Religion und Verletzbarkeit - Seeking Sense
Religion und Verletzbarkeit - Seeking Sense
Religion und Verletzbarkeit - Seeking Sense
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Aus: Agnes Wuckelt, Annebelle Pithan, Christoph Beuers (Hg.), "Was mein Sehnen sucht..." –<br />
Spiritualität <strong>und</strong> Alltag, Münster 2009.<br />
38 Bert Roebben<br />
Schoß von Frau <strong>und</strong> Kindern wieder finden. Aber um dahin zu gelangen<br />
wartet auf beide ein spiritueller Lernprozess, eine Übung in Fre<strong>und</strong>schaft,<br />
ein Aufenthalt in der Werkstatt der Humanität. Georges muss sich mit<br />
seiner Behinderung versöhnen, er muss lernen, dass er auf eigenen Beinen<br />
stehen muss. Harry muss sich für die <strong>Verletzbarkeit</strong> des Bestehens öffnen,<br />
für die Tatsache, dass das Leben nicht so zu planen ist, wie man es sich<br />
minutiös vorgenommen hat. Beide müssen neue Menschen werden, offen<br />
<strong>und</strong> wahrhaftig, ehrlich mit sich selbst, den eigenen Möglichkeiten <strong>und</strong><br />
Grenzen offen ins Auge sehend.<br />
Der Film setzt diesen Bewusstseinsprozess auf eine faszinierende Weise<br />
ins Bild. Dabei scheint vor allem der verletzte Georges der Lehrer für<br />
den verletzbaren Harry zu sein. Letzterer wird sich in der Begegnung<br />
mit Georges, dem Menschen mit Behinderung, bewusst, dass er es sich<br />
selbst zuzuschreiben hat, dass er aus seinem Leben einen Trümmerhaufen<br />
gemacht hat. Georges bekam solche Chancen nicht, er musste von der<br />
Startlinie an mit einem Rückstand klar kommen. Die Geschichte endet<br />
tragisch. Harry bekehrt sich, wird ein verletzbarer Mensch <strong>und</strong> wird wieder<br />
in den Kreis seiner Familie aufgenommen. Georges kann das Leben mit<br />
der Aussicht auf ein weiteres Dasein in der Einrichtung <strong>und</strong> den unwiderruflichen<br />
Tod seiner Mutter nicht annehmen <strong>und</strong> nimmt sich das Leben.<br />
Er möchte bei seiner Mutter sein <strong>und</strong> letztlich Ruhe finden.<br />
Das Leitmotiv dieses Filmes ist die Schöpfungsgeschichte. Der Film<br />
beginnt mit einer ausführlichen Evokation der Schöpfung wie Georges<br />
sie erlebt in sieben Tagen. Mit dem achten Tag tauchen wir ein in den<br />
Plot des Filmes, der als eine Art „road movie“ die Begegnung zwischen<br />
Georges <strong>und</strong> Harry erzählt. Am Ende des Filmes eignet sich Harry die<br />
Schöpfungsgeschichte nach Georges an. Am achten Tag beginnt für ihn<br />
ein neues Leben mit seiner Frau <strong>und</strong> seinen Kindern. Georges stirbt <strong>und</strong><br />
der Zuschauer bleibt verwaist <strong>und</strong> zugleich inspiriert zurück. Ihm bleibt<br />
nun die Wahl, selbst ein Leben in <strong>Verletzbarkeit</strong> aufzunehmen. Es ist<br />
der Mühe wert, sich die Schöpfungsgeschichte in diesem Film langsam<br />
anzueignen <strong>und</strong> somit zu begreifen, wie die organische Einbildungskraft<br />
Georges´ nicht nur ein anderes Licht auf die Identität der Protagonisten<br />
<strong>und</strong> Zuschauenden wirft, sondern auch ihre Seelen berührt <strong>und</strong> zu einer<br />
radikalen Lebensumkehr einlädt. Der Film ist ein Spiegel des alltäglichen<br />
Lebens, das durch einen bewussten Umgang mit <strong>Verletzbarkeit</strong> <strong>und</strong><br />
Zuwendung zum Mitmenschen einen dauerhaften neuen Gr<strong>und</strong>ton<br />
gewinnt. Menschen werden in der verletzlichen Begegnung mit Anderen<br />
selbst „andere“ Menschen.<br />
Eine eingehende narrative Analyse dieses Filmes würde dem Adagium<br />
von Paul Ricoeur gerecht werden, dass jedes Menschenleben, jede Biographie,<br />
das Leben selbst auf der Suche nach einem Erzähler ist. Drei zentrale<br />
Begriffe kamen mir als <strong>Religion</strong>spädagogen beim intensiven Schauen