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Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2013 Zum Anlass der ...

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

<strong>Rede</strong> <strong>zur</strong> <strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

<strong>Zum</strong> <strong>Anlass</strong> <strong>der</strong> <strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong> möchte ich im Namen<br />

aller Künstler und Musiklehrenden sprechen, die mich in den letzten 40 Jahren voller<br />

Vertrauen und Hingabe begleitet haben. Die hohen Ideale, die sie geleitet haben,<br />

sind mit dem Schicksal <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen Lateinamerikasverbunden.Für<br />

die jüngeren Generationen erfüllt die Kunst heute mehr denn je eine Aufgabe,<br />

dieüber die rein schöngeistigen Werte hinausgeht. Sie umfasst immer deutlicher<br />

an<strong>der</strong>e zentrale Lebensbereiche: angefangen bei<strong>der</strong> ganzheitlichen humanistischen<br />

Bildung <strong>der</strong> Persönlichkeit bis hin zu einer künstlerisch geför<strong>der</strong>ten gesellschaftlichen<br />

Integration von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen. Die neue musikalische Generation in<br />

Lateinamerika demonstriert, wie ein ganzer Kontinent mit seinen Orchestern sowie<br />

Jugend- und Kin<strong>der</strong>chören ein zukunftsträchtigesModell gefunden hat.<br />

Die Organisation Amerikanischer Staaten hielt in einer Erklärung vomMärz 1995 nur<br />

diejenige Entwicklung fürvorstellbar und nachhaltig, die in Einklang mit den Werten<br />

einer bestimmten Kultur und Gesellschaft steht. Demokratie, heißt es weiter, sei nicht<br />

als schmückendes Beiwerk einer Kulturzu begreifen, son<strong>der</strong>n als <strong>der</strong>en Essenz.<br />

Gerade dieKunst stellteine hervorragende Möglichkeit dar, unsere kulturellen Eigenheiten<br />

zu gestalten, um so die historischen Wurzeln unserer Identität zu ergründen und<br />

zukünftigeZieleauszuloten. Insbeson<strong>der</strong>e die lateinamerikanisch-karibische Kultur<br />

erscheinthomogener und singulärer als die an<strong>der</strong>er Kontinente und Regionen. Hierin<br />

besteht die größte Leistung unserer Künstler und Kulturschaffenden: das, was unsere<br />

Originalität ausmacht, zu ergründen und neue Wege zu eröffnen. Die Intellektuellen und<br />

Künstler des Kontinents, denendie Reichweite <strong>der</strong> kulturellen Arbeit bewusst ist, setzen<br />

sich heutzutage in beispielloser Weise für eine kulturelle Integration ein. DieRolle,<br />

dieihnen in <strong>der</strong> lateinamerikanischen Erfolgsgeschichte zukommt, ist evident.<br />

Lateinamerikas kulturelle Blüte fußt auf seiner Fähigkeit, „neue Welten“ zu<br />

erschaffen. Die Welt neu zu erfinden, ist ein Bedürfnis des Menschen seit seinen<br />

Ursprüngen. Unsere präkolumbianischen Vorfahren sahen das Universum als<br />

ständig im Wandel begriffen. Das geht bereits aus den Mythen <strong>der</strong> Maya hervor.<br />

Doch auch unsere mo<strong>der</strong>nen Schriftsteller wie Miguel Ángel Asturias, Gabriel García<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

Márquez, Jorge Luis Borges und Arturo Uslar Pietri betrachten Amerika als eine sich<br />

ständig verän<strong>der</strong>nde Welt. So ist es die Geschichte des Kontinents, aber auch das<br />

Wirken seiner Schöpfer, das Amerika dazu gebracht hat, stets nach neuen<br />

Horizonten zu suchen.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>telang, im Grunde seitdem es seinen Namen trägt, ist Amerika einem<br />

kulturellen und machtpolitischen Missverständnis zum Opfer gefallen. So schwer<br />

verständlich es ist, dass die Europäer für so lange Zeit das Wesen Amerikas nicht<br />

begreifen konnten, umso unverständlicher erscheint es, dass wir selbstnach <strong>der</strong><br />

fünfhun<strong>der</strong>tjährigen Begegnung von Kulturen und Kontinenten nicht fähig gewesen<br />

sind, uns selbst klar zu betrachten – was wir wirklich sind, gewesen sind, sein<br />

sollten.Der Wille, uns selbst zu definieren,verhilft uns in dieser Stunde zum<br />

Bewusstsein unseres gemeinsamen Schicksals und veranlasst uns, unsere Identität<br />

zu gestalten, <strong>der</strong>en höchster Ausdruck sich in <strong>der</strong> Kunst manifestiert.<br />

So unzeitgemäß und wi<strong>der</strong>sprüchlich es erscheinen mag, so müssen wir doch, wenn<br />

wir in diesem Kontext von <strong>der</strong> Kunst als Universum und Auftrag sprechen, auch über<br />

die Schönheit nachdenken.<br />

Der Begriff von Schönheit lässt sich, objektiv betrachtet,auf bestimmte künstlerische<br />

Eigenschaften und Werte anwenden. Doch diepersönlicheErfahrung von Schönheitist<br />

etwasUnaussprechliches: eine Ahnung von <strong>der</strong> Erfüllung durch die Liebe im Akt <strong>der</strong><br />

Kontemplation. Beim Betrachten von Schönheit als Eingebung und Ekstase,strebt<br />

<strong>der</strong> Geist nach dem Werkund verwandelt es unaufhörlich, aus den Tiefen des<br />

Unbewussten und bis zu den Grenzen <strong>der</strong> Vernunft. Wobei die einzigeBeschränkung<br />

<strong>der</strong> spezifisch menschliche Anspruch amästhetischen Urteil darstellt, das geistige<br />

Gut einer jeden Person. Das Kunstwerk kann Emotionen und eine Ahnung von<br />

Erfüllunghervorrufen, sogar bei Tieren, wie etwa im Mythos des Orpheus, und auch<br />

bei Kleinkin<strong>der</strong>n, die eine intensive, rätselhafte Eingebung erleben. Als könnte die<br />

Kunst, die vom Endlichen ausgeht, uns bis an die Schwelle des Unendlichen bringen.<br />

Im Menschen ist zweifellos ein Trieb angelegt, sich mit großer und geheimer<br />

Leidenschaft dem Allerhöchsten, Einzelnen und Unteilbaren zuzuwenden. Dessen<br />

göttliche Essenz fließt auf wun<strong>der</strong>bare Weise in Wahrheit, Güte und Schönheit über.<br />

Schönheit ist leuchtende Wahrheit, unendliche Güte und höchste Liebe. Schön ist die<br />

Erhabenheit des Parthenons sowie die Einfachheit; schön ist die Nike von<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

Samothrake sowie <strong>der</strong> Frieden für die Gerechtigkeit; schön ist die Freude sowie die<br />

Freiheit, die zum Guten führt: schön ist <strong>der</strong> Moses von Michelangelo sowie das<br />

Leben <strong>der</strong> Heiligen Teresa von Kalkutta. Die bildende Kunst verkörpert die Schönheit<br />

von Gegenständen im Raum: Die Musik dagegen ist Schönheit, die zeitlich verläuft,<br />

undeine Quelle des Unsichtbaren, das so wie Gottes Gnade in die Ewigkeit führt.<br />

Wenn die Erziehung die Entfaltung <strong>der</strong> menschlichen Individualität und ihre soziale<br />

Harmonisierung anstrebt,kommt in diesem Prozess <strong>der</strong> ästhetischen Bildung eine<br />

zentrale Rolle zu. Es ist ihre Aufgabe, einerseits die ursprüngliche Intensität aller<br />

Gefühle und Wahrnehmungen zu bewahren, und andrerseits <strong>der</strong>en Verbindung<br />

untereinan<strong>der</strong> und <strong>zur</strong> Außenwelt aufrecht zu erhalten. Gefühle sollen eine passende<br />

Ausdrucksform finden, damit auch all jene geistigen Erfahrungen verständlich<br />

gemacht werden können, die sonstganz o<strong>der</strong> teilweise unbemerkt blieben.<br />

Die Trias von Schönheit, Wahrheit und Güte beschreibt denästhetischen Zustand des<br />

individuellen und kollektiven Menschen – und verkündet gleichzeitig die ästhetische<br />

Dimension des Lebens selbst. Wenn, wie wissenschaftlich bewiesen,Kin<strong>der</strong> dank<br />

eines angeborenen ästhetischen Sinns ihre Erfahrungen ordnen lernen, sollte die<br />

Erziehung diesen Sinn nachdrücklich pflegen. Bereitsfür Plato waren die Harmonie<br />

des Lebens und sogar die moralischeVeranlagung von einem ästhetischen Sinn für<br />

Rhythmus und Wohlklang bestimmt. Beide dringen tief in die Seele ein, bemächtigen<br />

sich ihrer, und schenken dem Menschen Grazie, Besonnenheit und Würde. Dies<br />

jedoch nur, wenn die Erziehung den Weg dafür bereitet hat. Plato ist Shakespeares<br />

Erkenntnis zuvorgekommen: „Der Mann, <strong>der</strong> nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht<br />

die Eintracht süßer Töne rührt,
/ taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken;
/die<br />

Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht,
/ sein Trachten düster wie <strong>der</strong> Erebus.
/<br />

Trau keinem solchen!– Horch auf die Musik!“<br />

Émile Jaques-Dalcroze hat <strong>zur</strong>echtdarauf hingewiesen, dass die Elemente, die den<br />

Rhythmus ausmachen, <strong>der</strong> Raum und die Zeit, nicht voneinan<strong>der</strong> zu trennen sind.<br />

Das gilt in <strong>der</strong> Musik wie auch in einer als Kunstform verstandenen menschlichen<br />

Existenz. In <strong>der</strong> künstlerischen Erziehung hängt deswegen das beste Ergebnis we<strong>der</strong><br />

vom Lehrsystem noch von <strong>der</strong> fachlichen Fähigkeit des Dozentenab, son<strong>der</strong>n vor<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

allem von <strong>der</strong> Schaffung einer Atmosphäre <strong>der</strong> Freiheit und echten Zuneigung. Hier<br />

kann das Ideal <strong>der</strong> „schönen Seele“ entstehen, die sinnlichen Instinkt und<br />

moralisches Bewusstsein verbindet.<br />

Die mo<strong>der</strong>ne Akustik hat bewiesen, dass<strong>der</strong> Mensch im Moment, wo<br />

erKlängewahrnimmt, seine Sprach- und Kommunikationsfähigkeit entwickelt. Die<br />

Schallwelle und ihre Vibrationen erzeugen unzählige Verbindungen, die sich je nach<br />

Klangfunktion, natürlicher Harmonie und auch dem Medium unterscheiden, durch<br />

das die Schallwelle dringt, seien es Wasser, Pflanzen, Tiere o<strong>der</strong> Menschen.Die<br />

neuesten Erkenntnisse <strong>der</strong> Musiktherapie haben dank Vorreitern wie Herbert Read,<br />

Alfred Tomatis und Don Campbell erwiesen, dass Kin<strong>der</strong>, die im Mutterleib Bach,<br />

Mozart o<strong>der</strong> Vivaldi hören, bereits vor <strong>der</strong> Geburtdas große dem Menschen eigene<br />

ästhetische Potential entwickeln. Von <strong>der</strong> frühesten Kindheit an wird das Kind<br />

spüren, wie sich in ihmdieMagie des Klanges entfaltet. Und nach <strong>der</strong> Geburt, noch<br />

bevor die Kin<strong>der</strong>rational zu begreifen beginnen, entwickeln sie durch die<br />

musikalische Erziehung fast unbewusst einen Sinn fürden Rhythmus, für den<br />

Wohlklang, <strong>der</strong> auf dem Kontrapunkt zwischen Klängen untereinan<strong>der</strong> sowie<br />

zwischen Klängen und <strong>der</strong> Stille beruht.Von da an ist es die Aufgabe des<br />

Erziehungswesens, allmählich aber nachdrücklich die Urteilskraft des Kindes zu<br />

entwickeln und zu verfeinern, damit es auf immer tiefere und komplexere Weise das<br />

ästhetische Phänomen begreift, entsprechend seiner kognitiven Fähigkeiten und<br />

seiner Gemütsverfassung. Kin<strong>der</strong>, die einer künstlerischen Berufung folgen und ein<br />

Instrument spielen o<strong>der</strong> in einem Chor singen, werden in <strong>der</strong> eigenen Person die<br />

Verwirklichung zutiefst menschlicher Eigenschaften erfahren. Das geschieht dank<br />

jener erhabenen Musik, die als göttliche Botschafterin ihren Geist verwandelt und sie<br />

zu Künstlern macht. Und sollte ein Kind den Weg <strong>der</strong> Musik nicht beschreiten, so darf<br />

es vomBildungssystem eine ästhetische Erziehung erwarten, die ihm eine innere<br />

Reifung garantiert. Wahrscheinlichsteht esden religiösen Institutionenzu, eine<br />

vollendete Integration des Menschen zu verwirklichen, gemäß einem höheren<br />

spirituellen und transzendenten Prinzip, um ein sinnreiches, durch Liebe und<br />

edelmütiges Engagement geprägtes Leben zu führen.<br />

Von einer an<strong>der</strong>en Warte aus gesehenwird Kunst, die Wiege <strong>der</strong> intuitiven<br />

Erkenntnis, vor allem als Ausdruck, insbeson<strong>der</strong>e als sprachlicher Ausdruck,<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

betrachtet. Für Gadamer verewigt sich das Kunstwerk in <strong>der</strong> Eloquenz, das heißt im<br />

sinnerfüllten Wort, und bei Benedetto Crocebilden Linguistik und Ästhetik eine<br />

unteilbare Dimension. Schiller sah in <strong>der</strong> Schönheit ein Vorbild für den<br />

zwischenmenschlichen Umgang, dasgemeinsame Kulturerbe par exellence. Heute,<br />

da man mehr denn je den Dialog sucht, muss unsere Gesellschaft unbedingt eine<br />

passende Sprache finden, die Versöhnung ermöglicht und bewahrt. Ästhetik und<br />

Linguistik haben gemeinsame Grundlagen; daraus folgt, dass die Sprache <strong>der</strong><br />

Demokratie den Anspruch erheben muss, vornehmlich eine ästhetische Sprache zu<br />

sein.<br />

Die Demokratisierung eines Bildungssystems, das allen Kin<strong>der</strong>n Zugang zu Literatur<br />

und Kunst, <strong>zur</strong> Philosophie und zum gemeinschaftlichen Leben gewährt, ist<br />

unabdingbar, umdie zivile Gesellschaft und den Staat tiefgehend zu erneuern. Als<br />

Musiker und Künstler möchte ich vorschlagen, dass die <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> in<br />

solidarischer Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> UNESCO das weltweite „Pädagogische<br />

Projekt“ vorantreiben. Für die intellektuelle und künstlerische Welt stellt dies eine<br />

große Herausfor<strong>der</strong>ung dar, jedoch eint sie das Ideal, allen Kin<strong>der</strong>n und<br />

Jugendlichen eine künstlerische und ästhetische Erziehung ermöglichen zu wollen.<br />

Und diese können dank ihrer eigenen schöpferischen Kraft bereits heute im<br />

Unterricht und später auch davon unabhängig ihr Leben als ein Kunstwerkentwerfen,<br />

das sich ständig wandeltund durch die Ideale <strong>der</strong> Gerechtigkeit, des Friedens und<strong>der</strong><br />

Hoffnung erleuchtet wird.<br />

Mozarts Kunst muss heute mehr denn je Kin<strong>der</strong> und Jugendliche zu einer neuen<br />

Gesellschaft inspirieren, die wir uns wie ein wun<strong>der</strong>volles und strahlendes Orchester<br />

vorstellen und wie ein solches entwerfen und aufbauen müssen. Vor diesem<br />

Hintergrund ist für das weltweit agierende ‚Sistema‘ <strong>der</strong> Jugend- und Kin<strong>der</strong>orchester<br />

von Venezuela nicht die künstlerische Ebene vorrangig. Vielmehr zählen <strong>der</strong> globale<br />

Kontext sowie die zukunftsträchtige Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen in<br />

sozialesEngagement und Integration, För<strong>der</strong>ung und Entfaltungdurch die Kunst.<br />

Chor und Orchester bildeneine Gemeinschaft, die sich ständig aufeinan<strong>der</strong> abstimmt:<br />

Mehrnoch als eine künstlerische Einrichtung sind sie ein Vorbild, ein Spiegel und<br />

eine unübertreffliche Schule des gesellschaftlichen Lebens. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

die Jugend- und Kin<strong>der</strong>orchester. Gemeinsam mit Freude und im Streben nach<br />

Vollkommenheit Musik zu machen bedeutet für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche eine strikte<br />

Disziplineinzuhalten und dadurch den Einklang unddie harmonischen<br />

Wechselwirkungen zwischen den einzeln Abschnitten, Stimmen und Instrumenten<br />

gemeinsam zu erleben. Es ist kaum vorstellbar, dass ihre Arbeitnicht von vitaler<br />

Entdeckungslust, von dem Verständnis und <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Musik, von <strong>der</strong><br />

vollkommenen Hingabe an das Werk getragen würde. Mit Herz und Seele, aber auch<br />

mit Maß und intellektueller Strenge,setzen sie sich ganz von selbst für den richtigen<br />

Takt und den Rhythmus des Klangs ein. So erreichen die Symphoniker und die<br />

Vokalistenjenes sublime und komplexe Gleichgewicht von Werten, das in seiner<br />

Vielfalt, Dynamik und Subtilität die konzeptuelle, emotionaleund soziale<br />

Kommunikation des Klangdiskurses ausmacht.<br />

All dies macht diese Art von Orchestern und Chören zumidealen Instrument, um<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche in ein gemeinschaftliches und solidarisches Leben<br />

einzuführen, das ihre Persönlichkeit herausbildet. Je nach ihren persönlichen<br />

technischen o<strong>der</strong> künstlerischen Begabungen för<strong>der</strong>n die Aktivitäten von Orchestern<br />

und Chören bei Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen einen solidarischen Gemeinschaftssinn.<br />

Sie erhöhen zudem ihr Selbstwertgefühl und festigenethische und ästhetischer<br />

Werte, die die Beschäftigung mit Musik mit sich bringt. Eine aktuelle Studie, die die<br />

soziale Bedeutung des venezolanischen ‚Sistema‘ <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendorchester<br />

untersuchte, beschreibt dessen Präsenz im gesamten öffentlichen Raum: auf<br />

Plätzen, in Theatern, Schulen, Kirchen und Parkanlagen konnte<br />

mandieschöpferischen Höhepunkte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendorchester verfolgen. Die<br />

hohe Kunst <strong>der</strong> Musik ist kein sozialer Luxus mehr.Wenn Musik zum Alltag gehört,<br />

kann ein Kind bei sich zuhauseKlarinette vor seinen Geschwistern und den<br />

Nachbarskin<strong>der</strong>n spielen, ein an<strong>der</strong>es Geige in <strong>der</strong> Tischlerei des Vaters, während<br />

an<strong>der</strong>e ihre Begabung und Fortschritte in Konzerten vor dem Publikum des<br />

Stadtviertels, <strong>der</strong> Schule, einemDorf von Handwerkern o<strong>der</strong> Fischernvorführen. Die<br />

materielle Armut wird durch geistigen Reichtum überwunden, <strong>der</strong>dank <strong>der</strong> Musik<br />

entsteht. Im gemeinsamen Üben, Spielenund Hören erleben die Kin<strong>der</strong>und<br />

Jugendliche <strong>der</strong> Orchester und Chöre einenkreativen Austausch. Somit fügt sich<br />

Musik mit <strong>der</strong> von ihr geför<strong>der</strong>tenpersönlichen Entfaltung und familiären Dynamik<br />

natürlich in das individuelle und kollektive Leben. Lasst uns <strong>zur</strong> Kunst finden, nicht<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

mehr nur in Museen und Konzerthallen, son<strong>der</strong>n bei den Menschen und im Alltag,<br />

gegen die Verlockungen<strong>der</strong> Freizeit, gegen Drogen und Gewalt. Kürzlich hat<br />

das„Programm <strong>der</strong> Vereinten Nationen für die Entwicklung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendorchester des Landes“, das Projekt als „eines <strong>der</strong> zehn erfolgreichsten<br />

Programme Venezuelas in <strong>der</strong> Bekämpfung kritischer Armut“ gewürdigt, was seinen<br />

sozialen Charakter bekräftigt. Durch die tägliche Einbindung von Kin<strong>der</strong>nund<br />

Jugendlichen verschiedenster Herkunft in ein Orchester o<strong>der</strong> einen Chor und durch<br />

die Möglichkeit für die weniger Begünstigten, Zugang <strong>zur</strong> Kunst und zu einer<br />

musischen Erziehung zu haben, erfüllt dieses Projekt Tag für Tag seinen Anspruch<br />

auf sozialeEinbindung und gemeinschaftliche Integration.<br />

Meine Damen und Herren:<br />

Benedetto Croce hat behauptet, dass in jedemLaut, den <strong>der</strong> Dichter von sich gibt, in<br />

jedem Produkt seiner Phantasie sich „das ganze menschliche Schicksal“ ausdrückt,<br />

„alle Hoffnungen, alle Illusionen, alle Schmerzen und Freuden, die Größedes<br />

Menschen und sein Elend, das ganze Drama <strong>der</strong> Realität, die sich erneuert und<br />

ständig über sich hinauswächst“. Für Schiller dagegen muss sich die Kunst, in ihrem<br />

metaphysischen Höhenflug, mit nobler Kühnheit über das Bedingte erheben. Als<br />

Sohn <strong>der</strong> Freiheit und Verkörperung <strong>der</strong> Freiheit, möchte er seine Prinzipien<br />

notwendigerweise vom Geist ableiten – und nicht etwa von <strong>der</strong> rohen Materie. In<br />

Schillers Gedanken über die Schönheit und das ästhetische Leben wird ein Begriff<br />

von legitimer Freiheit entworfen: Einenie endende Befreiung von Ketten, in denen die<br />

Notwendigkeit und <strong>der</strong> unstillbare Wille verflochten sind. Jener Wille, den bei<br />

Schopenhauer nur die Liebe und die Katharsis des Mitleids überwindenkönnen, die<br />

Fundamente <strong>der</strong> Ethik.<br />

Von diesem Standpunkt aus gesehen wird <strong>der</strong> Flug <strong>der</strong> Kunst, wie hoch er auch sein<br />

mag, we<strong>der</strong>seiner Wurzeln beraubt noch verläuft er unabhängig von <strong>der</strong> Realität. Viel<br />

eher, um es mit Friedrich Schlegel zu sagen, manifestiert sich erst dann das Werk<br />

eines schöpferischen Genius, wenn es sich als eine Synthese <strong>der</strong> Endlichkeit und<br />

Unendlichkeit erweist. Derselbe Künstler gibt seine Endlichkeit auf, um Instrument<br />

des Unendlichen zu werden und seine höchste Mission zu erfüllen.<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

In dieser und in seiner Eigenschaft als moralisches Wesen, repräsentiert<strong>der</strong> Mensch<br />

das Endliche, das unersättlich nach dem Unendlichen strebt. Wenn <strong>der</strong> Genius in<br />

tranceartigem Zustand ein Kunstwerk schöpft, erahnt er auf mysteriöse Art und<br />

Weise den endlosen Abgrund von Raum und Zeit. Das Ganze offenbart sich im<br />

Fragment: und hier befindet sich, gemäß<strong>der</strong> theologischen Ästhetik von Hans Urs<br />

von Balthasar, die Substanz selbst <strong>der</strong> Schönheit, welche die Kunst aller Zeiten<br />

definiert.<br />

Es steht den Künstlern zu, die entwürdigte Schönheit, die man des Guten und<br />

Wahren beraubte, wie<strong>der</strong>herzustellen. Um diesen verhängnisvollenZustand zu<br />

beheben, brauchen die Kin<strong>der</strong> nur Musik zu spielen und eines ihrer unvergesslichen<br />

Halleluja zu singen; einer jugendlichen,durch die ästhetische Erziehung geläuterten<br />

Seelegenügt es die aufregende, erhöhende Schöpfung lieben zu lernen; es genügt,<br />

wenn das Ideal jener Schönheit, die das Gute, das Wahrhafte und Gerechte<br />

verkörpert, die Geister mit dem Heiligen Feuer entflammt. Jenes Feuer, dasbei<br />

Teresa von Kalkutta das Gebet in Glauben, den Glauben in Liebe und diese Liebe in<br />

Dienst verwandelt hat.<br />

In dem Maße, wie wir Erzieher mit noch leidenschaftlicher Überzeugung an die<br />

immensen Möglichkeiten einer Kunst glauben, die nicht mehr ein anachronistisches<br />

Bollwerk von Pseudoeliten ist, son<strong>der</strong>n Schwelle hin zu einer neuen Welt,Tor zu<br />

einem Neuen Himmel, werden wir endlich den Teufelskreis <strong>der</strong> Armut durchbrechen<br />

können. Hier ist endlich ein engagiertes Konzept, das Erziehung und Kultur nicht<br />

getrennt sieht, son<strong>der</strong>n sie in ihrer geistigen Dimension zusammenbringt. Indem es<br />

prioritär auf <strong>der</strong> ästhetischen Erziehung beruht, festigtesgleichzeitig im<br />

pädagogischen Prozess auch das ethische Bewusstsein.Unser Konzept möchte<br />

<strong>zur</strong>strukturellen Umwandlung des Erziehungssystem beitragen, das sich nach neuen<br />

akademischen Vorbil<strong>der</strong>n zu richten hat, damit für eine Neue Welt ein Neuer Mensch<br />

erschaffen werden kann. Dieser soll sowohl humanistisch gebildet als auch in <strong>der</strong><br />

Technik bewan<strong>der</strong>t sein, ein leidenschaftlicher, selbstloser Kämpfer voller kreativer<br />

Initiative.<br />

Wenn die künstlerische Erziehung nicht mehr peripher bleibt, son<strong>der</strong>n ins Zentrum<br />

des Erziehungswesens rückt, wird die materielle Armut durch die Kunst in geistigen<br />

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<strong>Eröffnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> <strong>2013</strong><br />

José Antonio Abreu<br />

Reichtum verwandelt. Die hier anwesenden jungen Musiker kündigen eine neue<br />

Generation an. Sie haben in <strong>der</strong> Musik jenseits <strong>der</strong> Beherrschung rein technischer<br />

Fertigkeiten einen sicheren Weg zu neuen, unentbehrlichen Horizonten gefunden.<br />

Wer sich davon überzeugen möchte, möge den Lebenslauf von Gustavo Dudamel<br />

betrachten: Er ist ein herausragendes Talent unserer Tage, jemand, <strong>der</strong>als Violinist<br />

im Jugendorchester von Venezuela anfing und nun einer<strong>der</strong> hervorragenden<br />

Dirigenten <strong>der</strong> Welt geworden ist. Von ihm stammt <strong>der</strong> Satz: „Will man bei <strong>der</strong><br />

Jugend ankommen, ist Musik <strong>der</strong> beste Weg: Drogen, Alkohol und Gewalt werden<br />

durch unsere Stimmen und durch unsere Instrumente besiegt“.<br />

Meine Damen und Herren:<br />

Die Musik Mozarts birgt eine unsagbarekosmische Kraft, die imstande ist,große<br />

Gegensätze zu versöhnen: Sensibilität und Intellekt, Form und Inhalt,<br />

leidenschaftlicher und visionärer Dialog, Kampf und Glaube, Schmerz und Hoffnung,<br />

Hölle und Firmament, Geschrei und Gesang, Apokalypse und Apotheose.<br />

Die Hand Mozarts führt – durch die Geschichte ihres Wegs zum ewigen Glück –<br />

unsere Kin<strong>der</strong> und Jugendliche. Selbst jene, die aus ärmlichsten Verhältnissen<br />

kommen, haben geistigen Reichtum erworben dank <strong>der</strong> Präsenz Gottes inmitten ihrer<br />

Flöten, Harfen und Trompeten. Sie haben, verschanzt in ihren Chören und<br />

Orchestergräben, gekämpft und gesungenund sind heute imstande, sich mit ihrem<br />

Selbstbewusstseins und künstlerischen Engagement <strong>der</strong> Welt zu bemächtigen. Ihr<br />

Leben ist immer mehr von Liebe und Sinn erfüllt.<br />

Mögen die <strong>Salzburger</strong> <strong>Festspiele</strong> sie auf ewig begleiten indieser so wun<strong>der</strong>baren<br />

Unternehmung. Davon hängt die Güte und Würde aller Zukunft ab, sowie die<br />

Möglichkeit, <strong>der</strong> künstlerischen Herausfor<strong>der</strong>ung – als höchster Kunst des Lebens –<br />

auf freie und würdige Weise gerecht zu werden.<br />

Es gilt das gesprochene Wort!<br />

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