Religion und Verletzbarkeit - Seeking Sense
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Aus: Agnes Wuckelt, Annebelle Pithan, Christoph Beuers (Hg.), "Was mein Sehnen sucht..." –<br />
Spiritualität <strong>und</strong> Alltag, Münster 2009.<br />
50 Bert Roebben<br />
5.1 Erfahrungslernen<br />
Zuerst zum Konzept des Erfahrungslernens. Jedes Lernen ist kontextualisiert<br />
<strong>und</strong> in einer bestimmten Körperlichkeit verankert, in einem<br />
persönlichen „sensorium“ des/der Lernenden. Ein Blinder lernt anders<br />
als ein Sehender. Ein Rollstuhlfahrer nimmt die Welt anders wahr als ein<br />
Fußgänger. Ein Mensch mit einer schwerst-mehrfachen Behinderung<br />
hat andere Impulse nötig als jemand, der ohne Behinderung durch das<br />
Leben geht. Wie Thomas von Aquin bereits im dreizehnten Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
sagte, muss sich das Lernen an die Lernmöglichkeiten des Menschen<br />
anpassen. Lernen durch Erfahrung – wörtlich durch „Hindurchfahren“<br />
des konkreten Impulsfeldes der eigenen Existenz – „learning by doing“,<br />
durch Aneignung im Alltäglichen, ist von wesentlicher Bedeutung für die<br />
Entwicklung kognitiver, affektiver <strong>und</strong> sozialer Fähigkeiten.<br />
Auch im Bereich der religiösen Bildung ist dies von großer Bedeutung:<br />
Menschen mit einer Behinderung fordern uns auf, direkter <strong>und</strong> intensiver<br />
sinn-volle Erfahrungen machen zu können (Grümme 2006). Menschen<br />
die blind sind, wollen vielleicht den Kölner Dom zum Beispiel fühlen<br />
<strong>und</strong> betasten können, schwerst-mehrfach behinderte Menschen wollen<br />
vielleicht „snoezeln“ oder mit musikalischen Impulsen erfahren, dass sie<br />
als Person akzeptiert sind. Menschen mit autistischer Spektrumsstörung<br />
wollen womöglich Gott innerhalb ihres eigenen Vorstellungsvermögens<br />
bildlich darstellen. Performatives Lernen, rituelle Bildung, ganzheitliches<br />
Lernen <strong>und</strong> soziales Lernen sind wichtige gegenwärtige Entwicklungen<br />
in der <strong>Religion</strong>spädagogik, die in diesem Kontext weiterer Refl exion<br />
bedürfen (Fischer 1988).<br />
5.2 Subjektwerdung<br />
Subjektwerdung ist ein zweiter bedenkenswerter Aspekt. Bildung zielt ab<br />
auf Selbstbildung – <strong>und</strong> Selbstbestimmung vollzieht sich in der Gegenwart<br />
des Anderen. Jede/r hat ein Recht auf eine eigene narrative Identität, eine<br />
eigene Lebensbestimmung <strong>und</strong> (aus religiöser Perspektive) eine eigene<br />
Einsicht in dem „Großen Ganzen“, die er oder sie mit anderen teilt, mit<br />
der Welt, mit dem Transzendenten. Gute, das heißt hoffnungsvolle, religiöse<br />
Bildung bietet Chancen an, um das Verborgene zu erleben inmitten<br />
einer komplexen Welt mit unbestimmter Sinngebung einerseits <strong>und</strong> mit<br />
dezidiert religiöser Verschiedenheit andererseits.<br />
Helmut Peukert spricht in diesem Kontext über die Notwendigkeit eines<br />
neuen Lernens, das nicht länger kumulativ (Ansammeln von auswendig<br />
gelernten Sachkenntnissen), sondern transformativ ist, das Einsicht darstellt<br />
in Kenntnisse, die zur Lebensweisheit werden, die zu einem besseren<br />
Verstehen der eigenen Person in einem „intersubjektiv bestimmten” Lern-