015, analysieren; das heißt insgesamt 1000 Genome<br />
aus gesundem Gewebe und Tumorgewebe. Inzwischen<br />
haben wir schon weit über die Hälfte geschafft.«<br />
Aus dem Vergleich der beiden Datensätze lässt sich ein<br />
Profil möglicher krebsspezifischer Erbgutveränderungen<br />
erkennen, die bei diesen Tumoren auftreten können.<br />
Lichter hofft, dadurch Hinweise für mögliche Angriffsziele<br />
einer schonenderen Behandlung zu finden. Dazu braucht<br />
es zunächst jedoch viel tumorbiologisches<br />
Verständnis: »Es<br />
Medulloblastome:<br />
760 Mutationen in 600 kann sehr gut sein, dass wir eine<br />
Genen<br />
Mutation in einem Gen finden,<br />
dessen Produkt – zum Beispiel<br />
ein Enzym – in einem sogenannten Pathway, einem biochemischen<br />
Pfad, eine Rolle spielt. Das bedeutet, wir<br />
müssen gar nicht unbedingt an dem Produkt, dem Enzym<br />
selbst, ansetzen, sondern an diesem Pfad, in dem es eine<br />
Rolle spielt«, erklärt Lichter.<br />
Der Weg in die klinische Praxis<br />
Inzwischen haben die PedBrain-Wissenschafter die Auswertung<br />
der ersten 125 Erbgut-Analysen von Medulloblastomen<br />
veröffentlicht. Sie entdeckten mehr als 760<br />
Mutationen in fast 600 Genen. In Einzelfällen fand Lichter<br />
manchmal sogar eine Veränderung, die schon von einem<br />
anderen Tumor her bekannt war und gegen die es sogar<br />
ein Medikament gibt. »Dann konnten wir dem Arzt sagen:<br />
Sieh mal, hier wäre noch eine Option, falls die gegenwärtige<br />
Therapie nicht greift. Allerdings sind das Einzelfallgeschichten<br />
mit Off-label-use-Medikamenten, die es zwar<br />
schon gibt, aber die noch nicht für diese Indikation zugelassen<br />
sind.«<br />
Sein Ziel sind deshalb neue Anschlussstudien, um die<br />
ermittelten Daten auch breiter in der klinischen Behandlung<br />
der kindlichen Hirntumore umsetzen zu können:<br />
»Wir, also Prof. Stefan Pfister, Prof. Olaf Witt und ich,<br />
versuchen mit der Unterstützung verschiedener Förderorganisationen,<br />
klinische Studien aufzulegen mit Kindern,<br />
die einen wiederkehrenden Tumor haben und nach einem<br />
Standardprotokoll behandelt werden, aber meistens keine<br />
guten Chancen haben. Die Tumore dieser Kinder versuchen<br />
wir deutschlandweit innerhalb eines Verbunds von<br />
führenden pädiatrischen Onkologen zu sequenzieren,<br />
um dem Arzt dann bis zu zwei mögliche alternative Medikamente,<br />
die es bereits gibt, vorzuschlagen, die er dann<br />
zusätzlich zur Standardtherapie einsetzen kann.«<br />
Daten in rauen Mengen<br />
Bei den Genomsequenzierungen fallen riesige Datenmengen<br />
an, was Lichter vor eine ganz neue Herausforderung<br />
stellte: »Das hatte ich früher unterschätzt, weil ich<br />
kein Computer-Mensch bin. Wir haben dann ganz schnell<br />
festgestellt, dass wir nicht mehr im Terabytebereich, sondern<br />
im Bereich von Petabytes sind – das ist eine Eins mit<br />
15 Nullen. Deswegen hat Professor Roland Eils in Heidelberg<br />
eine Datenspeicherfacility aufgebaut, die im Bereich<br />
10 Petabytes, also 10 Millionen Gigabyte, liegt. Solche<br />
Dimensionen kennt man eigentlich nur vom Teilchenbeschleuniger<br />
in Genf. Da braucht man eigene Räume allein<br />
für die Speicher und Geld für Wartung, Elektrizität und<br />
die Kühlung.«<br />
Was tun mit den »Zufallsbefunden« der Genomanalyse?<br />
Wer die komplette Gensequenz von Krebszellen kennt, erhält<br />
nicht nur Informationen, die sich für die Diagnostik<br />
und als neue Ziele für Medikamente nutzen lassen.<br />
Manchmal findet er auch Dinge heraus, die der Patient<br />
vielleicht lieber gar nicht wissen möchte. Denn Hinweise<br />
auf andere Erkrankungen kann Professor Lichter nicht<br />
nur in gesundem Gewebe, sondern genau genommen<br />
häufig sogar in den Tumorzellen sehen: Auch hier werden<br />
Prädispositionen, also Veranlagungen für andere Krankheiten,<br />
sichtbar. Der »Zufallsbefund« einer schwerwiegenden<br />
Prädisposition, wie beispielsweise für eine Chorea<br />
Huntington oder eine Amyotrophe Lateralsklerose, bringt<br />
häufig ethische und juristische Fragen ins Spiel. »Wir entwickeln<br />
in einem Projekt, das seit zwei Jahren durch das<br />
Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg gefördert<br />
wird, deshalb neue Aufklärungs- oder Zustimmungsbögen,<br />
die den Patienten verdeutlichen, dass zusätzliche<br />
genetische Informationen ermittelt werden, und formulieren<br />
Richtlinien für den Umgang mit solchen Daten«,<br />
erklärt Lichter. »›Wir‹, das heißt in diesem Falle ein multidisziplinäres<br />
Forscherteam aus höchstrangigen Wissenschaftlern<br />
der Bereiche Ethik, Recht, Gesundheitsökonomie,<br />
<strong>Medizin</strong>, Genetik und Bioinformatik.«<br />
Dr. Martina Koesterke
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 13<br />
mdk forum 1/13<br />
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler<br />
Lässt sich personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> evaluieren?<br />
Ihre Versprechungen sind groSS: eine präzisere Diagnostik, eine auf den einzelnen Patienten zugeschnittene<br />
individuelle Behandlung sowie darüber hinaus noch verlässliche Prognosen für dessen persönliche Gesundheit.<br />
Doch wie lässt sich eine solche maßgeschneiderte Therapie überhaupt evaluieren? Darüber sprach <strong>MDK</strong> Forum mit<br />
dem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Professor Jürgen Windeler.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Professor Windeler, leitet<br />
die personalisierte Therapie eine neue<br />
Ära beispielsweise in der Krebstherapie<br />
ein?<br />
Prof. Dr. Jürgen Windeler Eine Therapie<br />
abhängig von Patientencharakteristika<br />
auszuwählen ist, ist nicht neu, sondern<br />
die übliche Herangehensweise in der<br />
<strong>Medizin</strong>. Neu ist allenfalls, dass wir<br />
heute die Therapieauswahl anhand<br />
molekularbiologischer Marker oder<br />
moderner bildgebender Verfahren<br />
treffen können. Wobei wir diese Marker<br />
unbedingt in einem Gesamtzusammenhang<br />
sehen müssen, d. h. im Zusammenhang<br />
mit den therapeutischen<br />
Konsequenzen, die sich aus den Testergebnissen<br />
ableiten lassen. Meiner<br />
Meinung nach hat die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> die hochfliegenden Ansprüche<br />
und Versprechen noch lange nicht<br />
eingelöst.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Sie fordern, hier die<br />
Methoden der evidenzbasierten <strong>Medizin</strong><br />
(EbM) einzusetzen. Viele sagen jedoch,<br />
diese Therapien seien dafür zu individuell<br />
zugeschnitten und nicht vergleichbar;<br />
die Stichprobe wäre gewissermaßen<br />
gleich 1. Ist das nicht ein Widerspruch?<br />
Windeler Nein, personalisierte und<br />
evidenzbasierte <strong>Medizin</strong> sind keine<br />
Gegensätze! Die Behauptung, evidenzbasierte<br />
<strong>Medizin</strong> sei etwas für die Massenversorgung<br />
und die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> dagegen ein »Premiumprodukt«,<br />
das passgenau auf den Einzelnen<br />
zugeschnitten ist, dient doch eher dem<br />
Vermarktungsanliegen. Die Beispiele<br />
für klinisch etablierte beziehungsweise<br />
zugelassene molekularbiologische<br />
Marker – es sind vergleichsweise wenige<br />
– für die Therapieauswahl in der<br />
Onkologie belegen das Gegenteil. Denn<br />
erstens wurden diese nur auf Basis von<br />
aufwendigen klinischen Studien<br />
identifiziert und etabliert, und zweitens<br />
werden damit weiterhin Gruppen von<br />
Patienten charakterisiert, so wie zuvor<br />
und immer noch Gruppen von Patienten<br />
anhand von klinischen Merkmalen (z. B.<br />
Symptomen) charakterisiert wurden<br />
und werden.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Worauf kommt es denn<br />
bei der Bewertung des Nutzens von<br />
Therapiestrategien an, die der personalisierten<br />
<strong>Medizin</strong> zugerechnet werden?<br />
Windeler Der wesentliche Nutzen<br />
eines Verfahrens lässt sich ableiten, wenn<br />
wir uns die Wechselwirkung zwischen<br />
dem Ergebnis des Biomarkers und den<br />
Auswirkungen für den Patienten<br />
ansehen. Dabei muss die Wertigkeit<br />
von diagnostischen Markern und<br />
therapeutischen Konsequenzen als<br />
Einheit betrachtet werden. Der Nutzen<br />
einer Information speist sich allein<br />
aus der Wechselwirkung zwischen<br />
dieser Information und dem Effekt von<br />
Handlungsalternativen. Das heißt<br />
ganz konkret: Die Bestimmung eines<br />
Biomarkers ist nur dann sinnvoll,<br />
wenn Patienten erstens in Abhängigkeit<br />
vom Ergebnis dieses Markers unterschiedlich<br />
behandelt werden und<br />
zweitens von diesen unterschiedlichen<br />
Behandlungen unterschiedliche<br />
Vorteile haben.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Wie sollte eine Studie<br />
aussehen, die die Wirksamkeit eines<br />
Biomarkers nachweist?<br />
Windeler Das »Mittel der Wahl« ist die<br />
prospektiv vergleichende Interventions <br />
studie. Die Wechselwirkung zwischen<br />
dem Ergebnis eines Biomarkertests und<br />
einem Interventionseffekt, also die<br />
Auswirkung auf die Behandlung des<br />
Patienten, lässt sich aufgrund einer<br />
solchen Studie verlässlich einschätzen.<br />
Es ist doch so: Die Therapieentscheidung<br />
fällt immer dann leicht,<br />
wenn sich eine klare Option zeigt. Das<br />
ist zum Beispiel der Fall, wenn die<br />
Marker-positive Gruppe von einer<br />
therapeutischen Intervention profitiert,<br />
während für die Marker-negative<br />
Gruppe ein Schaden der Therapie im<br />
Vergleich zur Kontrollgruppe fest<br />
Prof. Dr. Jürgen Windeler
14 Titelthema: personalisierte MEDIZIN<br />
mdk forum 2/13<br />
gestellt wird. Bei dieser Konstellation ist<br />
die Bestimmung des Markers sinnvoll,<br />
weil sie mit therapeutischen Konsequenzen<br />
für die Patienten verbunden<br />
ist. Umgekehrt ist die Entscheidung<br />
auch dann leicht, wenn die Effekte der<br />
therapeutischen Intervention bei<br />
der Marker-positiven wie der Markernegativen<br />
Gruppe gleich sind. In<br />
diesem Fall braucht man die Bestimmung<br />
des Markers nicht.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Und bei welchen Fällen<br />
ist es schwieriger?<br />
Windeler Immer dann, wenn der<br />
Unterschied in den Effekten nicht so<br />
eindeutig ist. Das ist bei folgender<br />
Konstellation der Fall: Bei Markerpositiven<br />
Patienten findet man einen<br />
deutlichen Effekt. Und bei Markernegativen<br />
Patienten findet man zwar<br />
einen Effekt, aber der ist kleiner als bei<br />
Marker-positiven Patienten, oder es<br />
gibt keinen Unterschied zwischen der<br />
Therapie und der Kontrolle, also<br />
keinen Effekt der Therapie. Dann ist es<br />
immens wichtig, möglichst umfas-<br />
sende Informationen zu generieren.<br />
In der Forschungsrealität finden sich<br />
aber häufig sogenannte Prognosestudien,<br />
in denen lediglich der Krankheitsverlauf<br />
bei Patienten innerhalb<br />
der verschiedenen Risikostrata ohne<br />
Vergleich von Therapieoptionen<br />
beobachtet wird. Oder man setzt den<br />
Biomarker ein, führt aber die Therapiestudie<br />
nur für die Patienten mit<br />
dem positiven Biomarker durch. Die<br />
restlichen Patienten werden nicht<br />
behandelt und aufgrund des biologischen<br />
Modells, »da kann es keinen<br />
Effekt geben«, erst gar nicht weiter<br />
untersucht. Diese Art von Studien<br />
eignet sich nicht, um die Wirksamkeit<br />
der personalisierten <strong>Medizin</strong> zu<br />
belegen.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Was bedeutet das konkret?<br />
Windeler Dass man seriös nur mit<br />
Hilfe einer prospektiv vergleichenden<br />
Interventionsstudie eine Entscheidungsgrundlage<br />
dazu gewinnen kann, ob<br />
man den Biomarker zur Therapieentscheidung<br />
braucht und wie die<br />
Abwägung zwischen möglicherweise<br />
größeren und kleineren Effekten<br />
ausfallen sollte. Ein Beispiel: In einer<br />
Studie aus dem Jahr 2005 zur adjuvanten<br />
Behandlung von Brustkrebs mit Trastu -<br />
zumab waren nur Patientinnen eingeschlossen,<br />
die HER2-positiv waren.<br />
Die Ergebnisse zeigten eine deutliche<br />
Verbesserung des disease free survival<br />
und eine Erhöhung der Gesamtüberlebensrate<br />
– aber nur in der Gruppe, die<br />
positiv getestet worden ist. Die negativ<br />
Getesteten hat man nicht angeschaut.<br />
Folgeuntersuchungen haben aber<br />
ergeben, dass auch bei Patientinnen<br />
mit HER2-negativem Primärtumor Verbesserungen<br />
erreicht werden können.<br />
Das biologische Modell war offenbar<br />
unvollständig.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Vielen Dank für das<br />
Gespräch!<br />
Die Fragen stellte Christiane Grote<br />
Gefährdet die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> unser Solidarsystem?<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> hat Konjunktur: Leistungserbringer, Kostenträger und die Politik verbinden große Hoffnungen<br />
damit. So lobt das Bundesministerium für Bildung und Forschung im April 2013, sie eröffne »eine neue Dimension<br />
in der Behandlung und Diagnose von Krankheiten«, und stellt 360 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre bereit.<br />
Doch die weitreichenden Folgen für die solidarische Organisation der Krankenversorgung sind bisher kaum diskutiert.<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> ist ein Versorgungskonzept, nach<br />
dem Erkrankungsrisiken und Behandlungschancen einzelner<br />
Menschen anhand von deren (molekular-)biologischen<br />
Merkmalen eingeschätzt werden. Dieser Ansatz<br />
vereint zwei Konzepte: 1. die zielgerichtete Behandlung<br />
(»Targeted Therapy«), die auf bestimmte zellbiologische<br />
Eigenschaften des Einzelnen zielt; und 2. die Vorhersage<br />
bestimmter Erkrankungsrisiken anhand von genetischen<br />
oder Biomarkern mit dem Ziel einer risikoorientierten<br />
Prävention. In beiden Fällen wird die medizinische Handlung<br />
(Therapie oder Präventionsmaßnahme) oder deren<br />
Unterlassung durch biologische Eigenschaften des Einzelnen<br />
bestimmt und gerechtfertigt.<br />
Indem jeder Einzelne dies komplexe Wissen nicht nur<br />
intellektuell verarbeiten, sondern auch seine Präventionsoder<br />
Behandlungsentscheidungen danach ausrichten<br />
muss, unterstellt die personalisierte <strong>Medizin</strong> konzeptionell<br />
Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenz<br />
(health literacy) der Patientinnen und Patienten.<br />
Etikettenschwindel?<br />
Treffender würde dieser Ansatz als »biomarkerstratifizierende<br />
<strong>Medizin</strong>« umschrieben. Der Begriff »personalisiert«<br />
ist in diesem Zusammenhang als irreführend kritisiert<br />
worden: Er suggeriert, das Individuum mit all seinen bio <br />
logischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten stünde<br />
im Zentrum der Behandlung. Dabei ist das Gegenteil<br />
der Fall: <strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> in der oben for mulierten<br />
Definition fragt nach individuellen biologischen Merkmalen,<br />
aber nicht nach persönlichen Haltungen, Werten<br />
und Wünschen. Es geht hier nicht um den ganzen Menschen,<br />
sondern nur um Zellstrukturen und Marker.
Titelthema: personalisierte MEDIZIN 15<br />
mdk forum 2/13<br />
Zielgerichtete Behandlung:<br />
Herausforderung für das Solidarsystem<br />
Beide Konzepte der personalisierten <strong>Medizin</strong>, die zielgerichtete<br />
Therapie wie auch die biomarkerstratifizierende<br />
Prädiktion, bringen Veränderungen mit sich, die möglicherweise<br />
von erheblicher Konsequenz für die Gesundheitsversorgung<br />
und für die Solidargemeinschaft sind.<br />
Insbesondere die gezielten Therapien werfen grundlegende<br />
Fragen für die Wissenschaftsbasierung medizinischen<br />
Handelns auf, vor allem beim Nutzenbeleg.<br />
Indem das Wirkspektrum der Pharmaka auf eine enge<br />
Patientengruppe mit bestimmten biologischen Merkmalen<br />
eingegrenzt wird, werden aus einer häufigen viele seltene<br />
Erkrankungen (»Orphanisierung«). Voraussetzungen für<br />
solide und aussagekräftige Studien werden dadurch erschwert.<br />
Dennoch müssen die Anforderungen an gute<br />
medizinische Prüfung hier ebenso gelten wie bei häufigen<br />
Erkrankungen: <strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> ist keine Exklusivmedizin,<br />
für die andere Verfahrensregeln und Nutzenbelege<br />
zu rechtfertigen sind. Denn letzten Endes muss es immer<br />
darum gehen, Patienten sicher zu behandeln. Und es gibt<br />
ein methodisches Instrumentarium, um auch bei seltenen<br />
Ereignissen zuverlässige Ergebnisse zu ermitteln.<br />
Die Orphanisierung erschwert das Beurteilen von medizinischem<br />
Nutzen und Schaden und atomisiert damit<br />
das Wissen. So wird ärztlicher Aufklärung die wissenschaftliche<br />
Basis entzogen. Die Anforderungen<br />
an die Patienteninforma<br />
»Orphanisierung«<br />
erschwert solide Studien tion und die ärztliche Aufklärung,<br />
wie sie im Patientenrechtegesetz<br />
und im Gendiagnostikgesetz festgeschrieben sind, kann<br />
eine ganz auf den Einzelfall fokussierte Behandlung nur<br />
schwer erfüllen. Ohne angemessene Aufklärung aber gibt<br />
es keine Behandlung lege artis.<br />
Gleichzeitig drängen die hochpreisigen Medikamente<br />
mit Druck auf den Markt. Die Entstehungskosten für<br />
neue Medikamente müssen sich an immer kleineren Zielgruppen<br />
amortisieren. Zunehmend werden die Substanzen<br />
im beschleunigten Verfahren aufgrund von Surrogat <br />
endpunkten zugelassen. Methodische Standards werden<br />
aufgeweicht. Andererseits findet nach der Zulassung kaum<br />
noch weitere Forschung statt, um die Wirksamkeit der<br />
neuen Therapien unter Alltagsbedingungen zu prüfen.<br />
Ursprünglich Gesunde<br />
werden zu<br />
potenziell Kranken<br />
Marker-basierte Prädiktion<br />
erschüttert Solidargemeinschaft<br />
Noch weiter rührt das Konzept der Marker-basierten Prädiktion<br />
an den Grundfesten der Solidargemeinschaft:<br />
Statt Krankheiten werden Erkrankungsrisiken diagnostiziert.<br />
Deren tatsächliches Eintreten ist jedoch ungewiss<br />
und der Erkenntniswert für den Patienten oft fraglich.<br />
Wie weit die Prädiktion bereits in unser Alltagshandeln<br />
vorgedrungen ist, zeigt das Beispiel von Angelina Jolie,<br />
das kürzlich durch die Medien ging. Jolie hat sich entschieden,<br />
auf ein diagnostiziertes Erkrankungsrisiko<br />
radikal zu reagieren. Das hat ihr viel Bewunderung eingebracht.<br />
Was in der öffentlichen Debatte nicht erwähnt<br />
wird: Durch die präventive Mastektomie bei brca-Defekt<br />
kann sie zwar ihr Erkrankungsrisiko für Brustkrebs reduzieren<br />
– auf die Sterblichkeit wirkt sich diese Maßnahme<br />
vermutlich nicht aus. Das heißt: sie lebt deshalb wahrscheinlich<br />
nicht länger. Das hat eine große Studie aus<br />
dem Jahr 2010 gezeigt.<br />
Aus der Idee der Vorhersagbarkeit entsteht ein sich<br />
wandelndes Verständnis von Krankheit. Nach ursprünglichem<br />
Verständnis gesunde Menschen werden durch<br />
Vorhersage als potenziell krank qualifiziert. Die personalisierte<br />
<strong>Medizin</strong> unterstellt die Vorhersagbarkeit und damit<br />
verbunden die Vermeidbarkeit<br />
von Erkrankungen. Wer<br />
über seine Krankheitsrisiken<br />
Bescheid weiß und wem vermeintlich<br />
wirksame Möglichkeiten<br />
zur Risikoreduktion angeboten werden, dem ist im<br />
Falle von Krankheit daher ein persönliches Verschulden<br />
nahezulegen. Wer aber seine Krankheit selbst verantwortet,<br />
schadet der Gemeinschaft und hat ihre Solidarität<br />
nicht mehr verdient. Aus einer Möglichkeit der Vorsorge<br />
kann so die Pflicht zur Gesundheit werden. Damit scheint<br />
eine Ausweitung der Fälle gerechtfertigt, die zukünftig<br />
nicht mehr solidarisch bezahlt werden. Und es stellt sich<br />
die Frage, wie viel über sich und seine Risiken zu wissen<br />
jeder Einzelne verpflichtet sein darf.<br />
Fazit: Bekenntnis zum Solidarsystem<br />
<strong>Personalisierte</strong> <strong>Medizin</strong> rüttelt an den Grundprinzipien<br />
des Solidarsystems: Solidarität (die nicht nach Schuld,<br />
sondern nach Bedürftigkeit fragt) steht dem Primat individueller<br />
Gesundheitsverantwortung entgegen. Es ist<br />
deshalb notwendig, im gesamtgesellschaftlichen Diskurs<br />
verbindlich herauszufinden, ob das Solidarprinzip Bestand<br />
haben soll. Eine Gesellschaft, die sich deutlich zum Wert<br />
der Solidarität bekennt, geht gestärkt einer sich wandelnden<br />
und sie fordernden <strong>Medizin</strong> entgegen.<br />
Hardy Müller, Gesund heits <br />
wissenschaftler und Anthropologe,<br />
Wissenschaftliches<br />
Institut für Nutzen und Effizienz<br />
im Gesundheitswesen (WINEG).<br />
hardy.mueller@wineg.de<br />
Corinna Schaefer MA<br />
leitet den Bereich »Patienten <br />
beteiligung / Patienteninformation«<br />
beim Ärztlichen Zentrum<br />
für Qualität in der <strong>Medizin</strong>.<br />
patienteninformation@azq.de
16 mdk | wissen und standpunkte<br />
mdk forum 2/13<br />
Begutachtung von Behandlungsfehlern<br />
Ein Gutachten hilft in einem Fall<br />
… und alle zusammen?<br />
Seit 2010 werden Ergebnisse aus Behandlungsfehlergutachten der <strong>MDK</strong>-Gemeinschaft anonymisiert erhoben und<br />
veröffentlicht. Die Daten aus 2012 sind nun aufbereitet: Die <strong>Medizin</strong>ischen Dienste haben bundesweit mehr als 12 .000<br />
umfangreiche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. In jedem dritten Fall wurde ein Fehler bestätigt.<br />
Eine wichtige Erkenntnis: Zum Umgang mit Risiken, Fehlern und Schäden besteht Gesprächs- und Handlungsbedarf.<br />
Wenn ein Patient infolge einer medizinischen Behandlung<br />
– beim Arzt, Zahnarzt, in der Pflege oder bei einem<br />
anderen Therapeuten – einen Schaden erleidet, kann der<br />
Verdacht aufkommen, dass ein Behandlungsfehler dafür<br />
verantwortlich ist. Im Gegensatz zu anderen Bereichen<br />
des täglichen Lebens, die oft zweifelsfrei erkennen lassen,<br />
dass eine Vernachlässigung von Regeln ursächlich für<br />
einen entstandenen Schaden war (Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
im Verkehr, Gewaltanwendung etc.), ist das<br />
Bestimmen der Schadensursache<br />
Nur ein kleiner Teil<br />
in der <strong>Medizin</strong> oftmals sehr viel<br />
der Fehler wird bemerkt schwieriger. Bei der Patientenversorgung<br />
können auch ohne<br />
und begutachtet<br />
fehlerhaftes Handeln schicksalhaft<br />
Komplikationen eintreten und zu unvermeidbaren<br />
Schäden führen. Über entsprechende typische Risiken<br />
muss der Patient umfassend aufgeklärt werden.<br />
<strong>MDK</strong> über 12 000 Mal im Jahr beauftragt<br />
Vermutet ein Patient einen Behandlungsfehler, dann<br />
kann er sich an seine Krankenkasse wenden. Seit Inkrafttreten<br />
des Patientenrechtegesetzes Ende Februar 2013 ist<br />
die Krankenkasse sogar verpflichtet, den Patienten bei der<br />
Aufklärung des Verdachtes zu unterstützen (§66 sgb v).<br />
Das tut sie dann z. B. durch die Beauftragung des <strong>Medizin</strong>ischen<br />
Dienstes der Krankenversicherung (mdk), der<br />
ein fachärztliches Gutachten erstellt.<br />
Die Begutachtung von Behandlungsfehlervorwürfen<br />
ist eine wichtige Aufgabe der <strong>Medizin</strong>ischen Dienste und<br />
die Nachfrage ist in den letzten Jahren gleichbleibend<br />
hoch: Jährlich werden mehr als 12 000 umfangreiche Gutachten<br />
zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. Das<br />
primäre Ziel der Begutachtung besteht darin, für den<br />
konkreten Einzelfall des Patienten mit unabhängigem<br />
medizinischen Sachverstand zu beurteilen, ob ein Fehler<br />
bei der Behandlung unterlaufen ist. Wird dieser gutachterlich<br />
nachgewiesen, dann folgt die Bewertung, ob der<br />
Schaden im beschriebenen Ausmaß tatsächlich besteht<br />
und ob der nachgewiesene Fehler auch wirklich die Ursache<br />
ist. Nur dann spricht man von einem kausalen<br />
(ursächlichen) Fehler und der Patient hat Anrecht auf<br />
Schadenersatz, wobei das Gutachten des mdk hilfreich<br />
beim Durchsetzen der Ansprüche sein kann.<br />
Jenseits des Einzelfalles bieten die Statistiken über alle<br />
Gutachten wichtige Erkenntnisse dazu, in welchen Fachgebieten,<br />
zu welchen Diagnosen und bei welchen Operationen<br />
und Prozeduren Fehler vorgeworfen und bestätigt<br />
wurden.<br />
Bei jedem dritten Vorwurf liegt ein Fehler vor<br />
Im Jahr 2012 erstellten die mdk zu 12 483 Vorwürfen ein<br />
Gutachten, wovon in 8607 Fällen eine stationäre und in<br />
3872 Fällen eine ambulante Versorgung betroffen war.<br />
Insgesamt wurde der vom Patienten erhobene Vorwurf<br />
etwa in jedem dritten Fall (31,5%) gutachterlich bestätigt.<br />
Damit sind knapp 4000 Behandlungsfehler durch die<br />
mdk festgestellt worden. In der überwiegenden Anzahl<br />
der Fälle, nämlich in sieben von zehn fehlerhaften Behandlungen,<br />
hat der Fehler auch nachweislich den Schaden<br />
verursacht.<br />
Auch wenn die Ergebnisse aufzeigen, »wo und wobei«<br />
die meisten Fehler gutachterlich festgestellt werden (s.<br />
Ergebnis-Beispiele in Abbildungen), so ist keineswegs zu<br />
schlussfolgern, dass es sich hierbei auch um die fehleranfälligsten<br />
Bereiche der Versorgung handelt oder um<br />
diejenigen, in denen die Qualität der Versorgung am<br />
schlechtesten wäre. Es bestehen unzählige Einflussgrößen<br />
durch die verschiedene Anzahl und Komplexität von<br />
Behandlungen, die unterschiedliche Erkennbarkeit von<br />
Fehlern, den allgemeinen Gesundheitszustand der Behandelten,<br />
die Frage nach Fallkonstellationen, in denen<br />
Ergebnis-Beispiel: Vorwürfe und bestätigte Fehler<br />
im stationären Bereich:<br />
Fachgebiet / Vorwürfe / Bestätigte Fälle / Quote in Prozent<br />
Orthopädie und Unfallchirurgie 2689 788 29,3%<br />
Chirurgie 1840 481 26,1%<br />
Innere <strong>Medizin</strong> 773 189 24,5%<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe 724 214 29,6%<br />
Pflege 605 357 59,0%<br />
Neurochirurgie 389 121 31,1%<br />
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde 241 42 17,4%<br />
Urologie 231 55 23,8%<br />
Anästhesie und Intensivmedizin 201 59 29,4%<br />
Neurologie 182 46 25,3%
mdk | wissen und standpunkte 17<br />
mdk forum 2/13<br />
Vorwürfe möglicherweise bevorzugt über die Krankenkasse<br />
erhoben werden und vieles mehr. Zwar können die Ergebnisse<br />
schon jetzt Anhaltspunkte liefern für vertiefende<br />
Untersuchungen, aber als »Gefahrenhitlisten« sind sie<br />
nicht zu verstehen.<br />
Viele Fehler oder wenige Fehler?<br />
Über 12 000 Vorwürfe und knapp 4000 Fehler – das hört<br />
sich zunächst viel an. Aber man kann davon ausgehen,<br />
dass nur ein kleiner Teil der tatsächlich auftretenden Fehler<br />
bemerkt, vorgeworfen und anschließend begutachtet<br />
wird. Durch die Gutachterkommissionen der Ärztekammern<br />
sind zuletzt im Jahr 2011 ebenfalls über 2200 Fehler<br />
bestätigt worden. Eine unbekannt<br />
Abläufe und Strukturen hohe Anzahl von offensichtlichen<br />
sind oft für<br />
Fehlern wird umgehend von den<br />
Fehler verantwortlich<br />
Haftpflichtversicherern entschädigt,<br />
andere werden gesondert vor<br />
Gerichten verhandelt. Zumindest alle festgestellten bzw.<br />
anerkannten Behandlungsfehler zusammenzufassen, das<br />
könnte weiteren Aufschluss bieten. Die Dunkelziffer bei<br />
Behandlungsfehlern bleibt aber in jedem Fall hoch. Das<br />
Bundesgesundheitsministerium beispielsweise geht jährlich<br />
von bis zu 170 000 Fehlern aus und eine Untersuchung<br />
des »Aktionsbündnis Patientensicherheit« (www.<br />
aps-ev.de) kam 2007 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland<br />
vermutlich 17 000 stationär behandelte Patienten<br />
durch vermeidbare unerwünschte Ereignisse versterben.<br />
Dennoch wird millionenfach in Deutschland fehlerfrei<br />
und erfolgreich behandelt, so viel ist sicher.<br />
Die Erkenntnisse über Fehler sind allerdings gering.<br />
Transparenz herzustellen in dem Wissen, dass Fehler auftreten<br />
können, und dann tatsächlich daraus zu lernen,<br />
das ist ein Bestandteil der angestrebten Sicherheitskultur<br />
im Gesundheitswesen. Die mdk-Gemeinschaft möchte<br />
dazu beitragen, dass behandlungsfehlerbedingte Schäden<br />
nicht nur über die Begutachtung im Einzelfall angemessen<br />
entschädigt werden, sondern dass die Erfahrungen<br />
aus der Begutachtung auch zur künftigen Fehlervermeidung<br />
genutzt werden können. »Was können wir aus dem<br />
Fehler lernen, um ihn zukünftig zu vermeiden?« – dieser<br />
Frage müssen sich alle Beteiligten verstärkt widmen.<br />
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen zur Patientensicherheit<br />
ist bekannt, dass Fehler zumeist nicht auf individuelles<br />
Versagen oder Unvermögen zurückzuführen<br />
sind. Sehr oft stehen fehleranfällige Abläufe und unzureichende<br />
Organisationsstrukturen dahinter, die zur Fehlervermeidung<br />
optimiert werden müssten. Um in Zukunft<br />
konkrete Risikokonstellationen klarer erkennen zu können,<br />
werden aktuell die Datensätze der mdk-Gemeinschaft<br />
überarbeitet.<br />
Fehlerarten/Verantwortungsbereiche* bei bestätigten<br />
Behandlungsfehlern:<br />
41,6%<br />
Therapeutischer Eingriff<br />
24,2%<br />
Therapiemanagement<br />
22,7%<br />
Diagnoseerstellung<br />
10,3%<br />
Dokumentation<br />
10,8%<br />
Aufklärung<br />
9,4%<br />
Pflegerische Maßnahmen<br />
2,6%<br />
Organisation<br />
1,8%<br />
Diagnostischer Eingriff<br />
0,5%<br />
<strong>Medizin</strong>produkt<br />
Transparenz als erster Schritt<br />
Die verstetigte Darstellung der Begutachtungsergebnisse<br />
bedeutet einen wichtigen Schritt, denn solche Analysen<br />
und Transparenz sind erste Grundlagen zur Fehlervermeidung.<br />
Verbesserungen der Patientensicherheit finden<br />
aber letztlich erst durch geändertes Handeln statt. Wichtige<br />
praktische Maßnahmen dazu sind bekannt und werden<br />
auch zunehmend beschritten, beispielsweise die<br />
Nutzung von Checklisten oder die Einführung von – simulatorgestützten<br />
– Teamtrainings für komplexe Versorgungssituationen.<br />
Aber zwischen Theorie und Praxis<br />
klafft eine große Lücke. Das konsequente Implementieren<br />
bekannter Sicherheitsmaßnahmen muss deshalb in<br />
der Bedeutung gesteigert werden, und auch der Suche<br />
nach neuen einfachen Möglichkeiten zum Abwenden unerwünschter<br />
Ereignisse sollte eine hohe Priorität beigemessen<br />
werden.<br />
Die Ergebnisse der Behandlungsfehlerbegutachung<br />
haben der mdk Bayern und der mds am 15. Mai 2013 in<br />
Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Pressemitteilung,<br />
alle Statements und den vollständigen Bericht finden Sie<br />
im Internet unter www.mdk.de/Presse.<br />
Dr. Ingeborg Singer<br />
leitet den Fachbereich<br />
<strong>Medizin</strong>recht<br />
beim <strong>MDK</strong> Bayern.<br />
ingeborg.singer@mdk-bayern.de<br />
Dr. Max Skorning<br />
leitet das Fachgebiet<br />
Patientensicherheit des<br />
MDS.<br />
m.skorning@mds-ev.de
18 mdk | wissen und standpunkte<br />
mdk forum 2/13<br />
Interview mit Jörg Niemann<br />
Ȇberwunden geglaubte<br />
Konflikte nicht wiederbeleben«<br />
Wenn die gesetzlichen Krankenkassen für Leistungsentscheidungen eine medizinische Expertise benötigen,<br />
beauftragen sie den <strong>MDK</strong>. In der Zahnmedizin gibt es die Besonderheit eines alternativen Gutachterverfahrens mit<br />
der Zahnärzt eschaft, so dass die zahnmedizinische Begutachtung immer wieder zu Kontroversen führt. Darüber<br />
sprachen wir mit dem Leiter der vdek-Landesvertretung Niedersachsen und Verwaltungsratsvorsitzenden des <strong>MDK</strong><br />
Niedersachsen (<strong>MDK</strong>N), Jörg Niemann. Der <strong>MDK</strong>N ist der <strong>MDK</strong> mit den meisten zahnmedizinischen Begutachtungen.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Die Kassenzahnärztliche<br />
Vereinigung Niedersachsen (KZVN)<br />
bestreitet die Zuständigkeit des <strong>MDK</strong> für<br />
zahnmedizinische Begutachtungen<br />
mit dem Hinweis auf das vertragliche<br />
Gutachterverfahren. Wie sieht die<br />
Rechtslage aus?<br />
Jörg Niemann Die KZVN beruft sich<br />
auf ein Urteil des Bundessozialgerichts<br />
aus dem Jahr 1989. Darin steht, dass die<br />
Krankenkassen ablehnende Leistungsentscheidungen<br />
nicht allein auf eigene<br />
Gutachter stützen dürfen. Allerdings<br />
gab es damals den <strong>MDK</strong> noch gar nicht.<br />
Mittlerweile gibt es einen eindeutigen<br />
gesetzlichen Begutachtungsauftrag<br />
nach §275 SGB V. Danach sind die<br />
Krankenkassen verpflichtet, die Voraussetzungen<br />
für Art und Umfang<br />
medi zinischer und zahnmedizinischer<br />
Leistungen zu prüfen und hierfür bei<br />
Bedarf eine gutachtliche Stellungnahme<br />
des <strong>MDK</strong> einzuholen. Das Bundesgesundheitsministerium<br />
hat zur Frage der alternativen<br />
Gutachterverfahren bereits<br />
1994 verdeutlicht, dass das Vertragsgutachterwesen<br />
vor diesem gesetzlichen<br />
Hintergrund die Tätigkeit des <strong>MDK</strong> auf<br />
dem zahnmedizinischen Gebiet<br />
nicht unterlaufen, sondern höchstens<br />
ergänzen kann.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Wie kommt es zu der<br />
starken Nutzung des <strong>MDK</strong>-Begutachtungsverfahrens<br />
in Niedersachsen und<br />
warum hat die Zahnärzteschaft damit<br />
ein Problem?<br />
Niemann Der zahnmedizinische Bereich<br />
nimmt im Hinblick auf die Begutachtung<br />
eine Sonderrolle ein. Mit den KZVen gibt<br />
es seit langem ein vertragliches Gutachterverfahren.<br />
Insoweit bestehen –<br />
anders als in anderen Begutachtungs-<br />
feldern – Begutachtungsalternativen.<br />
Berufspolitisch ist die Konkurrenz<br />
seitens des <strong>MDK</strong> aus Sicht der Zahnärzteschaft<br />
nicht erwünscht. Wobei ich<br />
den Eindruck habe, dass dies vor allem<br />
auf die Funktionäre zutrifft.<br />
In Niedersachsen hatte die KZVN das<br />
gemeinsame vertragliche Gutachterverfahren<br />
im Jahr 1998 einseitig<br />
eingestellt. Es wurde jedoch weiter eine<br />
Begutachtungsmöglichkeit für die<br />
Leistungsentscheidungen der Krankenkassen<br />
benötigt. Der <strong>MDK</strong> Niedersachsen<br />
hat dann entsprechende Strukturen<br />
und Kapazitäten aufgebaut, um die<br />
Lücke zu schließen. Dies war mit<br />
erheblichen berufspolitischen und<br />
ideologischen Auseinandersetzungen<br />
verbunden. Es sind etwa 150 niedergelassene<br />
Zahnärzte nebenberuflich für<br />
den <strong>MDK</strong>N tätig. Dieses gut funktionierende<br />
Gutachterverfahren, das in der<br />
Praxis Akzeptanz bei fast allen Zahnärzten<br />
findet, ist noch heute der KZVN ein<br />
Dorn im Auge. Sie möchte stattdessen<br />
das vertragliche Verfahren, das in<br />
Niedersachsen nur noch vereinzelt<br />
genutzt wird, wieder voll zur Anwendung<br />
bringen. Denn hier hätte sie<br />
entscheidenden Einfluss auf die Überprüfung<br />
zahnärztlicher Befunde und<br />
Therapieplanungen und mittelbar auf<br />
die Leistungsentscheidung der<br />
Krankenkassen. Die Krankenkassen in<br />
Niedersachsen haben aber kein Interesse<br />
an einer Wiederbelebung alter,<br />
überwunden geglaubter Konflikte.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Wo liegen die Unterschiede<br />
der beiden Begutachtungsverfahren?<br />
Niemann Ein wesentlicher Unterschied<br />
ist die Auswahl der Gutachter.<br />
Im vertraglichen Gutachterverfahren<br />
Jörg Niemann
mdk | wissen und standpunkte 19<br />
mdk forum 2/13<br />
schlagen die KZVen Zahnärzte als<br />
Gutachter vor, die von den Krankenkassen<br />
nur bei schwerwiegenden<br />
Bedenken abgelehnt werden können.<br />
Die KZVen haben durch diese Auswahl<br />
einen großen Einfluss. Bei der <strong>MDK</strong>-<br />
Begutachtung erfolgt die Auswahl der<br />
Gutachter durch den <strong>MDK</strong>N. Ein Auswahlkriterium<br />
dafür ist, dass der Gutachter<br />
langjährige praktische Erfahrung im zu<br />
begutachtenden Fachgebiet hat. Außerdem<br />
muss die Qualität seiner Gutachten<br />
in Ordnung sein, was die in der <strong>MDK</strong>-<br />
Hauptverwaltung tätigen Zahnärzte<br />
stichprobenartig prüfen. Erkenntnisse<br />
aus diesen Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />
sind dann Gegenstand<br />
von gezielten Informationen an die<br />
Gutachter. Des Weiteren führt der <strong>MDK</strong>N<br />
für die Gutachter strukturierte Fortbildungen<br />
durch und organisiert einen<br />
regelmäßigen Erfahrungsaustausch.<br />
Bei Bedarf sind auch Einzelschulungen<br />
vorgesehen. Ideologische oder ökonomische<br />
Interessen zugunsten der<br />
Leistungsanbieter verfolgt der <strong>MDK</strong> nicht.<br />
Dies ist ein Vorteil, auch für die Patienten<br />
und ihre zu begutachtende Therapie.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Ist die fachliche Unabhängigkeit<br />
von den Krankenkassen<br />
sichergestellt?<br />
Niemann Die Krankenkassen haben<br />
keinen Einfluss auf die Auswahl und die<br />
Tätigkeit der Gutachter. Dies obliegt<br />
ausschließlich dem <strong>MDK</strong>, der dies nach<br />
fachlichen und qualitativen Kriterien<br />
entscheidet. Nach §275 Abs. 5 SGB V sind<br />
die <strong>MDK</strong>-Gutachter allein ihrem ärztlichen<br />
Gewissen unterworfen. Diese<br />
Unabhängigkeit halte ich für die<br />
Akzeptanz bei Patienten und Zahnärzten<br />
für sehr wichtig.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Welchen Nutzen hat die<br />
zahnmedizinische Begutachtung für<br />
die Krankenkassen?<br />
Niemann Die Krankenkassen haben<br />
eine bedarfsgerechte, wirtschaftliche<br />
und zweckmäßige Versorgung ihrer<br />
Versicherten zu gewährleisten. Unter-,<br />
Über- und Fehlversorgungen sollen<br />
vermieden werden. Bei genehmigungspflichtigen<br />
Leistungen sind wir<br />
gesetzlich verpflichtet, die Voraussetzungen<br />
für die beantragte Versorgung<br />
Zahnmedizinische Begutachtung und Beratung durch den <strong>MDK</strong><br />
Der <strong>Medizin</strong>ische Dienst der Krankenversicherung sieht sich als<br />
Dienstleistungsunternehmen, das auf allen Gebieten der <strong>Medizin</strong> und<br />
Pflege fachliches Know-how zur Verfügung stellt. Das schließt<br />
die Zahnmedizin ein. Ziel der zahnmedizinischen <strong>MDK</strong>-Begutachtung<br />
und Beratung ist es, die Krankenkassen bei der Erfüllung ihrer<br />
Aufgaben zu unterstützen und einen Beitrag zu leisten, um die Mundgesundheit<br />
der Versicherten aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.<br />
Das Portfolio des <strong>MDK</strong> auf zahnmedizinischem Gebiet ist umfangreich.<br />
Die gesetzlichen Krankenkassen können Stellungnahmen des<br />
<strong>MDK</strong> anfordern, um die Zweckmäßigkeit zahnärztlicher Behandlungspläne<br />
zu prüfen. Das betrifft die Bereiche Zahnersatz, Zahnkronen,<br />
Suprakonstruktionen (implantatgestützter Zahnersatz), Parodontologie,<br />
Kieferorthopädie und Schienentherapie sowie Implantate und<br />
weitere, auch außervertragliche Leistungen. Diese Gutachten des <strong>MDK</strong><br />
dienen dazu, Leistungsentscheidungen der Krankenkassen mit<br />
medizinischem Sachverstand vorzubereiten. Des Weiteren prüft der <strong>MDK</strong><br />
die Notwendigkeit und Dauer von zahnmedizinisch bedingten<br />
Krankenhausaufenthalten. Im Krankenkassenauftrag werden die Gutachter<br />
außerdem tätig, wenn die Versicherten vermuten, dass ihr Zahnersatz<br />
Mängel aufweist oder dass ein Behandlungsfehler aufgetreten ist.<br />
Insgesamt werden jährlich etwa 40 000 Gutachten erstellt. Hinzu kommt<br />
die Beratung in Grundsatzfragen. Diese erfolgt durch das »Forum<br />
Zahnmedizin« als Plattform aller <strong>MDK</strong>, die <strong>Medizin</strong>ischen Dienste selbst<br />
und durch den MDS.<br />
und die konkret geplante Versorgung<br />
der Patienten zu prüfen. Im Rahmen<br />
dieser Genehmigungsentscheidungen<br />
sind fachliche und medizinische<br />
Expertisen zwingend erforderlich, um<br />
unnötige oder unnötig aufwendige<br />
Versorgungen zu vermeiden. Die<br />
Festzuschüsse der Krankenkassen für<br />
Zahnersatz sind an bestimmte zahnmedizinische<br />
Befunde gekoppelt. Nach<br />
<strong>MDK</strong>-Angaben sind bei etwa einem<br />
Drittel der begutachteten Zahnersatzplanungen<br />
die Befunde fehlerhaft<br />
bzw. unvollständig. Fazit: Eine korrekte<br />
Befundung ist für die Krankenkassen<br />
sehr wichtig, vor allem auch aus Gründen<br />
der Versorgungsqualität.<br />
<strong>MDK</strong> Forum Wie sieht der Zusammenhang<br />
zur Versorgungsqualität aus?<br />
Niemann Eine fachlich und qualitativ<br />
hochwertige Versorgung setzt korrekte<br />
Befunde voraus. Wenn Behandlungspläne<br />
nicht oder nur mit Einschränkungen<br />
befürwortet werden, hat das auch häufig<br />
den Grund, dass notwendige Vorbehandlungen<br />
wie Parodontitis- oder<br />
Wurzelbehandlungen noch nicht<br />
durchgeführt wurden. Es ist dann von<br />
Vorteil für den Patienten und die Haltbarkeit<br />
des geplanten Zahnersatzes,<br />
wenn zunächst diese Vorbehandlungen<br />
erbracht werden. Außerdem modifiziert<br />
der Zahnarzt bei einer negativen Beurteilung<br />
häufig seine Versorgungsplanung,<br />
wodurch es für die Versicherten<br />
zu einem wichtigen qualitätssteigernden<br />
Effekt kommen kann. Das ist für die<br />
Patienten nicht nur aus medizinischen<br />
Gründen von Nutzen, sondern auch,<br />
weil sie erhebliche Eigenanteile und<br />
außervertragliche Leistungen selbst<br />
zu tragen haben. Letztendlich stellt<br />
eine medizinische Begutachtung eine<br />
zweite Meinung für den Patienten dar.<br />
Die Fragen stellte Dr. Harald Strippel,<br />
M. Sc., Fach gebietsleiter Zahnmedizinische<br />
Versorgung beim MDS
20 mdk | wissen und standpunkte<br />
mdk forum 2/13<br />
Hygiene im Krankenhaus<br />
»Modellregion Hygiene Ruhr gebiet«<br />
vor dem Start<br />
400 000 – 600 000 Patienten infizieren sich jedes Jahr bei einem Krankenhausaufenthalt oder in der Arztpraxis mit zum<br />
Teil tödlichen Keimen. Doch mindestens 20 bis 30% dieser Infektionen sind vermeidbar, wenn man optimale Hygienebedingungen<br />
schafft. Auf Initiative des Uniklinikums Essen startet die »Modellregion Hygiene Ruhrgebiet«: Krankenhäuser<br />
der Region tauschen Erfahrungen aus und lernen aus Best-Practice-Lösungen. Der MDS begleitet die Initiative.<br />
Die Hygieneskandale der vergangenen Jahre sind nicht<br />
ohne Wirkung geblieben. Jede Klinik ist inzwischen verpflichtet,<br />
einen Hygienebeauftragten zu benennen bzw.<br />
einzustellen. »Doch allein damit ist es nicht getan«, sagt<br />
Prof. Walter Popp vom Universitätsklinikum Essen. Popp<br />
leitet dort seit Jahren die Dienstleistungseinheit Krankenhaushygiene.<br />
»Es gibt in Deutschland gar nicht so viele<br />
Hygieneexperten, dass alle Kliniken kurzfristig einen<br />
Spezialisten einstellen könnten. Die meisten werden die<br />
Besetzung hausintern lösen müssen – mit Personal, das<br />
noch gar nicht bis wenig in Hygienefragen erfahren ist.«<br />
Hier möchte nun eine Initiative ansetzen, die Popp ins<br />
Leben gerufen hat und die mit einer Veranstaltung an der<br />
Essener Uniklinik im September ihren offiziellen Auftakt<br />
findet: Die »Modellregion Hygiene Ruhrgebiet«.<br />
Niedrigschwelliger und vertrauensvoller Austausch<br />
Die Idee: Kleine Gruppen von (3–4) Krankenhäusern<br />
schließen sich informell zusammen und ihre Hygienebeauftragten<br />
tauschen sich bei gegenseitigen Besuchen aus,<br />
um zunächst einfach ihren – sonst in der Regel nur auf ein<br />
Haus bezogenen – Horizont zu erweitern. Dabei können<br />
sie sowohl gelungene Lösungen zu einzelnen Hygienefragen<br />
kennenlernen, als auch Probleme gemeinsam erörtern.<br />
»Stellen Sie sich vor, Sie<br />
sind Hygienebeauftragter und<br />
noch nicht so sattelfest in dieser<br />
Materie. Mit wem wollen Sie sich<br />
über offene Fragen austauschen<br />
Einblicke in andere<br />
Krankenhäuser erweitern<br />
den Horizont<br />
– vielleicht auch über Fehler –, wenn Sie über keine Erfahrung<br />
verfügen und das ›Rad oft neu erfinden müssen‹, da<br />
Ihnen erfahrene Kollegen im eigenen Haus fehlen? Mit<br />
unserer Initiative wollen wir einen niedrigschwelligen<br />
Wissenstransfer anbieten, der es gleichzeitig ermöglicht,<br />
auch Probleme anzusprechen und zu lösen«, unterstreicht<br />
Hygieneexperte Popp das Ziel der Initiative.<br />
Wesentlicher Effekt dieser gegenseitigen Besuche ist<br />
ebenfalls der Aufbau von vertrauensvollen Kontakten, die
mdk | wissen und standpunkte 21<br />
mdk forum 2/13<br />
es ermöglichen, auch »im laufenden Geschäft« auftretende<br />
Fragestellungen mit Kollegen zu diskutieren. »Gerade<br />
am Anfang muss das Vertrauen natürlich erst gewonnen<br />
werden. Wenn gewünscht, kann die Vertraulichkeit auch<br />
schriftlich vereinbart werden«, sagt Popp.<br />
Start zunächst im Ruhrgebiet<br />
Besondere Erkenntnisse oder Lösungsansätze, die die<br />
kleinen Gruppen von Krankenhäusern bei ihrer Tätigkeit<br />
erarbeiten, sollen im Rahmen von jährlich stattfindenden<br />
Treffen aller beteiligten Krankenhäuser in der »Modellregion<br />
Hygiene Ruhrgebiet« vorgestellt und ausgetauscht<br />
werden. Krankenhäuser, die diese Begehungen und deren<br />
Dokumentation nachweisen, erhalten eine Bescheinigung<br />
und dürfen das (noch zu erstellende) Logo der »Modellregion<br />
Hygiene Ruhrgebiet« nutzen.<br />
Beteiligt im Initiativkreis sind Mitarbeiter von Hygieneinstituten,<br />
Gesundheitsämtern und Krankenhäusern<br />
im Ruhrgebiet, deshalb startet das Projekt zunächst dort.<br />
Auf Dauer soll es natürlich nicht auf diesen Raum beschränkt<br />
bleiben. Auch der <strong>Medizin</strong>ische Dienst des gkv-<br />
Spitzenverbandes (mds) ist im Initiativkreis vertreten<br />
und unterstützt das Projekt, um damit einen erfolgversprechenden<br />
Beitrag zur Förderung der Patientensicherheit<br />
zu leisten.<br />
Das Infektionsschutzgesetz 2011 und seine Wirkungen<br />
Mit dem Projekt schaffen Popp und die weiteren Initiatoren<br />
eine Möglichkeit, mit finanziell überschaubarem Aufwand<br />
konstruktiv mit den realen Gegebenheiten vor Ort<br />
beim Thema »Krankenhaushygiene« Lösungen zu suchen<br />
und zu finden. Die Probleme grundsätzlicher Natur lassen<br />
sich dadurch nicht lösen. Für die Verbesserung der<br />
Krankenhaushygiene hatte der Gesetzgeber mit dem Infektionsschutzgesetz<br />
im Juli 2011 wesentliche Änderungen<br />
eingeleitet. Die Verantwortung für die Krankenhaushygiene<br />
wurde auf den Krankenhausleiter – und damit<br />
auf die oberste Führungsebene – verlagert. Gleichzeitig<br />
wurden die insgesamt gut 2000 Krankenhäuser verpflichtet,<br />
ärztliche und pflegerische Hygienefachkräfte nach<br />
den Maßgaben der krinko-Empfehlungen zu beschäftigen.<br />
Für die Qualifikation der Mitarbeiter und die Einrichtung<br />
der Stellen haben die Kliniken eine Übergangszeit<br />
bis zum 31. Dezember 2016. Finanzielle Unterstützung<br />
sollen die Krankenkassen bereitstellen – bis 2020<br />
insgesamt ca. € 350 Millionen. Das sieht der Entwurf für<br />
ein »Gesetz zu Beseitigung sozialer Überforderung bei<br />
Beitragsschulden in den Krankenversicherungen« vor,<br />
dessen Gesetzgebungsverfahren augenblicklich läuft.<br />
Gute Lösungen – theoretisch<br />
Klar ist also, dass in Deutschland bis 2016 etwa 400 Ärzte<br />
hauptamtlich als Krankenhaushygieniker und mehrere<br />
tausend pflegerische Hygienefachkräfte arbeiten müssen.<br />
Sogar die Finanzierung neuer Stellen findet großzügige<br />
Unterstützung. So weit – so gut. Doch das dafür notwendige<br />
qualifizierte Personal ist in Deutschland nicht vorhanden!<br />
Laut Bundesärztekammer gab es im Jahr 2011 lediglich<br />
73 im Krankenhaus tätige Ärzte für Hygiene und Umweltmedizin.<br />
325 weitere Ärzte haben die Ausbildung<br />
zum Mikrobiologen – sie könnten ebenfalls Stellen für<br />
Krankenhaushygieniker besetzen, arbeiten aber meist in<br />
mikrobiologischen Laboratorien und werden dort auch<br />
dringend gebraucht. Die 5-jährige Facharztausbildung<br />
zum Arzt für Hygiene kann in Deutschland heute nur<br />
noch an 12 Lehrstühlen absolviert werden (wobei einige<br />
von diesen sich schwerpunktmäßig mit Umweltmedizin<br />
beschäftigen). In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden<br />
in Deutschland 15 (!) Lehrstühle für Hygiene aufgelöst,<br />
was Hinweise auf die bislang zugebilligte Bedeutung<br />
des Faches gibt.<br />
Diese Zahlen machen klar, dass es selbst mit erheblichen<br />
Anstrengungen nicht möglich sein wird, in absehbarer<br />
Zeit eine ausreichende Zahl<br />
von qualifizierten Ärzten auszubilden.<br />
(Die Ausbildung des Pflegepersonals<br />
erstreckt sich über<br />
einen Zeitraum von zwei Jahren,<br />
In Deutschland<br />
mangelt es an qualifizierten<br />
Hygienefachkräften<br />
so dass hier schneller mehr Kräfte qualifiziert werden<br />
könnten.) Dem Mangel an Fachärzten begegnet man nun<br />
ganz pragmatisch durch eine verkürzte, berufsbegleitend<br />
zu absolvierende curriculäre Ausbildung (200 Stunden),<br />
die nach Abschluss den Einsatz als Krankenhaushygieniker<br />
zulässt. Sicher sind derart qualifizierte engagierte Ärzte<br />
in den Kliniken ein deutlicher Fortschritt gegenüber<br />
der Zeit, als diese Positionen in den Krankenhäusern unbesetzt<br />
waren. So gut ausgebildet und über lange Jahre im<br />
Assistentenstatus klinisch erfahren, wie der Gesetzgeber<br />
das im Sinne der Patienten gerne hätte, sind sie aber sicher<br />
nicht!<br />
Wenig Wissenschaft – wenig Wissen<br />
Auch wenn sich fehlende Ausbildungsplätze durch alternative<br />
Qualifikationsmaßnahmen teilweise kompensieren<br />
lassen, erwächst aus dem Mangel an Lehrstühlen für<br />
Hygiene ein weiterer bedeutsamer Mangel: Es findet zu<br />
wenig wissenschaftliche Arbeit zu Hygienethemen statt.<br />
Doch ohne Forschung wird kein Wissen generiert. Und<br />
ohne Wissen bleibt Handeln bei allem Engagement immer<br />
in seinem Nutzen und seiner Sinnhaftigkeit unsicher.<br />
Solange wissenschaftliche Belege fehlen, muss sich rationales<br />
Handeln anderweitig orientieren. Dass dabei die<br />
Begründungen »das haben wir schon immer so gemacht«<br />
und »das halte ich für richtig« die denkbar schlechtesten<br />
sind, ist zwar bekannt – in der Praxis sind diese aber dennoch<br />
immer wieder handlungsleitend.<br />
Die bessere Alternative sind in solchen Situationen von<br />
verschiedenen Experten gemeinsam erarbeitete Lösungen,<br />
im Sinne eines »Best-Practice-Modells«. Eine solche<br />
Arbeitsweise ist auf der Ebene eines einzelnen Krankenhauses<br />
nicht möglich. Dazu bedarf es des Kontaktes zwischen<br />
Experten aus verschiedenen Häusern und einer geschützten,<br />
vertraulichen Zusammenarbeit, die es erlaubt,<br />
auch Probleme anzusprechen. Eben einer »Modellregion<br />
Hygiene Ruhrgebiet«.<br />
Dr. Annette Busley leitet<br />
den Bereich Sozialmedizin<br />
– Versorgungsberatung<br />
des MDS.<br />
a.busley@mds-ev.de
22 mdk | wissen und standpunkte<br />
mdk forum 2/13<br />
Demenz im<br />
Krankenhaus<br />
Für Menschen mit Demenz gibt es kaum einen ungeeigneteren Ort als das Akutkrankenhaus: eine fremde<br />
Umgebung mit unbekannten Menschen und einem hektischen, durch Akutsituationen geprägten Stationsalltag.<br />
Das löst Ängste aus und fördert Desorientierung, herausforderndes Verhalten und Unruhezustände. Für Ärzte und<br />
Pflegepersonal bedeutet dies eine erhebliche Belastung in ihrem Arbeitsalltag, vielfach sind sie überfordert.<br />
Um Menschen mit Demenz nicht einer derart belastenden<br />
Situation auszusetzen, sollte man ihnen einen Krankenhausaufenthalt<br />
nach Möglichkeit ersparen. Diese Forderung<br />
stellt die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie<br />
(dgg) in einem Zwölf-Punkte-Papier zur Verbesserung<br />
der Versorgung von Menschen mit Demenz ganz obenan.<br />
Dabei ist dies nicht immer ganz einfach, denn die De <br />
menzerkrankung selbst stellt ein erhöhtes Risiko für eine<br />
Krankenhausbehandlung dar. Deshalb betont die dgg,<br />
wie wichtig Präventionsprogramme seien, »die dazu beitragen,<br />
dass die Patienten seltener stürzen und weniger<br />
Knochenbrüche erleiden. Auch die hausärztlich-geriatrische<br />
Versorgung von Demenzkranken im Heim muss verbessert<br />
werden. Deutschland ist hier Entwicklungsland.«<br />
Spezialstationen im Akutkrankenhaus<br />
Bluthochdruck, Diabetes oder eine latente Niereninsuffizienz:<br />
Ältere Menschen leiden häufig unter mehreren<br />
chronischen Krankheiten gleichzeitig. Bei einer akuten<br />
Erkrankung ist eine Krankenhausaufnahme häufig unvermeidlich.<br />
Weil die in der aufnehmenden Klinik tätigen<br />
Ärzte und Pflegekräfte oftmals nichts von der Demenzerkrankung<br />
des eintreffenden Patienten wissen, fordert die<br />
dgg, dass die Kommunikation der Angehörigen, des behandelnden<br />
Arztes oder der Pflegeeinrichtung mit der<br />
Klinik verbessert werden muss. Sie beschreibt als optimale<br />
Versorgungsform für Demenzpatienten im Krankenhaus<br />
Spezialstationen, in denen »Geriater zusammen mit<br />
Fachärzten anderer Disziplinen die Patienten ganzheitlich<br />
betreuen«.<br />
Derzeit gibt es in Deutschland 26 geriatrische Kliniken<br />
mit diesen spezialisierten Stationen und insgesamt 320<br />
Betten, in denen eine entsprechende Behandlung möglich<br />
ist. Erste Studien zu diesen spezialisierten Stationen<br />
zeigen, dass »die Patienten hier deutlich besser aufgehoben<br />
sind: Der Bedarf an Neuroleptika ist geringer und die<br />
Patienten werden schneller wieder entlassen«. Ein Trend<br />
zu Spezialstationen für Menschen mit Demenz mit akuten<br />
Körpererkrankungen ist deutschlandweit zu beobachten.<br />
Weitere Forderungen des Zwölf-Punkte-Katalogs<br />
der dgg sind unter anderem: Ärzte und Pflegepersonal aller<br />
übrigen Krankenhäuser sollten im adäquaten Umgang<br />
mit Menschen mit Demenz geschult werden; um ihnen<br />
weiteren Stress und Verwirrung zu ersparen, sollten Men
mdk | wissen und standpunkte 23<br />
mdk forum 2/13<br />
schen mit Demenz möglichst selten verlegt werden; die<br />
Praxis der Entlassung von Demenzpatienten aus der Klinik<br />
in das Heim oder das häusliche Umfeld muss verbessert<br />
werden.<br />
Für Menschen mit Demenz ist es schwierig bis unmöglich,<br />
sich in den Stationsalltag eines Akutkrankenhauses<br />
einzufinden. Umso mehr Unterstützung brauchen sie.<br />
Während es bei der Langzeitpflege Demenzkranker darauf<br />
ankommt, die Lebensqualität Betroffener so lange<br />
wie möglich zu erhalten und zu fördern, geht es im Krankenhaus<br />
primär um die Behandlung der zugrundeliegenden<br />
somatischen Erkrankung, die<br />
Spezialstationen<br />
zur Klinikeinweisung geführt hat.<br />
sorgen für Reduktion von In aller Regel wird es unumgänglich<br />
sein, den Demenz-Patienten<br />
Neuroleptika<br />
in die Struktur und die Abläufe<br />
des Stationsalltages zu integrieren.<br />
Wie ein demenzfreundlicheres Krankenhaus aussehen<br />
könnte, das diskutierten Experten am 3. Mai 2013 auf<br />
dem Symposium »Demenz im Krankenhaus: Perspektiven<br />
der Pflegenden« der Universität Witten-Herdecke.<br />
Fehlendes Wissen steigert Belastung<br />
Tatsächlich scheint das Krankenhaus- bzw. Pflegepersonal<br />
im Umgang mit demenzkranken Patienten noch nicht<br />
ausreichend sensibilisiert und informiert zu sein. Das<br />
war die zentrale Botschaft von Dr. Winfried Teschauer<br />
vom Landesverband Bayern der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft<br />
e. V. Er stellte auf dem Wittener Symposium<br />
Zwischenergebnisse eines Projekts vor, in dem das Belastungserleben<br />
des Pflegepersonals im Krankenhaus untersucht<br />
wurde. So hängt die Belastung von Pflegekräften im<br />
Umgang mit Demenzpatienten stark davon ab, wie »unberechenbar«<br />
der Patient ist bzw. für wie unberechenbar die<br />
Pflegekräfte ihn halten. Es zeigte sich: Je größer das Wissen<br />
um die Krankheit »Demenz«, umso »berechenbarer«<br />
waren die Patienten für die Pflegekräfte und umso weniger<br />
belastend empfanden sie den Umgang mit ihnen. Das<br />
erstaunliche Ergebnis: Nur ein Drittel des im Projekt beteiligten<br />
Krankenhauspersonals war bisher zum Thema<br />
Demenz geschult worden.<br />
Kein Mangel an innovativen Konzepten<br />
Über die Möglichkeiten einer Tagesbetreuung berichtete<br />
Cornelia Plenter vom Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke<br />
am Beispiel »Teekesselchen – ein Betreuungsangebot<br />
für Patientinnen und Patienten mit Orientierungsstörungen<br />
im Akutkrankenhaus«. Bei diesem Konzept werden<br />
Menschen mit Demenz durch Unterstützung der Tagesstruktur<br />
mit Phasen der Ruhe und Aktivität stabilisiert.<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass die Patienten in den Bereichen<br />
Mobilität, kognitive Fähigkeiten und Verhaltensweisen<br />
stabil bleiben bzw. leichte Verbesserungstendenzen<br />
zeigen. Insgesamt stellt die Tagesbetreuung in fachlicher<br />
und in zeitlicher Hinsicht eine wichtige Entlastung der<br />
Pflegekräfte auf den Stationen dar.<br />
Auch der Einsatz des »Dementia Care Mapping« (dcm)<br />
im Krankenhaus könnte hilfreich sein, die Lebensqualität<br />
von Demenzpatienten im Krankenhaus zu verbessern.<br />
Davon ist Dr. Claudia Zemlin von den Vitanas Einrichtungen<br />
überzeugt. Traditionell wird dieses Verfahren in der<br />
stationären Altenpflege eingesetzt, doch es könnte auch<br />
für Patienten mit Demenz im Krankenhaus sehr nützlich<br />
sein, betonte Zemlin.<br />
Auf verstärkte Beratung setzen australische Krankenhäuser.<br />
Stefan Boy, Teilnehmer am Internationalen Studien-<br />
und Fortbildungsprogramm Demenz der Robert<br />
Bosch Stiftung, berichtete über den Dementia Behaviour<br />
Management-Advisory Service, einen 24-Stunden-Telefon-Service.<br />
Dieser steht Familien, Betreuern und Pflegekräften<br />
zur Verfügung, die Beratung zum Umgang mit<br />
Menschen mit Demenz in schwierigen Pflege- und Betreuungssituationen<br />
benötigen, z. B. bei herausforderndem<br />
Verhalten. Der Dienst bietet rund um die Uhr vertrauliche<br />
Beratung, Assessment, Intervention, Ausbildung und<br />
fachliche Unterstützung<br />
Versorgung bei und nach Operationen<br />
Wenn Patienten mit Demenz operiert werden müssen, ist<br />
das Risiko für eine Verwirrtheit (»Delir«) besonders hoch.<br />
In der Folge verlängert sich der Krankenhausaufenthalt<br />
und die Betroffenen können dauerhaft pflegebedürftig<br />
werden. Hier hat die Klinik für Anästhesie und operative<br />
Intensivmedizin des St. Franziskus-Hospitals in Münster<br />
unter der Leitung von Chefarzt Prof. Dr. Michael Möllmann<br />
ein Therapiekonzept erarbeitet, das neben einer<br />
angemessenen Narkoseführung die soziale Betreuung älterer<br />
und demenzkranker Patienten in den Vordergrund<br />
stellt. Altenpflegerinnen begleiten als vertraute, besonders<br />
geschulte Bezugspersonen die Patienten von der Aufnahme<br />
bis in den op und bleiben bei wachen Patienten<br />
(z. B. bei einer Regionalanästhesie) auch während der<br />
Operation dabei. Die Arbeit des Geriatrie-Teams ist so erfolgreich,<br />
dass das Konzept in die Regelversorgung des St.<br />
Franziskus-Hospitals übernommen wurde.<br />
Die Beispiele zeigen, dass auch im Akutkrankenhaus eine<br />
angemessene und bedürfnisorientierte Pflege und Betreuung<br />
von Menschen mit Demenz möglich ist. Hierzu<br />
müssen diese Konzepte auch in Zukunft weiterentwickelt<br />
werden. Die altbekannte Forderung nach einer stärkeren<br />
Patientenorientierung im Gesundheitswesen hat nach<br />
wie vor Bestand.<br />
Literaturhinweise<br />
– W. Hofmann: Krankenhäuser: auf Demenz einstellen.<br />
In: Die BKK 12/2012, Seite 531<br />
– Tagungsbeiträge des Wittener Symposium unter:<br />
http://www.g-plus.org/node/236/<br />
– Demenz im Akutkrankenhaus. In: Zeitschrift für Gerontologie<br />
und Geriatrie (46 Heft 3) April 2013<br />
Dr. Andrea Kimmel ist<br />
Mitarbeiterin im Fachgebiet<br />
»Pflegerische Versorgung«<br />
des MDS.<br />
a.kimmel@mds-ev.de<br />
Bernhard Fleer ist<br />
Mitarbeiter im Fachgebiet<br />
»Pflegerische Versorgung«<br />
des MDS.<br />
b.fleer@mds-ev.de
24 WEITBLICK<br />
mdk forum 2/13<br />
Kindliche Selbstheilung dank Figurenspieltherapie<br />
Spiel mit dir<br />
Seit Menschengedenken nutzen wir Rollenspiele, um unsere Welt besser zu begreifen – und auch, um<br />
die Ereignisse unseres eigenen Lebens einzuordnen und vielleicht ein wenig beeinflussen zu können. Das therapeutische<br />
Figurenspiel bringt innere Geschichten und Bilder auf eine äußere Bühne und eröffnet dem Kind damit die<br />
Möglichkeit, sich selbst zu heilen. Ein Besuch bei der Puppenspieltherapeutin Gabriele Ascheid im Westerwald.<br />
Es sind Klötze aus einem Material, das normalerweise zur<br />
Wärmedämmung von Hauswänden verwendet wird.<br />
Spontan wähle ich ein kleines Exemplar aus dem Angebot,<br />
das Gabriele Ascheid vor mir ausgebreitet hat. »Wir<br />
wissen am Anfang oft nicht, was für eine Figur entsteht.<br />
Lassen Sie Ihrer Intuition freien Lauf.« Mit einem scharfen<br />
Messer schneide ich nach Anleitung Stück um Stück<br />
von dem Dämmungsklotz ab, bis ich eine Gesichtsform<br />
zumindest erahnen kann. Ich kann mir kaum vorstellen,<br />
dass daraus eine so bezaubernde Figur werden soll wie<br />
der König, das kleine Mädchen, die Hexe oder der Glücksdrachen,<br />
die aufgereiht auf dünnen Holzstäben im Therapieraum<br />
stehen.<br />
Die Figur als Teil der eigenen Seele<br />
Eberhard »Max« Pflug, der Lebensgefährte von Gabriele<br />
Ascheid, der sie in der Praxis für Puppenspieltherapie<br />
Westerwald unterstützt, ist überzeugt: »Das sind alles<br />
Archetypen unserer Seele.« Mein »Archetyp« erhält nun<br />
seine »Haut«, eine klebrige Mischung aus Kleister und<br />
Holzmehl, die mit streichenden Bewegungen aufgetragen<br />
wird. Plötzlich blicken mich zwei funkelnde schwarze<br />
Glasaugen an – und sprechen aus oder besser gesagt zu<br />
meiner Seele.<br />
Während der Therapie darf das Kind seine eigenen<br />
Figuren schöpfen – Figurenspieltherapeuten sprechen bewusst<br />
nicht von bauen oder basteln. Es schlüpft mit seiner<br />
kleinen Hand hinein und ist damit selbst die Figur: Sie<br />
handelt stellvertretend für das Kind, darf und kann alles,<br />
was wir Menschen oft nicht dürfen oder uns nicht trauen.<br />
Das Kind als Regisseur<br />
Mein Sohn Paul Luca darf heute ausprobieren, wie eine<br />
Sitzung abläuft. Die äußere Bühne ist ein höhenverstellbares<br />
Bügelbrett mit einem Stoffüberwurf. Das Kind<br />
sucht sich nach vorgegebenen Regeln Requisiten mit<br />
Symbolcharakter sowie Tier- oder Menschenfiguren aus,<br />
die seinen innersten Bedürfnissen entsprechen. Dabei<br />
führt es nicht – wie bei einem Kasperletheater – ein vorgegebenes<br />
Stück auf, sondern die Figuren drücken seine<br />
Gefühle und Gedanken aus. Das Kind ist selbst der Regisseur<br />
in seinem Stück.<br />
Paul legt los. »Regisseur« zu sein, findet er gut. Paul will<br />
einen Wald. Dazu nimmt er einen einfachen Holzständer<br />
und legt, mit Gabriele Ascheids Hilfe, ein grünes Tuch<br />
darüber. Nun einen See, der soll gelb sein. Gelb? Ja, gelb.<br />
Dann darf er sich drei Figuren aussuchen. Schließlich<br />
beginnt Pauls »ureigene« Geschichte von kleinen Fischen,<br />
die über den Wasserfall zum Wald schwimmen, von drei<br />
Mädchen und Edelsteinen.<br />
Beeinflussung? Nein!<br />
Die Therapeutin spielt zwar selbst mit, aber sie reagiert<br />
nur auf der Symbolebene. Wenn die Sitzung beendet ist,<br />
weiß Gabriele Ascheid manchmal noch nicht, was innerlich<br />
im Kind geschehen ist. Deshalb fotografiert sie die<br />
Spielszenen und protokolliert den Ablauf der Geschichte.<br />
So verschafft sie sich einen Überblick über den jeweiligen<br />
seelischen Zustand des Kindes – häufig auch zusammen<br />
mit Max Pflug. Er ist Vermesser von Beruf, kommt also<br />
aus einer anderen, sehr technischen Welt. Die Ausbildung<br />
zum Figurenspieltherapeuten<br />
haben sie gemeinsam absolviert.<br />
»Ich habe gelernt, dass ich<br />
nicht alles berechnen kann. Ein<br />
Völlige Freiheit im<br />
Bühnenraum<br />
Mensch geht seinen Weg – und zwar jetzt. Alles, was ich in<br />
der Annahme tue, es besser zu wissen, ist ein Übergriff.<br />
Schließlich ließe sich jede Figur manipulativ einsetzen –<br />
und das darf ich als Figurenspieltherapeut nicht«, sagt er.<br />
Die Spielszenen eines Kindes ähneln sich oft immer<br />
wieder während der Therapie – bis auf Kleinigkeiten.<br />
Diese Veränderungen zeigen Gabriele Ascheid, dass sich<br />
auch im Kind etwas verändert: »Ein Kind spielte wochenlang,<br />
dass ein Krokodil alle anderen Figuren frisst – und<br />
zwar die ganze Stunde. Bis das Krokodil eines Tages anfing,<br />
mit den anderen Figuren zu sprechen. Was immer in<br />
der Seele des Kindes ist, wir graben nicht nach der Ursache,<br />
sondern das Kind arbeitet innerlich selbst etwas ab.<br />
Dabei bleiben wir als Therapeuten mit dem Kind immer<br />
nur auf der Symbolebene. Und dann kann ich plötzlich<br />
anhand einer Veränderung im Spiel sehen, dass sich<br />
etwas bewegt.« Eine Figurenspieltherapie gilt als erfolgreich<br />
abgeschlossen, wenn das Kind die Probleme, die es<br />
belasten, verarbeitet und seelisch integriert hat. Max<br />
Pflug erklärt: »Die Sprachlosigkeit des Krokodils, in der<br />
alles zerstört werden muss, weicht der Kommunikation,<br />
und es sagt zum Beispiel: ›Du störst mich hier, kannst<br />
du mir nicht mehr Platz lassen?‹ Das Kind hat seinen Weg<br />
gefunden – heraus aus dem Irrgarten der Gefühle.«<br />
Wenn sie nicht als Langzeittherapie angelegt ist, greift<br />
die Figurenspieltherapie in der Regel sehr schnell. Durchschnittlich<br />
sind etwa 20 Therapieeinheiten notwendig.
WEITBLICK 25<br />
mdk forum 2/13<br />
Regelmäßige Elterngespräche bilden dabei eine wichtige<br />
Basis für den Heilungserfolg. Bei einer entsprechenden<br />
Diagnose kann sie inzwischen im Rahmen einer Ergotherapie<br />
als psychisch-funktionelle Behandlung vom Arzt<br />
verordnet und die Kosten in diesem Fall von den Krankenkassen<br />
übernommen werden.<br />
Ortswechsel: Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen<br />
In der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik werden<br />
Krankheiten wie Neurodermitis, Asthma, Schlafstörungen,<br />
Essverhaltensstörungen oder chronische Kopf- und<br />
Bauchschmerzen behandelt. Im Rahmen einer dreiwöchigen<br />
Intensivtherapie arbeitet das Team um den leitenden<br />
Therapeuten Dietmar Langer daran, ungünstige Stressmuster<br />
und Konflikte aufzudecken und zu verändern.<br />
Das Gesamtkonzept ist auf eineinhalb Jahre ausgerichtet.<br />
Neben der Verhaltens- und der systemischen Therapie<br />
kommen auch tiefenpsychologisch orientierte Verfahren<br />
wie die Figurenspieltherapie zum Einsatz.<br />
Für den Diplom-Psychologen kommt es dabei nicht so<br />
sehr auf verschiedene Störungsbilder an, sondern vielmehr<br />
auf den einzelnen Fall. Dabei sind es die Bilder und<br />
Spielszenen, die sichtbar machen,<br />
Das Krokodil frisst<br />
wozu oft die Worte fehlen: »Das<br />
alle anderen Figuren – Kind hat die Möglichkeit, im<br />
immer wieder<br />
Spiel wichtige emotionale Bedürfnisse<br />
zum Ausdruck zu bringen,<br />
was es innerlich bewegt und was es gegenüber seinen<br />
Eltern nicht artikulieren kann. Da kann es um Geschwisterrivalitäten,<br />
Trennungs- und Verlustängste oder traumatische<br />
Erfahrungen gehen. Im Rollenspiel zeigt sich,<br />
was ihm so starken Stress bereitet, dass es sich die Haut<br />
blutig kratzt oder dass es ständig Bauchschmerzen hat.<br />
Und es hat gleichzeitig die Möglichkeit, die Konflikte, die<br />
hinter den Problemen stecken, zu verarbeiten.«<br />
Bei den Stressmustern hinter psychosomatischen Erkrankungen<br />
handelt es sich um erlebte Aspekte, das ist<br />
Langers Überzeugung. Die Therapie müsse darauf ausgerichtet<br />
sein, die Muster zu verändern und diese Veränderung<br />
auch zu erleben, denn Wissen allein helfe nicht<br />
weiter.<br />
Figurenspiel verändert das Kind – und die Eltern<br />
Pamela Brockmann ist »die Frau mit den Puppen«, wie die<br />
Kinder der Station sie nennen. Gut fünf Stunden steht sie<br />
mit ihren Puppen dem Kind während des Klinikaufenthaltes<br />
zur Verfügung. Ihre Erfahrung zeigt, dass sich auch<br />
die Eltern verändern: »Manche<br />
Eltern kommen mit ganz großen<br />
Fragezeichen: ›Was ist bloß los –<br />
ich verstehe mein eigenes Kind<br />
nicht mehr?‹ Da kann ich dann<br />
Eltern verstehen<br />
Bilder oft besser als<br />
viele Worte<br />
über die Bilder, die das Kind selber wählt, die Eltern leichter<br />
über die emotionale Ebene erreichen als über die<br />
kognitive.« Sie verstehen dabei die Bilder oft besser als die<br />
Worte. Ein Kind spielte beispielsweise eine Geschichte mit<br />
einem König und einer Königin. Für sich selber wählte es<br />
einen dreiköpfigen Drachen, den es selbst modelliert<br />
hatte. Er flog nachts über das Schloss und versetzte alle in<br />
Unruhe. Der König konnte dem Drachen recht gut begegnen<br />
und lud ihn zum Essen ein. Die Königin allerdings<br />
fiel beim Anblick des Drachen in Ohnmacht. »Im Gespräch<br />
sagte mir die Mutter, dass sie sich ihrem Sohn gegenüber<br />
in der Tat ohnmächtig fühle und verstand die Bilder<br />
unglaublich gut«, erklärt Brockmann.<br />
Dietmar Langer kennt diese Hilflosigkeit, die Eltern<br />
von Kindern mit chronischen Erkrankungen häufig erleben<br />
und über die sie die Führung verlieren: »Bei einer<br />
chronischen Störung kommt man ja nicht weiter. Der Patient<br />
selber erhält über die Erkrankung oft unglaublich<br />
viel Macht und beeinflusst den Tagesablauf der gesamten<br />
Familie. Solche Stressmuster sind zwar nicht unbedingt<br />
immer die Ursache der Erkrankung, aber sie tragen zur<br />
Aufrechterhaltung oder Verschlechterung bei. Aus der<br />
Interaktion bei der Figurenspieltherapie beziehen die<br />
Kinder ein Selbstwertgefühl, das sich dann auch auf den<br />
Alltag mit ihren Eltern und Geschwistern überträgt, so<br />
dass sie wieder anders miteinander umgehen können<br />
und besser belastbar sind.«<br />
Dr. Martina Koesterke,<br />
Mitarbeiterin im Fachgebiet<br />
»Presse- und Öffentlichkeitsarbeit«<br />
des MDS.<br />
m.koesterke@mds-ev.de
26 WEITBLICK<br />
mdk forum 2/13<br />
Personalauswahl von Ärzten und Ärztinnen<br />
Der richtige Kopf an der<br />
passenden Stelle<br />
erfolgreiche Personalauswahl ist ein Hauptfaktor für den Unternehmenserfolg. Dies gilt auch für Krankenhäuser.<br />
Die Bundesärztekammer hat im Mai dieses Jahres ihre Position formuliert. Demnach sollten Assessment-Center eingesetzt<br />
werden, um die Zulassung zum <strong>Medizin</strong>studium zu regeln, da das Abitur kein (alleinig) sinnvolles Kriterium sei.<br />
Diese Forderung ist nicht neu. Schon der damalige Bundesgesundheitsminister<br />
vertrat 2010 in der Frankfurter<br />
Allgemeinen Sonntagszeitung eine Abschaffung des Numerus<br />
clausus für die <strong>Medizin</strong> zugunsten einer mehr auf<br />
sozial-interaktive Kompetenzen ausgerichteten Eignungsfeststellung.<br />
Nicht nur fachliche Gesichtspunkte relevant<br />
Eine der großen aktuellen Herausforderungen für Krankenhäuser<br />
besteht wohl neben der heilenden Tätigkeit<br />
darin, sich der zunehmend auch öffentlich geführten Diskussion<br />
über Qualitätsstandards und Angemessenheit<br />
der Finanzierung des Gesundheitswesens zu stellen. Dabei<br />
gerät besonders die ärztliche Leistung, im Gegensatz<br />
zur pflegerischen oder administrativen, regelmäßig in<br />
den Fokus der Berichterstattung (der berühmte »Behandlungsfehler«).<br />
Das mag an der herausgehobenen Sichtbarkeit<br />
von Ärzten aus Patientenperspektive und an ihrer<br />
qua Hierarchie und Funktion verliehenen Verantwortung<br />
liegen. In zunehmender Weise werden, als Reaktion darauf,<br />
Erkenntnisse aus anderen Industriebereichen in<br />
Krankenhäusern angewandt, etwa die Einführung von<br />
Checklistenprinzipien aus der Luftfahrt. Die Personalgewinnung<br />
ist aber noch nicht auf dem Stand, auf dem andere<br />
Wirtschaftsbereiche zum Teil schon sehr lange sind.<br />
Bei der Rekrutierung von Personal vertrauen die meisten<br />
Firmen und Institutionen weltweit nicht nur auf das Gespür<br />
von Vorgesetzten und Personalabteilungen, sondern<br />
auch auf eignungsdiagnostische Methoden. Hierbei spielen<br />
psychologische Anforderungsanalysen und darauf<br />
auf bauende Eignungsverfahren eine hervorgehobene<br />
Rolle. Denn bei den meisten Tätigkeiten und Berufsbildern<br />
sind nicht nur fachliche Gesichtspunkte relevant,<br />
sondern auch spezielle kognitive Fähigkeiten und inter
WEITBLICK 27<br />
mdk forum 2/13<br />
aktive Kompetenzen. Je präziser hier die Anforderungen<br />
an Berufsinhaber definiert werden, desto besser sind darauf<br />
aufbauende Verfahren in der Lage, die geeigneten von<br />
den weniger geeigneten oder ungeeigneten Bewerbern<br />
und Bewerberinnen zu unterscheiden.<br />
Schulnoten prognostizieren nicht den Berufserfolg<br />
Als erster Reflex auf solche Thesen mag sich die Vermutung<br />
einstellen, dass es sich um realitätsferne Vorschläge<br />
handele. Schließlich wären solche Verfahren mit Aufwand<br />
verbunden. Aber das Gegenteil ist richtig. Schaut<br />
man sich die internationale Literatur zur Vorhersage von<br />
Studien- und Berufserfolg an, so lässt sich schnell feststellen,<br />
dass Schulnoten zwar in beträchtlicher Weise den<br />
Studienerfolg prognostizieren, hingegen kaum Vorhersagen<br />
über den Berufserfolg zulassen. Hier sind Arbeitsproben,<br />
Assessment-Center, Interviews und Leistungstests<br />
im Vorteil. Die Verwendung des<br />
Die richtige Auswahl<br />
Abiturzeugnisses bei der Studienzulassung<br />
entspringt also<br />
spart Geld<br />
wohl letztlich zwei Ursachen: 1.<br />
Die Abiturnote ist das billigste und einfachste Auswahlkriterium,<br />
die Bewerber und Bewerberinnen bringen das<br />
Testergebnis quasi mit. 2. Die Universitäten interessieren<br />
sich nicht für den Berufserfolg ihrer Absolventen, sondern<br />
primär für deren Studienerfolg, also Examensnoten<br />
und Studiengeschwindigkeit.<br />
Professionelle Auswahl bei der Lufthansa<br />
Die Lufthansa bedient sich bei der Pilotenauswahl einer<br />
nationalen Forschungseinrichtung, des Deutschen<br />
Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Gemeinsam mit<br />
Ausbildungs piloten der Lufthansa führt das DLR die<br />
Auswahl von Auszubildenden für die Lufthansa-<br />
Flugschule und lizenzierte Piloten durch. Dabei<br />
kommen Leistungstests, Arbeitsproben, Persönlichkeitstests,<br />
Gruppenaufgaben, Rollenspiele und Interviews<br />
zur Anwendung. Die Abiturnote ist kein besonderes<br />
Kriterium, da das Abitur in DLR-Validitätsstudien keinen<br />
Beitrag zur Vorhersage der späteren Leistungsfähigkeit<br />
und Passung im Flugbetrieb liefert. Substanzielle<br />
Zusammenhänge gibt es nur zur Pilotenausbildung, hier<br />
liefern die vom DLR selbst entwickelten Testverfahren<br />
aber deutlich präzisere Aussagen. Im Auswahlverfahren<br />
wird ein besonderer Schwerpunkt auf aufwendige<br />
Assessment-Center-Verfahren gelegt, in denen die<br />
sozial-interaktiven Kompetenzen in hochkomplexen<br />
Team-Simulationen gemessen werden.<br />
Leistungsanforderungen für Chirurgen<br />
Dabei finden sich Anforderungen in der medizinischen<br />
Fachliteratur, welche eine alleinige Auswahl nach Abiturnote<br />
und Studierfähigkeitstest als unzureichend erscheinen<br />
lassen: Chirurgische<br />
Fachbücher nennen neben den<br />
Leistungsanforderungen (Raumorientierung,<br />
Daueraufmerksamkeit,<br />
Auge-Hand-Koordination,<br />
Universitäten interessieren<br />
sich mehr für den Studienals<br />
den Berufserfolg<br />
Ausdauer etc.) etwa Sorgsamkeit, Verantwortungsgefühl,<br />
Belastbarkeit, psychische Ausgeglichenheit, Selbstreflexion,<br />
soziale Extravertiertheit, Teamzusammenarbeit und vieles<br />
mehr.<br />
Erst wenige deutsche Universitäten haben seit längerer<br />
Zeit Verfahren etabliert, welche solche Eignungsfaktoren<br />
erfassen, die über Abitur und Leistungstests hinausgehen<br />
– etwa die Charité oder die Universität Witten-Herdecke.<br />
Die ärztliche Personalrekrutierung an Krankenhäusern<br />
wird überwiegend von fachlichen Kriterien bestimmt.<br />
Assessment-Center oder ähnlich strukturierte Methoden<br />
sind unüblich.<br />
Pilotprojekt in Hannover<br />
In einem Pilotprojekt versucht das Deutsche Zentrum für<br />
Luft- und Raumfahrt (dlr) gemeinsam mit Chirurgen der<br />
Henriettenstiftung Hannover, die Berufsanforderungen<br />
für die Chirurgie zu bestimmen und die Mitarbeiter einer<br />
solchen Testung zu unterziehen.<br />
Die Praxis der medizinischen Nachwuchsgewinnung<br />
sollte sich stärker als bislang auf prognostisch valide<br />
Methoden stützen. Hier steht an erster Stelle eine umfassende<br />
Definition von Anforderungen, welche dann, im<br />
nächsten Schritt, zu einer adäquaten Verfahrensauswahl<br />
führen. Universitäten müssen lernen, umzudenken und<br />
den Berufserfolg als Kriterium der Studierendenauswahl<br />
festzulegen. Krankenhäuser müssen allein aus betriebswirtschaftlicher<br />
Notwendigkeit aussagekräftige Verfahren<br />
entwickeln, um den richtigen Kopf an die passende Stelle<br />
zu setzen.<br />
Dr. Viktor Oubaid<br />
arbeitet am Deutschen<br />
Zentrum für Luft- und<br />
Raumfahrt e.V., Hamburg.<br />
viktor.oubaid@dlr.de
28 gesundheit und pflege<br />
mdk forum 2/13<br />
EbM-Kongress 2013<br />
Entscheiden trotz<br />
Unsicherheit<br />
Unsicherheit, so glauben manche, hat erst mit dem Aufkommen der evidenzbasierten <strong>Medizin</strong> (EbM) Einzug<br />
in die Arzt-Patienten-Beziehung gehalten. Tatsächlich aber verursacht die EbM die Unsicherheit nicht, sondern<br />
macht bereits bestehende Unsicherheiten deutlich und hilft dabei, diese zu bewältigen. Das zeigte die diesjährige<br />
14. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte <strong>Medizin</strong> »Entscheiden trotz Unsicherheit« im März in Berlin.<br />
Noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmten allein die Ärzte<br />
über Diagnose und Therapie, und sie schienen auch genau<br />
zu wissen, was notwendig und hilfreich ist. Heute hat<br />
sich diese Situation in zweierlei Hinsicht grundlegend<br />
geändert: Zum einen wird Patienten das Recht zugestanden,<br />
mitzuentscheiden. Zum anderen besitzt die <strong>Medizin</strong><br />
heute Werkzeuge, mit denen sie beurteilen kann,<br />
wie zuverlässig das Wissen über Entscheidungsoptionen<br />
ist. Beide Aspekte machen das Wesen der evidenzbasierten<br />
<strong>Medizin</strong> aus: mitentscheiden auf bestmöglicher Basis.<br />
Und die Entwicklung geht weiter: Inzwischen leuchtet<br />
die <strong>Medizin</strong> die genaueren Implikationen dieser Errungenschaften<br />
aus. Da die Wissensbasis in den meisten Fällen<br />
nur »bestmöglich«, nicht aber »endgültig« sein kann,<br />
bleibt Unsicherheit. Grund genug also, auf der 14. Jahrestagung<br />
des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte <strong>Medizin</strong><br />
e. V. (dnebm) nach den Konsequenzen zu fragen: In<br />
welchen Bereichen des Gesundheitswesens spielt Unsicherheit<br />
eine Rolle? Wie soll man Unsicherheiten gegenüber<br />
Patienten kommunizieren? Und vor allem: Wie können<br />
Ärzte, Patienten und andere Akteure trotz Unsicherheit<br />
entscheiden?<br />
»Unsicherheit ist kein angenehmer Zustand. Trotzdem<br />
Wie soll man Unsicherheit<br />
gegenüber den Patienten<br />
kommunizieren?<br />
ist sie in der Gesundheitsversorgung ein ständiger Begleiter«,<br />
erklärte die Tagungspräsidentin Dr. Monika Lelgemann<br />
in ihrem Grußwort zur Veranstaltung. »Täglich treffen wir<br />
Entscheidungen, ohne die Konsequenzen hundertprozentig<br />
sicher vorhersagen zu können.<br />
Die evidenzbasierte <strong>Medizin</strong> kann<br />
die Unsicherheit nicht völlig aus<br />
der Welt schaffen. Aber sie kann<br />
helfen, die Grenze zwischen gesichertem<br />
Wissen und Unsicherheit klarer zu beschreiben,<br />
in Klinik, Praxis und auch auf Systemebene.«<br />
In den 24 Vorträgen, 14 Workshops und zahlreichen<br />
Posterpräsentationen reichte die Spanne der Einzelthemen<br />
von rechtlichen Aspekten, Entscheidungshilfen<br />
über <strong>Medizin</strong>produkte bis hin zu Pharmazie, Pflege und<br />
Pluralismus in der <strong>Medizin</strong>. In einem der Workshops mit<br />
sieben Vorträgen ging es um Entscheidungshilfen.<br />
Entscheidungshilfen zur Organspende<br />
Im ersten Vortrag stellte Dr. Tanja Richter von der Universität<br />
Hamburg eine Entscheidungshilfe zur Organspende<br />
vor, die im Auftrag der aok erarbeitet wurde. Im Entstehungsprozess<br />
standen nicht die medizinischen Bedürf
gesundheit und pflege 29<br />
mdk forum 2/13<br />
nisse potenzieller Organempfänger im Vordergrund, sondern<br />
die Informationsbedürfnisse potenzieller Spender. So<br />
wurden sowohl die Sachinhalte als auch die Beweggründe<br />
für oder gegen eine Organspende in einer Fokusgruppe<br />
und in Einzelinterviews mit Laien entwickelt und geprüft.<br />
Daraus entstand eine interaktive Entscheidungshilfe, die<br />
Versicherten im Internet zur Verfügung gestellt wird.<br />
Der zweite Vortrag knüpfte inhaltlich direkt an. Corinna<br />
Schaefer vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der <strong>Medizin</strong><br />
(äzq) hat untersucht, inwieweit Entscheidungshilfen<br />
zur Organspende die kritischen Aspekte aufgreifen, die<br />
beim Thema Organspende in den Medien angesprochen<br />
werden. Es ging also um die Frage: Wie nahe kommen Entscheidungshilfen<br />
dank – oder trotz – ihrer Nähe zu Laien,<br />
die bei der Erstellung mitgeholfen haben, den relevanten<br />
Aspekten tatsächlich? Das Ergebnis: Die drei am häufigsten<br />
in Medien diskutierten kritischen Aspekte sind:<br />
1. Hirntote sind nicht tot.<br />
2. Das Argument »Organmangel« übt moralischen<br />
Druck aus.<br />
3. Die Konsequenzen für Angehörige werden<br />
verschwiegen.<br />
Von drei methodisch hochwertigen Entscheidungshilfen<br />
erwähnte nur eine den dritten Aspekt, die beiden anderen<br />
Entscheidungshilfen erwähnten keinen der Aspekte. In<br />
der Diskussion zum Vortrag versicherte der Projektleiter<br />
der Hamburger Entscheidungshilfe, Dr. Matthias Lenz,<br />
dass die drei Kriterien inzwischen aufgenommen wurden.<br />
Wie steht es um die Risikokompetenz<br />
von <strong>Medizin</strong>studierenden?<br />
Im dritten Vortrag berichtete Dr. Hendrik Friedrichs vom<br />
Studienhospital Münster über die Risikokompetenz von<br />
Studierenden der <strong>Medizin</strong>. Friedrichs hatte anhand eines<br />
Tests mit vier Fallbeispielen, in denen Risiken mit unterschiedlichen<br />
Zahlenangaben dargestellt wurden, ermittelt,<br />
wie gut <strong>Medizin</strong>studierende Zahlenangaben verstehen.<br />
Diese Kompetenz ist insofern bedeutend, als die Studierenden<br />
im späteren Berufsleben ihren Patienten zur<br />
gemeinsamen Entscheidungsfindung vermitteln müssen,<br />
wie hoch die Risiken einer Intervention sind, damit diese<br />
Für und Wider angemessen abwägen können. Die Auswertung<br />
von 434 Datensätzen ergab, dass männliche<br />
Studierende signifikant besser abschnitten als weibliche,<br />
dass Notizen, die sich Probanden machten, mit besseren<br />
Ergebnissen einhergingen, dass aber ältere Semester sich<br />
nicht leichter taten als jüngere.<br />
(ipdasi). Die meisten Entscheidungshilfen schnitten dabei<br />
gut ab. Chernyak leistete in ihrem Vortrag selbst einen<br />
Beitrag zur Unsicherheitskommunikation, indem sie darauf<br />
hinwies, dass unklar sei, wie valide die Kriterien wirklich<br />
sind.<br />
Finanzielle Anreize für die Darmkrebsvorsorge?<br />
Im letzten Vortrag dieses Workshops ging Harald Schmidt<br />
von der University of Pennsylvania der Frage nach, ob<br />
finanzielle Anreize für die Darmkrebsvorsorge die Unsicherheit<br />
erhöhen oder vermindern. Schmidt setzte dabei<br />
jedoch als sicher voraus, dass Darmkrebsvorsorge nützt<br />
und deshalb erstrebenswert sei. Unsicherheit bei Versicherten<br />
äußere sich laut Schmidt<br />
deshalb darin, dass Angebote<br />
zum Darmkrebsscreening nicht<br />
adäquat genutzt werden. Anhand<br />
von Literaturrecherchen fand er<br />
Die meisten<br />
Entscheidungshilfen<br />
schneiden gut ab<br />
heraus, dass Einladungsverfahren und Entscheidungshilfen<br />
für gesundheitsmündige Bürger geeignete Methoden<br />
sind. Ob auch finanzielle Anreize, etwa über Bonusprogramme,<br />
Unsicherheiten bezüglich der Teilnahme abzubauen<br />
in der Lage sind, ließ die ungenügende Datenlage<br />
nicht erkennen. In dieser Frage besteht also weiterhin<br />
Unsicherheit.<br />
Wie die Beispiele zeigen, besteht die Stärke der evidenzbasierten<br />
<strong>Medizin</strong> darin, existierende Unsicherheit<br />
zu benennen und nach Möglichkeit zu quantifizieren – ob<br />
über Nutzen und Risiken von Interventionen, oder wie in<br />
den Beispielen des Workshops über die Kommunikation<br />
von relevanten Aspekten der Organspende, die Bedeutung<br />
von Zahlen bei Studierenden der <strong>Medizin</strong>, die Kriterien<br />
zur Beurteilung von Entscheidungshilfen und über finanzielle<br />
Anreize für Vorsorgeprogramme. Bei aller weiterhin<br />
bestehenden Entscheidungsunsicherheit blieb am Ende<br />
zumindest eine Sicherheit: Es war eine gute Entscheidung,<br />
die Tagung besucht zu haben.<br />
Analyse von deutschsprachigen Entscheidungshilfen<br />
Dr. Nadja Chernyak von der Universität Düsseldorf stellte<br />
in ihrem Vortrag vor, wie deutschsprachige Entscheidungshilfen<br />
Unsicherheiten kommunizieren. Ihr ging es dabei<br />
sowohl um die Kommunikation der Wahrscheinlichkeit,<br />
mit der ein Ereignis eintritt, als auch um die Kommunikation<br />
der Unsicherheit, mit der die Wahrscheinlichkeitsangabe<br />
behaftet ist. Acht Entscheidungshilfen konnten<br />
analysiert werden, und zwar anhand der Kriterien zur<br />
Bewertung der Wahrscheinlichkeitskommunikation aus<br />
dem International Decision Aids Standard Instrument<br />
Dr. Christian Weymayr ist<br />
freier <strong>Medizin</strong>journalist<br />
und Mitglied des DNEbM<br />
www.christian-weymayr.de
30 gesundheit und pflege<br />
mdk forum 2/13<br />
Menschen mit geistiger Behinderung als Seniorenhelfer<br />
Ich arbeite in der Pflege!<br />
Es ist warm an diesem Freitag im Bottroper Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt. Kirsten Nieber (Name<br />
geändert) reinigt die Tische im Aufenthaltsraum, in dem bis vor einer halben Stunde sechs demenzkranke Menschen<br />
zusammengesessen haben. Sie ist eine von fünf Frauen mit geistiger Behinderung, die zur Zeit im Projekt »WirkWeiser«<br />
des Diakonischen Werkes Gladbeck-Bottrop-Dorsten auf eine Tätigkeit im Bereich der Altenpflege vorbereitet werden.<br />
Ziel ist es, dass Kirsten Nieber einmal eigenständig als<br />
Pflegehelferin in der Altenhilfe arbeiten kann – vielleicht<br />
im Rahmen eines ausgelagerten Werkstattarbeitsplatzes,<br />
vielleicht sogar in einem sozialversicherungspflichtigen<br />
Beschäftigungsverhältnis. Die 22-Jährige soll vor allem in<br />
der Betreuung von Menschen mit Demenz eingesetzt werden,<br />
mit ihnen Gesellschaftsspiele spielen, sie beim Basteln<br />
unterstützen oder sie bei Spaziergängen und beim<br />
Arztbesuchen begleiten. Darauf wird sie umfassend vorbereitet<br />
– zunächst durch ein Qualifizierungsprogramm,<br />
das die Sozialpädagogin und Krankenschwester Katharina<br />
Pischny gemeinsam mit der Universiteit van Nijmegen<br />
entwickelt hat.<br />
Ab auf die Schulbank<br />
Seit knapp zwei Jahren geht Kirsten Nieber zum »Unterricht«<br />
der Bottroper Werkstätten. Hier lernt sie theoretische<br />
und praktische Grundlagen der Arbeit in der Altenpflege.<br />
Auf dem Stundenplan stehen Hauswirtschaft, Hilfestellungen<br />
in der Pflege und Betreuung, aber auch Themen<br />
wie Kommunikation oder der Umgang mit Tod und Sterben.<br />
Für jedes einzelne Thema nimmt sich Pischny zwei<br />
Tage Zeit, um Wiederholungen einzubauen oder auch um<br />
den Schülerinnen die Möglichkeit zu geben, über ihre<br />
Erfahrungen aus der praktischen Arbeit zu berichten. Zusätzlich<br />
gibt es persönliche Gespräche zur Weiterentwicklung<br />
der sozialen Fähigkeiten. »Schwer tun sich die Teilnehmer<br />
vor allem bei Themen, die einen geringen Praxisbezug<br />
haben und nicht praktisch eingeübt werden können,<br />
wie zum Beispiel beim Thema ›Demenz‹, oder ›Privatsphäre,<br />
Nähe und Distanz‹«, erklärt Pischny.<br />
Parallel zur Theorie werden die Teilnehmerinnen in den<br />
eigenen Betrieben des Diakonischen Werkes praktisch<br />
vorbereitet. »Viele Tätigkeiten kennen sie schon aus der<br />
Werkstatt für Menschen mit schweren und mehrfachen<br />
Behinderungen, in der sie seit Beginn der Qualifizierungsmaßnahme<br />
arbeiten. Vieles dort ähnelt der Arbeit im<br />
Seniorenheim«, sagt Pischny. Etwa nach der Hälfte der<br />
Qualifizierung gehen die Projektteilnehmerinnen in die<br />
Praktikumsphase, die sie in Senioreneinrichtungen absolvieren.<br />
Auch soziale Fähigkeiten entscheiden<br />
Da es sich bei den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen<br />
um einen geschützten Raum handelt, müssen<br />
die Teilnehmerinnen behutsam auf die Bedingungen des<br />
ersten Arbeitsmarktes vorbereitet werden. Hier zählen<br />
nicht nur fachliche, sondern vor allem auch soziale Fähigkeiten,<br />
weiß Pischny: »Die Teilnehmerinnen müssen in<br />
der Lage sein, im Team zu arbeiten und die ihnen übertragenen<br />
Aufgaben auch selbstständig bearbeiten zu können.<br />
Sorgfalt, Ordnungsbereitschaft<br />
und die Bereitschaft, eine gewisse<br />
Verantwortung für die eigene Arbeit<br />
zu übernehmen, sind Voraussetzung.«<br />
Besonders wichtig ist<br />
Arbeitnehmer mit Behinderung<br />
werden gezielt auf<br />
die Pflege vorbereitet<br />
nach Pischnys Einschätzung die persönliche Motivation<br />
und der Wunsch, außerhalb des geschützten Rahmens<br />
der Werkstatt für Menschen mit Behinderung Verantwortung<br />
zu übernehmen und Pflichten zu übernehmen.<br />
Heidi Müller teilt diese Einschätzung. Die Heilpädagogin<br />
begleitet seit fünf Jahren als Übergangsassistentin Menschen<br />
mit Behinderungen, die im ersten Arbeitsmarkt Fuß<br />
fassen wollen, und fungiert als Bindeglied zwischen den<br />
Arbeitgebern und den Bottroper Werkstätten. »Unsere<br />
Beschäftigten gehen mit einer hohen Motivation an ihre<br />
Aufgaben«, so Müller. Vor allem zu Beginn ihrer Tätigkeit<br />
auf dem ersten Arbeitsmarkt steht sie Projektteilnehmerinnen<br />
und Arbeitgebern als ständige Ansprechpartnerin<br />
zur Seite, fast täglich besucht sie sie vor Ort und auch später<br />
schaut sie noch einmal wöchentlich vorbei.<br />
Beide Seiten profitieren<br />
Manchmal müssen auch Vorbehalte und Vorurteile aufseiten<br />
der Arbeitgeber aus dem Weg geräumt werden.<br />
»Wir müssen eine ›Win-win-Situation‹ für die Beschäftigten<br />
und die Arbeitgeber schaffen, dann klappt das«, ist<br />
Müller überzeugt. Dazu dient auch das mehrwöchige<br />
Praktikum, das bei Bedarf verlängert werden kann. Betrieb<br />
und Mitarbeiter erhalten so über einen festgelegten<br />
Zeitraum die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen.<br />
In gemeinsamen Gesprächen wird die Arbeitssituation<br />
reflektiert und Nachschulungsbedarf kann benannt<br />
werden. Heidi Müller kümmert sich dann gemeinsam mit<br />
Katharina Pischny um die Umsetzung.<br />
Kirsten Nieber hat sich für das Programm beworben –<br />
wie die anderen Projektteilnehmerinnen auch. Erst wenige<br />
Wochen ihres Praktikums hat sie absolviert, doch<br />
sie ist sich schon sicher: »In die Werkstatt gehe ich nicht<br />
mehr zurück.« Klaudia Bogdon-Braungart, Sozialarbeiterin<br />
im awo-Altenpflegezentrum, einer Einrichtung mit<br />
mehr als 150 Bewohnerinnen und Bewohnern, ist die »Pa
gesundheit und pflege 31<br />
mdk forum 2/13<br />
tin« von Kirsten Nieber und von dem Projekt überzeugt:<br />
»Wir haben immer einen Bedarf an Helfern in der Betreuung.<br />
Für uns sind die Mitarbeiter der Diakonie eine Entlastung.«<br />
Ihre Einrichtung macht schon seit einiger Zeit<br />
Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung. Bisher<br />
arbeiten sie überwiegend in der Hauswirtschaft. Kirsten<br />
Nieber soll vor allem in der Betreuung von Menschen mit<br />
Demenz eingesetzt werden.<br />
Dass die Arbeiterwohlfahrt mit dem Projekt WirkWeiser<br />
zusammenarbeitet, ist für Bogdon-Braungart naheliegend:<br />
»Als Arbeiterwohlfahrt sind wir dem Inklusionsgedanken<br />
verpflichtet und deshalb offen für die Belange von<br />
Menschen mit Behinderung.« Sowohl die Bewohnerinnen<br />
und Bewohner als auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
hätten die neue Praktikantin positiv aufgenommen.<br />
Grenzen für den Einsatz von Menschen mit Behinderung<br />
sieht sie in besonders schwierigen<br />
Inklusion wird<br />
Pflegesituationen: »Zum Beispiel,<br />
großgeschrieben<br />
wenn Menschen herausforderndes<br />
Verhalten zeigen, dann würde<br />
ich die Werkstattmitarbeiter nicht einsetzen, oder auch<br />
bei komatösen Menschen. Spezifische Pflegeaufgaben bleiben<br />
Aufgaben des Pflegefachpersonals.« In der Zusammenarbeit<br />
mit Menschen mit Behinderung komme es darauf<br />
an, flexibel auf persönliche Fähigkeiten und Vorlieben zu<br />
reagieren: »Wenn mir jemand signalisiert ›ich trau mich<br />
nicht‹, dann würde ich ihn auch nicht damit beauftragen.«<br />
Die Tische sind gereinigt, der Boden ist gefegt, und<br />
Kirsten Niebers Arbeitstag geht für heute zu Ende. Was<br />
ihr am meisten Spaß an ihrer Arbeit macht? »Dass man<br />
selbst ständig arbeiten kann«, lautet die spontane Antwort.<br />
»Und dass man spürt, wie wichtig man auch selbst für<br />
die alten Menschen ist.«<br />
Teil eines großen Ganzen<br />
Das Projekt »Wirkweiser« der Bottroper wfbm nimmt an<br />
einer bundesweiten Studie teil. »Perspektivenwechsel« ist<br />
das Ergebnis eines Kooperationsprojekts, das die Bundesvereinigung<br />
Lebenshilfe und die Stiftung Zentrum für<br />
Qualität in der Pflege (zqp) im Mai 2011 gestartet hatten.<br />
Dazu besuchte ein Team von Mitarbeitern beider Einrichtungen<br />
Alltagshelfer wie Kirsten Nieber an ihren Arbeitsplätzen,<br />
führte Gespräche mit ihnen und ihren Vorgesetzten<br />
und Anleitern sowie mit den Senioren und deren<br />
Angehörigen. In einer strukturierten Befragung erhoben<br />
sie Praxiserfahrungen von 17 ausbildenden Werkstätten<br />
für behinderte Menschen (wfbm), 29 kooperierenden<br />
Altenhilfeeinrichtungen und 56 behinderten Alltagsbegleitern.<br />
Ihr Fazit: Menschen mit geistiger Behinderung leisten<br />
wertvolle Arbeit als Alltagsbegleiter in der Pflege.<br />
Der Vorstandsvorsitzende des zqp Dr. Ralf Suhr freut<br />
sich über diese Ergebnisse: »Bei unserem Projekt ging<br />
es nicht um die klassischen Aufgaben der Pflege, die<br />
dem ausgebildeten Fachpersonal vorbehalten bleiben.<br />
Wir wollten einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen<br />
mit Behinderung auf eine neue Art und Weise wahrgenommen<br />
werden können – auf eine Art, die man in der<br />
Pflege häufig so nicht antrifft. Für die Pflege sind Menschen<br />
mit Behinderung in erster Linie auf der Seite der<br />
Hilfebedürftigen angesiedelt. In den Projekten dagegen<br />
waren sie nicht die Empfänger von Pflege, sondern diejenigen,<br />
die dort arbeiten oder arbeiten könnten.«<br />
Christiane Grote leitet<br />
das Fachgebiet Presseund<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
des MDS.<br />
c.grote@mds-ev.de
32 die politische kolumne<br />
mdk forum 2/13<br />
Bilanz schwarz-gelbe Gesundheitspolitik<br />
Enttäuschte Erwartungen<br />
Die Fehler der schwarz-roten Gesundheitspolitik korrigieren: Das wollten die Liberalen mit Beginn der<br />
Legislaturperiode. Doch von den ehrgeizigen Zielen blieb in den vier Regierungsjahren der schwarz-gelben Koalition<br />
kaum etwas übrig. Die Bilanz der liberalen Gesundheitsminister Philipp Rösler und Daniel Bahr fällt eher mager aus.<br />
Mit Philipp Rösler zog im Herbst 2009 erstmals ein fdp-<br />
Politiker ins Gesundheitsministerium ein. Nach gut acht<br />
Jahren unter roter Führung sollte endlich ein völlig neuer<br />
Wind wehen. Die Erwartungen waren hoch. Kein Wunder:<br />
Im Wahlkampf hatten die Liberalen viel versprochen –<br />
von der Abschaffung des umstrittenen Gesundheitsfonds<br />
bis zu einem transparenten Vergütungssystem für Ärzte.<br />
Was aber bleibt in Erinnerung? Rösler verkündete 2011<br />
das Jahr der Pflege – und verabschiedete<br />
sich dann ins Wirt<br />
Die Liberalen<br />
wollten den Gesundheitsfonds<br />
abschaffen<br />
folger Daniel Bahr schaffte imschaftsministerium.<br />
Sein Nachmerhin<br />
die Praxisgebühr ab. Möglich<br />
wurde dies allerdings nicht durch die liberale Gesundheitspolitik,<br />
sondern aufgrund der guten Wirtschaftslage<br />
und der damit verbundenen Rekordeinnahmen der Krankenkassen.<br />
Volle Kassen bescheren günstige Bedingungen<br />
Die Milliarden-Überschüsse haben Schwarz-Gelb überhaupt<br />
viel Ärger erspart. Im Gegensatz zu früheren Regierungen<br />
konnte die Koalition weitgehend aus dem Vollem<br />
schöpfen. Auch die Reform der Zusatzbeiträge, die gerade<br />
Geringverdiener und Rentner getroffen hätte, kam nicht<br />
zum Tragen. Ohne die Rekordeinnahmen der Kassen hätten<br />
dagegen rasch kräftige Extra-Gebühren gedroht.<br />
Manch Experte rechnete bereits für 2015 mit Zusatzbeiträgen<br />
von bis zu € 50 im Monat. Davon ist derzeit keine<br />
Rede: Einige Versicherungen können sogar Prämien ausschütten<br />
– ein willkommenes Wahlkampfgeschenk.<br />
Dabei verlief der Start der schwarz-gelben Gesundheitspolitik<br />
alles andere als reibungslos. Bereits bei den<br />
Koalitionsverhandlungen lagen beide Seiten weit auseinander.<br />
Das Ergebnis war folgende kryptische Aussage<br />
im Koalitionsvertrag: »Langfristig wird das bestehende<br />
Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr<br />
Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten<br />
und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen,<br />
die sozial ausgeglichen werden.« Gesundheitsminister<br />
Rösler sah dies als Freischein für die Einführung<br />
einer Gesundheitsprämie. csu-Chef Horst Seehofer<br />
stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Fast ein Jahr dauerte<br />
der Streit, bei dem sich beide Seiten teils wüst beschimpften.<br />
So bescheinigte der damalige fdp-Staatssekretär<br />
Daniel Bahr der csu das Auftreten einer »Wildsau«. csu-<br />
General Alexander Dobrindt konterte und bezeichnete<br />
die Liberalen als »Gurkentruppe«. Der Gesundheitsstreit<br />
endete mit einer Notlösung: Der bundesweit einheitliche<br />
Beitragssatz wurde auf 15,5% angehoben und der Arbeitgeberanteil<br />
auf 7,3% festgesetzt. Damit müssen die Versicherten<br />
alle künftigen Kostensteigerungen aus medizinischem<br />
Fortschritt und demografischem Wandel alleine<br />
schultern. Zugleich hob Schwarz-Gelb die Deckelung<br />
der Zusatzbeiträge auf. Um Sozialschwache nicht übermäßig<br />
zu belasten, wurde ein komplizierter Sozial aus <br />
gleich eingeführt.<br />
Sparpaket bei Arzneimitteln auf den Weg gebracht<br />
Zum Kompromiss gehörte auch das Arzneimittelsparpaket<br />
– einer der wenigen Erfolge. Erstmals werden alle<br />
Medikamente, die mit einem neuen Wirkstoff auf den<br />
Markt kommen, auf ihren Zusatznutzen überprüft. Auf<br />
Basis dieser Ergebnisse verhandeln Hersteller und Krankenkassen<br />
den Preis. Bisher diktierte bei neuen Arzneimitteln<br />
die Pharmaindustrie quasi den Preis. In einem<br />
zweiten Schritt werden auch einige Medikamente gegen<br />
Volksleiden wie Diabetes oder Osteoporose, die bereits<br />
seit längerem auf dem Markt sind, auf ihren Nutzen geprüft.<br />
Auch wenn das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz<br />
– kurz amnog – sicher Schlupflöcher enthält, dämpft<br />
es wirksam den Kostenanstieg bei Medikamenten. Dass<br />
ausgerechnet ein fdp-Gesundheitsminister der mächtigen<br />
Pharmalobby Druck machte, überraschte selbst<br />
die Opposition.<br />
Minireform bei der Pflegeversicherung<br />
Weitaus weniger Mut bewies Schwarz-Gelb bei der Pflege.<br />
Wieder wurden nur die gröbsten Löcher notdürftig geflickt.<br />
Das heißt: Leichte Anhebung des Beitragssatzes,<br />
ein bisschen mehr Geld für Demenzkranke und etwas<br />
mehr Flexibilität bei den Pflegeleistungen. Der große Wurf<br />
wurde dagegen erneut vertagt. Dabei sind die Probleme<br />
in der Pflegeversicherung seit<br />
Jahren bekannt. »Die Pflegeversicherung<br />
leidet unter der Geburtskrankheit,<br />
dass insbesondere<br />
Demenz nicht angemessen<br />
Mehr Wunsch als<br />
Wirklichkeit: Röslers<br />
»Jahr der Pflege«<br />
berücksichtigt wird«, klagt Heinz Rothgang, Professor für<br />
Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen. Bereits<br />
die Große Koalition setzte einen Beirat ein, der eine Neudefinition<br />
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erarbeitete.<br />
Wie bereits Ministerin Ulla Schmidt (spd) scheute auch<br />
Nach-Nachfolger Daniel Bahr eine zügige Umsetzung.<br />
Der Grund: Die Einbeziehung der Demenzkranken in die<br />
Pflegeversicherung würde Milliarden kosten – und damit<br />
einen kräftigen Anstieg des Beitragssatzes bedeuten.
die politische kolumne 33<br />
mdk forum 2/13<br />
»Enttäuschend und unzureichend« nannte VdK-Präsidentin<br />
Ulrike Mascher die Reform. Der Pflegekompromiss sei<br />
ein »kleines Pflaster, mit dem man die großen Lücken in<br />
der Pflegeversicherung nicht schließen kann«.<br />
Pflege-Bahr für private Vorsorge<br />
Um die Pflegeversicherung langfristig zu stabilisieren,<br />
plante Schwarz-Gelb den Aufbau einer Kapitalreserve. Im<br />
unionsinternen Streit zwischen privater Zusatzversicherung<br />
und kollektiver Rücklage blieb am Ende allerdings<br />
wieder nur eine Notlösung: Ähnlich wie bei der Riester-<br />
Rente wird eine private Pflegezusatzversicherung künftig<br />
staatlich gefördert (Pflege-Bahr). Doch der von der fdp<br />
gefeierte Einstieg in die private Vorsorge ist vor allem ein<br />
milliardenschweres Geschenk an die Versicherungswirtschaft.<br />
Unter dem Siegel »staatlich gefördert« werben<br />
die Versicherer seit Anfang des Jahres um neue Kunden.<br />
Chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung, die<br />
ein höheres Pflegerisiko haben, werden sich die Zusatzpolice<br />
trotz € 5 im Monat Zuschuss nicht leisten können.<br />
Für jüngere Versicherte sind die neuen Angebote dagegen<br />
meist unattraktiv. Der Grund: Weil es bei den staatlich geförderten<br />
Policen keine Gesundheitsprüfung<br />
gibt, drohen kräf<br />
Pflege-Bahr: Fünf Euro und<br />
ein milliardenschweres tige Beitragsanhebungen. Eine<br />
Geschenk<br />
ungeförderte Versicherung dürfte<br />
somit langfristig günstiger sein.<br />
Was oftmals auch verschwiegen wird: Wer die Prämien<br />
nicht mehr bezahlen kann und die Police kündigen muss,<br />
bekommt später keine Leistungen. Stiftung Warentest<br />
hat dem Pflege-Bahr jüngst ein miserables Zeugnis ausgestellt.<br />
Oftmals seien die Vertragsbedingungen schlechter<br />
als bei ungeförderten Policen.<br />
Hochgesteckte Ziele nicht erreicht<br />
»Der Gesundheitsfonds muss weg« – mit diesem medienwirksamen<br />
Slogan zog die fdp 2009 in den Wahlkampf.<br />
Ähnlich wie die Forderung nach radikalen Steuersenkungen<br />
ließen sich auch in der Gesundheitspolitik die hochgesteckten<br />
Ziele nicht umsetzen. Dies zeigte sich bereits<br />
bei den Koalitionsverhandlungen. Dass die Bewertungen<br />
für die fdp-Minister Rösler und Bahr eher mäßig ausfallen,<br />
liegt vor allem daran, dass allzu große Erwartungen<br />
geweckt wurden. Der Gesundheitsmarkt ist ein milliardenschweres<br />
Geschäft. Allein die gesetzlichen Kassen<br />
geben in diesem Jahr rund 190 Milliarden Euro aus. Reformen<br />
sind nur in kleinen Schritten möglich – zu groß ist<br />
der Widerstand der Lobbyisten. Bahr hat dies erkannt<br />
und mit dem Patientenrechtegesetz zumindest kleine<br />
Fortschritte erzielt. Die fdp dürfte aus dem Wahlkampf<br />
2009 gelernt haben und sich diesmal mit radikalen Forderungen<br />
zurückhalten. Das bedeutet nicht, dass sich der<br />
nächste Gesundheitsminister zurücklehnen kann: Die<br />
Milliarden-Überschüsse der Krankenkassen währen nicht<br />
ewig. Und das nächste Sparpaket kommt bestimmt.<br />
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