Religion und Verletzbarkeit - Seeking Sense
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Aus: Agnes Wuckelt, Annebelle Pithan, Christoph Beuers (Hg.), "Was mein Sehnen sucht..." –<br />
Spiritualität <strong>und</strong> Alltag, Münster 2009.<br />
40 Bert Roebben<br />
Die Kontingenz des Daseins <strong>und</strong> die verstärkte Wahrnehmung von<br />
Diversität (mit der damit verb<strong>und</strong>enen Versuchung zur Indifferenz einerseits<br />
<strong>und</strong> Fanatismus andererseits) machen uns heutzutage sensibel<br />
für Spiritualität. Ich sehe darin eine große Wohltat. Es besteht Sehnsucht<br />
nach „soul food“ <strong>und</strong> es ist Aufmerksamkeit für moralische, spirituelle<br />
<strong>und</strong> religiöse Diversität festzustellen. Menschen begeben sich ruhelos auf<br />
die Suche nach Orten um diese Gr<strong>und</strong>erfahrung miteinander zu teilen,<br />
inmitten einer Kultur, die durch postmoderne Gier gekennzeichnet ist.<br />
Menschen werden sich heute einer Erfahrung von „empfangener <strong>und</strong><br />
geteilter Humanität“ bewusst, die darauf gründet, dass sie als Menschen<br />
in dem Schicksal übereinstimmen, dass sie tatsächlich verschieden sind<br />
<strong>und</strong> daher nicht indifferent, sondern „different“ miteinander umgehen<br />
müssen. Für viele ist genau diese Erfahrung ein neuer Quell von Spiritualität<br />
(Roebben 2007, 156-160; 2008a).<br />
Wird der Brunnen des miteinander geteilten Menschseins angebohrt,<br />
so wagt man auch wieder, sich uneingeschränkt auf die Entwicklung der<br />
eigenen einzigartigen narrativen Identität auszurichten, traut man sich<br />
wieder der eigenen Seele zu lauschen, dem einzigartigem Standpunkt des<br />
Selbst in der Beziehung zum Anderen. Die Gr<strong>und</strong>struktur des Menschseins<br />
ist spiritueller Art: Ich werde in <strong>und</strong> an der Begegnung mit dem<br />
Anderen mehr <strong>und</strong> mehr Ich selbst. Und dieses Selbst ist unentbehrlich<br />
für die Begegnung. Ohne Unterscheidung keine Begegnung. Ohne Begegnung<br />
keine Unterscheidung. Diese humane, ethisch qualifizierte<br />
Gr<strong>und</strong>struktur ist per se spiritueller Art. In der Begegnung empfange<br />
ich meine Identität. Für mich ist deutlich, dass genau auf diesem Gebiet<br />
Kirchen <strong>und</strong> religiöse Gemeinschaften eine wichtige, inspirierende Rolle<br />
zu erfüllen haben: Sie müssen ihren Brunnen gelebter <strong>und</strong> gelingender<br />
Spiritualität öffnen, sodass viele sich daran laben können, ohne dass sie<br />
das Gefühl bekommen, zu der jeweiligen Brunnengemeinschaft zugehörig<br />
sein zu müssen (vgl. Habermas 2001; Joas 2004).<br />
In der niederländischen Fachliteratur spricht man von einem wiederentdeckten<br />
„neu-religiösen Verlangen“ (van Harskamp 2000), von „aufblühender<br />
Religiosität“, vor allem bei Jüngeren (Ganzevoort 2006; van<br />
der Tuin 2008) <strong>und</strong> „wild devotion“ (Nauta 2001), von Spiritualität als<br />
dem Vermögen des Menschen sich selbst zu transzendieren. Diese Übung<br />
auf der Grenze der Selbstwerdung <strong>und</strong> der Entgrenzung des Selbst ist ein<br />
lebenslanger Lernprozess, so der niederländische Pastoraltheologe Tjeu<br />
van Knippenberg, eine permanente Übung im Erlangen von „Abhängigkeitskompetenz“<br />
(van Knippenberg 2005, 61-64).<br />
Ich möchte es nicht Kompetenz nennen, sondern eher reine Gnade.<br />
Später kann es vielleicht ein Habitus, eine Lebenseinstellung oder eine<br />
spirituelle Kompetenz werden. Dann erlangt es vielleicht die Bedeutung,<br />
die die amerikanische Theologin Sandra Schneiders der Spiritualität