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ANDREW LOUWRENS<br />

Hausmitteilung<br />

9. Dezember 2013 Betr.: Titel, FDP, „Dein SPIEGEL“<br />

Mitunter kommt es vor, dass Journalisten Politikern begegnen, die sie tief<br />

und nachhaltig beeindrucken: als Gesprächspartner – und als Mensch. Für<br />

Bartholomäus Grill, der Anfang 1993 als Korrespondent nach Johannesburg ging,<br />

um über den Umbruch in Südafrika zu berichten, war Nelson Mandela ein solcher<br />

Politiker. In den Wendejahren, als das Unrechtsregime der Apartheid unterging<br />

und die Demokratie geboren wurde, hat Grill den am vergangenen Donnerstag<br />

verstorbenen Mandela gleich mehrmals getroffen: bei dessen Auftritten als Friedens -<br />

stifter in gewaltgeplagten Town -<br />

ships, im Wahlkampf, im Parlament;<br />

bei Mandelas Geburtstagsparty.<br />

Höhepunkt war ein<br />

Interview mit Mandela, das<br />

Grill im September 1995 in<br />

Genadendal, Mandelas Residenz<br />

in Kapstadt, führte, damals<br />

noch für die Wochen -<br />

Grill, Mandela 1995 in Kapstadt<br />

zeitung „Die Zeit“. Mandela<br />

wollte gleich zu Beginn wissen,<br />

wie alt denn Adenauer gewesen<br />

sei, als er Kanzler wurde;<br />

es gab Skeptiker, die der Meinung waren, der damals 77-Jährige sei zu alt für das<br />

Amt des Staatspräsidenten. Er kenne niemanden, der dem Charme Mandelas nicht<br />

erlegen wäre, sagt Grill. „So einem Menschen zu begegnen ist ein großes Geschenk,<br />

das größte, das ich als Korrespondent erhalten habe“ (Seite 84).<br />

Weil sie nicht wusste, was sie bei der Bundestagswahl wählen sollte, befragte<br />

SPIEGEL-Redakteurin Barbara Hardinghaus im September den Wahl-O-Mat,<br />

eine Internet-Entscheidungshilfe für Unschlüssige. Eindeutige Antwort: die FDP. Harding -<br />

haus dachte an das Führungspersonal der FDP und beschloss, das Ergebnis zu ignorie -<br />

ren. Offenbar ging es anderen ähnlich, denn nach 64 Jahren flog die FDP erstmals aus<br />

dem Bundestag. Für den Wahltag hatte Hardinghaus sich mit dem bildungspolitischen<br />

Sprecher der FDP, Patrick Meinhardt, verabredet, sie wollte wissen, wie ein Leben<br />

aussieht, das nur aus Politik besteht. Das Wahlergebnis machte die geplante Recherche<br />

noch interessanter: Wie verkraften Politiker eine solche Niederlage? Hardinghaus<br />

hatte Glück. Meinhardt gab ihr die Gelegenheit, ihn in den folgenden Wochen zu<br />

begleiten, auch bei der Rückkehr in die badische Provinz. Sie erlebte einen leidenschaftlichen<br />

Politiker, der sich an ein Leben mit wenig Schlaf gewöhnt hatte, der<br />

beinahe täglich zwischen Baden-Württemberg und Berlin pendelte, der viele Ämter<br />

innehatte, der aber am Ende vor allem eines blieb: Berufspolitiker (Seite 54).<br />

Das Römische Reich erstreckte sich in seiner Blütezeit<br />

vom heutigen Irak bis zur schottischen Grenze, die<br />

alten Römer kannten bereits die Bratwurst, die Fuß boden -<br />

heizung und die Dusche. „Dein SPIEGEL“, das Nachrichten-Magazin<br />

für Kinder, beschreibt in der Titel geschichte<br />

den Glanz und die Macht des antiken Reiches – aber auch<br />

seinen Niedergang und das Leben der ganz normalen<br />

Bürger. Weiteres Thema im Heft: Wer plant Sendungen<br />

wie „Supertalent“ oder „DSDS“ – und weshalb machen<br />

die Leute, die dort gewinnen, fast nie Karriere? „Dein<br />

SPIEGEL“ erscheint an diesem Dienstag.<br />

Im Internet: www.spiegel.de<br />

DER SPIEGEL 50/2013 5


In diesem Heft<br />

Titel<br />

Nelson Mandela – eine Huldigung ................. 84<br />

Wie der ANC das Vermächtnis seines<br />

übergroßen Gründers ruiniert ........................ 90<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Panorama: Olympische Spiele ohne Gauck /<br />

CDU-Politiker fordern mehr Basisbeteiligung /<br />

Marine hat Nachwuchssorgen ......................... 17<br />

Europa: Wie Kanzlerin Angela Merkel<br />

Oppositionspolitiker Vitali Klitschko zum<br />

starken Mann der Ukraine machen will ......... 22<br />

CSU: Im SPIEGEL-Gespräch beklagt Bayerns<br />

Ministerpräsident Horst Seehofer das schlechte<br />

Verhältnis von Politik und Medien ................. 26<br />

Verteidigung: Durch den Egoismus der<br />

Nationalstaaten gehen in der europäischen<br />

Rüstungspolitik Milliarden verloren ............... 30<br />

Union: Die Wandlung des hessischen<br />

Ministerpräsidenten Volker Bouffier .............. 34<br />

Stuttgart 21: E-Mails von Stefan Mappus<br />

geben Einblick in die Vorgeschichte des<br />

brutalen Schlossgarten-Einsatzes ................... 36<br />

Karrieren: Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel<br />

liebäugelt mit der Euro-kritischen Partei AfD ... 37<br />

Organvergabe: Im Prozess gegen einen<br />

Transplanteur sagt eine Patientin aus, deren<br />

Laborwerte der Arzt manipuliert haben soll ... 38<br />

Kommentar: Steht der Prozess gegen<br />

Christian Wulff kurz vor dem Ende? .............. 42<br />

Flüchtlinge: Ein neues Abkommen erlaubt<br />

es der EU, Asylbewerber aus<br />

aller Welt in die Türkei zu schicken ............... 43<br />

Arbeitsrecht: Ein Arbeitgeber hält<br />

eine Bewerberin für zu dick – steht ihr<br />

eine Entschädigung zu? .................................. 44<br />

Bildung: Der Lehrerprüfer Wulf Homeier<br />

über den Sinn von Leistungstests ................... 46<br />

Justiz: Personeller Notstand an den Gerichten 47<br />

Familien: Verliert ein Tönnies-Erbe wegen einer<br />

plagiierten Diplomarbeit seine Firmenanteile? 48<br />

Arbeitsmarkt: <strong>Deutschland</strong> scheitert beim<br />

Werben um gutausgebildete Migranten .......... 49<br />

Gesellschaft<br />

Szene: Maßanzüge für frierende Hühner / Wie<br />

Obdachlose das Adventsgeschäft nutzen ........ 52<br />

Eine Meldung und ihre Geschichte – eine Frau<br />

aus Stuttgart heiratet einen Unbekannten ...... 53<br />

Neuanfänge: Ein früherer FDP-Bundestags -<br />

abgeordneter versucht ein neues Leben ......... 54<br />

Ortstermin: In Altenburg tagt das<br />

Internationale Skatgericht .............................. 62<br />

Wirtschaft<br />

Trends: Investoren verkaufen Karstadt-Häuser /<br />

Lufthansa-Aufsichtsräte kritisieren Vorstand ... 64<br />

Finanzmärkte: Die Macht der Mega-Banken ... 66<br />

Regierungsberater Daniel Zimmer fordert<br />

schärferes Vorgehen gegen Finanzkartelle ..... 68<br />

Lobbyisten: Finanzaffäre beim<br />

CDU-nahen Wirtschaftsrat ............................. 72<br />

Autoindustrie: US-Geschäft von VW schwächelt 74<br />

Konsum: Renaissance der deutschen<br />

Luxus-Manufakturen ...................................... 76<br />

Finanzen: Die Schuldenallianz<br />

der Ministerpräsidenten ................................. 78<br />

Stadtplanung: Technologiekonzerne<br />

propagieren die voll vernetzte Metropole ...... 80<br />

Internet: Unternehmeraufstand gegen das<br />

Bewertungsportal Yelp ................................... 81<br />

Ausland<br />

Panorama: Großbritanniens Premier Cameron<br />

buckelt vor den Chinesen / Mexikos Drogenkartelle<br />

investieren in Geschäfte mit Erz ........... 82<br />

8<br />

ANDREW KRAVCHENKO / DPA<br />

Unter Kartellbrüdern Seite 66<br />

Ein Dutzend Investmentbanken manipuliert die Preise an den glo balen<br />

Finanzmärkten, Aufseher in den USA und Europa verhängen hohe Strafen.<br />

Für die Deutsche Bank und ihre Führung könnte sich das bitter rächen.<br />

DIETER MAYR / DER SPIEGEL<br />

Klitschko, Westerwelle<br />

Kampf um die Ukraine Seite 22<br />

Die letzte Runde im Ringen um Einflusszonen in Osteuropa hat Moskau<br />

gewonnen: Die Ukraine will sich vorerst der EU nicht annähern. Doch<br />

Angela Merkel gibt den Machtkampf nicht verloren. Mit deutscher Hilfe<br />

soll der Boxer Vitali Klitschko das Land Richtung Westen führen ................. 22<br />

Wie bei der Revolution 2004 protestieren wieder Hunderttausende<br />

in Kiew. Sie fordern Neuwahlen und einen Westkurs. Doch die Regierung<br />

bleibt hart – und droht mit Gewalt ............................................................... 94<br />

Polens Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski hat im Auftrag der EU<br />

mit der Ukraine über eine Assoziierung verhandelt. Im SPIEGEL-Gespräch<br />

kritisiert er, Brüssel habe Russlands Widerstand unterschätzt ........................ 96<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Der große<br />

Stille Seite 154<br />

Der Schauspieler Matthias<br />

Brandt ist ein Spätzünder.<br />

Als ihn das Fernsehen entdeckte,<br />

war er bereits Anfang<br />

vierzig. Zum TV-Star<br />

wurde Brandt als Kommissar<br />

im „Polizeiruf 110“, wo er<br />

durch sein minimalistisches<br />

Spiel beeindruckt. Im SPIE-<br />

GEL-Gespräch erzählt er<br />

von seinem Blick fürs Skurrile<br />

und erklärt, warum ihm<br />

Verlierer schon immer näher<br />

waren als Gewinner.


Die späten Mütter Seite 148<br />

Frauen versuchen, ihre biologische Uhr zurückzudrehen, indem sie Eizellen<br />

für eine spätere künstliche Befruchtung einfrieren lassen. Doch<br />

bis zu welchem Alter ist eine Schwangerschaft medizinisch vertretbar?<br />

Hans Küng und der Papst Seite 120<br />

Er kämpfte lange gegen den Reformstau im Vatikan und verlor seine Lehr -<br />

erlaubnis. Hans Küng spürt jedoch einen „katholischen Frühling“, seit<br />

Franziskus herrscht. Der Papst habe einen „Paradigmenwechsel“ vollzogen.<br />

Das Projekt<br />

Rache Seite 116<br />

Die brutale Vergewaltigung<br />

einer jungen Frau in einem<br />

Bus in Delhi vor einem<br />

Jahr zeigte der Welt: Frauen<br />

in Indien sind besonders<br />

oft der Gewalt und der Verachtung<br />

von Männern<br />

aus gesetzt. Ein indischer<br />

Filmproduzent bringt jetzt<br />

einen Film ins Kino, der<br />

das Land aufrütteln soll.<br />

Sein Titel: „Kill the Rapist?“<br />

Soll man Vergewaltiger<br />

töten?<br />

Trauerplakat in Südafrika<br />

Ein großes Leben Seite 84<br />

Weltweit trauern Bewunderer um Nelson Mandela, der einst die Apartheid<br />

besiegte und das moderne Südafrika schuf. Der Mann, den sie daheim<br />

„Madiba“ nannten, hatte ein großes Leben – mit Triumphen und Tragödien.<br />

IROCK<br />

FOTO24 / GETTY IMAGES<br />

Ukraine: Machtprobe in Kiew ......................... 94<br />

SPIEGEL-Gespräch mit Polens Ex-Präsident<br />

Aleksander Kwaśniewski über die Entfremdung<br />

zwischen der Ukraine und der EU ................. 96<br />

Thailand: Kampf um die Zukunft des Landes 100<br />

USA: New York plant für den Klimawandel,<br />

North Carolina ignoriert ihn per Gesetz ....... 104<br />

Global Village: Warum Radio Vatikan mit<br />

Papst Franziskus mehr Arbeit hat ................. 110<br />

Kultur<br />

Szene: „Liebes Leben“ – der neue Erzählband<br />

von Nobelpreisträgerin Alice Munro / Das<br />

Lebenswerk von Liedermacher Reinhard Mey<br />

wird mit einer üppigen CD-Box gefeiert ....... 114<br />

Kino: Ein Film über Vergewaltiger<br />

soll Indien aufrütteln .................................... 116<br />

Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem<br />

Theologen Hans Küng über die Revolution<br />

im Vatikan und sein eigenes nahes Ende ...... 120<br />

Bestseller ..................................................... 124<br />

Essay: Warum die Große Koalition so<br />

gut zu <strong>Deutschland</strong> passt – und trotzdem<br />

problematisch ist ........................................... 126<br />

Theater: David Grossmans bewegende<br />

Totenklage „Aus der Zeit fallen“ in Berlin ... 130<br />

Pop-Kritik: Das großartige Debüt des<br />

Berliner Rappers Grim104 ............................ 132<br />

Sport<br />

Szene: Kameruns Nationalcoach Volker Finke<br />

über die WM-Auslosung ............................... 135<br />

Olympia: Der schwule Eissprinter Blake<br />

Skjellerup will bei den Winterspielen in Sotschi<br />

die russische Regierung provozieren ............ 136<br />

Fußball: Pep Guardiola verändert das deutsche<br />

Verständnis vom Spiel .................................. 138<br />

Wissenschaft · Technik<br />

Prisma: E-Zigaretten verstärken Nikotinsucht /<br />

Forscher unterstützen Geschlechterklischees 140<br />

Fischerei: Warum es Scholle, Dorsch und<br />

Hering wieder überraschend gutgeht ............ 142<br />

Ernährung: Jodsalz macht intelligent ............ 146<br />

Medizin: Ist es vertretbar, Eizellen für eine<br />

späte Schwangerschaft einfrieren zu lassen? 148<br />

Bestattungstechnik: Kampf der Krematorien 151<br />

Medien<br />

Trends: Stefan Aust wird „Welt“-Herausgeber /<br />

TV-Produzenten fordern Gebührenanteil ..... 153<br />

Schauspieler: SPIEGEL-Gespräch mit Matthias<br />

Brandt über die Kunst des Scheiterns ........... 154<br />

Presse: Fragwürdige Ermittlungen<br />

gegen Münchner TV-Redakteur .................... 157<br />

Briefe .............................................................. 10<br />

Impressum, Leserservice .............................. 158<br />

Register ........................................................ 160<br />

Personalien ................................................... 162<br />

Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 164<br />

Titelbild: Foto Greg Bartley/Camera Press /Picture Press<br />

Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten<br />

Absolute Spitze<br />

<strong>Deutschland</strong>s Studenten<br />

haben hervorragende<br />

Zukunftschancen – und<br />

sind trotzdem unentspannt.<br />

Außerdem im<br />

UniSPIEGEL: der harte<br />

Kampf um die Master-<br />

Plätze.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

9


SPIEGEL-Titel 49/2013<br />

Nr. 49/2013, Das Superhirn – Neuro-<br />

Ingenieure wollen das Denken optimieren<br />

Das Ende der Freiheit<br />

Auch wenn ich als jemand, der Neuro -<br />

Engineering macht, die Notwendigkeit<br />

sehe, das Thema stark aufzubereiten –<br />

es hätte der Sache sicherlich gedient,<br />

auch die niederen Realitäten auf dem<br />

Weg zum Patienten zu erwähnen. Denn<br />

wie Edison zugeschrieben wird: „Eine<br />

Erfindung braucht 10 Prozent Inspiration<br />

und 90 Prozent Transpiration.“ Also sind<br />

Visionäre aus dem US-System sicher<br />

wichtig – die wahre Arbeit wird aber gerade<br />

auch hier gemacht, zum Beispiel an<br />

unserem Exzellenz-Cluster BrainLinks-<br />

BrainTools.<br />

PROF. ULRICH HOFMANN, FREIBURG IM BREISGAU<br />

UNIVERSITÄT FREIBURG<br />

Die Evolution ermöglichte durch zufällige<br />

genetische Veränderung die Entwicklung<br />

von intelligenten, weitgehend selbständig<br />

und freilebenden Lebewesen, den Menschen.<br />

Selbst der liebe Gott lässt den Menschen<br />

die Freiheit, sich gegen seine Ziele<br />

zu entscheiden. Jetzt streben die Hirn -<br />

ingenieure die vollkommene Steuerung,<br />

Vereinheitlichung und damit Überwachung<br />

aller intelligenten Lebewesen an.<br />

Das Ende der Freiheit ist erreicht. Kein<br />

Wunder, dass die USA ein so großes Interesse<br />

an der Vermessung des Gehirns<br />

haben.<br />

MARTIN WILMS, HAMBURG<br />

Ihr Artikel ruft nicht nur ein gefühlsmäßiges<br />

Unbehagen bei mir hervor, sondern<br />

entbehrt zudem auch nicht einer gewissen<br />

Ambivalenz. Sollte die Hirnforschung<br />

sich so rasant weiterentwickeln, wie das<br />

gegenwärtig der Fall zu sein scheint, würde<br />

die inflationäre Flut neuer TV-Quizsendungen<br />

wohl gestoppt werden können.<br />

Andererseits könnte ein Gehirn, das<br />

vor seiner Zerstörung so brillant funktioniert<br />

hat wie das von John F. Kennedy,<br />

repariert und vielleicht sogar noch etwas<br />

aufpoliert werden.<br />

REINHARD METZGER, ROTTENBURG AM NECKAR<br />

Briefe<br />

„Man fragt sich unwillkürlich, ob bei den<br />

vorgestellten Forschern überhaupt<br />

ein Bewusstsein herrscht, welche Zukunft<br />

sie gestalten: eine Realität von<br />

Huxleys schöner neuer Welt, so grau,<br />

gesichtslos und kollektiv, dass den<br />

unabhängigen Menschen das Grauen ereilt.“<br />

NATHALIE REPENNING, SCHENEFELD (SCHL.-HOLST.)<br />

Dereinst, davon gibt sich Miguel Nicolelis<br />

überzeugt, würden die Gehirne zu einem<br />

mit Bewusstsein begabten Netz zusammenwachsen.<br />

Dieses Metabewusstsein<br />

der Menschheit, das Nicolelis über Technik<br />

erreichen will, existiert doch längst.<br />

Wir nennen es Kultur. Allerdings bietet<br />

diese auch einen Filter, der durch den<br />

Lauf der Zeit und die Fähigkeit von Individuen,<br />

unabhängig zu denken, Sinn von<br />

Unsinn zu trennen vermag. Wir behalten,<br />

was sich für uns als wichtig erwiesen hat,<br />

und der Rest versinkt – zu Recht – in<br />

entropischem Rauschen.<br />

TITUS EICHENBERGER, BEINWIL AM SEE (SCHWEIZ)<br />

Aufnahme einer Hirndurchleuchtung<br />

Das wirklich Besorgniserregende ist weniger<br />

das keck hingemalte Szenarium als<br />

vielmehr das Maß an Naivität, mit der es<br />

von den Prothesengöttern vorgetragen<br />

wird. Doch auch diese können kaum so<br />

dumm sein, um ihren Heilsverkündungen<br />

die finsteren Kehrseiten abzusprechen:<br />

Manipulation und Überwachung.<br />

ALFRED PASCHEK, KIEL<br />

Auch wenn die Gesamtarchitektur des<br />

menschlichen Gehirns noch weitgehend<br />

eine Terra incognita ist, so dürfte es doch<br />

inzwischen als hinreichend bewiesen gelten,<br />

dass für die Funktion der Neuronen<br />

und ihrer Logik eine unsterbliche Seele<br />

als geistiger Träger absolut entbehrlich ist.<br />

Sollten die Religionen nicht allmählich<br />

daraus die Konsequenzen ziehen?<br />

KLAUS FISCHER, DITZINGEN (BAD.-WÜRTT.)<br />

UGR<br />

Nr. 48/2013, Bernhard Schlink, Bestsellerautor<br />

und SPD-Mitglied, warnt seine<br />

Partei vor der Koalition mit der Union<br />

Empfehlung zum Selbstmord<br />

Schlink irrt in seiner Annahme, es gebe<br />

eine linke Mehrheit. Es gibt sie nicht in<br />

der Bevölkerung, bei der Wahl kamen<br />

allein Union, FDP und AfD auf klar über<br />

50 Prozent der Stimmen. Es gibt sie auch<br />

nicht im Bundestag, denn aufgrund des<br />

knappen Vorsprungs an Mandaten müssten<br />

sich stramme Antikapitalisten der<br />

Linken mit Seeheimern der SPD und<br />

bürgerlichen Grünen verständigen. Diese<br />

Distanz ist ungleich größer als diejenige<br />

zwischen den Polen von Union und SPD.<br />

MALTE GYLLENSVÄRD, HAMBURG<br />

Eine überzeugende Analyse – aber leider<br />

nur bis zur Beantwortung der entscheidenden<br />

Frage. Mit einer dünnen Mehrheit und<br />

den bekannten Akteuren in der Linkspartei<br />

ist eine rot-rot-grüne Koalition heute<br />

eben doch ausgeschlossen. Da fehlt Schlink<br />

wohl die praktische Politikerfahrung.<br />

HARALD RENTSCH, LÜBECK<br />

Schlink empfiehlt meiner SPD den Selbstmord.<br />

Ein aus dem Hut zu zaubernder rotrot-grüner<br />

Kanzlerkandidat würde in den<br />

geheimen Wahlgängen scheitern.<br />

ANDREAS KNIPPING, EICHENAU (BAYERN)<br />

Wer hier einem Irrtum unterliegt, ist<br />

Schlink. Große Aufgaben wie Energiewende,<br />

soziale Gerechtigkeit, Mindestlohn<br />

und mehr erfordern die Zusammenarbeit<br />

der beiden Volksparteien.<br />

NIKOLAUS KOLLIN, MÜNCHEN<br />

Wenn die Führungen beider großer Fraktionen<br />

bereits auf dem Weg sind, im Interesse<br />

<strong>Deutschland</strong>s einen annehmbaren<br />

Kompromiss zu vereinbaren, können Sie<br />

doch nicht solch einem Querulanten die<br />

politische Bühne bereiten!<br />

HEIKO SCHILLING, HALLE (SACHS.-ANH.)<br />

Lieber Genosse Schlink, dein Plädoyer für<br />

eine rot-rot-grüne-Koalition ist wenig<br />

überzeugend. Einmal davon abgesehen,<br />

dass wir – völlig zu Recht – diese Koalition<br />

vor der Wahl ausgeschlossen haben, würde<br />

es beim besten Willen inhaltlich nicht<br />

reichen. Vom Rückhalt in der Bevölkerung<br />

ganz zu schweigen. Völlig unlogisch erscheint<br />

mir dein Einwand, dass wir bei<br />

Eintritt in eine GroKo bei der nächsten<br />

Bundestagswahl geradezu zwangsläufig<br />

mit einer Niederlage zu rechnen hätten.<br />

Das gilt doch nur für den Fall, dass „unsere<br />

Minister“ und „wir“ es nicht können. Wie<br />

wir es uns dann allerdings zutrauen sollten,<br />

einen bunten Haufen von Dunkelrot bis<br />

Hellgrün zu vernünftigem Regierungshandeln<br />

zu führen, bleibt dein Geheimnis.<br />

WOLFGANG ROSE, WEISSACH (BAD.-WÜRTT.)<br />

10<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Briefe<br />

Grundschülerin bei Schreibübung<br />

Nr. 48/2013, Warum viele Lehrer Grundschülern<br />

die Orthografie nicht mehr beibringen<br />

„Bund sind schon die Wälder“<br />

Was die Rechtschreibleistungen der angehenden<br />

Lehrer betrifft, bin auch ich<br />

manchmal entsetzt. Aber dies vor allem<br />

auf die verteufelte Methode zurückzuführen,<br />

halte ich für grob fahrlässig. Als Lehrerin<br />

weiß ich: Seit Jahren schon verliert<br />

die Rechtschreibung in den Lehrplänen<br />

an Bedeutung. Als Lehrbeauftragte an der<br />

Uni habe ich den Eindruck: Immer mehr<br />

Lehramtsstudenten sind dafür nicht geeignet.<br />

Das beginnt bei der unzureichenden<br />

Rechtschreibung und Zeichensetzung und<br />

endet auch bei den mangelnden sozialen<br />

und kommunikativen Fähigkeiten noch<br />

nicht. Es sind eben oft nicht die Besten,<br />

die in der Schule landen. Wir müssen dafür<br />

werben, dass sich das ändert.<br />

KARIN HEYMANN, WERTHER (NRW)<br />

Über Jahre habe ich beobachtet, wie viel<br />

Freude, Motivation und Kreativität durch<br />

die Methode „Lesen durch Schreiben“ gefördert<br />

werden kann. Und der individuelle<br />

Lernprozess, auf dessen Notwendigkeit<br />

heute mehr denn je hingewiesen wird,<br />

steht dabei im Zentrum. Dass die „Erwachsenensprache“<br />

beim Lesen der „Kindersprache“<br />

vorzuziehen ist, erkennen<br />

die Kleinen schnell, und sie sind umso<br />

mehr motiviert, Erstere zu lernen.<br />

SIGRID ARNDT, BERLIN<br />

Als Hausmeister einer Grundschule fand<br />

ich die Tafelnotiz einer Junglehrerin: „Zu<br />

Freitag Herbstlied üben: ,Bund sind schon<br />

die Wälder.‘“ Vor Entsetzen wäre mir bald<br />

mein Schlüsselbunt runtergefallen!<br />

GEORG MALKOWSKY, BOCKENEM (NIEDERS.)<br />

Wir Schul- und Lernpsychologen warnen<br />

schon lange vor den Folgen. Als ich einst<br />

den Autor der unseligen Mode, Herrn<br />

Reichen, auf einer Fortbildung fragte, wie<br />

er denn Kindern die Rechtschreibung der<br />

nichtlautgetreuen Worte (über 50 Prozent)<br />

vermitteln würde, sagte er tatsächlich,<br />

dass er sich damit nicht unbeliebt<br />

machen möchte. Die Kinder sollten dann<br />

halt mit einem Rechtschreibprogramm<br />

auf dem PC üben. So kann doch Chancen -<br />

gleichheit nicht hergestellt werden!<br />

DR. BRIGITTE THEWALT, ULM<br />

UTE GRABOWSKY<br />

Nr. 48/2013, Unfallursache Handy<br />

am Steuer<br />

Augen verbinden!<br />

Zehn Minuten an einer vielbefahrenen<br />

Straße reichen aus, um zu sehen, dass in<br />

sechs von zehn Autos der Fahrer ein<br />

Smartphone benutzt. Jedes Fahrzeug<br />

müsste so ausgestattet sein, dass Telefonate<br />

und andere Online-Verbindungen<br />

bei laufendem Motor nicht möglich sind.<br />

FRIEDHELM NEYER, SALACH (BAD.-WÜRTT.)<br />

Der Artikel hat mir die Augen geöffnet.<br />

Das Display bleibt ab sofort dunkel und<br />

der Blick auf den Verkehr gerichtet. Vielleicht<br />

sollte jeder, der sein Handy während<br />

der Fahrt benutzt, einen Test machen:<br />

Augen verbinden und dann zwei<br />

Sekunden fahren.<br />

DETLEF GARBERS, SINSHEIM (BAD.-WÜRTT.)<br />

Als Motorradfahrer graust es mir vor Leuten,<br />

die ihre Aufmerksamkeit dem Smart -<br />

phone widmen und nicht in der Lage sind,<br />

dieses auch mal zu ignorieren. Nach dem<br />

Lesen dieses Artikels werde ich das Motor -<br />

radfahren wohl einstellen.<br />

MICHAEL OWART, SALZHAUSEN (NIEDERS.)<br />

Nr. 48/2013, Über den schönen Traum von<br />

der Vereinbarkeit von Familie und Beruf<br />

Vor die Wand gefahren<br />

Sie bezeichnen Hausarbeiten als „sinnlose<br />

Tätigkeiten“. Eine Gesellschaft, die<br />

Nachhaltigkeit fordert, muss Hausarbeiten<br />

deutlich aufwerten – und sie zeitlich<br />

und finanziell auch angemessen ins Leben<br />

einplanen. Sonst verwahrlost sie endgültig<br />

unter einem Berg an Papptellern,<br />

Fast Food und Einwegunterhosen.<br />

DR. GABRIELA GÖTZ, NÜRNBERG<br />

Trotz guter Kinderbetreuung und Netzwerk<br />

hatte ich als berufstätige Mutter ein<br />

Burnout. Jeden Freiraum wollte ich mit<br />

Projekten füllen. Berauscht vom eigenen<br />

Ego und der Bewunderung anderer bin ich<br />

voll vor die Wand gefahren. Die Politik<br />

soll nicht aus ihrer Verantwortung ent -<br />

lassen werden, aber sie ist nur ein Teil der<br />

Lösung. Ein anderer ist, sich auf das<br />

Wesentliche zu konzentrieren.<br />

KATHRIN RITTER, SCHÖNEICHE (BRANDENB.)<br />

Ein Tipp: Ansprüche runterfahren, nicht<br />

perfekt sein und auch Dienstleister nutzen.<br />

Man muss vieles nicht; nicht täglich putzen,<br />

Kinder überbehüten et cetera. Dann<br />

fällt es auch leichter, den Dingen Priorität<br />

zu geben, die wirklich wichtig sind.<br />

CARLA GROSS, LEIPZIG<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit<br />

Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch<br />

zu veröffentlichen. Mail: leserbriefe@spiegel.de<br />

DER SPIEGEL 50/2013 13


Panorama<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

CDU<br />

Breitere Basis<br />

Als Reaktion auf den Mitgliederentscheid<br />

der SPD zum Koalitionsvertrag<br />

drängen nun auch führende<br />

CDU-Politiker darauf, die eigene<br />

Parteibasis künftig stärker einzubinden.<br />

EU-Kommissar Günther<br />

Oettinger, der auch im CDU-Präsidium<br />

sitzt, bringt sogar einen Mitgliederentscheid<br />

ins Gespräch, sollte<br />

die Union einmal ein Bündnis<br />

mit den Grünen im Bund eingehen<br />

wollen. Zwar könne man beim Koalitionsvertrag<br />

mit der SPD auf ein<br />

Basisvotum verzichten, da ein solches<br />

Bündnis den CDU-Mitgliedern<br />

vertraut sei. „Womöglich ist das<br />

anders, wenn es einmal um eine<br />

schwarz-grüne Koalition geht“, so<br />

Oettinger. Der stellvertretende Parteichef<br />

Thomas Strobl empfahl,<br />

über das nächste Wahlprogramm<br />

auf einem Parteitag abzustimmen.<br />

„Ich bin der Meinung, dass wir das<br />

auf eine breitere Basis stellen sollten“,<br />

sagte er. Unterstützung erhält<br />

er vom Chef der Unions-Mittelstandsvereinigung,<br />

Carsten Linnemann:<br />

„Wir halten jedes Jahr Bundesparteitage<br />

ab, doch ausgerechnet<br />

im Wahljahr haben wir darauf<br />

verzichtet. Damit haben wir es versäumt,<br />

die konkreten Inhalte unseres<br />

Wahlprogramms gemeinsam mit<br />

der breiten Parteibasis abzustimmen.“<br />

Die CDU-Führung will den<br />

Koalitionsvertrag am Montag auf<br />

einem kleinen Parteitag absegnen<br />

lassen.<br />

MIS / IMAGO<br />

Gauck (M., 3. v. r.) bei den Olympischen Sommerspielen in London 2012<br />

Oettinger<br />

JULIEN WARNAND / DPA<br />

OLYMPISCHE SPIELE<br />

Gauck boykottiert Sotschi<br />

Bundespräsident Joachim Gauck wird<br />

nicht zu den Olympischen Winterspielen<br />

nach Sotschi reisen. Dies teilte das<br />

Bundespräsidialamt der russischen Regierung<br />

in der vergangenen Woche mit.<br />

Die Absage ist als Kritik an den Menschenrechtsverletzungen<br />

und der<br />

Drangsalierung der Opposition in Russland<br />

zu verstehen. Die Olympischen<br />

Spiele und die Paralympics in London<br />

im Sommer 2012 hatte Gauck besucht.<br />

Vor den Winterspielen in Sotschi, die<br />

im Februar 2014 stattfinden, protestieren<br />

zahlreiche Sportler gegen ein Gesetz,<br />

das die Duma im Juni verabschiedet<br />

hatte. Es stellt die „Propaganda“ für<br />

Homosexualität gegenüber Minder -<br />

jährigen unter Strafe. Gauck ist daran<br />

gelegen, dass seine Absage nicht als<br />

Geringschätzung der Athleten gedeutet<br />

werden kann: Er will die deutschen<br />

Olympia-Teilnehmer am 24. Februar bei<br />

ihrer Rückkehr in München empfangen.<br />

Der Bundespräsident hat Russland seit<br />

seinem Amtsantritt im März 2012 noch<br />

keinen offiziellen Besuch abgestattet;<br />

mehrmals kritisierte er rechtsstaatliche<br />

Defizite sowie eine Behinderung kritischer<br />

Medien in dem Land. Ein für Juni<br />

2012 geplantes Treffen mit Gauck ließ<br />

Präsident Wladimir Putin platzen, angeblich<br />

aus Termingründen.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 17


KOALITIONSVERTRAG<br />

Mindestlohn – für fast alle<br />

Auszubildende in Leipzig<br />

Die Einigung der angehenden Koali -<br />

tion auf einen flächendeckenden Mindestlohn<br />

verunsichert die Wirtschaft.<br />

So wollen Verbandsvertreter geklärt<br />

wissen, ob die geplante Lohnuntergrenze<br />

von 8,50 Euro auch für Auszubildende<br />

gilt. Union und SPD hatten<br />

sich in der zuständigen Arbeitsgruppe<br />

ursprünglich auf einen Passus verständigt,<br />

nach dem der Mindestlohn nicht<br />

an Lehrlinge gezahlt werden soll.<br />

Diesen Absatz hatten sie aber aus<br />

der letzten Fassung des Koali -<br />

tionsvertrages gestrichen. „Die<br />

Unternehmen planen derzeit<br />

schon das nächste Ausbildungsjahr<br />

und brauchen deshalb schnell<br />

entsprechende Rechtssicherheit“,<br />

sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer<br />

des Handelsverbandes<br />

HDE. Bislang können sich die<br />

Unternehmen nur auf die Aussage<br />

einzelner Abgeordneter von Union<br />

und SPD berufen. Nach deren<br />

Interpretation sollten Lehrlinge<br />

von der Regelung ausgenommen<br />

werden. Umstritten ist in der<br />

Koali tion, ob es weitere Ausnahmen<br />

für Jugendliche geben wird.<br />

„Es ist beispielsweise eine Überlegung<br />

wert, ob der Mindestlohn<br />

auch für unter 25-Jährige gelten soll“,<br />

sagt Peter Weiß, der Vorsitzende der<br />

Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-<br />

Fraktion. „Alle Ausnahmen, die der<br />

Mindestlohn nötig macht, müssen wir<br />

im Gesetzgebungsverfahren klären.“<br />

Daher schreibe der Koalitionsvertrag<br />

fest, dass das Gesetz gemeinsam mit<br />

Arbeitgebern und Gewerkschaften erarbeitet<br />

werden und mögliche Probleme<br />

berücksichtigen soll.<br />

SEBASTIAN WILLNOW / DPA<br />

In der vergangenen Woche erhielten widerspenstige Sozialdemokraten<br />

Anrufe von einer Nummer der Berliner<br />

Parteizentrale. Sie wurden aufgefordert, ihren Widerstand<br />

gegen die Große Koalition aufzugeben und einfach<br />

mal beherzt ja zu sagen – und sei’s zum ersten Mal. Andernfalls,<br />

drohte der Anrufer, werde es nichts mit einer Karriere<br />

in der SPD. Offenbar ist die SPD-Führung in diesem Falle<br />

unschuldig. Nachdem sich ein angerufener<br />

Genosse beschwert und Generalsekretärin<br />

Andrea Nahles die Polizei eingeschaltet<br />

hatte, übernahm ein gewisses „Kommando<br />

Gerhard Schröder“ in einem Bekennerschreiben<br />

die Verantwortung für die Aktion.<br />

Das macht die Sache interessant.<br />

Natürlich ist die Idee von „Kommandos“<br />

in der deutschen Geschichte mit den Jahren<br />

ein wenig in Verruf geraten, und natürlich<br />

klingt es erst mal fies, wenn idealistische<br />

Jusos oder andere von inneren Überzeugungen<br />

gehemmte Sozialdemokraten telefonisch<br />

unter Druck gesetzt werden. Die<br />

Grundidee aber hat Charme. Beherzt fortgeführt,<br />

könnte sie helfen, dieser aufmüpfigen<br />

Vereinigung nach 150 Jahren innerparteilicher<br />

Meinungsfreiheit endlich so etwas wie Disziplin zu<br />

verpassen. Es kann ja nicht angehen, dass Parteimitglieder<br />

ihrer Führung ständig die Gefolgschaft verweigern, nur weil<br />

sie eine andere Meinung haben. Die Mitglieder von CDU<br />

und CSU haben das längst begriffen und verzichten auf solchen<br />

Mumpitz. Der deutsche Wähler weiß das zu schätzen.<br />

Das „Kommando Gerhard Schröder“ könnte ein Anfang<br />

TREIBHAUS BERLIN<br />

Kommando<br />

Müntefering<br />

sein. Der Name ist jedenfalls gut gewählt. Kaum jemand hat<br />

unter der Widerspenstigkeit des gemeinen Genossen stärker<br />

gelitten als der frühere Kanzler, dessen Agenda-Reformen<br />

viele Sozialdemokraten bis heute die Gefolgschaft verweigern.<br />

Das Kommando kämpft somit auch für die Befreiung<br />

der SPD von ihrem schlechten Gewissen, was ebenfalls verdienstvoll<br />

ist, denn ohne Gewissen lebt es sich leichter.<br />

Vermutlich aber ist ein einzelnes Kommando<br />

zu wenig, um echte Genossen endlich<br />

zu Vernunft, Disziplin und marktkonformen<br />

Überzeugungen zu verleiten. Es<br />

brauchte mehr Drohanrufe, es brauchte<br />

beherzte Nachahmer. Denkbar wäre ein<br />

„Kommando Wolfgang Clement“ mit der<br />

Forderung, endlich den Widerstand gegen<br />

prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufzugeben,<br />

getreu dem alten Clement-Motto:<br />

Mehr Bangladesch wagen! Am Ende des<br />

Telefonats dürfte der Hinweis nicht fehlen,<br />

dass Clement jederzeit wieder in die SPD<br />

eintreten könne.<br />

Hilfreich wäre zudem ein „Kommando<br />

Franz Müntefering“ mit dem Auftrag, den<br />

Widerstand gegen eine demografiekonforme<br />

Rentenpolitik zu brechen und die Rente mit 76 salonfähig<br />

zu machen. Das Bekennerschreiben ließe sich stilecht mit<br />

dem Modell von Münteferings alter Reiseschreibmaschine<br />

tippen. Als letzte Eskalationsstufe könnte dann das „Kommando<br />

Peer Steinbrück“ aktiv werden. Dessen Drohung würde<br />

jeden Genossen zur Räson bringen: eine erneute Kanzlerkandidatur<br />

des Namensgebers. Markus Feldenkirchen<br />

18<br />

DER SPIEGEL 50/2013


VERTEIDIGUNG<br />

Marine fehlt Nachwuchs<br />

Die Seestreitkräfte der Bundeswehr<br />

müssen auch in den kommenden Jahren<br />

mit Nachwuchsproblemen rechnen.<br />

„Die Personallage der Marine<br />

wird auch in der mittelfristigen Perspektive<br />

(bis 2017) voraussichtlich<br />

durch eine Unterdeckung bestimmt<br />

bleiben“, so ein Sprecher der Marine.<br />

Im Jahr 2013 fehlen rund 1000 bis 1500<br />

Soldaten. Besonders groß sei der Mangel<br />

bei den Fachunteroffizieren, speziell<br />

in den technisch orientierten<br />

Verwendungen. Damit setzt sich das<br />

Problem der letzten Jahre fort. In der<br />

Vergangenheit habe die Marine „zwischen<br />

75 und 90 Prozent“ des Bedarfs<br />

decken können, so der Sprecher. Der<br />

Marine-Inspekteur Axel Schimpf hatte<br />

vorige Woche auf einem Sicherheitskongress<br />

in Berlin von seinen ernst -<br />

haften Sorgen berichtet. Die Lage sei<br />

so schlecht, dass es bei weitem nicht<br />

mehr ausreiche, in den nördlichen<br />

Bundesländern nach Personal zu<br />

suchen. Besserung soll die „Personal -<br />

offensive Marine“ bringen, die in diesem<br />

Jahr gestartet wurde.<br />

Nachbarländern*<br />

* OECD-Durchschnitt: ca. 500<br />

2003 2006 2009 2012<br />

538<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Ergebnis der Pisa-Studie<br />

im Fach Mathematik<br />

in <strong>Deutschland</strong> und den<br />

529<br />

527<br />

516<br />

514<br />

511<br />

506<br />

503<br />

493<br />

490<br />

keine<br />

Angabe<br />

531<br />

523<br />

518<br />

515<br />

514<br />

Schweiz<br />

Niederlande<br />

Polen<br />

Belgien<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

506 Österreich<br />

500<br />

499<br />

495<br />

Quelle: OECD<br />

Dänemark<br />

Tschechien<br />

Frankreich<br />

490 Luxemburg<br />

Matrosen auf dem Marine-Schulschiff „Gorch Fock“<br />

MAURIZIO GAMBARINI / DPA<br />

PISA<br />

Abgucken, aber richtig<br />

Man kennt das aus der Schule: Wenn’s<br />

nicht klappt mit der Mathe-Aufgabe,<br />

kann ein schneller Blick zum Nachbarn<br />

helfen – vielleicht weiß der ja<br />

mehr. Von wem aber kann das deutsche<br />

Schulsystem lernen, wer ist der<br />

Streber unter den neun Nachbarstaaten?<br />

Die jüngste Pisa-Studie, die wie<br />

immer 15-jährige Schüler in den Blick<br />

nahm, lieferte vorige Woche neue Erkenntnisse.<br />

Der Schwerpunkt lag auf<br />

Mathematik, und die deutschen Schüler<br />

haben sich innerhalb eines knappen<br />

Jahrzehnts verbessert. Polen ist<br />

aufgestiegen, die Niederlande sind zurückgefallen,<br />

Klassenprimus ist die<br />

Schweiz. Wie es in <strong>Deutschland</strong> weiter<br />

vorwärtsgehen könnte, erklärt in dieser<br />

Ausgabe Wulf Homeier, der erste<br />

Deutsche an der Spitze der Vereinigung<br />

europäischer Schulinspektorate<br />

(siehe Interview Seite 46).<br />

KRIMINALITÄT<br />

Bombenleger verhaftet?<br />

Der mutmaßliche Bombenleger vom<br />

Ammersee ist gefasst: Die Staats -<br />

anwaltschaft Traunstein ließ einen<br />

51-jährigen Österreicher mit Wohnsitz<br />

in <strong>Deutschland</strong> verhaften. Er soll im<br />

März den Anschlag auf eine Angehörige<br />

eines angeblichen Anlagebetrügers<br />

in Herrsching am Ammersee verübt<br />

haben. Unter dem Auto der Frau waren<br />

ein Brandsatz und eine Bombe<br />

deponiert worden; zur Explosion kam<br />

es nicht. Der Brand wurde schnell entdeckt<br />

und gelöscht. Die Aktion wird<br />

als Einschüchterungsversuch gegen<br />

Christian H. gewertet, der mit der Firma<br />

APL Tausende Anleger um insgesamt<br />

rund 138 Millionen Euro gebracht<br />

haben soll. Spanische Ermittler hatten<br />

die Rockertruppe Hells Angels der Tat<br />

verdächtigt. Der nun verhaftete Österreicher<br />

hat allerdings laut Staatsanwalt<br />

Andreas Miller „rein gar nichts“ mit<br />

den Rockern zu tun. Der Verdächtige<br />

habe sich bislang nicht zu den Vorwürfen<br />

geäußert.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 19


<strong>Deutschland</strong><br />

Papst Franziskus (l.), Tebartz-van Elst (r.)<br />

KATHOLIKEN<br />

Limburger Bischof muss warten<br />

Franz-Peter Tebartz-van Elst, Bischof von Limburg, lebt derzeit bekanntlich außerhalb<br />

seines Bistums. „In Erwartung der Ergebnisse“ einer Untersuchungskommission<br />

zu dem umstrittenen Bauvorhaben in Limburg hatte ihn der Papst im Oktober<br />

vorübergehend ins Exil geschickt. Das könnte länger dauern als gedacht: Die<br />

Kommission wird ihren Abschlussbericht doch nicht bereits im Januar 2014 vorlegen.<br />

Kommissionsmitglieder rechnen mit einem Ergebnis frühestens zu Ostern,<br />

womöglich erst zum Sommerbeginn. Die Verzögerung ist auf eine unerwartet große<br />

Zahl von Rechnungen und Unterlagen zurückzuführen, die zu prüfen sind.<br />

Tebartz-van Elst war wegen des auf mindestens 31 Millionen Euro veranschlagten<br />

Baus heftig kritisiert worden. Die Verwaltung des Bistums wurde im Oktober auf<br />

den Generalvikar übertragen; der Bischof hält sich in einem bayerischen Kloster<br />

auf. Die Kommission wurde von der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzt und<br />

steht unter der Leitung des Paderborner Weihbischofs Manfred Grothe. Sie soll<br />

nicht nur die Kosten begutachten, sondern auch untersuchen, wer für die Entscheidungen<br />

verantwortlich war.<br />

OSSERVATORE ROMANO / KNA<br />

Panorama<br />

LOBBYISMUS<br />

Merkwürdige Spende<br />

Zuerst die Spende an die Partei, dann<br />

die Rede des Staatsministers – ein Auftritt<br />

von Eckart von Klaeden wirft Fragen<br />

auf. Die Berenberg Bank zahlte<br />

im August 15 000 Euro an den CDU-<br />

Kreisverband Hildesheim, dem Klaeden<br />

angehört. Wenige Wochen später<br />

reiste Klaeden in seiner damaligen<br />

Funktion als Staatsminister zu einem<br />

Kongress der Hamburger Privatbank<br />

nach München und hielt eine Rede.<br />

Anschließend besuchte er auf Einladung<br />

der Bank das Oktoberfest und<br />

übernachtete in einem Hotel in Unterschleißheim.<br />

Das Kanzleramt erklärte,<br />

Klaeden habe die Rede „unentgeltlich<br />

gehalten“. Die Reisekosten seien über<br />

das Kanzleramt abgerechnet worden.<br />

Da jedoch nur wenige Wochen zwischen<br />

der Spende und dem Auftritt liegen,<br />

drängt sich der Verdacht auf, dass<br />

Klaedens Engagement als Gegenleistung<br />

erfolgte. Klaeden bestreitet diesen<br />

Vorwurf energisch. Über seinen<br />

Anwalt lässt er ausrichten, dass die<br />

Rede auf der Investorenkonferenz „in<br />

keinerlei Zusammenhang mit einer<br />

Spende“ gestanden habe. Klaeden arbeitet<br />

inzwischen als Lobbyist für<br />

Daimler. Zum Zeitpunkt der Spende<br />

war die CDU in seinem Heimatwahlkreis<br />

dringend auf finanzielle Hilfe angewiesen.<br />

Neben dem kostspieligen<br />

Bundestagswahlkampf musste die Partei<br />

die Kampagne für einen parteilosen<br />

Oberbürgermeisterkandidaten mitfinanzieren.<br />

Zudem stand Klaeden in<br />

seinem Landesverband unter Druck.<br />

Parteifreunde machten den damaligen<br />

CDU-Kreisvorsitzenden für den Verlust<br />

eines wichtigen Wahlkreises bei<br />

der Landtagswahl verantwortlich.<br />

JEMEN<br />

Zwei Morde, eine Waffe<br />

Das Bundeskriminalamt (BKA) geht<br />

dem Verdacht nach, dass ein Qaida-<br />

Kommando im Jemen Jagd auf Ausländer<br />

macht. Hintergrund sind mehrere<br />

Morde und Entführungsversuche.<br />

BKA-Ermittler reisten nach Sanaa, um<br />

unter anderem neue Hinweise im<br />

Mordfall des deutschen Personenschützers<br />

Mirko K. zu prüfen. Sie sichteten<br />

Videoaufnahmen aus dem Supermarkt,<br />

in dem der Bundespolizist am 6. Ok -<br />

tober zusammen mit einem Kollegen<br />

20<br />

eingekauft hatte, bevor er von Unbekannten<br />

erschossen wurde. Inzwischen<br />

gehen die Fahnder davon aus,<br />

dass der 39-Jährige entführt werden<br />

sollte und versuchte zu fliehen. Auf<br />

dem Parkplatz vor dem Geschäft traf<br />

ihn eine Kugel von hinten in den Kopf.<br />

Die bei dem Angriff verwendete Waffe<br />

wurde vermutlich auch bei einem<br />

Anschlag auf zwei Militärexperten aus<br />

Weißrussland eingesetzt. Ein Schütze<br />

auf einem Motorrad erschoss einen<br />

der Männer vor deren Hotel in Sanaa.<br />

Der zweite wurde verletzt. Es gebe Indizien<br />

dafür, dass es sich in beiden Fällen<br />

um dieselbe Tatwaffe handle, erklärte<br />

ein hochrangiger Ermittler. Das<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

BKA prüft zudem, ob zwei Entführungsversuche<br />

von saudi-arabischen<br />

und katarischen Diplomaten auf das<br />

Konto der Angreifer gehen. Die Bundesregierung<br />

hat alle Entwicklungshelfer<br />

aus dem Jemen abgezogen. Auch<br />

die Bundespolizei will ihre Beamten<br />

zurückholen, doch das Auswärtige<br />

Amt lehnt eine Schließung der Botschaft<br />

bislang ab. Bei einem Angriff<br />

auf das jemenitische Verteidigungsministerium<br />

waren am vorigen Donnerstag<br />

mindestens 52 Menschen ums Leben<br />

gekommen, darunter zwei deutsche<br />

Mitarbeiter der Gesellschaft für<br />

Internationale Zusammenarbeit und<br />

deren einheimischer Fahrer.


<strong>Deutschland</strong><br />

Ukrainischer Präsident Janukowitsch (2. v. l.), Kanzlerin Merkel (2. v. r.)*: Kampf um Einflusszonen in Osteuropa<br />

EUROPA<br />

Ein Profi für Runde zwei<br />

Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der<br />

deutschen Kanzlerin. Die erste Runde ging an Putin. Aber Merkel und die<br />

Europäer bauen den Profiboxer Vitali Klitschko zu ihrem neuen starken Mann auf.<br />

22<br />

Dass Angela Merkel und Wiktor Janukowitsch<br />

in diesem Leben keine<br />

Freunde mehr werden, stand<br />

am Donnerstag vor acht Tagen auch dem<br />

Letzten vor Augen. Da saßen die beiden<br />

zusammen mit Staats- und Regierungschefs<br />

der Europäischen Union und Osteuropas<br />

im ehemaligen Palast des Großfürsten<br />

von Litauen an einer festlichen<br />

Tafel, mitten im vorweihnachtlich geschmückten<br />

Vilnius. Man war noch nicht<br />

* Mit ihren Delegationen am 29. November bei einem<br />

Treffen in Vilnius.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

bei der getrüffelten Pastete angekommen,<br />

da startete der ukrainische Präsident in<br />

einen kurvenreichen Monolog über die<br />

schwierigen Beziehungen seines Landes<br />

zu Europa einerseits und Russland andererseits.<br />

Doch irgendwo im Andererseits<br />

ging die Kanzlerin dazwischen. Man kön-


ne das hier auch abkürzen, lieber Herr<br />

Janukowitsch, sagte die Kanzlerin, und<br />

der armenische Staatschef neben ihr<br />

schaute überrascht hoch. „Sie unterschreiben<br />

ja doch nicht.“<br />

Vor zehn Tagen hat die Europäische<br />

Union die jüngste Runde im Kampf um<br />

die Ukraine gegen Russland verloren. Zugespitzt:<br />

Kanzlerin Merkel hat sie gegen<br />

den russischen Präsidenten Wladimir Putin<br />

verloren, der Russe hat gegen die<br />

Deutsche durch technischen K.o. gesiegt.<br />

Mit einer Mischung aus unverhohlenem<br />

Druck und süßen Versprechungen hatte<br />

Putin den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch<br />

innerhalb weniger Wochen auf<br />

Linie gebracht: Beim EU-Osteuropa-Gipfel<br />

in Litauens Hauptstadt Vilnius unterschrieb<br />

Janukowitsch das lange verhandelte<br />

Assoziierungsabkommen mit der<br />

EU nicht. Sein Land ist bis auf weiteres<br />

Teil jenes Blocks russischer Anrainerstaaten,<br />

die Putin zu einer Art russischem Imperium<br />

zusammenfügen will – von Wladiwostok<br />

bis an die Ostgrenze der EU.<br />

„Die Tür für die Ukraine bleibt offen“,<br />

betonte Merkel nach der Pleite mehrfach.<br />

Man sei weiterhin gesprächsbereit. Das<br />

klang nach mühsamer Gesichtswahrung,<br />

wie sie nach Niederlagen üblich ist. Aber<br />

es heißt auch: Die Geschichte ist noch<br />

nicht zu Ende. Und die Kanzlerin will<br />

vor der nächsten Runde eine neue Figur<br />

ins Spiel bringen: Vitali Klitschko. Der<br />

zwei Meter große Profiboxer soll zum<br />

proeuropäischen Gegner des russland -<br />

orientierten Janukowitsch aufgebaut werden<br />

– und am Ende das Abkommen mit<br />

den Europäern doch noch unterschreiben.<br />

„Regime Change“ wäre als Begriff wohl<br />

zu hoch gegriffen, aber ein bisschen geht<br />

es doch darum: Merkels CDU und die europäische<br />

konservative Parteienfamilie<br />

EVP haben Klitschko auserkoren, das<br />

ukrainische Nein von innen aufzuweichen.<br />

Er soll die Opposition einen und<br />

IMAGO<br />

anführen, auf der Straße, im Parlament<br />

und schließlich bei der Präsidentenwahl<br />

2015. „Klitschko ist unser Mann“, heißt<br />

es in hohen EVP-Kreisen. „Der hat eine<br />

klar europäische Agenda“ – und Merkel<br />

noch eine Rechnung offen mit Putin.<br />

Hinter den Kulissen läuft die Arbeit.<br />

Klitschkos junge Partei „Udar“ ist seit<br />

kurzem beobachtendes Mitglied der konservativen<br />

EVP-Parteienfamilie. EVP-Büros<br />

in Brüssel und Budapest schulen Udar-<br />

Personal für die parlamentarische Arbeit,<br />

unterstützen beim Aufbau einer landesweiten<br />

Parteistruktur. Eine wichtige Rolle<br />

spielt auch die Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

der CDU, um ihre Hilfe hat Klitschko Vertraute<br />

der Kanzlerin ausdrücklich gebeten.<br />

In der vorvergangenen Woche waren<br />

vier Udar-Abgeordnete in Berlin zu Gast.<br />

Die Parlamentarier trafen unter anderem<br />

mit Bundestagsabgeordneten der Union<br />

und Beamten aus dem Arbeits- und dem<br />

Justizministerium zusammen. Die CDUnahe<br />

Parteistiftung bereitet seit einiger<br />

Zeit ukrainische Oppositionspolitiker im<br />

Rahmen eines „Dialog-Programms“ auf<br />

die Übernahme von Verantwortung vor.<br />

Im Zentrum steht aber Klitschko selbst.<br />

Seit einiger Zeit schon trifft sich der<br />

Ukrainer mit Kanzleramtsminister Ronald<br />

Pofalla, der sich seit vielen Jahren<br />

um osteuropäische Oppositionelle kümmert,<br />

besonders im autoritär geführten<br />

Weißrussland. Aus zahllosen Gesprächen<br />

weiß Pofalla, wie dortige Regime Oppositionelle<br />

kleinkriegen, wenn die zu prominent<br />

oder einflussreich werden: Diffamierung,<br />

Schikanen im Alltag, wahllose<br />

Verhaftung, Schauprozesse und Trennung<br />

von der eigenen Familie. Pofalla hat im<br />

Laufe der Zeit verfolgt, wie auf diese Art<br />

kritische Geister in osteuropäischen Staaten<br />

gebrochen wurden. Er hat Klitschko<br />

manchen Tipp gegeben, und der Polit-<br />

Laie Klitschko hat Pofalla um Rat gefragt:<br />

Wie soll er beispielsweise mit Gerüchten<br />

über „Frauengeschichten“ umgehen, die<br />

offenbar von der ukrainischen Regierung<br />

gestreut werden, um ihn im Land unmöglich<br />

zu machen?<br />

Auf die diskrete Hilfe Pofallas und der<br />

Bundesregierung kann Klitschko auch<br />

hoffen, wenn es um die Präsidentenwahl<br />

2015 geht. Seiner Kandidatur steht ein<br />

mutmaßlich eigens auf ihn zugeschnittenes<br />

Gesetz entgegen, wonach ein Bürger<br />

mit einer Aufenthaltserlaubnis in anderen<br />

Ländern nicht als Bewohner der Ukraine<br />

gilt. Damit kann Klitschko nicht nachweisen,<br />

vor der Wahl zehn Jahre in der<br />

Ukraine gelebt zu haben, was nach der<br />

Verfassung Voraussetzung für eine Kandidatur<br />

wäre. Er darf sich aber sicher sein,<br />

dass sich die Kanzlerin bei Präsident Janukowitsch<br />

dafür einsetzen will, an diesem<br />

Gesetz Klitschkos Kandidatur nicht<br />

scheitern zu lassen.<br />

Dazu muss man den Profiboxer aber<br />

vor aller Augen, in der Ukraine wie im<br />

DER SPIEGEL 50/2013 23


<strong>Deutschland</strong><br />

Ausland, als ernstzunehmenden Politiker<br />

aufbauen. Und genau das geschieht.<br />

Außenminister Guido Westerwelle<br />

zeigte sich Mitte der Woche demonstrativ<br />

mit Klitschko vor der Menge der Demon -<br />

stranten in Kiew. Er kennt den Boxer von<br />

verschiedenen Galaveranstaltungen in<br />

<strong>Deutschland</strong>, hat seinen Besuch mit zahlreichen<br />

Telefonaten vorbereitet und bei<br />

EU-Amtskollegen abgesichert. Trotzdem<br />

ist der Gang auf dem Unabhängigkeitsplatz<br />

ein heikler Moment. Die Menge will<br />

inzwischen den Sturz Janukowitschs,<br />

aber dazu kann Westerwelle als westlicher<br />

Politiker nicht aufrufen. Er belässt<br />

es bei allgemeinen Appellen zur europäischen<br />

Zukunft des Landes – und etlichen<br />

Fotos an der Seite Klitschkos.<br />

Beim Vortreffen der konservativen<br />

Staats- und Regierungschefs in Vilnius<br />

vor zehn Tagen war Klitschko dabei, er<br />

diskutierte bis spät abends mit wichtigen<br />

Abgeordneten des Europäischen Parlaments.<br />

Einen Termin direkt mit Merkel<br />

bekam er da noch nicht, sie schickte ihren<br />

außenpolitischen Berater Christoph Heusgen<br />

für eine spontanes Gespräch mit<br />

Klitschko vor.<br />

Aber beim nächsten EU-Gipfel Mitte<br />

Dezember will Merkel am EVP-Vortreffen<br />

teilnehmen – und nach jetziger Planung<br />

wird Klitschko wieder eingeladen<br />

sein. Dieses Mal soll es für ihn offizielle<br />

Fotos mit den Regierungschefs geben,<br />

auch ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin.<br />

Politisch würde das eine große Aufwertung<br />

für Klitschko und eine wichtige<br />

Festlegung für Angela Merkel bedeuten.<br />

Sie hat sich offenkundig beeindrucken<br />

lassen von den Berichten ihrer Vertrauten,<br />

unter anderen Pofalla, Heusgen und<br />

der langjährige Außenpolitiker im Europäischen<br />

Parlament, Elmar Brok (CDU).<br />

Sie schildern Vitali Klitschko unisono als<br />

eine Art Gegenentwurf zu den„typischen“<br />

ukrainischen Politikern, die sich<br />

im Parlament von Kiew mehrfach in der<br />

Vergangenheit zu handfesten Raufereien<br />

hinreißen ließen. Klitschko äußere sich<br />

stets entschlossen, aber besonnen, so das<br />

Fazit. Die politische Lage in seinem Land<br />

stelle er sehr differenziert dar, „sehr europäisch“<br />

– und verzichte auf alle großspurigen<br />

Töne. Klitschko gilt als integer<br />

und allem Anschein nach frei von Korruption.<br />

Besonders hoch wird dem Zweimetermann<br />

sein couragiertes Auftreten bei einer<br />

Demonstration am vorvergangenen<br />

Sonntag angerechnet, die in Kiew aus<br />

dem Ruder zu laufen drohte. Aus den<br />

Reihen der Demonstranten wurde die<br />

aufmarschierende Polizei attackiert und<br />

bedrängt. Da griff sich Klitschko ein<br />

Megafon und rief: „Seid ihr irre, das<br />

sind doch bestellte Provokateure.“ Dar -<br />

aufhin verzogen sich die Krawallmacher.<br />

„Da hat er persönlich sehr viel riskiert“,<br />

heißt es in Berliner Regierungskreisen<br />

24<br />

anerkennend. „Er hatte die Menge schnell<br />

im Griff.“<br />

Aber kann Klitschko auch die notorisch<br />

zerstrittene Opposition einen, die vor<br />

allem aus seiner eigenen Udar-Partei besteht,<br />

der Vaterlandspartei der inhaftierten<br />

Julija Timoschenko und der rechts -<br />

nationalen Freiheitspartei? Die Klitschko-<br />

Unterstützer in EVP und Bundesregierung<br />

hoffen darauf, dass spätestens 2015<br />

bei der Präsidentenwahl nur ein gemeinsamer<br />

Kandidat gegen Amtsinhaber Janukowitsch<br />

antritt – und gewinnt. Dann<br />

hätte Kanzlerin Merkel ihr Etappenziel<br />

erreicht: eine proeuropäische Führung<br />

Staatschef Putin<br />

Träume von einem großen Russland<br />

der Ukraine. Das eigentliche Rückspiel<br />

könnte beginnen, das um eine Neuordnung<br />

der Beziehungen der Europäischen<br />

Union mit Osteuropa. Das gegen Wladimir<br />

Putin.<br />

Der erste große Anlauf zu dieser neuen<br />

„Östlichen Partnerschaft“ war vor zehn<br />

Tagen in Vilnius krachend gescheitert. Putin<br />

hatte sich vor dem EU-Gipfel mehrere<br />

Male mit Janukowitsch getroffen. Was er<br />

ihm ganz genau anbot, ist nicht bekannt.<br />

Die Rede ist von Krediten und Preisnachlässen<br />

bei Gas in Milliardenhöhe. Außerdem<br />

hatte Russland die Handelsbeziehungen<br />

zur Ukraine schon im Sommer eingeschränkt,<br />

was für das Land massive<br />

wirtschaftliche Verluste bedeutete – besonders<br />

im russisch geprägten Osten des<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

IMAGO<br />

Landes, wo Janukowitsch seine Wählerbastionen<br />

hat. Vor allem dürfte aber die<br />

Drohung, die Gaslieferungen zu drosseln,<br />

gewirkt haben. Der Staatschef eines anderen<br />

Nachbarlandes der Russen ließ<br />

Kanzlerin Merkel beim Abendessen in<br />

Vilnius wissen, dass man in so einer Lage<br />

nur noch eines entscheiden könne: Entweder<br />

etliche Millionen der eigenen Bürger<br />

verbringen den Winter in kalten,<br />

dunklen Wohnungen – oder man tue, was<br />

der Kreml möchte.<br />

Dagegen konnte – und wollte – die EU<br />

nicht an. Das Assoziierungsabkommen<br />

mit der Ukraine hätte dem Land nach<br />

Brüsseler Schätzung zwar zusätzliches<br />

Wirtschaftswachstum bescheren können,<br />

aber nicht von einem Tag auf den anderen.<br />

Frische Kredite an die Ukraine konnte<br />

die EU nicht ohne weiteres garantieren,<br />

schon gar nicht solche des Internationalen<br />

Währungsfonds, wie sie Janukowitsch<br />

sich so dringend wünscht. Außerdem sei<br />

der Vorschlag inakzeptabel gewesen,<br />

Russland bei weiteren Verhandlungen mit<br />

an den Tisch zu holen. „Dreier-Gespräche<br />

lehnen wir ab“, wird Merkel aus kleinem<br />

Kreis zitiert.<br />

Ergebnis: Der ukrainische Präsident<br />

sah sich in eine „Entweder-oder-Lage“<br />

manövriert, entweder Russland oder die<br />

EU. Und entschied sich vorerst für Wladimir<br />

Putin.<br />

<strong>Deutschland</strong> und andere große EU-<br />

Staaten hatten zuletzt zwar versucht, diesen<br />

Showdown zu vermeiden. Das Assoziierungsabkommen<br />

enthielt ausdrücklich<br />

keine sogenannte Beitrittsperspektive für<br />

die Ukraine – auch um Russland nicht unnötig<br />

zu provozieren. Man hoffte, dass<br />

Moskau gegen losere Formen der Partnerschaft<br />

von EU und Ukraine keine Einwände<br />

haben würde.<br />

Doch Wladimir Putin hatte einen Strich<br />

durch diese Rechnung gemacht. Und den<br />

Europäern fiel es zu spät auf.<br />

Schon im Oktober 2011 schlug Putin<br />

eine „Eurasische Union“ aus Ländern auf<br />

dem Gebiet der früheren Sowjetunion<br />

vor. Als Vorstufe gibt es bereits eine eurasische<br />

Zollunion, der nach dem Willen<br />

Putins auch die Ukraine beitreten soll.<br />

Die Ukraine reagierte zunächst wenig begeistert,<br />

aber von diesem Moment an war<br />

klar, dass Kiew nicht gleichzeitig in einer<br />

Zollunion mit Russland und einer Freihandelszone<br />

mit der EU würde Mitglied<br />

sein können. Die Konsequenzen dieser<br />

Frage für die Haltung Kiews wurde in<br />

Brüssel wohl unterschätzt.<br />

Dabei geht es im Kampf um Kiew um<br />

viel mehr als freien Warenaustausch am<br />

östlichen Rand der Europäischen Union.<br />

Fast 25 Jahre nach dem Ende des Kalten<br />

Kriegs geht es darum, wer es schafft, die<br />

früheren Sowjetrepubliken der Region in<br />

seinen Einflussbereich zu ziehen. Es geht<br />

um Geopolitik, um das „Grand Design“,<br />

wie es die Experten gern nennen. Und


es geht – ob die Kanzlerin nun will oder<br />

nicht – um Angela Merkel und Wladimir<br />

Putin ganz persönlich.<br />

Über kaum einen internationalen Politiker<br />

kann die Kanzlerin so ausführlich<br />

rätseln und räsonieren. Ob Putin mit<br />

nacktem Oberkörper für Fotografen posie -<br />

re, Nachbarstaaten mit russischen Rohstofflieferungen<br />

erpresse oder wie jetzt<br />

an einem großrussischen Wirtschaftsraum<br />

arbeite – stets sei der Antrieb der gleiche:<br />

eine Mischung aus Selbstzweifel, Sehnsucht<br />

nach gewesener Größe und verletztem<br />

Stolz. Merkel sieht in ihrem Gegenüber<br />

einen ebenso entschlossenen wie<br />

komplexbeladenen Politiker: den Staatschef<br />

eines Landes, das erkennbar vom<br />

Tempo der Globalisierung überfordert ist<br />

und seinen Platz in der Weltordnung verloren<br />

hat, weil die Weltordnung längst<br />

eine andere, kompliziertere ist. Ohne<br />

straff und zentral kommandierte Blöcke,<br />

ohne Atomwaffen als die zentrale Währung<br />

von Einfluss und Macht.<br />

Merkels Vorgänger Gerhard Schröder<br />

wollte in Putin einen „lupenreinen Demokraten“<br />

erkennen. Und anfangs sah<br />

es die Kanzlerin gar nicht viel anders, nur<br />

skeptischer. Putin müsse geholfen werden,<br />

sein Land zu modernisieren und zu demokratisieren,<br />

Schritt für Schritt – und<br />

nicht immer zu messen an westeuropäischen<br />

Standards. Das war vor acht Jahren<br />

ihre Losung, heute ist Merkel davon weit<br />

entfernt. Sie scheint die Hoffnung aufgegeben<br />

zu haben, dass Putin Demokratie<br />

und Marktwirtschaft wirklich will – und<br />

nicht längst die Wiederherstellung einer<br />

straff aus dem Kreml geführten russischen<br />

Einflusszone, mit der sich demokratischer<br />

Pluralismus nicht verträgt.<br />

In diesem „Grand Design“ des Kreml-<br />

Chefs aber ist die Ukraine der zentrale<br />

Baustein. Ohne das Land hätte Moskau<br />

keinen Arm, der nach Mitteleuropa reicht.<br />

Mit der Ukraine dagegen könnte Putin<br />

weiter davon träumen, den ehemaligen<br />

Weltmachtstatus Moskaus zumindest teilweise<br />

wiederherzustellen.<br />

Und sosehr es typisch für Angela Merkel<br />

wäre, die „Entweder-oder“-Zwickmühle<br />

für die Ukraine aufzulösen, um einen<br />

gangbaren Weg mit Russland zu finden,<br />

ahnt sie dennoch: Solange Wiktor<br />

Janukowitsch an der Spitze der Ukraine<br />

steht, wird daraus nichts. Und wenn er<br />

eines Tages abgelöst ist, wartet da ja noch<br />

Wladimir Putin. Der träumt von einem<br />

großen Russland und würde den Ausgang<br />

des Kalten Kriegs, den Zerfall der So -<br />

wjetunion, am liebsten rückgängig machen.<br />

NIKOLAUS BLOME, MATTHIAS GEBAUER,<br />

RALF NEUKIRCH<br />

Lesen Sie weiter zum Thema:<br />

Seite 94: Die Wütenden von Kiew.<br />

Seite 96: Polens Ex-Präsident Kwaśniewski kritisiert<br />

im SPIEGEL-Gespräch die Fehler der EU und<br />

den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch.<br />

26<br />

PETER ROGGENTHIN / DER SPIEGEL<br />

SPIEGEL-GESPRÄCH<br />

„Halt den Mund“<br />

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, 64 (CSU),<br />

über das raue Verhältnis zwischen Politik und Medien und<br />

die Frage, warum er seine Parteikollegen öffentlich maßregelt<br />

SPIEGEL: Herr Seehofer, der SPD-Kanzlerkandidat<br />

Peer Steinbrück hat, nachdem<br />

er im Wahlkampf sehr hart kritisiert wurde,<br />

den Journalisten öffentlich den Stinkefinger<br />

gezeigt. Können Sie ihn ver -<br />

stehen?<br />

Seehofer: Nicht den Stinkefinger. Aber<br />

die Kritik an Journalisten schon.<br />

SPIEGEL: Momentan klagen viele Politiker<br />

darüber, dass sie von den Medien schlecht<br />

behandelt würden. Sie sind seit mehr als<br />

drei Jahrzehnten im Geschäft. Was hat<br />

sich zwischen Politikern und Journalisten<br />

verändert?<br />

Seehofer: Es gibt einen Qualitätsverlust in<br />

manchen Medien. Und die Herabsetzung<br />

von Politikern und Parteien nimmt zu.<br />

Macht braucht Kontrolle, aber der Umgang<br />

sollte immer respektvoll bleiben.<br />

SPIEGEL: Wodurch fühlen Sie sich persönlich<br />

beleidigt?<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Seehofer: Es gibt immer wieder Artikel,<br />

da werde ich nicht nach Inhalten bewertet,<br />

sondern persönlich herabgewürdigt.<br />

Eine Zeitung hat mich zum Beispiel<br />

„Crazy Horst“ genannt. Für mich ist da<br />

eine Grenze überschritten. Ich empfehle<br />

allen Politikern, so etwas nicht hinzu -<br />

nehmen.<br />

SPIEGEL: Wenn Politiker andere Politiker<br />

beleidigen, ist das aber okay? Sie selbst<br />

haben Karl-Theodor zu Guttenberg öffentlich<br />

als „Glühwürmchen“ bezeichnet.<br />

Seehofer: So nennt man es doch, wenn jemand<br />

von Journalisten erst hoch- und<br />

dann niedergeschrieben wurde.<br />

SPIEGEL: Ihr Generalsekretär Alexander<br />

Dobrindt sagte über Sigmar Gabriel, dieser<br />

sei „übergewichtig und unterbegabt“.<br />

Auch keine Beleidigung?<br />

Seehofer: Ein Generalsekretär ist für eine<br />

Partei Hauptakteur im politischen Mei-


<strong>Deutschland</strong><br />

nungskampf. Ein Journalist sollte etwas<br />

ganz anderes sein, nämlich Beobachter<br />

und Bewerter dieses Meinungskampfes.<br />

Das sollte man nicht verwechseln und jedes<br />

Wort auf die Goldwaage legen.<br />

SPIEGEL: Das tun Sie doch!<br />

Seehofer: Sigmar Gabriel wurde vergangene<br />

Woche mit dem Spruch meines Generalsekretärs<br />

konfrontiert – und er hat<br />

sehr souverän reagiert. Er sagte: „Ich<br />

habe schon manches harte Wort im Wahlkampf<br />

gesagt: Sei’s drum!“<br />

SPIEGEL: Der Ausfall gegen Gabriel war<br />

nicht Dobrindts einziger: Er nannte EZB-<br />

Chef Mario Draghi einen „Falschmünzer“,<br />

den Grünen Daniel Cohn-Bendit einen<br />

„widerwärtigen Pädophilen“ und die<br />

FDP eine „Gurkentruppe“. Sollten Sie<br />

nicht erst einmal die Umgangsformen der<br />

CSU verbessern, bevor Sie die Medien<br />

maßregeln?<br />

Seehofer: Ich kann Ihnen gerne eine Zitatensammlung<br />

vorlegen, was über mich alles<br />

geschrieben wurde. Die Sache mit<br />

Draghi ist längst bereinigt. Er war bei mir<br />

in der Staatskanzlei, aber das habe ich<br />

bisher niemandem erzählt. Wir haben die<br />

Sache geklärt.<br />

SPIEGEL: Warum sollte das nur unter Politikern<br />

und nicht zwischen Politikern und<br />

Journalisten möglich sein? Warum können<br />

sich Sigmar Gabriel und Marietta<br />

Slomka beim ersten Wiedersehen nach<br />

ihrem Interview im „heute journal“ nicht<br />

auch einfach die Hand geben? Stattdessen<br />

haben Sie noch Öl ins Feuer gegossen.<br />

Seehofer: Sigmar Gabriel musste sich minutenlang<br />

für den SPD-Mitgliederentscheid<br />

rechtfertigen. Mir will es nicht in<br />

den Kopf, wenn man sich in einer Demokratie<br />

für mehr Demokratie rechtfertigen<br />

muss.<br />

SPIEGEL: Sie haben das Interview mit<br />

Gabriel nicht nur öffentlich kritisiert, sondern<br />

gleich noch einen Beschwerdebrief<br />

an den ZDF-Intendanten Thomas Bellut<br />

geschrieben. Wundert es Sie, wenn da<br />

der Eindruck entsteht, Sie wollten die Berichterstattung<br />

des ZDF beeinflussen?<br />

Seehofer: Ich habe Herrn Bellut am Freitag<br />

vor zwei Wochen zunächst eine SMS<br />

mit folgendem Text geschrieben: „Lieber<br />

Herr Bellut, für Auftritt von Frau Slomka<br />

gegenüber Gabriel kann man sich nur<br />

wundern. Wir entscheiden als CSU heute<br />

Nachmittag mit ca. 100 Leuten über<br />

Koa litionsvertrag. Verfassungswidrig? Ihr<br />

HS aus Bayern.“ Am Montag habe ich<br />

die SMS noch einmal in Briefform aufgesetzt<br />

und dazugeschrieben: „Nachdem<br />

diese normale Bewertung zwischenzeitlich<br />

vom ZDF wieder zu einer Grundsatzfrage<br />

der Pressefreiheit stilisiert wurde,<br />

erwarte ich auch keine Antwort.“ Herr<br />

Bellut hat trotzdem geantwortet. Aber<br />

weil sein Brief so interessant ist, veröffentliche<br />

ich ihn nicht. Der kommt in meinen<br />

Safe. Ich war jedenfalls mit dem Inhalt<br />

zufrieden.<br />

SPIEGEL: Sie haben es mit dem Brief aber<br />

nicht bewenden lassen, sondern später<br />

auch noch einen Auftritt im Jahresrückblick<br />

des ZDF abgesagt. Das wirkte beleidigt.<br />

Seehofer: Ich sollte in dieser Sendung interviewt<br />

werden, weil das Jahr für mich<br />

politisch erfolgreich war. Ich will aber<br />

nicht, dass irgendwer übers ZDF sagen<br />

kann: Schauen Sie, der Markus Lanz hat<br />

ihm zehn Minuten lang lauter nette Fragen<br />

gestellt, als wenn nichts gewesen<br />

wäre. Ich habe doch in diesem Jahr mit<br />

den Wahlerfolgen nur meine Pflicht erfüllt.<br />

Deshalb brauche ich dazu keinen<br />

öffentlichen Auftritt.<br />

SPIEGEL: Vielleicht ist es ein Ausweis von<br />

gutem und kritischem Journalismus,<br />

wenn sich Politiker wie Sie über Sendungen<br />

aufregen.<br />

Seehofer: Ich habe nichts gegen kritischen<br />

Journalismus, aber gegen Manipulation.<br />

Das ZDF hat im vergangenen Mai über<br />

einen Konvent der CSU in München berichtet.<br />

Ich habe noch selten eine solch<br />

Interviewpartner Gabriel, Slomka<br />

„Da kann man sich nur wundern“<br />

bizarre journalistische Leistung erlebt.<br />

Der CSU-Generalsekretär hielt gerade<br />

erst die Eröffnungsrede, während beim<br />

ZDF bereits der Schlusskommentar über<br />

die ganze Veranstaltung fabriziert wurde.<br />

Es spricht für den „heute journal“-Moderator<br />

Claus Kleber, dass er sich mit dem<br />

Satz entschuldigte: „Normalerweise arbeiten<br />

wir sorgfältiger.“<br />

SPIEGEL: Im vergangenen Jahr hat das ZDF<br />

einen Anruf Ihres Sprechers Hans Michael<br />

Strepp öffentlich gemacht. Er soll dar -<br />

auf hingewirkt haben, dass das ZDF auf<br />

einen Bericht über den Parteitag der Bayern-SPD<br />

verzichtet. Kann es sein, dass<br />

Sie deshalb ständig auf dem ZDF herumhacken?<br />

Seehofer: Die ganze Geschichte war eine<br />

Petitesse, die vom ZDF groß aufgebauscht<br />

wurde. Außerdem glaube ich<br />

Herrn Strepp, wenn er sagt, er habe das<br />

ZDF-Programm nicht beeinflussen wollen.<br />

SPIEGEL: Finden Sie, dass Herr Strepp ungerecht<br />

behandelt wurde?<br />

Seehofer: Eindeutig. Deshalb läuft sein Arbeitsverhältnis<br />

ja auch weiter, wenn auch<br />

nicht als Pressesprecher. Er war ein führender<br />

strategischer Kopf unseres Wahlkampfs.<br />

ZDF / DPA<br />

SPIEGEL: Funktioniert denn wenigstens Ihr<br />

Zugriff auf die Spitze des Bayerischen<br />

Rundfunks noch so gut wie früher?<br />

Seehofer: Ich nehme auf keinen Sender<br />

Einfluss, auch nicht auf den BR.<br />

SPIEGEL: Am Abend der bayerischen Landtagswahl<br />

würgte BR-Chefredakteur Sigmund<br />

Gottlieb ein kritisches Live-Statement<br />

von Sigmar Gabriel gegen Sie mit<br />

den Worten ab, dessen Äußerungen seien<br />

„doch alle sehr erwartbar“. Dann lächelte<br />

er und kündigte ein Porträt über den<br />

Mann an, der der „CSU ihren Stolz“ wiedergegeben<br />

habe. Es war ein Porträt über<br />

Sie. Der Mitschnitt hat unter dem Titel<br />

„Sigmund Gottlieb sorgt für Abwechslung“<br />

im Internet Kultstatus erreicht. Ist<br />

Ihnen solche Gefälligkeitsberichterstattung<br />

nicht selbst unangenehm?<br />

Seehofer: Ich mache mal den Versuch einer<br />

Interpretation. Die CSU hat schwere<br />

Jahre hinter sich, 2008 der Verlust der absoluten<br />

Mehrheit. Dann fünf Jahre Seehofer<br />

unter schwierigen Bedingungen,<br />

denken Sie nur an die Krise der Landesbank<br />

und die Verwandtenaffäre. Wenn<br />

man nach so einer Zeit die absolute Mehrheit<br />

holt, darf doch auch ein Journalist<br />

sagen, dass der Mythos CSU lebt.<br />

SPIEGEL: Sie sind also zufrieden mit Ihrem<br />

Chefredakteur Gottlieb?<br />

Seehofer: Das ist so wenig meiner wie Ihrer.<br />

SPIEGEL: Ulrich Wilhelm war zunächst<br />

Sprecher von Edmund Stoiber, später von<br />

Angela Merkel. Jetzt ist er Intendant des<br />

Bayerischen Rundfunks. Aus Sicht der<br />

Union ist das wohl die optimale Verwertungskette.<br />

Seehofer: Wenn Sie Herrn Wilhelm kennen,<br />

werden Sie bestätigen, dass er ein<br />

exzellenter Fachmann ist.<br />

SPIEGEL: Wir ziehen nicht seine Fähigkeiten<br />

in Zweifel. Die Frage ist aber, ob man<br />

noch unabhängiger Journalist sein kann,<br />

wenn man so lange für Spitzenpolitiker<br />

der Union gearbeitet hat.<br />

Seehofer: Diese sind oft die kritischsten.<br />

Warum soll ein Journalist nicht mal einer<br />

Regierung dienen?<br />

SPIEGEL: Der neue WDR-Intendant Tom<br />

Buhrow zum Beispiel hat vorher nicht<br />

für SPD-Politiker gearbeitet. Anders gefragt:<br />

Ist es denkbar, dass ein Sprecher<br />

der Bayern-SPD mal BR-Intendant wird?<br />

Seehofer: Wenn er gut ist: warum nicht?<br />

SPIEGEL: Halten denn Politiker genügend<br />

Distanz zu Journalisten?<br />

Seehofer: Es gibt immer Kollegen, die sagen:<br />

Halt lieber den Mund, mach’s harmonisch,<br />

spiel das Spiel mit. Aber das<br />

will ich nicht. Ich bin unabhängig, ich<br />

habe nie ein Netzwerk gepflegt. Ich habe<br />

auch nie zu einem Journalisten eine besondere<br />

Nähe gepflegt – und schon gar<br />

nicht mit der Erwartung, besonders behandelt<br />

zu werden.<br />

SPIEGEL: Wenn Sie, was Sie nicht haben,<br />

einen Wunsch an uns Journalisten frei<br />

hätten: Was wäre das?<br />

DER SPIEGEL 50/2013 27


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SD13-114<br />

Seehofer: Etwas mehr Selbstkritik! Wenn<br />

Politiker es wagen, einen Journalisten zu<br />

kritisieren, gibt es zwei beliebte Fluchtwege.<br />

Erstens: Es wird behauptet, die<br />

Pressefreiheit sei gefährdet. Dann springen<br />

alle Journalisten dem armen Kollegen<br />

bei, und der unvermeidliche Journalistenverband<br />

hebt warnend den Finger. Am<br />

Ende sind dann alle stolz, dass sie das<br />

Grundrecht auf das freie Wort verteidigt<br />

haben. Wenn man nicht zu diesem Totschlaghammer<br />

greift, wird einem stattdessen<br />

Weinerlichkeit und Dünnhäutigkeit<br />

vorgeworfen. Das sind die beiden Klassiker.<br />

Beides ist falsch.<br />

SPIEGEL: FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle<br />

geriet Anfang des Jahres als Schürzenjäger<br />

in die Schlagzeilen. War es<br />

klug von ihm, sich nicht öffentlich zu<br />

wehren?<br />

Seehofer: Ja, das war richtig. Wenn zur<br />

Jagd geblasen wird, haben Sie als einzelne<br />

Person keine Chance, sich dagegen zu<br />

wehren. Ich habe das am eigenen Leib<br />

erlebt.<br />

SPIEGEL: Sie spielen auf das Jahr 2007 an,<br />

als Sie wegen einer außerehelichen Affäre<br />

in die Schlagzeilen gerieten.<br />

Seehofer: Ich habe damals einfach nein<br />

gesagt.<br />

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?<br />

Seehofer: Nichts hören, nichts sehen,<br />

nichts lesen. Ich habe die Berichterstattung<br />

einfach ignoriert. Für 2007 wurde<br />

mir später eine Presseschau zusammengestellt.<br />

Vielleicht werde ich mir die in<br />

20 Jahren mal durchlesen.<br />

SPIEGEL: Aber Sie hatten doch eine Ahnung,<br />

was über Sie berichtet wird?<br />

Seehofer: Der Chefredakteur der „Bild“-<br />

Zeitung hat mich einen Tag vorher<br />

an gerufen. Ich sagte ihm: „Tun Sie,<br />

was Sie für richtig halten.“ Ich muss als<br />

öffent liche Person akzeptieren, dass<br />

sich die Menschen für mein Leben inter -<br />

essieren.<br />

SPIEGEL: Damals waren Sie nicht so gelassen.<br />

Sie sprachen von der „schlimmsten<br />

Medienkampagne seit 1949“. Was hat Sie<br />

so getroffen?<br />

Seehofer: Die ganze Begleitmusik. Dutzende<br />

von Fotografen standen vor meinem<br />

Haus. Die schrillen Medienberichte<br />

hatten Auswirkungen auf Freunde, Bekannte,<br />

meine Familie. Das war schon<br />

heftig.<br />

SPIEGEL: War es ein Fehler, Homestorys<br />

zu machen, obwohl Sie doch wussten,<br />

dass Ihr Privatleben nicht dem Familienbild<br />

des CSU-Grundsatzprogramms entspricht?<br />

Seehofer: Ich bleibe dabei, dass ich dazu<br />

nichts sage.<br />

SPIEGEL: Viele Bürger hatten während der<br />

Affäre Wulff den Eindruck, der Bundespräsident<br />

werde von manchen Medien<br />

* Mit den Redakteuren René Pfister und Markus Felden -<br />

kirchen am vergangenen Donnerstag in Nürnberg.<br />

28<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

aus dem Amt geschrieben. Hatten Sie<br />

Mitleid mit ihm?<br />

Seehofer: Ich glaube, dass die Vorwürfe<br />

gegen ihn maßlos übertrieben wurden.<br />

SPIEGEL: War Karl-Theodor zu Guttenberg<br />

auch ein Opfer der Medien?<br />

Seehofer: Ich habe nie an Übermenschen<br />

geglaubt, die medial gezeichnet werden.<br />

Die Medien schaffen Wundermenschen,<br />

Menschen mit Idealwerten. Ich bin diesen<br />

Menschen im echten Leben nie begegnet.<br />

Diese Scheinwelt fällt früher oder später<br />

in sich zusammen. Und das liegt nicht in<br />

erster Linie an den Betroffenen.<br />

SPIEGEL: Vergangenes Jahr gab es ein legendäres<br />

Weihnachtsessen mit Journalisten<br />

in München. Da kritisierten Sie Ihr<br />

Personal und forderten die Journalisten<br />

dazu auf, das aufzuschreiben. Was war<br />

Ihr Hintergedanke?<br />

Seehofer beim SPIEGEL-Gespräch*<br />

„Etwas mehr Selbstkritik!“<br />

Seehofer: Ich hatte mir das Ganze vorher<br />

genau überlegt. Der Erfolg hat mir recht<br />

gegeben. Die CSU ist einig, geschlossen<br />

und motiviert in den Wahlkampf ge -<br />

zogen.<br />

SPIEGEL: Warum war es für den Erfolg<br />

wichtig, Ihren Bundesverkehrsminister<br />

Ramsauer als „Zar Peter“ zu verulken?<br />

Seehofer: „Zar Peter“, das ist doch was<br />

Nettes. Manche Medien sagen ja auch zu<br />

mir „König Horst“. Ich habe dies nie als<br />

Verulkung gesehen.<br />

SPIEGEL: Am schlimmsten traf es Finanzminister<br />

Markus Söder: Er sei von Ehrgeiz<br />

zerfressen und arbeite in der Politik<br />

zu oft mit „Schmutzeleien“. Inwiefern<br />

hat das zum Erfolg beigetragen?<br />

Seehofer: Ich hatte meine Gründe. Markus<br />

Söder ist wieder Finanzminister in meinem<br />

Kabinett und leistet gute Arbeit für<br />

Bayern.<br />

SPIEGEL: Sie sind im Laufe Ihrer Karriere<br />

bekannt geworden für Wortkreationen:<br />

Dazu gehören nicht nur die „Schmutzeleien“,<br />

sondern auch Begriffe wie „Ichlinge“.<br />

Wären Sie selbst gern Journalist<br />

geworden?<br />

Seehofer: Ja. Am Anfang meiner politischen<br />

Tätigkeit habe ich oft gedacht: Ich<br />

würde gern auf der Seite der Journalisten<br />

sitzen. Die haben ein schönes Leben.<br />

SPIEGEL: Herr Seehofer, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

PETER ROGGENTHIN / DER SPIEGEL


EADS-Manager Enders, Kanzlerin<br />

Merkel auf Luftfahrtmesse in Berlin<br />

GETTY IMAGES<br />

Im Februar 2010 stiegen „Eurofighter“<br />

der deutschen Luftwaffe in den Himmel<br />

und flogen gen Osten. Ein Tankflugzeug<br />

begleitete sie, ferner eine Frachtund<br />

eine Transportmaschine mit Tech -<br />

nikern. Das Angriffsziel der Deutschen<br />

lautete: Indien. Dort galt es, zugunsten<br />

des Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS,<br />

eines Herstellers des „Eurofighters“, einen<br />

Deal zu erstreiten. 126 Kampfflugzeuge<br />

wollte die Regierung in Neu-Delhi<br />

kaufen, eine indische Zeitung nannte es<br />

die „Mutter aller Rüstungsgeschäfte“, Gesamtwert:<br />

bis zu 14 Milliarden Euro.<br />

Der Gegenangriff kam nicht nur aus<br />

den USA, sondern von den lieben Partnern<br />

aus der Europäischen Union: Die<br />

Franzosen starteten einen eigenen Werbefeldzug<br />

für ihren nationalen Prestigejet<br />

„Rafale“. Und auch die Schweden priesen<br />

ihren Jet „Gripen“ aus dem Hause Saab.<br />

Tagelang donnerten die deutschen Luftwaffenpiloten<br />

über den indischen Subkontinent.<br />

Rund 20 Millionen Euro kostete<br />

der Feldzug, doch er blieb erfolglos<br />

– am Ende erhielt Frankreich den Vorzug.<br />

30<br />

VERTEIDIGUNG<br />

Brennende Unterhosen<br />

Kanzlerin Merkel predigt den EU-Partnern gern wirtschaftliche<br />

Vernunft. Diese fehlt aber in der Rüstungspolitik. Europas Bürger<br />

zahlen die Quittung: mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr.<br />

So geht es in Europas Rüstungsindu -<br />

strie zu: Winkt irgendwo auf der Welt ein<br />

Großauftrag, dann ziehen die europäischen<br />

Nationen gegeneinander ins Feld.<br />

Wollen sie hingegen selbst militärische<br />

Ausrüstung anschaffen, schotten sie sich<br />

ab, schalten alle Regeln der Vernunft und<br />

des Marktes aus, oft genug, um die heimische<br />

Rüstungsindustrie zu schützen.<br />

Zu viel Wettbewerb nach außen, kein<br />

funktionierender Binnenmarkt innerhalb<br />

der EU, so betreiben die nationalen Regierungen<br />

in der Praxis das, was sie auf<br />

dem Papier eine „Gemeinsame Sicherheits-<br />

und Verteidigungspolitik“ nennen.<br />

„Die Fragmentierung des europäischen<br />

Rüstungsmarktes ist ein großes Problem“,<br />

sagt der Chef des EU-Militärstabs, der<br />

österreichische General Wolfgang Wosolsobe.<br />

„Wenn wir nicht umsteuern, stellt<br />

sich langfristig die Frage, ob wir als EU<br />

unsere Autonomie in der Verteidigungspolitik<br />

wahren können.“<br />

Die Verlierer dieser verfehlten Politik<br />

sind vor allem die europäischen Steuerzahler.<br />

Hohe Milliardenbeträge werden<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Jahr für Jahr verschwendet, weil die EU-<br />

Regierungen nationale Eigenheiten pflegen,<br />

statt Systeme anzuschaffen, die bereits<br />

existieren oder gemeinsam günstiger<br />

zu produzieren wären.<br />

Das Durcheinander schadet auch den<br />

Rüstungskonzernen. „Wir haben die EU<br />

nicht geschaffen, um einheitliche Glühbirnen,<br />

Toilettenspülungen oder Bananengrößen<br />

zu bekommen“, zürnt EADS-Vorstandschef<br />

Tom Enders. „Wir haben die<br />

EU geschaffen, um die großen Schicksalsfragen<br />

gemeinsam zu lösen und Europa<br />

eine angemessene Rolle in der Welt zwischen<br />

Amerika und Asien zu geben.“<br />

Die Realität sieht anders aus. Ohne die<br />

USA wäre Europa militärpolitisch ein<br />

Zwerg. Im Libyen-Krieg ging Franzosen<br />

und Briten bald die Munition aus, schnelle<br />

Krisenreaktion bleibt der Initiative einzelner<br />

Hauptstädte überlassen. Selbst die<br />

EU-Battlegroups, eigentlich innerhalb weniger<br />

Tage einsatzbereit, durften seit ihrer<br />

Gründung 2003 noch nie die Kasernen<br />

verlassen, weil vor allem eines fehlt: ein<br />

politischer Wille aller Europäer.<br />

Eigentlich wollten die EU-Staats- und<br />

Regierungschefs auf ihrem Gipfel Ende<br />

kommender Woche in Brüssel die Verteidigungspolitik<br />

zur Chefsache erklären.<br />

Aber die Tagesordnung des Gipfels ist<br />

mittlerweile so dichtgedrängt, dass die<br />

Chefs, wenn es gut läuft, über Sicherheitspolitik<br />

noch kurz beim Abschlussmittag -<br />

essen reden können. Mehr als ein paar<br />

Absichtserklärungen werden nicht erwartet,<br />

aber einige wenigstens in die richtige<br />

Richtung: mehr Markt, mehr Wettbewerb.


<strong>Deutschland</strong><br />

EADS-Chef Enders warnt: „Wenn jetzt<br />

nicht den Worten auch Taten folgen, dann<br />

ist der Abstieg in die dritte Liga nicht<br />

mehr aufzuhalten.“<br />

Es besteht Handlungsbedarf. Die nationalen<br />

Wehretats in Europa sind in den<br />

vergangenen zwölf Jahren in der Summe<br />

deutlich gesunken. Die Euro-Schuldenkrise<br />

hat bei den Verteidigungsministern<br />

jede Hoffnung begraben, dass sich dieser<br />

Trend in den nächsten Jahren umkehren<br />

könnte. Gaben die EU-Mitgliedsländer<br />

2001 insgesamt noch 251 Milliarden Euro<br />

für Verteidigung aus, belief sich das<br />

Budget aller Europäer 2012 auf nur<br />

190 Mil liarden. Zwar gibt die EU immer<br />

noch mehr für Verteidigung aus als China,<br />

Russland und Japan zusammen, aber<br />

das meiste Geld geht für Personal drauf.<br />

Ausrüstung und Forschung kommen zu<br />

kurz.<br />

Als Ausweg galt in der EU wie auch in<br />

der Nato lange eine Zauberformel, die<br />

im Militärjargon „Pooling & Sharing“<br />

heißt: Einzelne Länder sollen sich auf<br />

bestimmte militärische Fähigkeiten spezialisieren<br />

und sie dann anderen zur Ver -<br />

fügung stellen. Doch das vielgepriesene<br />

Konzept steckt noch immer in den Kinderschuhen.<br />

Auf 300 Millionen Euro belaufen<br />

sich bislang die Einsparungen<br />

durch „Pooling & Sharing“. In derselben<br />

Zeit wurden die Verteidigungsbudgets jedoch<br />

um 30 Milliarden Euro gekürzt, hundertmal<br />

so viel.<br />

Die größte Verschwendung entstehe,<br />

weil der Binnenmarkt im Rüstungssektor<br />

praktisch außer Kraft gesetzt sei, schreibt<br />

der Wissenschaftliche Dienst des Europaparlaments<br />

in einer aktuellen Studie. Die<br />

Analyse mit dem Titel „Die Kosten von<br />

Nicht-Europa“ zählt auf 88 Seiten schonungslos<br />

die Missstände der europäischen<br />

Verteidigungspolitik auf: „Verschwenderische<br />

Überkapazitäten, Duplikationen,<br />

fragmentierte Industrien und Märkte“<br />

werden vorrangig genannt. 73 Prozent<br />

der Beschaffungsvorhaben würden bis<br />

heute nicht europaweit ausgeschrieben.<br />

„Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme“,<br />

so die Experten.<br />

Die Mehrkosten, die deswegen entstehen,<br />

belaufen sich, konservativ gerechnet,<br />

auf mindestens 26 Milliarden Euro pro<br />

Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten<br />

Steuergelder auf bis zu 130<br />

Milliarden Euro summieren. Allein bei<br />

der Munition für ihre Armeen könnten<br />

Europas Klein-Klein Entwicklungskosten und Anzahl produzierter Kampfjets<br />

Eurofighter<br />

<strong>Deutschland</strong>, Großbritannien,<br />

Italien, Spanien<br />

Gripen<br />

Schweden<br />

Rafale Frankreich<br />

Joint Strike Fighter USA<br />

DEFENSEIMAGERIE E. VIKNE GONZALO FUENTES / REUTERS<br />

US-NAVY<br />

die EU-Länder zwei Milliarden Euro im<br />

Jahr sparen, wenn sie wirklich europäisch<br />

handelten. Rechtlich ist das schon lange<br />

möglich. Doch meist berufen sich die Regierungen<br />

auf eine Ausnahmeklausel des<br />

EU-Vertrags, die Einschränkungen des<br />

Wettbewerbs zulässt, wenn die „nationale<br />

Sicherheit“ eines Landes berührt ist – in<br />

Zeiten einer gemeinsamen Verteidigungspolitik<br />

ein Anachronismus.<br />

Die Amerikaner machen vor, wie man<br />

den Verteidigungsetat effizienter einsetzt.<br />

Das illustriert ein Blick auf die Luftfahrtindustrie.<br />

Zusammen kostet die Entwicklung<br />

der europäischen Kampfflugzeuge<br />

„Eurofighter“, „Rafale“ und „Gripen“<br />

10,23 Milliarden Euro mehr als beim amerikanischen<br />

Joint Strike Fighter. Auch produzieren<br />

die Amerikaner mit geringeren<br />

Entwicklungskosten höhere Stückzahlen.<br />

Die Hersteller der drei europäischen Flugzeuge<br />

bauen 1205 Jets, 1800 weniger als<br />

die Amerikaner.<br />

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis europäischer<br />

Verteidigungspolitik ist entsprechend<br />

miserabel. In der EU gibt es 16 große<br />

Werften für Kriegsschiffe, in den USA<br />

ganze 2. Zudem existieren in Europa 16<br />

verschiedene Fregattenklassen, obwohl<br />

nur noch 2 überhaupt hergestellt werden.<br />

Auch <strong>Deutschland</strong>, das anderen EU-Partnern<br />

wirtschaftliche Vernunft predigt,<br />

trägt mit Projekten für die Bundeswehr<br />

seit Jahren dazu bei, dass Europas Steuerzahler<br />

für ineffiziente Rüstungsprojekte<br />

mehr Geld ausgeben als nötig.<br />

Beim europäischen Großprojekt „Eurofighter“<br />

etwa haben die vier Herstellerstaaten<br />

<strong>Deutschland</strong>, Großbritannien,<br />

Italien und Spanien von Beginn an statt<br />

effizienter Gemeinschaftsproduktion vor<br />

allem die Interessen der eigenen Industrie<br />

im Blick gehabt. Die Folge sind zum Teil<br />

haarsträubende Reibungsverluste.<br />

So wird die Produktion des zweistrahligen<br />

Jagdflugzeugs seit Beginn nahezu<br />

unabhängig von wirtschaftlichen Kriterien<br />

auf die Partnerländer aufgeteilt.<br />

Selbst für die Endmontage des „Eurofighters“<br />

wurden vier verschiedene Produktionsstätten<br />

in den Ländern aufgebaut.<br />

Allein dadurch ging ein dreistelliger<br />

Millionenbetrag verloren.<br />

Da in allen vier Ländern Begehrlichkeiten<br />

bestehen, sich auch an den Entscheidungsprozessen<br />

rund um den „Euro -<br />

fighter“ zu beteiligen, entstehen zudem<br />

hohe Verwaltungskosten. Beim „Eurofighter“<br />

beraten Dutzende Ausschüsse<br />

wesentliche strategische Fragen, die Entscheidungen<br />

müssen einstimmig getroffen<br />

werden. Zum Teil vergehen Stunden,<br />

Tage und Wochen für einfache Entscheidungen,<br />

weil noch nicht jeder Partner<br />

alles abgenickt hat.<br />

Schaut man sich in der europäischen<br />

Rüstungsindustrie um, finden sich etliche<br />

Beispiele, bei denen die Staaten konkurrieren,<br />

statt zu kooperieren. Ob Kampf-<br />

Entwicklungskosten<br />

in Mrd. €<br />

19,5<br />

1,5<br />

8,6<br />

19,3<br />

Gebaute<br />

Einheiten<br />

707<br />

204<br />

Quelle: European Parliament Research Service<br />

294<br />

3003<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

31


<strong>Deutschland</strong><br />

panzer, Fregatten oder Cruise Missiles –<br />

überall könnten durch sinnvollere Absprachen<br />

Milliarden gespart werden. Allein<br />

für Schützenpanzer existierten vor wenigen<br />

Jahren 16 verschiedene Beschaffungsprogramme<br />

in Europa. Doch weil jeder<br />

nur die eigenen Interessen im Auge hat,<br />

bessert sich kaum etwas.<br />

Die Waffenschmieden kämpfen ohnehin<br />

schon mit schrumpfenden Rüstungsbudgets<br />

in Europa. Die Analysten von<br />

AlixPartners erwarten in absehbarer Zukunft<br />

keine größeren Rüstungsprojekte<br />

mehr in Europa und warnen davor, dass<br />

die Industrie an Innovationspotential verliere.<br />

Es trifft auch jenen Konzern, der<br />

einst von überzeugten Europapolitikern<br />

gegründet wurde: EADS. Dort erwartet<br />

man in den kommenden vier Jahren einen<br />

Einbruch im Auftragsbestand von<br />

heute 48 auf 31 Milliarden Euro. Das deutsche<br />

Verteidigungsministerium habe allein<br />

4 Milliarden Euro an festem Auftragsbestand<br />

wieder gestrichen.<br />

Es häufen sich demütigende Niederlagen<br />

bei großen internationalen Rüstungsvorhaben:<br />

Das Nato-Land Türkei droht,<br />

sein Luftverteidigungssystem lieber in China<br />

zu kaufen, Südkorea verschmäht den<br />

„Eurofighter“, Brasilien verprellt EADS<br />

in einem Sechs-Milliarden-Deal.<br />

In dieser Woche schreibt die unrühm -<br />

liche Geschichte der europäischen Rüstungsindustrie<br />

ein weiteres Kapitel: Tom<br />

Enders, der Chef des Rüstungsgiganten<br />

Es häufen sich demütigende<br />

Niederlagen bei<br />

großen internationalen<br />

Rüstungsvorhaben.<br />

EADS, verkündet den kompletten Umbau<br />

seiner Verteidigungssparte. Die wird<br />

nur noch ein Anhängsel der zivilen Luftfahrttochter<br />

Airbus sein. Und um die stolzen<br />

Ingenieure noch mehr zu demütigen,<br />

wird er auch den neuen Namenszug offiziell<br />

enthüllen: Airbus Defence & Space.<br />

Wie üblich bei solchen Aktionen werden<br />

auch hier Arbeitsplätze gestrichen<br />

und ganze Standorte geschlossen. Einer<br />

befindet sich in Unterschleißheim. In<br />

Manching, wo der „Eurofighter“ gebaut<br />

wird, zittert die Belegschaft ebenfalls. Die<br />

Zukunft ihrer Arbeitsplätze, so heißt es<br />

bei EADS, hänge direkt an der Frage, ob<br />

die Bundesrepublik weitere „Eurofighter“<br />

der neuesten Tranche 3b kauft.<br />

Das Großreinemachen bei EADS gilt<br />

als eine Reaktion darauf, dass die Bundesregierung<br />

vor gut einem Jahr einen<br />

Zusammenschluss zwischen EADS und<br />

dem Rüstungskonzern BAE Systems vereitelt<br />

hat. Die Kanzlerin persönlich hatte<br />

interveniert. Sie fürchtete, dass ihr Land<br />

Einfluss auf den strategisch so wichtigen<br />

34<br />

Konzern verlöre. Besonders im Blick hatte<br />

die Regierungschefin die Arbeitsplätze<br />

bei der Konzerntochter Airbus.<br />

Bei EADS hat man der Regierung immer<br />

noch nicht verziehen, dass sie den<br />

Deal verhindert hat. „Das ist jetzt die<br />

Quittung“, heißt es dort hinter vorgehaltener<br />

Hand zu den Stellenstreichungen.<br />

„Überall treffen wachsende Herausforderungen<br />

auf sinkende Budgets“, erklärt<br />

Enders. „Es liegt auf der Hand, dass wir<br />

die Sicherheit und Verteidigung Europas<br />

nur gemeinsam gewährleisten können.“<br />

Ein Lehrstück darüber, wie gemeinsame<br />

europäische Rüstungsprojekte straucheln,<br />

bietet das Transportflugzeug A400M. Neuerdings<br />

hakt es dort auch bei grundsätzlichen<br />

Fragen: Es fehlen für eine gemeinsame<br />

europäische Zulassung die notwendigen<br />

rechtlichen Grundlagen. Dafür hätten<br />

das europäische Parlament und die Kommission<br />

die notwendigen rechtlichen Vor -<br />

aussetzungen schaffen müssen. Doch das<br />

scheitert seit Jahr und Tag daran, dass kein<br />

Land seine hoheitlichen Rechte abtreten<br />

will. Jetzt spitzt sich die Lage zu: <strong>Deutschland</strong><br />

soll in 2014 seine erste A400M bekommen.<br />

Im Verteidigungsministerium<br />

jagt eine Krisensitzung die andere, weil<br />

das Zulassungsverfahren unklar ist.<br />

Mit absurder Folge: Das Ministerium<br />

schafft derzeit ein Luftfahrtamt der Bundeswehr,<br />

eine neue Behörde mit über 400<br />

Mitarbeitern, deren vornehmste Aufgabe<br />

es sein wird, Zulassungsrichtlinien für die<br />

A400M zu entwickeln. Keine europäischen<br />

wohlgemerkt, sondern zunächst<br />

mal deutsche. Immerhin: Das Problem<br />

der europaweiten Zulassung haben sich<br />

die Staats- und Regierungschefs für ihren<br />

Gipfel in die Papiere schreiben lassen. Der<br />

EU-Ministerrat forderte Ende November<br />

„greifbare Maßnahmen für Standards und<br />

Zertifizierung“, um „Kosten zu senken“.<br />

In der Praxis stoßen solche Vorsätze<br />

jedoch wiederholt auf große Vorbehalte,<br />

selbst bei simpelsten Produkten.<br />

So wurde auch im Verteidigungsministerium<br />

schon erwogen, ob etwa Unterhemden<br />

und -hosen nicht in größeren<br />

Stückzahlen viel billiger sein könnten,<br />

wenn ein Modell für alle Soldaten der<br />

EU-Staaten beschafft würde. Doch dann<br />

stellte sich heraus, dass Standards der<br />

Bundeswehr detailliert vorschreiben, bis<br />

zu welcher Gradzahl die Unterhosen<br />

nicht in Flammen aufgehen sollen. Ob<br />

das im Notfall, wenn etwa ein Panzer in<br />

Brand gerät, wirklich schon das Leben<br />

eines Soldaten gerettet hat, ist unklar. Andere<br />

Länder zumindest haben diese Vorgabe<br />

nicht, trotzdem will die Bundeswehr<br />

dabei bleiben.<br />

Aber wenn selbst Unterhosen eine Frage<br />

der nationalen Sicherheit sind, dann<br />

steht es wirklich schlecht um die gemeinsame<br />

europäische Verteidigungspolitik.<br />

GORDON REPINSKI, CHRISTOPH SCHULT,<br />

GERALD TRAUFETTER<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

FREDRIK VON ERICHSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

CDU-Politiker Bouffier, Computergrafik des dritten<br />

UNION<br />

Revolution ohne<br />

Pathos<br />

Für Hessens Regierungschef Bouffier<br />

ist Schwarz-Grün kein Pro -<br />

jekt. Er will pragmatisch Probleme<br />

lösen. Das könnte für den Flug -<br />

hafen Frankfurt gefährlich werden.<br />

Am Ende bricht es doch aus Volker<br />

Bouffier heraus, nun blitzt auch<br />

das typische schiefe Bouffier-Grinsen<br />

auf. Der hessische Regierungschef<br />

sitzt in einem breiten Ledersessel im Empfangssaal<br />

seiner Staatskanzlei in Wiesbaden,<br />

einem ehemaligen Kurhotel. An den<br />

Wänden glitzern Spiegel, auf einem Tischchen<br />

steht eine Etagere mit Plätzchen.<br />

Eine Servierdame schenkt Kaffee ein.<br />

Es geht um die Frage, ob er jetzt mit<br />

Schwarz-Grün in Hessen Geschichte für<br />

die ganze Republik schreibt. Bouffier hat<br />

über eine Stunde lang alles versucht, die<br />

hessische Revolution kleinzureden. „Ich<br />

will hier nichts überhöhen“, sagt er und<br />

tut es schließlich doch. „Wenn wir hier<br />

fünf Jahre lang stabil und erfolgreich regieren,<br />

hat das natürlich Signalwirkung<br />

über Hessen hinaus.“<br />

Mit Schwarz-Grün tritt Bouffier aus<br />

dem Schatten seines Vorgängers Roland<br />

Koch. Bislang war er wenig mehr als der<br />

Nachlassverwalter seines polemischen<br />

und zupackenden Vorgängers. Jetzt könnte<br />

der kumpelhafte Ministerpräsident,<br />

den sie in Hessen immer nur „Bouffi“<br />

nennen, zum Trendsetter für die Bundes-<br />

CDU werden. Ausgerechnet der einstige<br />

Prinz Charles von Wiesbaden, der jahrelang<br />

auf seinen Aufstieg zum Landesvater<br />

warten musste, bereitet den Weg für die<br />

erste schwarz-grüne Regierung in einem


Terminals am Frankfurter Flughafen: Auf einmal keine Priorität mehr<br />

großen Flächenland. Kanzlerin Angela<br />

Merkel richtet ihr Augenmerk auf das hessische<br />

Experiment. Seit die FDP aus dem<br />

Bundestag flog, ist Merkels Partei auf der<br />

Suche nach neuen Bündnispartnern für<br />

die Zukunft.<br />

Es ist ein später und unerwarteter Frühling<br />

für Bouffier. Und langsam wird deutlich,<br />

wie hoch der Preis ist, den die Union<br />

für Schwarz-Grün zu zahlen bereit ist.<br />

Der Ausbau des Frankfurter Flughafens,<br />

den die Hessen-CDU in den vergangenen<br />

Jahrzehnten so vehement verteidigt hat<br />

wie ihr Nein zum Doppelpass, hat plötzlich<br />

kaum noch Priorität. Und die Nachtruhe<br />

der Bürger zwischen Flörsheim und<br />

Frankfurt-Süd ist auf einmal auch für die<br />

Union ein drängendes Anliegen, wichtiger<br />

jedenfalls, als den wichtigsten Arbeitgeber<br />

der Region zum globalen Drehkreuz<br />

auszubauen.<br />

Wie schnell man in der Politik neue<br />

Freunde gewinnt, durfte Bouffier am Freitag<br />

vor einer Woche beim Bundespresseball<br />

erleben. Kurz nachdem er den Saal<br />

betreten hatte, hielt ihn Grünen-Chef<br />

Cem Özdemir auf, und auch Claudia<br />

Roth scheute Bouffiers Nähe nicht.<br />

Hauptstadtjournalisten suchten das Gespräch<br />

mit ihrem neuen Helden. Toll, wie<br />

er das mit den Grünen mache, klopfte<br />

ihm einer auf die Schulter. Was in Hessen<br />

passiere, sei nicht weniger als die Aussöhnung<br />

der Schwarzen mit den 68ern.<br />

„Kann sein“, sagt Bouffier wenige Tage<br />

später in Wiesbaden und schüttelt skeptisch<br />

den Kopf. Ihm geht es nicht um Aussöhnung,<br />

er will das Fundament für eine<br />

stabile Regierung mauern.<br />

Wie immer wirkt er ein bisschen aus<br />

der Zeit gefallen mit seinem akkuraten<br />

Scheitel, dem weiten Jackett und der<br />

breitgestreifen Krawatte. Politische Avantgarde<br />

sähe anders aus. Aber Schwarz-<br />

Grün ist für ihn auch kein gesellschaftspolitisches<br />

Projekt. Bouffier sieht das<br />

ganz pragmatisch. Ihm geht es um die<br />

Probleme, die Schwarz-Grün am besten<br />

lösen könne.<br />

Zum Beispiel, dass ältere Bürger, die<br />

in immer dünner besiedelten Gegenden<br />

auf dem Land wohnen, auch künftig den<br />

Arzt in der Kreisstadt besuchen können.<br />

„Da helfen keine großen Masterpläne, da<br />

hilft nur ein Sammeltaxi“, sagt er. Angesichts<br />

der Mythen, die Schwarz-Grün seit<br />

Jahren umgeben, wirkt Bouffiers Bodenständigkeit<br />

fast wie Hohn. Aber Bouffier<br />

ist überzeugt, dass Schwarz-Grün als<br />

Vision der politischen Elite keine Chance<br />

hat. Die schwarz-grüne Revolution müsse<br />

von unten kommen.<br />

Das Wurzelwerk in Hessen reicht ja<br />

schon tief. In Darmstadt etwa und vor<br />

allem in Frankfurt arbeiten Schwarze und<br />

Grüne vertrauensvoll zusammen. Dieses<br />

lokale Geflecht bietet Bouffier die Gewissheit,<br />

dass es auch im Landtag klappen<br />

könnte. Pathos schadet da nur.<br />

Bouffier redet von der Schulpolitik,<br />

über den unvermeidbaren Abbau von Beamtenstellen<br />

und von soliden Finanzen.<br />

„Natürlich hat Schwarz-Grün eine gewisse<br />

Exotik“, sagt er. „Aber es gibt gerade<br />

in der Landespolitik eine Reihe von Themen,<br />

wo wir mit den Grünen näher beisammen<br />

sind als mit der SPD.“<br />

Nicht wenige in der einst männer -<br />

bündisch organisierten Hessen-CDU sehen<br />

diese Entwicklung mit Sorge. Zwar<br />

sagt Bouffier, dass seine CDU ihre Grundüberzeugungen<br />

bei den Verhandlungen<br />

mit den Grünen nicht preisgeben will.<br />

„Die Hessen-CDU ist keine Palme im<br />

Wind.“ Doch vor allem beim hessischen<br />

Dauerstreitthema Flughafen ist Bouffier<br />

zu bedeutenden Zugeständnissen bereit.<br />

Bislang galten die Wettbewerbsfähigkeit<br />

und die wirtschaftliche Entwicklung<br />

des größten deutschen Flughafens für<br />

eine Regierung unter Führung der Union<br />

als nicht verhandelbar. Doch jetzt zeigt<br />

sich Bouffier erstaunlich biegsam. Jahrelang<br />

hatte sich die CDU dafür stark -<br />

gemacht, das Nachtflugverbot in engen<br />

Grenzen zu halten, damit der Frankfurter<br />

Airport im Wettbewerb mit anderen<br />

Drehkreuzen wie Dubai konkurrenzfähig<br />

FRAPORT / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

bleibt. Mit ihm werde „dieser Flughafen<br />

nicht kleingemacht“, sagte Bouffier bis<br />

vor kurzem.<br />

Jetzt kann sich der Ministerpräsident<br />

auf einmal mit längeren „Lärmpausen“<br />

anfreunden. Seine Fachpolitiker knobeln<br />

mit den Grünen an Modellen, jeweils<br />

zwei der insgesamt vier Start- und Lande -<br />

bahnen abwechselnd mal morgens und<br />

mal abends je eine Stunde länger zu<br />

schließen. Selbst der Neubau des dritten<br />

Terminals hat auf einmal keine Priorität<br />

mehr. Der Baubeginn könnte bis nach<br />

der nächsten Landtagswahl im Jahr 2018<br />

verschoben werden, heißt es nun.<br />

Vor allem aber ist Bouffier bereit, den<br />

Grünen das schärfste Schwert in die Hand<br />

zu geben, die Fraport und die Flug -<br />

gesellschaften weiter zu gängeln und zu<br />

kostspieligen Zugeständnissen zu zwingen.<br />

Hessens Grünen-Chef Tarek Al-<br />

Wazir soll in Bouffiers Kabinett neuer<br />

Verkehrsminister werden und hätte damit<br />

direkten Zugriff auf wichtige Abläufe am<br />

Flughafen. Als zuständiger Minister könnte<br />

er beispielsweise die bestehenden Ausnahmeregelungen<br />

für das Nachtflugverbot<br />

verschärfen – oder zumindest damit<br />

drohen, um den Einsatz leiserer Flug -<br />

zeuge am späten Abend durchzusetzen.<br />

Der Fraport und ihrem Hauptkunden,<br />

der Lufthansa, bereitet die neue Beweglichkeit<br />

der Hessen-CDU keine Freude.<br />

Als erste Gerüchte über eine Ausweitung<br />

des Nachtflugverbots aufkamen, schrieb<br />

der Lufthansa-Vorstandsvorsitzende Chris -<br />

toph Franz gemeinsam mit Flughafen-<br />

Chef Stefan Schulte und den Bossen von<br />

Chartergesellschaften wie TUIfly und<br />

Condor am 26. November einen Brandbrief<br />

an Bouffier. Ihre Unternehmen trügen<br />

schon jetzt „erhebliche Kosten“ für<br />

den Schallschutz, heißt es darin. Betriebsbeschränkungen<br />

dürften „nur als letztes<br />

Mittel“ ergriffen werden, schließlich sei<br />

Frankfurt „unter den weltweit zehn größten<br />

Airports der einzige mit striktem<br />

Nachtflugverbot“.<br />

Auf Bouffiers Schreibtisch stapeln sich<br />

derzeit eine ganze Menge solcher Briefe,<br />

es ist der anschwellende Widerstand der<br />

Wirtschaft gegen Schwarz-Grün. Auch<br />

die Kanzlerin hatte sich anfangs skep -<br />

tisch gezeigt. Aber aus anderem Grund:<br />

Schwarz-Rot in Hessen hätte die Dinge<br />

für Merkels Regierung leichter gemacht,<br />

vor allem im Bundesrat wäre eine<br />

schwarz-rote Mehrheit dann in Sichtweite<br />

gewesen. Trotzdem akzeptierte sie Bouffiers<br />

Willen. „Das müsst ihr entscheiden“,<br />

sagte sie ihm.<br />

Als er sich verabschiedet, stellt sich<br />

Bouffier vor eine Spiegelwand und rückt<br />

Krawatte und Scheitel zurecht. Dann öffnet<br />

er die Tür und geht davon. Wochenlang<br />

hat er verhandelt, heute hat er einen<br />

Bürotag. Die Beschwerdebriefe der Wirtschaft<br />

warten.<br />

MATTHIAS BARTSCH,<br />

DINAH DECKSTEIN, PETER MÜLLER<br />

DER SPIEGEL 50/2013 35


STUTTGART 21<br />

Privater Natur<br />

Stefan Mappus glaubte, seine<br />

Dienst-Mails gelöscht zu haben. Nun<br />

sind einige wieder da – und<br />

verraten die Umstände des brutalen<br />

Polizeieinsatzes von 2010.<br />

Die Besprechung im baden-württembergischen<br />

Verkehrsministerium<br />

kreiste um ein heikles Thema:<br />

Stuttgart 21, die dramatischen Bürgerproteste<br />

rund um den Bahnhofsneubau, die<br />

anstehende Rodung im Schlossgarten.<br />

Entgegen allen Gepflogenheiten wurde<br />

kein Protokoll der Sitzung erstellt.<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Wasserwerfereinsatz in Stuttgart 2010: „Nicht wegducken, sondern kämpfen“<br />

36<br />

Was beschlossen wurde an diesem Montag,<br />

dem 20. September 2010, ist aus einer<br />

anderen Quelle zu erfahren. Denn am<br />

nächsten Tag um 16.33 Uhr brachte Verkehrsministerin<br />

Tanja Gönner Ministerpräsident<br />

Stefan Mappus auf den neuesten<br />

Stand: „Es wurde gestern vereinbart, dass<br />

die Bäume ab dem 1.10. gefällt werden.<br />

Ziel ist, dass bis zu deiner Regierungserklärung<br />

alles mit den Bäumen erledigt ist!“<br />

Mappus, der Gönner zu seinen engsten<br />

Vertrauten zählte, quittierte die E-Mail<br />

mit den Worten: „Super, vielen Dank.“<br />

Die elektronische Post, die jetzt aufgetaucht<br />

ist, gibt einen Eindruck von den<br />

Prioritäten, die die Landesregierung im<br />

Umgang mit dem demonstrierenden Volk<br />

setzte. Nach der Besprechung im Ministerium<br />

war klar: Am 30. September wird<br />

der von Tausenden Protestlern besetzte<br />

Schlossgarten geräumt, am 1. Oktober<br />

werden die Bäume gefällt. Denn eine Woche<br />

später soll Mappus in seiner Regierungserklärung,<br />

mit der Attitude des Machers,<br />

die Stuttgart-21-Problematik für erledigt<br />

erklären können.<br />

In den vergangenen drei Jahren wurde<br />

viel darüber spekuliert, warum es am<br />

30. September bei der Räumung des Parks<br />

durch die Polizei zur Eskalation kam, zu<br />

furchterregenden Bildern, die um die Welt<br />

gingen; zu jenem „schwarzen Donnerstag“,<br />

bei dem 130 Demonstranten und<br />

6 Ordnungshüter verletzt wurden. Vor<br />

dem folgenden Untersuchungsausschuss<br />

wies Mappus jeden Zusammenhang zwischen<br />

dem Polizeieinsatz und seiner<br />

Regierungserklärung zurück: Seine Rede<br />

im Landtag habe für den Termin der Fällaktion<br />

„keine Rolle gespielt“.<br />

Nun könnte Mappus’ Zeugenaussage<br />

von Ende 2010 ein Nachspiel haben. Ein<br />

ganzer Schwung von E-Mails aus jener<br />

Zeit nährt Zweifel an der von ihm verbreiteten<br />

Version der Ereignisse. Denn<br />

ähnlich und am selben Tag wie Gönner<br />

informierte Abteilungsleiter Michael<br />

Kleiner den Chef der Staatskanzlei, Hubert<br />

Wicker. In einer Mail heißt es unter<br />

Punkt 7: „Ziel: MP muss im Landtag sagen<br />

können, dass – im Schlossgarten –<br />

zunächst (in dieser Fällperiode) keine<br />

weiteren Bäume gefällt werden.“<br />

Die Quellen sind denkbar hochwertig.<br />

Die E-Mails stammen unter anderem aus<br />

Mappus’ Account im Staatsministerium.<br />

Und dass es sie überhaupt noch gibt,<br />

kommt einem Wunder gleich.<br />

Denn eigentlich hatte Stefan Mappus<br />

die Daten gelöscht. Nach seiner Abwahl<br />

und vor dem Auszug aus der Staatskanzlei<br />

hatte er sicherheitshalber sogar seine<br />

Festplatte ausbauen und zerstören lassen.<br />

Was der Christdemokrat indes nicht<br />

ahnte: Weil ihn im heißen Herbst 2010<br />

Probleme mit seinem elektronischen Kalender<br />

plagten, hatte eine externe Firma<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

MARIJAN MURAT / DPA<br />

Sicherheitskopien erstellt. Und als im<br />

Sommer 2012 die Staatsanwaltschaft<br />

Stuttgart im Zuge ihrer Ermittlungen wegen<br />

des umstrittenen EnBW-Milliarden-<br />

Deals Mappus’ Eigenheim sowie die<br />

Staatskanzlei durchsuchte, fanden sich<br />

besagte Kopien.<br />

Monatelang kämpften Mappus’ Anwälte<br />

dafür, dass das Material von der aktuellen<br />

grün-roten Landesregierung nicht<br />

ausgewertet werden dürfe – aus „Datenschutzgründen“,<br />

die E-Mails seien „privater<br />

Natur“.<br />

In Wahrheit illustrieren sie nicht nur<br />

den Zeitdruck, unter dem alle standen.<br />

Sie werfen auch ein Schlaglicht auf den<br />

Umgang der CDU-Regierung mit dem U-<br />

Ausschuss. In einer Nachricht vom 4. November<br />

2010 unterrichtet Michael Pope,<br />

damals Referatsleiter Innenpolitik und<br />

Verkehr, das Büro Mappus und weitere<br />

Beamte über die Aktenweitergabe an den<br />

Ausschuss. „Die Aktenlage ist z. T. noch<br />

immer unübersichtlich. Frühestens ab<br />

dem 8.11. kann übersehen werden, wie<br />

lange wir für eine widerspruchsfreie Aufarbeitung<br />

der Akten benötigen, um spätere<br />

,Überraschungen‘ in Form von neuen<br />

Schriftstücken zu vermeiden.“<br />

Wurden die Akten also so lange bearbeitet,<br />

bis sie keine Gefahr für Mappus<br />

darstellten? Und wurden alle Unterlagen<br />

übergeben?<br />

Früh äußerte die Opposition im Landtag<br />

den Verdacht, dass ihr Dokumente<br />

vorenthalten wurden; belegen konnte sie<br />

ihn aber nicht. Auf Nachfrage erklärt das<br />

Staatsministerium, dass weder die nun<br />

aufgetauchte Mail von Gönner noch jene<br />

von Kleiner in dem Ordner zu finden seien,<br />

der 2010 dem Ausschuss übergeben<br />

worden war.<br />

Auch über die Marschrichtung der Regierung<br />

gegenüber den wütenden Bahnhofsgegnern<br />

findet sich in den E-Mails<br />

manch Erhellendes. So empfahl Dirk<br />

Metz, einst Roland Kochs Sprecher in<br />

Hessen und späterer Mappus-Berater, bereits<br />

im Sommer 2010 für den Umgang<br />

mit den S21-Protesten: „Nicht wegducken,<br />

sondern kämpfen.“ Mappus solle<br />

das Bild eines „entschlossenen MP, der<br />

nicht zurückweicht“, verkörpern.<br />

Diese und andere E-Mails – ausgedruckt<br />

füllen sie drei Ordner – sind Bestandteil<br />

der Ermittlungsakten in einem der letzten<br />

Verfahren, die zum Wasserwerfereinsatz<br />

noch anhängig sind. Beschuldigt sind zwei<br />

leitende Polizeibeamte, Anfang 2014 soll<br />

ihnen der Prozess gemacht werden.<br />

Mappus scheint angesichts des Gerichtsverfahrens<br />

weitere Überraschungen<br />

aus seinem E-Mail-Verkehr zu fürchten.<br />

Seine Anwälte beantragten Akteneinsicht<br />

beim Landgericht Stuttgart. Das Gesuch<br />

wurde jedoch im Oktober abgewiesen.<br />

Schließlich sei Mappus kein Verfahrensbeteiligter,<br />

befand das Gericht lapidar.<br />

SIMONE SALDEN


KARRIEREN<br />

Rette mich,<br />

wer kann<br />

Hans-Olaf Henkel soll für<br />

die AfD bei der Europawahl<br />

kandidieren. Der Ex-BDI-<br />

Chef bekommt so eine neue<br />

Bühne für seine steilen Thesen.<br />

Marktwirtschaft bedeutet für Hans-<br />

Olaf Henkel, auf die Erfolgreichen<br />

zu setzen. Im Jahr 2011 tingelte<br />

der Ex-BDI-Chef über die Veranstaltungen<br />

der Freien Wähler. Sie waren<br />

damals eine steigende Aktie, er pries die<br />

Minipartei als „Plattform für meine liberalen<br />

Ideale“ und verkündete, er sei „per<br />

Handschlag“ Mitglied geworden. Sogar<br />

eine Kandidatur zum Bundestag schloss<br />

er nicht aus, „wenn ich überzeugt bin,<br />

dass in der Partei Not am Mann ist“.<br />

Dann aber sank der Stern der Freien<br />

Wähler – und so auch Henkels Interesse<br />

an der Partei. Der Hans-Olaf Henkel von<br />

heute unterstützt nun die Alternative für<br />

<strong>Deutschland</strong> (AfD). Jetzt lobt er diese als<br />

„einzige Partei, die sich in Europa für<br />

Wettbewerb und Eigenverantwortung einsetzt“,<br />

was auch daran liegen könnte,<br />

dass die AfD ganz gute Chancen hat, im<br />

Mai in das Europaparlament einzuziehen.<br />

Henkel kann sich eine Kandidatur vorstellen:<br />

„Wenn ich überzeugt bin, dass<br />

man mich wirklich braucht.“<br />

Provokateur Henkel*: Einst Inventar der <strong>Talk</strong>shows<br />

Was anderen als Opportunismus ausgelegt<br />

würde, sieht Henkel offenbar als<br />

Chancenoptimierung. Hubert Aiwanger,<br />

Chef der Freien Wähler, ist seinem ehemaligen<br />

Aktivisten aber deshalb nicht<br />

gram. „Er denkt halt immer a bissl betriebswirtschaftlicher,<br />

auch in der Politik.“<br />

Nach Kosten und Nutzen eben.<br />

Schwer zu sagen, wer von der Kandidatur<br />

mehr profitieren würde. Der ewige<br />

Ex-Funktionär Henkel? Oder die Euro-<br />

* Mit Ehefrau Bettina Hannover und deren Schwester<br />

Almut beim Bundespresseball in Berlin.<br />

Gegner, die sich gerade für den Europawahlkampf<br />

rüsten? Zwar muss die AfD<br />

bei der Europawahl nur die Hürde von<br />

drei Prozent überspringen, das macht den<br />

Einzug sehr wahrscheinlich. Andererseits<br />

werden viele AfD-Landesverbände von<br />

Grabenkämpfen geplagt. Davon würde<br />

man gern mit einer hübschen Personalie<br />

ablenken. „Hans-Olaf Henkel wäre das<br />

ideale Aushängeschild für uns, kompetent<br />

und prominent“, sagt Günter Brinker,<br />

Chef der Berliner AfD, auf deren Ticket<br />

Henkel nach Brüssel reisen könnte.<br />

Schon bei der Bundestagswahl habe<br />

man mit ihm als Spitzenmann gelieb -<br />

äugelt, sagt Brinker. Letztlich stellten die<br />

Berliner aber den Ökonomen Joachim<br />

Starbatty auf. „Professor Starbatty ist aber<br />

auch schon 73 Jahre alt“, gibt Brinker zu<br />

bedenken. Nun wird Henkel im März 74,<br />

aber wenn es darum geht, mit Worten die<br />

Welt zu ändern, ist er frisch wie eh und<br />

je. „Wenn ich für die AfD antrete, dann,<br />

um Europa vor dem Euro zu retten, politisch<br />

wie ökonomisch“, sagt Henkel.<br />

Vergangenen Samstag wollte er die<br />

Eröffnungsrede zum europapolitischen<br />

Konvent der Berliner AfD halten. Presse -<br />

einladungen hatte die Partei reichlich verschickt.<br />

Henkel selbst auch. Noch ziert<br />

er sich aber vor der Kandidatur, und die<br />

AfD gönnt ihm viel Bedenkzeit. Theoretisch<br />

müsste Henkel sich erst auf dem<br />

Bundesparteitag in Aschaffenburg am<br />

25. Januar erklären, wo die AfD ihre Bundesliste<br />

zur Europawahl aufstellen wird.<br />

Finanziell hätte Henkel das Abenteuer<br />

Europa nicht nötig, auch nicht in Zeiten<br />

von Niedrigzinsen. Er sitzt in diversen<br />

Aufsichtsräten, und der Weltkonzern IBM<br />

dürfte bei der Rente früherer Top-Kräfte<br />

nicht knausern. Dagegen sind die<br />

Diäten eines EU-Abgeordneten<br />

Peanuts. Dafür würde sich das<br />

Mandat in politischer Aufmerksamkeit<br />

auszahlen, die Henkel seit<br />

einigen Jahren vermissen muss.<br />

Was hilft es, wenn er Finanz -<br />

minister Wolfgang Schäuble in seinem<br />

Buch „Profi der Täuschung“<br />

nennt und Angela Merkel „Kanzlerin<br />

Gespaltene Zunge“? Es hört<br />

keiner zu. Für unbequeme Wahrheiten<br />

werde man in <strong>Deutschland</strong><br />

„zur Sau gemacht“, sagte Henkel<br />

einst. Dass ihn seit Jahren kein relevanter<br />

Politiker mehr zur Sau machte, muss den<br />

Mann betrüben, der einst zum Inventar<br />

der <strong>Talk</strong>show-Republik zählte.<br />

Die relevanten Leute hören eben schon<br />

kaum hin, wenn ein CSU-Generalsekretär<br />

den EZB-Präsidenten beleidigt. War -<br />

um sollten sie also horchen, wenn ein<br />

Ex-Irgendwas über einen Minister lästert?<br />

Eigentlich könnte Hans-Olaf Henkel so<br />

ziemlich alles sagen, was ihm einfällt.<br />

Aber Narrenfreiheit zu genießen heißt ja<br />

irgendwie auch, ein Narr zu sein.<br />

MELANIE AMANN<br />

BABIRADPICTURE / ABP<br />

DER SPIEGEL 50/2013 37


<strong>Deutschland</strong><br />

ORGANVERGABE<br />

Die Welt des Dr. O.<br />

Seit August steht der Göttinger Transplanteur Aiman O. wegen Totschlags vor Gericht.<br />

In dieser Woche sagt erstmals eine Patientin aus, deren Krankendaten er manipuliert<br />

haben soll. Wird der Richter den Haftbefehl gegen den Arzt außer Vollzug setzen?<br />

Nachts wirken die beiden Bettenhäuser<br />

der Uni-Klinik Göttingen<br />

wie Festungen, die nichts erschüttern<br />

kann. Dabei spielen sich darin während<br />

der scheinbar stillen Stunden oft<br />

Szenen ab, die demütig machen. Weil sie<br />

zeigen, wie fragil das Leben ist, wie<br />

schmal der Grat zum Tod.<br />

In den frühen Morgenstunden des<br />

17. August 2010 ging es um das Leben von<br />

Marietta P., 48 Jahre alt. Narkotisiert und<br />

beatmet lag die Lehrerin im Operationssaal.<br />

Am Tisch stand Aiman O., ihr Arzt. Es<br />

gibt Chirurgen, die sagen, seine Fähigkeiten<br />

suchten ihresgleichen in <strong>Deutschland</strong>.<br />

Auch deshalb hatte sich Marietta P. ihm<br />

anvertraut. Ihre Leber war durch eine Hepatitis<br />

schwer geschädigt. Nun sollte sie<br />

eine neue bekommen.<br />

Gewöhnlich reicht der erste Hautschnitt<br />

bei einer Lebertransplantation<br />

vom unteren Brustbein bis zum Nabel.<br />

Dann arbeiten sich die Chirurgen mit einem<br />

Elektromesser durch Fettschicht, Bindegewebe<br />

und Bauchfell, bis die kranke<br />

Leber vor ihnen liegt. Die Arterie, Pfortader<br />

und Gallengang werden durchtrennt,<br />

die Lebervenen abgeklemmt, das Organ<br />

wird herausgeschnitten. Die neue Leber<br />

wird in umgekehrter Reihenfolge eingepflanzt.<br />

Eine Lebertransplantation kann Leben<br />

schenken, zugleich ist sie ein lebensbedrohlicher<br />

Eingriff. Die Patienten wählen<br />

einen Arzt aus, von dem sie glauben, dass<br />

er sie nach bestem Wissen und Gewissen<br />

behandelt. „Ich hätte nie für möglich gehalten,<br />

dass ich ihm mal in einem Gerichtssaal<br />

gegenübertreten müsste“, sagt<br />

Marietta P. über Aiman O.<br />

Doch genau dazu soll es an diesem<br />

Dienstag kommen. Marietta P. ist als Zeugin<br />

vor dem Landgericht Göttingen geladen.<br />

Sie ist die erste Patientin, die berichten<br />

wird, wie sie O. als Arzt, aber auch<br />

als Mensch erlebt hat. Und sie wird einen<br />

Satz von O. wiederholen, dessen Bedeutung<br />

sie so verkannt hat, damals.<br />

Seit einem Vierteljahr steht der 46-jährige<br />

Chirurg vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft<br />

Braunschweig hat ihn wegen<br />

Körperverletzung mit Todesfolge in drei<br />

Fällen und wegen versuchten Totschlags<br />

STEFAN RAMPFEL / DER SPIEGEL (O.); STEFAN RAMPFEL / DPA (U.)<br />

Uni-Klinik Göttingen, Angeklagter O. (2. v. r.) Anwälte: „Der versteht davon doch gar nichts“<br />

38<br />

DER SPIEGEL 50/2013


in elf Fällen angeklagt. Er habe seine Patienten<br />

auf dem Papier kränker gemacht,<br />

um ihnen Lebern zuzuschustern. Angesichts<br />

des Organmangels in <strong>Deutschland</strong><br />

habe er in Kauf genommen, dass andere<br />

Patienten sterben könnten, weil sie nicht<br />

rechtzeitig ein rettendes Organ bekommen.<br />

O. ist nur wegen jener Fälle angeklagt,<br />

die die Ermittler belegt sehen. In Wahrheit<br />

haben interne wie externe Prüfer<br />

während seiner Zeit an der Uni-Klinik<br />

weitaus mehr Richtlinienverstöße identifiziert.<br />

Eine interne Kommission wertete<br />

61 von 85 geprüften Fällen als auffällig.<br />

Bei 27 Patienten war eine Lebertransplantation<br />

medizinisch nicht indiziert, in<br />

34 Fällen wurden Patientendaten gefälscht,<br />

indem Blutwerte manipuliert<br />

oder nichterfolgte Dialysen angegeben<br />

wurden. Oder indem behauptet wurde,<br />

alkoholkranke Patienten seien gemäß der<br />

Vorschriften abstinent. O. bestreitet bis<br />

heute jede Form der Manipulation.<br />

Auch eine detaillierte Stellungnahme<br />

der Bundesärztekammer vom November,<br />

die dem SPIEGEL vorliegt, listet jene Fälle<br />

auf, die die Staatsanwälte nicht zur Anklage<br />

brachten. Danach wurden nicht nur<br />

Patienten transplantiert, die nicht so<br />

schwer krank waren, sondern auch solche,<br />

die bereits viel zu krank waren: Ein<br />

Patient etwa hätte eigentlich in Jena eine<br />

Leber bekommen sollen. Doch als die<br />

Chirurgen dort den Bauchraum öffneten,<br />

sahen sie, dass die Leber mit Tumorknoten<br />

übersät war, und brachen die Operation<br />

ab. Bei O. erhielt der Patient später<br />

eine Leber. Andere Patienten kamen direkt<br />

aus einer Entzugsklinik auf den Tisch<br />

von O.<br />

Selbst ohne diese Fälle ist der Göttinger<br />

Prozess ein Mammutverfahren. Mehr als<br />

40 Tage sind angesetzt, an 20 Terminen<br />

wurde bereits verhandelt. Doch trotz<br />

Zehntausender Aktenseiten wird es<br />

schwer, die konkreten Taten zu belegen.<br />

Und selbst wenn es gelänge: Wären die<br />

Verstöße dann überhaupt strafrechtlich<br />

relevant? Juristen sprechen von „Neuland“.<br />

Immerhin ist klargeworden, dass viele<br />

vom zweifelhaften Gebaren des Göt -<br />

tinger Transplanteurs wussten – doch niemand<br />

stoppte ihn. Nicht die Kollegen,<br />

nicht die Vorgesetzten, keine Staats -<br />

anwaltschaft oder die Bundesärzte -<br />

kammer.<br />

Marietta P. hat sich Notizen über ihren<br />

Krankheitsverlauf gemacht. Die heute 51-<br />

Jährige, eine schmale Frau in Jeans und<br />

blauem Pulli, sitzt auf einer Couch in ihrer<br />

Wohnung in der Nähe von Aachen.<br />

Sie hat sich für das Wiedersehen mit ihrem<br />

Arzt vorgenommen, niemanden anzuklagen<br />

und niemanden zu schonen.<br />

„So dankbar ich ihm bin, dass ich lebe,<br />

es entschuldigt nicht sein Fehlverhalten“,<br />

sagt sie.<br />

Seit zehn Jahren weiß die Deutschlehrerin,<br />

dass sie Hepatitis C hat. Vor vier<br />

Jahren diagnostizierten die Ärzte Leberzirrhose.<br />

Bald darauf juckte ihr ganzer<br />

Körper, sie bekam Ausschlag im Gesicht,<br />

und auch ihr Geist litt: Manchmal fielen<br />

ihr selbst einfache Wörter nicht mehr ein.<br />

Sie brauche eine neue Leber, sagten<br />

Ärzte. Irgendwann, je früher, desto besser.<br />

Da ihr Meld-Score, der für den Erhalt<br />

einer Spenderleber entscheidend ist, nur<br />

bei 9 lag, machten sie ihr aber wenig Hoffnung.<br />

Mit diesem Wert stand Marietta P.<br />

auf der Warteliste weit hinten. Die meisten<br />

Organe werden ab einem Meld-Score<br />

über 30 vergeben. Der Bruder der Lehrerin<br />

erklärte sich deshalb zu einer Lebendspende<br />

eines Teils seiner Leber bereit. Im<br />

März 2010 hatten die Geschwister ihren<br />

ersten Termin in der Uni-Klinik Göttingen.<br />

Als „kompetent“ und „extrem selbstbewusst“<br />

habe sie O. beim ersten Treffen<br />

empfunden, erzählt Marietta P., er habe<br />

sich selber eine „medizinische Koryphäe“<br />

genannt. Ihren Ängsten sei er mit Worten<br />

wie diesen begegnet: „Vertrauen sie mir,<br />

ich mache das schon.“<br />

Die Lebendspende sollte im November<br />

2010 stattfinden. Eine Ethikkommission<br />

hatte bereits zugestimmt. Sie sei die ideale<br />

Patientin für eine Lebendspende, habe<br />

O. gesagt: relativ jung, relativ gesund, das<br />

verspreche langfristigen Erfolg.<br />

Umso irritierter war Marietta P., als sie<br />

später erfuhr, dass sie auch auf der klinikinternen<br />

Liste für Organempfänger<br />

oben stand. „Warum man mich darauf gesetzt<br />

hat, weiß ich bis heute nicht“, sagt<br />

sie.<br />

Nur fünf Monate nach dem ersten Termin<br />

bei O. klingelte nachts um zwei das<br />

Telefon von Marietta P.: Es gebe eine Leber,<br />

aber sie müsse sich schnell entscheiden.<br />

Was die Patientin nicht wusste: Die<br />

Leber war ein sogenanntes Zentrums -<br />

angebot – das sind Organe, die nicht mehr<br />

über die zentrale Vergabestelle Eurotransplant<br />

(ET) im holländischen Leiden<br />

„Wir haben das für einen Irrtum gehalten. Ich hab<br />

noch zu ihm gesagt: Du bist doch topfit.“<br />

zugeteilt werden, weil sie von minderer<br />

Qualität sind.<br />

Im Göttinger Landgericht wird meist<br />

dienstags und donnerstags verhandelt. O.<br />

erscheint stets tadellos gekleidet, Sakko,<br />

Hemd, Krawatte, Manschettenknöpfe. Sein<br />

weißes Haar ist schütterer geworden in elf<br />

Monaten Untersuchungshaft. Zurückhaltung<br />

oder gar Scham scheinen ihm fremd:<br />

Er scherzt mit seinen Anwälten, zwinkert<br />

durch seine randlose Brille Menschen im<br />

Zuschauerraum zu . Immer wieder streckt<br />

er grinsend einen Daumen hoch, selbst an<br />

Tagen, an denen Angehörige von verstorbenen<br />

Patienten weinend im Saal sitzen.<br />

Richter, Staatsanwälte, Verteidigung<br />

und Nebenklage müssen sich durch komplizierte<br />

medizinische Sachverhalte rackern.<br />

Cholangiosepsis, Aszitis, Tipss-Anlage<br />

– nicht selten erläutert dann der Angeklagte<br />

dem Gericht Begriffe, eine<br />

merkwürdige Rollenverteilung.<br />

Bis vergangene Woche wurden die sogenannten<br />

Indikationsfälle verhandelt.<br />

O. soll drei Patienten Lebern verpflanzt<br />

haben, ohne dass eine medizinische Indikation<br />

bestanden habe. Der Bäcker Jürgen<br />

D., die Frührentnerin Margitta M.<br />

und der Elektriker Karl-Heinz T. starben.<br />

Jürgen D., 60, litt unter Leberzirrhose.<br />

Am 6. Oktober 2008 wurde er auf die<br />

Warteliste aufgenommen. Zu diesem<br />

Zeitpunkt hatte er einen Meld-Score von<br />

8. Erst ab einem Wert von 14 profitieren<br />

Patienten von einer Lebertransplantation.<br />

Sechs Tage später bekam D. ein Organ.<br />

Sein Körper stieß es ab. Er verstarb vier<br />

Monate nach einer zweiten Transplantation.<br />

Die Gutachter meinen, der Bäcker<br />

hätte anders behandelt werden müssen.<br />

Zudem trank D. zwar nicht mehr, war<br />

aber von einem Entzugsmittel abhängig.<br />

O. sieht sein Handeln bis heute als vertretbar<br />

an.<br />

Im Fall Margitta M. werfen ihm die<br />

Gutachter vor, er habe deren Erkrankung<br />

verkannt. Die gelernte Köchin war wenige<br />

Tage nach ihrer Transplantation im<br />

April 2011 im Alter von 55 Jahren verstorben.<br />

Sie habe eine chronische Entzündung<br />

der Bauchspeicheldrüse gehabt,<br />

erklärt ein Sachverständiger, keine Zirrhose.<br />

Er sagt, die Patientin hätte „mit<br />

an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“<br />

ohne den Eingriff länger gelebt.<br />

Auch ein anderer Gutachter kann die<br />

Entscheidung zur Transplantation nicht<br />

nachvollziehen. „Der versteht davon gar<br />

nichts“, ruft O. in den Saal.<br />

Zuvor war er aufgestanden und hatte<br />

„den verehrten Vorsitzenden“ mit Power-<br />

Point die Gründe für seine medizinischen<br />

Entscheidungen präsentiert. Die Patientin<br />

habe heftige Blutungen gehabt, in immer<br />

kürzeren Abständen. Diese sind in den<br />

Akten aber nicht vermerkt.<br />

Der Patient Karl-Heinz T., 55, wurde<br />

mit einem Meld-Wert von 9 transplantiert,<br />

obwohl er in den anderthalb Jahren<br />

vor der Transplantation voll arbeitsfähig<br />

gewesen war und als Starkstromelektriker<br />

sogar Nachtschichten absolvierte.<br />

Der schicksalhafte Anruf kam für T.<br />

am 30. September 2010. Es gebe eine<br />

Leber für ihn. „Wir haben das für einen<br />

Irrtum gehalten“, berichtet seine Witwe,<br />

eine kleine Frau mit kurzen, braunen<br />

Haaren, dem Gericht. „Wir sind kurz<br />

zuvor noch im Urlaub im Elbsandstein-<br />

DER SPIEGEL 50/2013 39


<strong>Deutschland</strong><br />

gebirge rumgekraxelt. Ich hab<br />

noch zu ihm gesagt: Du bist<br />

doch topfit.“<br />

Warum sie die Leber dann<br />

angenommen hätten, provoziert<br />

der Vorsitzende Richter<br />

Ralf Günther. „Wir haben gedacht,<br />

dies Organ sei die passende<br />

Leber für meinen Mann.<br />

Ein Geschenk.“ Dann leiser:<br />

„Wir haben dem System, den<br />

Spezialisten vertraut.“<br />

Dass dieses Organ minderwertig<br />

war und deshalb direkt<br />

vergeben werden konnte, habe<br />

sie erst aus der Ermittlungsakte<br />

erfahren. Karl-Heinz T. verstarb<br />

ein Jahr nach der Operation.<br />

Zuvor hatte er noch eine zweite<br />

Leber bekommen.<br />

Der renommierte Göttinger<br />

Opferanwalt Steffen Hörning,<br />

der die Familie als Nebenkläger<br />

vertritt, fragte einen der Gutachter:<br />

„Würde Herr T. heute<br />

noch leben?“<br />

„Höchstwahrscheinlich ja.“<br />

Auch Marietta P. ging es<br />

schon kurz nach ihrer Transplantation<br />

schlecht. Ihr Körper<br />

stieß das fremde Organ ab: Sie<br />

wurde zitronengelb im Gesicht,<br />

der Abfluss der Galle funktionierte<br />

nicht, sie lagerte Wasser<br />

ein. Sie litt mehr als vor dem<br />

Eingriff.<br />

Im Februar 2011 hatte Marietta<br />

P. dann einen Termin bei O.<br />

Sie war mit dem Chirurgen allein<br />

im Raum. Und dann berichtet<br />

sie von diesem Moment, diesem Satz,<br />

der sie bis heute verfolgt. O. habe einen<br />

Blick in ihre Krankenakte geworfen und<br />

gesagt: „Dann setzen wir Sie jetzt hoch.“<br />

Wenn ein junges Organ komme, werde<br />

sie nochmals transplantiert.<br />

Nie wäre sie auf die Idee gekommen,<br />

dass O. ihre Daten manipulieren würde,<br />

um eine Leber für sie zu bekommen, sagt<br />

P. „Wenn ich in sein Vorgehen eingeweiht<br />

worden wäre, hätte ich dem niemals zugestimmt.“<br />

Kurz danach hatte sie auf dem Papier<br />

einen Meld-Score von 40. Sie galt als sterbenskrank,<br />

stand jetzt auf der Warteliste<br />

ganz oben. Am 11. Mai 2011 setzte ihr O.<br />

eine neue, diesmal wesentlich bessere Leber<br />

ein.<br />

Von ihrem Chirurgen, von dem sie sich<br />

immer gut betreut gefühlt hatte, hörte sie<br />

erst wieder, als sie Ende Juli 2012 im<br />

SPIEGEL einen Bericht über dessen angebliche<br />

Manipulationen las. Am selben<br />

Tag hatte sie zufällig einen Termin in der<br />

40<br />

Patientin P.: „Ich bin nie dialysiert worden“<br />

Vor Gericht wertete O. seinen Bonus als „unethisch“.<br />

Dagegen geht aus Briefen hervor, dass er mehr Geld verlangte.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

UTA WAGNER / DER SPIEGEL<br />

Uni-Klinik. „Überall, wo ich nachfragte,<br />

was mit mir passiert sei, wurde ich abgebügelt.“<br />

Nur ein Arzt habe später lapidar<br />

geantwortet: „Bei der ersten Leber hat<br />

er mit Ihrem Leben gespielt, bei der zweiten<br />

wollte er Ihnen etwas Gutes tun.“<br />

Kurz darauf meldete sich die Kripo bei<br />

ihr. In ihrer Krankenakte sei eine Dialyse<br />

vermerkt. In diesem Fall schnellt ein leberkranker<br />

Patient auf der Warteliste<br />

nach oben. „Ich bin nie dialysiert worden“,<br />

antwortete Marietta P.<br />

Viele hätten gewusst, was da ablaufe,<br />

gab eine Assistenzärztin vor Gericht zu<br />

Protokoll. Es war eine mutige Aussage,<br />

einige ihrer Kollegen hatten sich zuvor<br />

gewunden. Nicht nur Assistenz-, auch<br />

Oberärzte haben heutzutage oft befristete<br />

Verträge.<br />

Außerdem wähnten etliche Mediziner<br />

den Klinikvorstand auf O.s Seite. Angeblich<br />

war es am Ende eine Krankenschwester,<br />

die im Juli 2011 mit einem anonymen<br />

Hinweis bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation<br />

(DSO) den<br />

Stein ins Rollen brachte. Klinikintern<br />

gab es damals noch kein<br />

anonymes Fehlermeldesystem.<br />

Die DSO, verantwortlich für<br />

die Logistik der Organspende,<br />

hätte jedoch schon vorher stutzig<br />

werden können. Schließlich<br />

wurden nach O.s Dienstantritt<br />

plötzlich mehr als doppelt so<br />

viele Organe nach Göttingen<br />

gebracht. Und warum schöpfte<br />

in der Vergabestelle Eurotransplant<br />

wegen widersprüchlicher<br />

Laborwerte niemand Verdacht?<br />

Die Bundesärztekammer<br />

(BÄK) hätte O. schon 2006 aus<br />

dem Verkehr ziehen können.<br />

Damals arbeitete er an der Uni-<br />

Klinik Regensburg. Ein Jahr zuvor<br />

hatte er in Jordanien einer<br />

Frau eine Spenderleber aus<br />

Wien verpflanzt, die niemals<br />

Europa hätte verlassen dürfen.<br />

Daraufhin musste sich O. gegenüber<br />

der BÄK rechtfertigen.<br />

In Gesprächen soll er sich völlig<br />

unkritisch gezeigt haben, was<br />

das eigene Handeln betrifft. Er<br />

habe nur helfen wollen, sagte O.<br />

Die Standesvertretung verfasste<br />

einen Bericht, der in der<br />

Schublade verschwand, die<br />

Staatsanwaltschaft Regensburg<br />

legte den Fall zu den Akten.<br />

Zwei Jahre später, im Frühjahr<br />

2008, sprach ihn der Vorstand<br />

der Uni-Klinik Göttingen<br />

an. Sie suchten einen Chirurgen,<br />

der die Transplantationszahlen<br />

steigern sollte. O. bekam eine Stelle<br />

als leitender Oberarzt und neben einem<br />

Fixum einen Bonus: 1500 Euro pro<br />

Fall ab der 21. bis zur 60. Transplantation.<br />

Vor Gericht behauptete O., er habe sich<br />

gegen diesen „unethischen“ Bonus gewehrt.<br />

Dagegen geht aus Briefen hervor,<br />

dass er mehr Geld verlangte.<br />

Im Krankenhausalltag hatte seine Patientin<br />

Marietta P. den Eindruck, dass „jeder<br />

das gemacht hat, was O. wollte. Er<br />

war eine Art Herrscher“. Ein Arzt sagte<br />

vor Gericht, O. habe die Abteilung wie<br />

ein „Königreich“ geführt.<br />

Bestens zu verstehen schien sich O. nur<br />

mit dem ehemaligen Leiter der Gastroenterologie,<br />

gegen den die Staatsanwaltschaft<br />

in einem getrennten Verfahren ermittelt.<br />

Assistenzärzte des Klinikums hatten<br />

ausgesagt, dieser habe sie aufgefordert,<br />

Blutproben zu manipulieren.<br />

Die beide Ärzte scheinen eine unheilvolle<br />

Allianz gebildet zu haben. Sie hielten<br />

die wöchentlichen Konferenzen, in<br />

denen unter anderem besprochen wurde,<br />

wer auf die Warteliste kam, in der Regel<br />

ohne Psychiater und ohne Anästhesisten<br />

ab. Die Transplantationskoordinatoren<br />

schlossen sie davon aus. Entscheidungen


wurden nicht dokumentiert oder protokolliert.<br />

Sie schalteten und walteten in einer<br />

Welt, die sie sich selbst geschaffen<br />

hatten.<br />

Der Nachfolger von O. sagte, nach seinem<br />

Dienstantritt habe er 130 Namen auf<br />

der Warteliste für eine Leber gefunden.<br />

Darunter Patienten, die gar nicht im Bilde<br />

darüber gewesen seien, dass sie transplantiert<br />

werden sollten. Auf die Frage, wie<br />

er sich das erklären könne, antwortete<br />

der Arzt: „Die Fallzahl spielt eine Rolle<br />

fürs Renommee.“ O. rief: „Da wird man<br />

wahnsinnig bei solchen Aussagen.“ Sie<br />

seien „boshaft und diffamierend“.<br />

Mal laut, mal leise steht O. in diesen<br />

Momenten sein Verteidiger zur Seite.<br />

Steffen Stern hält die Rechtsauffassung<br />

der Staatsanwaltschaft für „absurd“. Jeder<br />

Mediziner habe zunächst die Verpflichtung,<br />

das Leben und die Gesundheit<br />

seiner Patienten zu schützen.<br />

Zugleich lässt Stern nichts unversucht,<br />

das gesamte System der Organvergabe<br />

zu diskreditieren. Er hält es für verfassungswidrig,<br />

weil unter anderem ein privatrechtlicher<br />

Verein wie BÄK per Richtlinien<br />

Lebenschancen zuteile.<br />

Für seinen Anwalt Stern ist O. „der<br />

Watschenmann“. Schließlich wisse man<br />

inzwischen, dass in nahezu allen 24 Zentren<br />

gemauschelt worden sei, wenn auch<br />

unterschiedlich stark.<br />

Welche Haltung das Gericht letztlich<br />

einnehmen wird, ist bislang nicht zu erkennen.<br />

Richter Günther hat dem Angeklagten<br />

bislang kaum etwas kritisch vorgehalten.<br />

An diesem Donnerstag will er<br />

verkünden, ob er den Haftbefehl gegen<br />

O. außer Vollzug setzt. Es gebe eine Tendenz<br />

der Kammer, so Günther, bei den<br />

Taten nicht mehr von Vorsatz, sondern<br />

von Fahrlässigkeit auszugehen. Damit<br />

wäre das Strafmaß geringer und somit<br />

die Fluchtgefahr, wegen der O. inhaftiert<br />

ist, nicht mehr zu begründen.<br />

Die Staatsanwaltschaft sieht ihre Anklage<br />

im Ganzen weiterhin begründet.<br />

Doch sie muss O. unter anderem noch<br />

nachweisen, dass durch die Manipulationen<br />

andere Patienten verstorben sind.<br />

Und dass diese im Zweifel auch von dem<br />

jeweiligen Organ profitiert hätten.<br />

Das System der Organverteilung kann<br />

nur funktionieren, wenn die wenigen guten<br />

Organe gerecht vergeben werden.<br />

Marietta P. weiß, dass O. auch mit ihrem<br />

Fall „dieses System ad absurdum“ geführt<br />

hat. Ihre zweite Leber funktioniert bis<br />

heute einwandfrei, dennoch quälen sie<br />

an manchen Tagen die Gedanken. „Ich<br />

fühle mich dann schlecht, weil ich damals<br />

eigentlich noch nicht dran gewesen<br />

wäre“, sagt sie. „Aber ist es ja auch nicht<br />

so, dass ich diese Leber gar nicht gebraucht<br />

hätte.“<br />

Aiman O. hat seinen Patienten einiges<br />

aufgebürdet.<br />

UDO LUDWIG,<br />

ANTJE WINDMANN<br />

DER SPIEGEL 50/2013 41


<strong>Deutschland</strong><br />

KOMMENTAR<br />

Rohrkrepierer<br />

Von Gisela Friedrichsen<br />

Das Strafrecht gilt als die Ultima<br />

Ratio des Staates – das letzte<br />

Mittel, das schärfste Schwert,<br />

der letzte Lösungsweg – zur Herstellung<br />

des Rechtsfriedens. Nur schwere<br />

Verstöße gegen die Rechtsordnung<br />

sind damit zu ahnden. Bei Bagatelldelikten<br />

ist nach anderen Wegen zu<br />

suchen, um den Täter, wie es in der<br />

Rechtswissenschaft so schön<br />

heißt, am Begehen weiterer<br />

Straftaten zu hindern.<br />

Gegen Christian Wulff und<br />

David Groenewold hat die Hannoveraner<br />

Staatsanwaltschaft<br />

das maximale Geschütz aufgefahren<br />

und wegen Bestechlichkeit<br />

und Bestechung angeklagt,<br />

obwohl es um lumpige 753,90<br />

Euro geht, für die sich der damalige<br />

niedersächsische Mi -<br />

nisterpräsident angeblich von<br />

dem mit ihm eng befreundeten<br />

Filmmanager hatte kaufen lassen.<br />

„Ehrabschneidend“ nannte<br />

Wulff diese Unterstellung in seiner<br />

Erklärung vor Gericht.<br />

Die Richter hatten zwar den<br />

Furor der Strafverfolger gedämpft,<br />

indem sie die Vorwürfe<br />

auf Vorteilsannahme und -gewährung<br />

herunterschraubten.<br />

Aber immerhin ließen sie die<br />

Anklage zur Hauptverhandlung<br />

zu. Dass sich weder Wulff noch<br />

Groenewold auf den Kuhhandel<br />

einer von der Staatsanwaltschaft<br />

angebotenen Verfahrenseinstellung<br />

gegen Zahlung von Geldauflagen<br />

einließen, versteht sich<br />

angesichts der unverhältnismäßig<br />

hohen Summen von 20000<br />

und 30000 Euro fast von selbst.<br />

Es gibt Fälle, in denen erst ein öffentlicher<br />

Prozess Klarheit schafft<br />

und den Angeklagten aus dem Zwielicht<br />

ungerechtfertigter Anschuldigungen<br />

herausholt, ihn vor den Augen<br />

der Öffentlichkeit rehabilitiert und<br />

ihm seine Ehre wiedergibt. In anderen<br />

Fällen aber beschädigen bereits<br />

Ermittlungen den Betreffenden so,<br />

dass er sich davon nicht mehr erholt.<br />

Kommt es überdies zu einer Hauptverhandlung,<br />

beseitigen weder eine<br />

Einstellung des Verfahrens noch ein<br />

Kaum ein Zeuge erinnert<br />

sich noch an das<br />

Wiesn-Wochenende 2008.<br />

Angeklagter Wulff<br />

Freispruch den Fleck auf der Weste.<br />

Im öffentlichen Gedächtnis wird<br />

Wulff jener Bundespräsident bleiben,<br />

der wegen Korruption vor Gericht gestanden<br />

hat.<br />

Was ist nach fünf Verhandlungstagen<br />

von den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft<br />

geblieben? Nichts. Null.<br />

Welchen Sinn hatte es, Rezeptionistinnen<br />

des Hotels „Bayerischer Hof“<br />

in München als Zeugen vor Gericht<br />

zu zitieren, Empfangsdamen, Hausdiener,<br />

Kindermädchen für den damals<br />

vier Monate alten Sohn der<br />

Wulffs, Leibwächter, Fahrer, Sekretärinnen?<br />

Kaum jemand erinnerte sich<br />

an das eine Oktoberfest-Wochenende<br />

im Jahr 2008.<br />

Im „Bayerischen Hof“ geht es fast<br />

immer, aber besonders zur Wiesn-Zeit<br />

zu wie in einem Taubenschlag. Prominenz<br />

aller Schattierungen gibt sich<br />

die Klinke in die Hand. Mag die Hannoveraner<br />

Justiz auch einen niedersächsischen<br />

Ministerpräsidenten samt<br />

Gattin und Kind für eine unvergessliche<br />

Ausnahmeerscheinung halten, an<br />

deren Besuch man sich auch fünf Jahre<br />

später noch im Detail erinnert – für<br />

die Münchner Hotellerie gilt das noch<br />

lange nicht.<br />

Wulff hat teuer bezahlt für<br />

Fehler, die er als Politiker beging:<br />

Gratis-Urlaube, unklare<br />

Kredite, der Drohanruf bei<br />

„Bild“ und vieles mehr. Dafür<br />

geriet er in den Medien unter<br />

Druck, auch bei den Parteifreunden.<br />

Als erster Mann im Staat,<br />

der eine Vorbildfunktion hat,<br />

musste er zurücktreten. Er verlor<br />

sein Amt, seine Reputation.<br />

Dass er überdies privat in schweres<br />

Wasser geriet, hat er sich<br />

ebenfalls selbst zuzuschreiben.<br />

Doch diese Fehler sind nicht<br />

justitiabel. „Täter“, die mit dem<br />

schärfsten Schwert des Staates<br />

von der Begehung weiterer<br />

Straftaten abgehalten werden<br />

müssen, sind Wulff und Groenewold<br />

nicht.<br />

Der Begriff Ultima Ratio<br />

stammt aus dem Dreißigjährigen<br />

Krieg. Kardinal Richelieu<br />

ließ die französischen Kanonenrohre<br />

mit den Worten „ultima<br />

ratio regum“ (das letzte Mittel<br />

der Könige) zieren. Friedrich II.<br />

versah die preußischen mit der<br />

Inschrift „ultima ratio regis“<br />

(des Königs).<br />

Die Hannoveraner Kanoniere<br />

aber haben ihre Geschütze gegen<br />

Spatzen in Stellung gebracht<br />

und verharren dahinter reglos.<br />

Wo bleibt die Verteidigung ihrer Anklage?<br />

Also auf zum letzten Gefecht:<br />

Am 12. Dezember muss Bettina Wulff<br />

als Zeugin vor Gericht erscheinen.<br />

Der kluge Vorsitzende Frank Rosenow<br />

will am 19. Dezember mitteilen,<br />

„wie das Verfahren weitergehen sollte“.<br />

Denn: „Vor Weihnachten werden<br />

wir den Komplex der Vorteilsgewährung<br />

und bewussten Entgegennahme<br />

ja durchhaben.“ Mit einem Rohrkrepierer?<br />

JULIAN STRATENSCHULTE / DPA<br />

42<br />

DER SPIEGEL 50/2013


SAKIS MITROLIDIS / AFP<br />

Türkischer Posten an der EU-Grenze zu Griechenland: Vom Staat kaum etwas zu erwarten<br />

FLÜCHTLINGE<br />

Emotionaler<br />

Kurzschluss<br />

Zwei Monate nach der Katastrophe<br />

vor Lampedusa macht Europa<br />

weiter wie bisher: Die EU will nun<br />

abgelehnte Asylbewerber aus<br />

aller Welt in die Türkei schicken.<br />

BULGARIEN<br />

für aber Staaten wie Italien oder Bulgarien<br />

an der EU- Außengrenze.<br />

Zwei Monate später ist nun klar: Auch<br />

die Hoffnung ist gestorben. Das Wort<br />

Dublin taucht im Koalitionspapier von<br />

Union und SPD nicht einmal auf. Es gibt<br />

also keinen Vorstoß, daran etwas zu ändern.<br />

Und nun hat auch noch die EU einen<br />

Deal gemacht, der die Methode<br />

„Dublin“ auf die Spitze treibt – die Methode,<br />

das Asylproblem möglichst an die<br />

Ränder Europas zu verschieben.<br />

Dabei stellt Brüssel der Türkei in Aussicht,<br />

dass ihr alter Wunsch in Erfüllung<br />

gehen könnte: die visafreie Einreise für<br />

ihre Bürger nach Europa. Im Gegenzug<br />

erklärt sich die Türkei bereit, abgelehnte<br />

Asylbewerber zurückzunehmen, die auf<br />

einer Schleuser-Route über die Türkei in<br />

der EU gelandet sind. Mit dem Abkommen,<br />

das die EU in einer Woche unterzeichnen<br />

will, wird die Türkei, obwohl<br />

nicht EU-Mitglied, zu einer Art Außenposten<br />

des Dublin-Systems. Für die Türkei<br />

mag das ein guter Deal sein, für<br />

Flüchtlinge ist das dagegen eine schlechte<br />

Nachricht.<br />

„Das Rücknahmeabkommen ist eine<br />

Katastrophe“, sagt Piril Erçoban von der<br />

türkischen Flüchtlingsorganisation Mülteci-Der.<br />

„Niemand hier weiß, wohin mit<br />

Schwarzes<br />

Meer<br />

Istanbul<br />

TÜRKEI<br />

200 km<br />

den Flüchtlingen“, die<br />

Türkei sei schon jetzt<br />

völlig überfordert. Das<br />

liegt auch dar an, dass<br />

die Türkei, anders als<br />

<strong>Deutschland</strong>, über kein<br />

Asylsystem verfügt, das<br />

diesen Namen verdient.<br />

Zwar hat die Regierung<br />

die Genfer Flüchtlingskonvention<br />

unterzeichnet<br />

und sich damit ver-<br />

Was kann es schon Tröstliches geben<br />

an einem Tag, an dem mehr<br />

als 300 Menschen ertrinken? Als<br />

aber Anfang Oktober so viele Flüchtlinge<br />

im Meer vor Lampedusa starben, wurde<br />

zu mindest eine Hoffnung geboren: dass die<br />

Europäer ihre Asylpolitik in Frage stellen.<br />

Von einer „Schande“ sprach Papst Franziskus,<br />

von einer „Schande“ redete auch<br />

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz,<br />

und Bundespräsident Joachim Gauck<br />

fragte, ob „unser Engagement der Bedeutung<br />

unseres Landes entspricht“.<br />

Auch ein Dogma der europäischen<br />

Asylpolitik schien sich bei so viel Erschütterung<br />

erschüttern zu<br />

lassen: die Dublin-Verordnung.<br />

Jene Regelung,<br />

wonach ein Asylbewerber<br />

in das EU-Land zu-<br />

EU-Außengrenze<br />

rückgeschickt wird, in<br />

dem er zuerst den Boden<br />

der Gemeinschaft GRIECHENLAND<br />

betreten hat. Das nützt<br />

Ländern in der Mitte<br />

Europas, vor allem<br />

<strong>Deutschland</strong>, belastet da-<br />

Mittelmeer<br />

pflichtet, Menschen auf der Flucht Schutz<br />

zu bieten. Allerdings lässt die Türkei das<br />

grundsätzlich nur bei Flüchtlingen aus<br />

Europa gelten. Daran ändert auch ein<br />

neues Gesetz nichts, das leichte Verbesserungen<br />

für Flüchtlinge bringen soll.<br />

Eine Ausnahme von seinem harten<br />

Kurs macht das Land bei den rund<br />

600 000 Syrern, die seit Ausbruch des<br />

Bürgerkriegs über die Grenze geflohen<br />

sind. Für sie hat Ministerpräsident Recep<br />

Tayyip Erdogan eine Mindestversorgung<br />

angeordnet. Wer aber aus Asien oder<br />

Afrika stammt, etwa aus Iran, Afghani -<br />

stan oder Somalia, hat vom türkischen<br />

Staat kaum etwas zu erwarten.<br />

Die Menschen kommen trotzdem. Viele<br />

leben unter katastrophalen Bedingungen,<br />

finden keine reguläre Arbeit, sind<br />

auf sich selbst gestellt. Ohne Unterkunft,<br />

ohne Geld. Nur wenige ergattern einen<br />

Platz im Umsiedlungs-Programm des<br />

UNHCR. In diesem Jahr will das Uno-<br />

Hilfswerk gerade mal 6000 Flüchtlinge<br />

aus der Türkei ins Ausland vermitteln.<br />

Wem dieser Weg versperrt bleibt, der<br />

nimmt einen anderen: illegal in die EU.<br />

Häufig werden die Flüchtlinge aber bereits<br />

an der Grenze von den Griechen zurückgeschickt,<br />

bevor sie überhaupt um<br />

Asyl bitten können. Der Europäische<br />

Menschenrechtsgerichtshof hat diese sogenannten<br />

Pushbacks für rechtswidrig erklärt.<br />

Glaubt man Amnesty International,<br />

kommt es dennoch immer wieder dazu.<br />

Die Menschenrechtsaktivistin Erçoban<br />

fürchtet, dass die Zahl der Pushbacks<br />

mit dem Abkommen zwischen der EU<br />

und der Türkei noch wächst. Zwar muss<br />

die Türkei nur Flüchtlinge zurücknehmen,<br />

die über das Land in die EU gereist<br />

und später in einem ordentlichen Asyl -<br />

ver fahren durchgefallen sind. Doch „kein<br />

türkisches Gericht wird prüfen, ob so<br />

ein Verfahren in einem EU-Staat unfair<br />

oder gar nicht gelaufen ist“, prophezeit<br />

Erçoban.<br />

Das alles wird wohl kein Hindernis für<br />

das Abkommen sein. Da spielt es auch<br />

keine Rolle, dass die EU-Staaten keine<br />

Asylbewerber mehr nach Griechenland<br />

zurückschicken, weil dort das Asylsystem<br />

zusammengebrochen ist. Die Türkei hat<br />

kein geordnetes Asylsystem, das zusammenbrechen<br />

könnte.<br />

Verhandelt hat das Abkommen übrigens<br />

die EU-Innenkommissarin Cecilia<br />

Malmström. Kurz nach der Katastrophe<br />

von Lampedusa hatte sie noch gesagt, sie<br />

sei „entsetzt über die Tragödie“. Malmström<br />

forderte ein Umdenken in der europäischen<br />

Einwanderungspolitik. Aber<br />

was sich nach energischem Kurswechsel<br />

anhörte, war offenbar nur ein emotionaler<br />

Kurzschluss. Der dürfte inzwischen<br />

behoben sein: Europas Flüchtlingspolitik<br />

nach Lampedusa ist Europas Flüchtlingspolitik<br />

vor Lampedusa.<br />

JÜRGEN DAHLKAMP, MAXIMILIAN POPP<br />

DER SPIEGEL 50/2013 43


Ein hübsches Gesicht blickt den Betrachter<br />

vom Foto des Bewerbungsschreibens<br />

an: blonde Haare, große<br />

Augen, ein sympathisches Lächeln – trotz<br />

oder gerade wegen der vollen Wangen.<br />

Der erste Eindruck, den der Vorstand<br />

des „Borreliose und FSME Bund <strong>Deutschland</strong>“<br />

von Angela Müller* hatte, muss positiv<br />

gewesen sein. Jedenfalls trafen sich<br />

der Vereinsvorsitzende und seine Stellvertreterin<br />

mit der Bewerberin Ende August<br />

2012 zu einem Vorstellungsgespräch.<br />

„Erst da haben wir gesehen, was darunter<br />

war“, sagt die Pressesprecherin und damalige<br />

stellvertretende Vorsitzende des<br />

Vereins, Ute Fischer: ein fülliger Körper,<br />

den Müller selbst als „vollschlank“ beschreibt,<br />

aber „nicht adipös“.<br />

Dabei galt Müller offenbar als Favoritin<br />

für die Stelle als Geschäftsführerin, in der<br />

folgenden Woche sollte ein Gespräch mit<br />

dem gesamten Vorstand stattfinden. Dazu<br />

kam es nicht mehr. Der Grund: eine E-<br />

* Name von der Redaktion geändert.<br />

44<br />

Übergrößen-Models<br />

ARBEITSRECHT<br />

Figurmäßig entgleist<br />

Ein Arbeitgeber hält einer Bewerberin vor, dass sie<br />

zu dick ist. Ein Gericht muss nun<br />

klären, ob der Frau eine Entschädigung zusteht.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

CTK PHOTO / IMAGO<br />

Mail an Müller, zwei Tage vor dem zweiten<br />

Termin, in der Fischer wissen wollte,<br />

„was dazu geführt hat, dass Sie kein Normalgewicht<br />

haben“. Denn: „Im jetzigen<br />

Zustand wären Sie natürlich kein vorzeigbares<br />

Beispiel und würden unsere Empfehlungen<br />

für Ernährung und Sport konterkarieren.“<br />

Und: „Vielleicht haben Sie<br />

ja auch einen plausiblen Grund, der in<br />

den Griff zu bekommen ist.“<br />

An diesem Donnerstag werden sich<br />

Müller und Fischer wiedersehen: vor einer<br />

Kammer des Arbeitsgerichts Darmstadt.<br />

In dem Verfahren geht es um die<br />

Frage, ob ein Arbeitgeber einen Bewerber<br />

ablehnen darf, weil dieser ihm zu<br />

dick erscheint – oder ob dies eine verbotene<br />

Diskriminierung darstellt und überdies<br />

eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts.<br />

Seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz<br />

(AGG) in Kraft getreten<br />

ist, gelten für Arbeitgeber besonders<br />

strenge Bedingungen. Wer einen Bewerber<br />

etwa wegen dessen Herkunft, Geschlecht,<br />

Alter oder wegen einer Behinderung<br />

zurückweist, kann zu empfindlichen<br />

Entschädigungszahlungen verurteilt<br />

werden. Dafür genügt schon ein begründeter<br />

Verdacht, etwa durch eine ungeschickt<br />

formulierte Stellenanzeige. Wegen<br />

besonderer Beweislastregeln muss<br />

der Arbeitgeber dann einen solchen Vorwurf<br />

widerlegen; gelingt ihm dies nicht,<br />

verliert er vor Gericht.<br />

Auf dieser Grundlage erwirkte der<br />

Bonner AGG-Spezialist Klaus Michael<br />

Alenfelder, der auch Müller vertritt, für<br />

einen Rechtsanwaltsfachangestellten 14,5<br />

Monatsgehälter als Entschädigung. Der<br />

Mann hatte sich erfolglos auf eine Anzeige<br />

gemeldet, mit der eine Immobilienfirma<br />

nach einer „Sekretärin“ gesucht hatte<br />

– und nicht auch nach einem „Sekretär“.<br />

Und ein Chemiker aus den neuen<br />

Bundesländern erhielt per Vergleich<br />

26600 Euro Schmerzensgeld – die Prokuristin<br />

der Firma hatte als Reaktion auf<br />

dessen Bewerbungs-Mail geschrieben:<br />

„Gleich absagen“, der Bewerber sei Jahrgang<br />

1949, und sie habe keine Lust auf einen<br />

„Ossi Dr.“. Die Antwort ging „an<br />

alle“ – auch den Bewerber.<br />

Müller besitzt einen Abschluss in Germanistik<br />

und Medienwissenschaften, sie<br />

hat auch einige Semester an der Fern-Uni<br />

Hagen Recht und BWL studiert. Nach<br />

einer ersten Stelle in einer PR-Agentur<br />

war sie als Werberin sowie als Pressesprecherin<br />

für ein Fachärztezentrum tätig,<br />

schließlich als Geschäftsführerin von Ärzte-Organisationen.<br />

Auf die Stelle beim<br />

Borreliose-Bund bewarb sie sich auch deshalb,<br />

weil sie gern von Köln nach Hessen<br />

wechseln wollte, wo ihre Familie lebt.<br />

„Im Grunde hat alles gepasst“, schildert<br />

Müller ihren Eindruck vom Gespräch<br />

im Privathaus von Fischer: „Wir hatten<br />

ein schönes, tolles, fruchtbares, intensi -<br />

ves, familiäres Vorstellungs gespräch.“<br />

Müller trug einen schwarzen Hosenanzug<br />

und eine weiße Bluse, „businessmäßig<br />

halt“. Das Gespräch dauerte mehrere<br />

Stunden. Dann lud Fischer alle zum Mittagessen<br />

ein, ihr Mann kochte Spaghetti<br />

mit Pesto.<br />

Als Müller weg war, wurde im Vorstand<br />

diskutiert. Man habe sich durch<br />

das Bewerbungsfoto „getäuscht“ gesehen<br />

dar über, „welches enorme Übergewicht<br />

sie mit sich trägt“, erklärte Fischer spä -<br />

ter schriftlich. Es „irritierte uns“, dass<br />

„eine gutaussehende junge Frau“ mit tollen<br />

Fähigkeiten und Ideen „dermaßen figurmäßig<br />

entgleist“. Der Vorsitzende<br />

habe dann gesagt, ergänzt Fischer heute:<br />

„Versuch mal, mit ihr ein Gespräch zu<br />

führen.“<br />

So kam es zu der umstrittenen E-Mail<br />

am Sonntagabend, kurz vor halb zehn.<br />

„Das kam für mich aus heiterem Himmel“,<br />

sagt Müller: „Ich habe die E-Mail<br />

auf meinem Smartphone gelesen und angefangen<br />

zu heulen.“ Sie habe sich „zu-


<strong>Deutschland</strong><br />

tiefst gedemütigt“ gefühlt –<br />

immerhin passe ihr Konfektionsgröße<br />

42, und schließlich<br />

habe sie sich ja „nicht bei<br />

,Germa ny’s Next Topmodel‘<br />

beworben“.<br />

Fischer hingegen sagt: Es sei<br />

um „ein privates Gespräch“ gegangen,<br />

„von einer ehemals dicken<br />

Frau zu einer anderen<br />

dicken Frau“. Müller hätte unabhängig<br />

davon die Stelle bekommen.<br />

Doch wenn man die<br />

Mail liest, kann man leicht den<br />

Eindruck gewinnen, das „vorweg“<br />

erbetene, klärende Gespräch<br />

stehe durchaus im Zusammenhang<br />

mit der Stellenvergabe.<br />

Wie auch immer: Das klärende Gespräch<br />

fand nicht statt. Müller war nicht<br />

bereit, sich für ihren Körper zu rechtfertigen,<br />

nicht mal, Fischer das persönlich zu<br />

sagen. Stattdessen rief ihr Mann dort an.<br />

Fischer habe nochmals klar gesagt: Wenn<br />

Müller nicht über die Gründe für ihre Körperfülle<br />

reden wolle, brauche sie gar nicht<br />

mehr zu kommen. Und: Wer undiszipliniert<br />

sei beim Essen, sei auch undiszipliniert<br />

beim Arbeiten. Fischer bestreitet diese<br />

Aus sagen. Müller und ihr Mann hätten<br />

alles „aufgebauscht“. Schließlich habe sich<br />

der gesamte Vorstand zum zweiten Termin<br />

eingefunden – nur Müller kam nicht.<br />

Gesetzestext: Beweislast beim Arbeitgeber<br />

Stattdessen erhielt der Verein per Anwaltsschreiben<br />

die Aufforderung, 30 000<br />

Euro als Entschädigung zu zahlen. Ein<br />

erster Gütetermin scheiterte im Sommer.<br />

Der Verein bot 3000 Euro, Müller wollte<br />

nicht unter 15 000 gehen. Rechtlich<br />

kommt es vor allem darauf an, ob der<br />

Fall nur als Persönlichkeitsrechtsverletzung<br />

oder auch als Diskriminierung nach<br />

dem AGG zu qualifizieren ist – im zweiten<br />

Fall sind neben den Beweiserleichterungen<br />

wesentlich höhere Entschädigungen<br />

vorgesehen.<br />

Das AGG führt zwar das Aussehen als<br />

solches nicht als verbotenen Diskriminierungsgrund<br />

auf; anders als ähnliche Gesetze<br />

in Frankreich und Belgien, die allgemein<br />

das „äußere Erscheinungsbild“<br />

erfassen. Doch Anwalt<br />

Alenfelder stützt seine<br />

Klage darauf, dass Fettleibigkeit<br />

eine Behinderung darstelle.<br />

Die ist auch nach deutschem<br />

Recht ein verbotenes<br />

Kriterium. „Übergewicht, jedenfalls<br />

starkes Übergewicht,<br />

ist eine Behinderung“, argumentiert<br />

der Anwalt. Der potentielle<br />

Arbeitgeber sei „von<br />

einer schwerwiegenden Beeinträchtigung“<br />

in diesem Sinne<br />

ausgegangen. Darum liege<br />

zumindest eine „Benachteiligung<br />

wegen einer vermeintlichen Behinderung“<br />

vor.<br />

Der mit Spendengeldern, Mitgliedsbeiträgen<br />

und von den Krankenkassen finanzierte<br />

Verein aber will schon deshalb<br />

nicht zahlen, weil „wir dann viele Dinge,<br />

die für unsere Patienten wichtig sind, einstellen<br />

müssten“, sagt Fischer. Anwalt<br />

Alenfelder hält dagegen: Die Zahlung<br />

müsse „abschreckend“ sein. Und auch<br />

Müller will nicht zurückstecken. Ihre<br />

Rechtsschutzversicherung hält den Prozess<br />

für aussichtsreich, nach anfänglichem<br />

Zögern erteilte sie eine Deckungszusage.<br />

Ein Sendungsbewusstsein hat Müller<br />

nicht. „Das“, sagt sie, „ziehe ich für mich<br />

alleine durch.“<br />

DIETMAR HIPP


Homeier, 61, wurde vor kurzem<br />

als erster Deutscher zum Präsidenten<br />

der Vereinigung europäischer<br />

Schulinspektorate gewählt. Der<br />

ehemalige Mathematik- und Physiklehrer<br />

leitet das Niedersächsische<br />

Landesinstitut für schulische<br />

Qualitätsentwicklung.<br />

SPIEGEL: In der neuen Pisa-Studie mit dem<br />

Schwerpunkt Mathematik hat die Bundesrepublik<br />

gut abgeschnitten. Sind die<br />

deutschen Schulen besser geworden?<br />

Homeier: Pisa liefert nur grobe Hinweise<br />

und Durchschnittswerte. Um die Qualität<br />

von Schulen zu beurteilen, bedarf es des<br />

genauen Hinsehens, zum Beispiel durch<br />

die Schulinspektion.<br />

SPIEGEL: Alle drei Jahre stehen die 15-Jährigen<br />

auf dem Pisa-Prüfstand, dazu kommen<br />

diverse andere Vergleichstests. Wie<br />

häufig müssen Schulleiter und Lehrer<br />

Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen?<br />

Homeier: Im Rahmen einer Schulinspek -<br />

tion ungefähr alle vier Jahre. Dieser Takt<br />

hat sich in Niedersachsen eingependelt,<br />

und die meisten anderen Bundesländer<br />

halten das ähnlich. Die Inspektoren kommen<br />

von außen und prüfen etwa die<br />

Ausstattung, das Führungsverhalten der<br />

Schulleitung und die Qualität des Un -<br />

terrichts. Allerdings bewerten wir nicht<br />

den einzelnen Lehrer und verlassen ei -<br />

ne Unterrichtsstunde nach 20 Minuten<br />

wieder.<br />

SPIEGEL: Ein Lehrer kann also jahrelang<br />

unbeaufsichtigt unterrichten, wenn nicht<br />

46<br />

BILDUNG<br />

„Luft nach oben“<br />

Der Lehrerprüfer Wulf Homeier über den Sinn<br />

von Leistungstests, das Ansehen<br />

von Pädagogen und Anzeichen für gute Schulen<br />

zufällig die Inspektion für 20 Minuten<br />

vorbeischaut?<br />

Homeier: Nur dann, wenn die<br />

Schulleitung ihn lässt, sie ist dafür<br />

verantwortlich, den einzelnen Lehrer<br />

im Unterricht zu besuchen und<br />

zu beraten. Schottland beispielsweise<br />

hat ein anderes System:<br />

Dort bekommen Lehrer gezieltes<br />

Coaching, die Schulinspektoren analysieren<br />

mit ihnen den eigenen Fachunterricht.<br />

Aber ich kann Sie beruhigen: Der Lehrerberuf<br />

ist sehr öffentlich, da sitzen 30<br />

kleine Beobachter, und die erzählen zu<br />

Hause, was sie gesehen haben.<br />

SPIEGEL: Wie gut sind die deutschen Lehrer<br />

nach Maßstäben von professionellen<br />

Prüfern?<br />

Homeier: Pauschal kann man wohl sagen:<br />

Bei der Qualität des Unterrichts ist noch<br />

Luft nach oben, das gilt in vielen europäischen<br />

Ländern. Viele Lehrkräfte tun<br />

sich im Unterricht schwer zu differenzieren,<br />

also den Leistungsstarken wie den<br />

Lernschwachen zugleich gerecht zu werden.<br />

Häufig sind auch die Redeanteile<br />

des Lehrers innerhalb einer Schulstunde<br />

zu hoch. Vom Fachwissen her sind die<br />

meisten Lehrer hierzulande hochprofessionell,<br />

gerade an den Gymnasien, und<br />

arbeiten mit hohem pädagogischem Engagement.<br />

Wir können zufrieden sein.<br />

SPIEGEL: Die Lehrer sind besser als ihr<br />

Ruf?<br />

Homeier: Die Deutschen reden nicht nett<br />

über Lehrer. Wenn immer nur über<br />

schlechte Einzelbeispiele gesprochen<br />

FISCHER / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Schüler,<br />

Lehrerin in<br />

Bocholt<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK.NET<br />

wird, kann man kaum erwarten, dass Kinder<br />

eine positive Einstellung entwickeln.<br />

In Norwegen etwa ist das Lehrer ansehen<br />

sehr viel höher, auch weil der Staat streng<br />

auswählt.<br />

SPIEGEL: Würde die Akzeptanz des Berufs<br />

steigen, wenn sich die Lehrer mehr auf<br />

die Finger schauen ließen?<br />

Homeier: In einem Betrieb jubelt der Facharbeiter<br />

auch nicht gerade, wenn die Qualitätsprüfer<br />

in der Halle stehen. Auch der<br />

Lehrer ist fixiert auf die Arbeit mit seiner<br />

Klasse, und plötzlich will jemand zusehen,<br />

das ist ungewohnt. Außerdem gibt<br />

es Schulinspektionen erst seit ein paar<br />

Jahren.<br />

SPIEGEL: Braucht <strong>Deutschland</strong> einen Schul-<br />

TÜV?<br />

Homeier: Ich mag den Begriff nicht, denn<br />

der TÜV stellt lediglich Mängel fest: Die<br />

Reifen haben nur anderthalb Millimeter<br />

Profil, also müssen sie für die Plakette<br />

ausgetauscht werden. Wir benennen auch<br />

die Stärken von Schulen. Davon gibt es<br />

eine ganze Reihe, wie auch die Befragungen<br />

von Eltern zeigen: Die sind nämlich<br />

mit dem Klima an der Schule ihrer Kinder<br />

und dem Einsatz der Lehrer meist sehr<br />

zufrieden.<br />

SPIEGEL: Woher kommt dann das Gefühl,<br />

dass die deutschen Schulen permanent in<br />

der Krise stecken?<br />

Homeier: Tja, vielleicht transportiert sich<br />

Krisengerede im deutschen Bildungssystem<br />

besser als das Positive. Während der<br />

Inspektionen können wir nichts von einer<br />

allgemeinen Krise feststellen, es geht dar -<br />

um, die wichtigsten Stellschrauben für behutsame<br />

Verbesserungen zu finden.<br />

SPIEGEL: Woran liegt es dann, dass die Leistungsunterschiede<br />

zwischen Schulen und<br />

Bundesländern so groß sind?<br />

Homeier: Da können die Schulen nicht unbedingt<br />

etwas dafür. Die Sozialstruktur<br />

schlägt sich in den Leistungen nieder: ob<br />

etwa eine Schule auf dem Land in Bayern<br />

angesiedelt ist oder im Ruhrgebiet, wie<br />

hoch der Anteil von Migrantenfamilien ist.<br />

Daher kann es sein, dass eine Schule, die<br />

in einem Vergleichstest schwach abschneidet,<br />

super Arbeit leistet, weil die Schülerschaft<br />

eigentlich noch viel schlechtere Ergebnisse<br />

nahelegt. Schulqualität ist etwas<br />

sehr Komplexes.<br />

SPIEGEL: Welche Indizien für eine gute<br />

Schule können Eltern leicht er kennen?<br />

Homeier: Zu einer guten Schule gehören<br />

viele einzelne Bausteine. Etwa, dass sich<br />

die Schüler bemühen, etwas zu leisten.<br />

Dass sie nicht grußlos aneinander und am<br />

Lehrer vorbeilaufen. Dass die Rechner<br />

im Computerraum nicht von 1990 stammen.<br />

Qualität speist sich auch aus der<br />

Lernumgebung, und es ist erstaunlich,<br />

was wir bisweilen unseren Kindern zumuten.<br />

Wenn Eltern genauer über eine<br />

Schule Bescheid wissen möchten, müssen<br />

sie dort nach dem Inspektionsbericht fragen.<br />

INTERVIEW: JAN FRIEDMANN


<strong>Deutschland</strong><br />

JUSTIZ<br />

Klagende<br />

Richter<br />

In einer Umfrage zeigen sich<br />

deutsche Staatsanwälte<br />

und Richter überlastet und unter<br />

Druck. Sie warnen vor<br />

den Folgen für den Rechtsstaat.<br />

Die Stuttgarter Staatsanwälte suchten<br />

eigentlich Beweise für eine<br />

Steuerhinterziehung. Aber viel<br />

spannender fanden die Ermittler eine<br />

Liste, die ihnen im Büro des schwäbischen<br />

Unternehmers in die Hände fiel.<br />

Dort hatten dessen Anwälte 17 Tricks aufgezählt,<br />

wie man lästige Staatsanwälte<br />

lahmlegt.<br />

Schwarz auf weiß lasen die Fahnder all<br />

die Schikanen, die sie aus ihrem Büroalltag<br />

gut kannten. „Ersticken mit Papier“<br />

lautete der wichtigste Tipp der Advokaten<br />

– mit Paletten von Aktenkartons, daumendicken<br />

Schriftsätzen und sinnlosen<br />

Anträgen. Auch empfehlenswert: gekaufte<br />

Gutachten von Professoren und gezielte<br />

Desinformation der Medien.<br />

„Dank dieser Liste haben wir erstmals<br />

gesehen, dass hinter dem Wahnsinn eine<br />

Strategie steckt“, erinnert sich Oberstaatsanwalt<br />

Andreas Thul-Epperlein. „Das<br />

Ziel ist, uns komplett zu blockieren.“<br />

Der Rechtsstaat verspricht jedem Angeklagten<br />

eine Verteidigung und Waffengleichheit<br />

gegenüber dem Staat. Aber<br />

längst fühlen sich <strong>Deutschland</strong>s Staats -<br />

anwälte der Phalanx hochversierter Profi-Verteidiger<br />

hoffnungslos unterlegen.<br />

Das zeigt auch eine noch unveröffentlichte<br />

Umfrage des Instituts für Demoskopie<br />

Allensbach. Im Auftrag der Roland<br />

Rechtsschutzversicherung wurden 1770<br />

Staatsanwälte und Richter über den Zustand<br />

des deutschen Rechtssystems befragt<br />

– mit aufschreckenden Ergebnissen.<br />

Nur jeder vierte Staatsanwalt fühlt sich<br />

demnach den Wirtschaftsanwälten ebenbürtig.<br />

Auch die große Mehrheit der Richter<br />

bezweifelt, dass die Fahnder den Verteidigern<br />

auf Augenhöhe begegnen.<br />

Und beunruhigend ist das Bild, das die<br />

Befragten vom Rechtssystem an sich<br />

zeichnen. 72 Prozent der Richter und<br />

Staatsanwälte sind der Meinung, dass sich<br />

die Bedingungen für eine gute Rechtsprechung<br />

in den letzten Jahren verschlechtert<br />

haben.<br />

85 Prozent der Befragten finden die<br />

personelle Ausstattung der Gerichte<br />

„schlecht“. Vier von fünf Staatsanwälten<br />

klagen, sie hätten nicht genug Zeit für<br />

die Bearbeitung ihrer Fälle. Und neun<br />

von zehn Befragten halten es für „dringend<br />

erforderlich“, dass ihre Dienstherren<br />

neue Kollegen einstellen.<br />

„Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend“,<br />

gesteht Baden-Württembergs<br />

Justizminister Rainer Stickelberger (SPD).<br />

Weniger Verständnis hat sein Düsseldorfer<br />

Kollege Thomas Kutschaty (SPD): „In<br />

allen Bereichen der Gesellschaft hat in<br />

letzter Zeit eine Arbeitsverdichtung stattgefunden,<br />

auch in der Justiz.“<br />

Eigentlich dürften die Richter auch gar<br />

nicht überfordert sein. Seit rund zehn Jahren<br />

planen die Länder den Personalbedarf<br />

ihrer Justizbehörden<br />

nach einem von Wirtschaftsprüfern<br />

entwickelten<br />

komplizierten Zahlenwerk. In<br />

Anlehnung an eine Limonadenmarke<br />

wird das Modell nur<br />

„Pebb§y“ genannt. Für jeden<br />

erdenklichen Arbeitsschritt der<br />

Richter und Staatsanwälte,<br />

vom Aktenstudium bis zum<br />

Versäumnis urteil, wurden minutengenaue<br />

Durchschnittszeiten<br />

errechnet.<br />

So kann jedes Justizministerium<br />

kalkulieren, wie viele Juristen<br />

für welche und wie viele<br />

Fälle gebraucht werden. Kaum ein anderes<br />

Ressort kann seine Personalkosten inzwischen<br />

so präzise berechnen wie die<br />

Justizministerien.<br />

Doch das gilt nur in der Theorie. In<br />

der Praxis halten sich die wenigsten Länder<br />

an die mühsam errechneten Zahlenwerke.<br />

Das beweist eine vertrauliche Liste,<br />

in der die Justizministerien – mit Ausnahme<br />

Hamburgs, Bremens und Schleswig-Holsteins<br />

– einander berichten, ob<br />

und wie sie die Pebb§y-Quoten erfüllen.<br />

Strafrichter am Landgericht Kaiserslautern<br />

73<br />

Prozent der<br />

Staatsanwälte in<br />

Wirtschaftsstrafverfahren<br />

fühlen sich<br />

den Anwälten<br />

unterlegen.<br />

Die Liste, die dem SPIEGEL vorliegt,<br />

zeigt, dass nur Sachsen-Anhalt sich mehr<br />

Zivil- und Strafrichter gönnt als rechnerisch<br />

notwendig. Die anderen Länder liegen<br />

unter dem Soll. Während die ostdeutsche<br />

Justiz dank der Wendezeit vergleichsweise<br />

gut ausgestattet ist, ist die<br />

westdeutsche teils drastisch unterbesetzt.<br />

Niedersachsen, Bayern und Hessen liegen<br />

klar unter dem Soll.<br />

Aber der größte Mangel herrscht in<br />

Nordrhein-Westfalen. Hier wurden die<br />

Ziele für Straf- und Zivilrichter laut Stand<br />

von Dezember 2012 um 13 Prozent<br />

unterschritten, die für<br />

Staatsanwälte um 16 Prozent.<br />

Nach einer Rechnung des Richterbundes<br />

müsste Minister Kutschaty<br />

700 Richter und Staatsanwälte<br />

einstellen, um im Plan<br />

zu liegen.<br />

Sein Ministerium dagegen<br />

wiegelt ab: Seit 2008 schließe<br />

sich die Personallücke kontinuierlich.<br />

Außerdem sei der rechnerische<br />

Personalbedarf allein<br />

wenig aussagekräftig. Man müsse<br />

auch wechselnde Fallzahlen<br />

berücksichtigen oder regionale<br />

Unterschiede.<br />

Doch der Richterbund rügt schon die<br />

geltenden Bedarfszahlen als zu knapp<br />

und zu veraltet. Im kommenden Jahr werden<br />

die Wirtschaftsprüfer neue Zielwerte<br />

errechnen. „Wir haben uns daran gewöhnt,<br />

dass die Arbeit der Justiz wie eine<br />

Ware kalkuliert wird“, sagt Christoph<br />

Frank, Chef des Deutschen Richterbundes.<br />

„Aber dann sollen die Länder wenigstens<br />

den korrekten Preis zahlen.“<br />

MELANIE AMANN,<br />

SIMONE SALDEN, GERALD TRAUFETTER<br />

PIOTR MALECKI / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 50/2013 47


BERND THISSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Fleisch-Tycoon Clemens Tönnies: Alphatiere, erfüllt von gegenseitiger Abneigung<br />

FAMILIEN<br />

Wurf mit dem<br />

Knochen<br />

Clemens Tönnies und sein Neffe<br />

Robert streiten um die Macht im<br />

Fleischkonzern. Verliert der<br />

Junior wegen einer plagiierten<br />

Diplomarbeit seine Anteile?<br />

Der hochgewachsene Mann wandte<br />

sich mit Tremolo in der Stimme<br />

an den Richter. „Diese Familie hat<br />

zusammengehalten wie Pech und Schwefel“,<br />

sagte Clemens Tönnies, <strong>Deutschland</strong>s<br />

erfolgreichster Fleischproduzent und Aufsichtsratschef<br />

von Schalke 04, vor einigen<br />

Wochen vor dem Landgericht Bielefeld.<br />

Doch das ist vorbei. Im Hause Tönnies<br />

kämpfen zwei Männer um Macht, Geld<br />

und die Vorherrschaft in einem Milliardenkonzern.<br />

Seit rund zwei Jahren liefern<br />

sie sich einen erbitterten Clinch, der<br />

inzwischen vor Gericht ausgetragen wird.<br />

Auf der einen Seite: Clemens Tönnies,<br />

57, genannt C.T., gelernter Schlachter,<br />

der Mann, der das Unternehmen groß<br />

machte, erfolgreich in einer Branche, in<br />

der mit harten Bandagen und auch schon<br />

mal am Rande der Legalität gekämpft<br />

wird. Er hält die Hälfte der Firmenanteile.<br />

Auf der anderen sein Neffe Robert Tönnies,<br />

35, ebenfalls gelernter Metzger und<br />

Diplom-Betriebswirt. Er hält die andere<br />

Hälfte.<br />

Zwei Alphatiere, die erfüllt sind von<br />

gegenseitiger Abneigung. Beide sind<br />

überzeugt, es besser zu können. Keiner<br />

48<br />

ist bereit, auch nur einen Fußbreit nachzugeben.<br />

Vor Gericht streiten sie über<br />

Stimmrechte und Schenkungen, aber im<br />

Kern geht es immer um die Frage: Wer<br />

hat das Sagen bei Tönnies Lebensmittel?<br />

Jetzt könnte ein 13-seitiges Gutachten<br />

dem Streit eine neue Wendung geben; bestellt<br />

wurde es aus C.T.s Umgebung. Es<br />

geht um Robert Tönnies’ Diplomarbeit,<br />

die er 2004 an der Fachhochschule Hannover<br />

einreichte. Sie trägt den Titel „Zerlegeoptimierung<br />

in einem industriellen<br />

Schweinezerlegebetrieb“. Roberts Vater<br />

Bernd Tönnies, Gründer des Schlachtkonzerns,<br />

hatte in seinem Testament verfügt,<br />

dass seine zwei Söhne nur dann Firmenanteile<br />

bekommen, wenn sie sowohl eine<br />

handwerkliche Ausbildung als auch einen<br />

kaufmännischen Abschluss nachweisen.<br />

Das BWL-Diplom aus Hannover ist Robert<br />

Tönnies’ kaufmännischer Abschluss.<br />

Doch nun kommt ein Gutachten zu dem<br />

Schluss, Tönnies habe „in erheblichem<br />

Umfang“ Quellen benutzt, die er nicht<br />

benannt habe. Er habe sich die geistigen<br />

Leistungen anderer Autoren „weithin<br />

wortwörtlich zu eigen gemacht“ und auch<br />

zahlreiche Abbildungen anderer „als eigene<br />

Leistung ausgegeben“. Manche Kapitel<br />

in der 80-seitigen Diplomarbeit<br />

wurden bis auf wenige Wörter komplett<br />

übernommen, inklusive eines fehlenden<br />

Kommas. Der mit der Plagiatsüberprüfung<br />

befasste Professor<br />

Norbert Drees von<br />

der Fachhochschule Erfurt<br />

kommt zu dem Urteil: „Damit<br />

hat der Autor in seiner<br />

Arbeit die Prüfer zweifellos<br />

vorsätzlich getäuscht.“<br />

Der Anwalt von Robert<br />

Tönnies, Mark Binz, entgegnet:<br />

„Nach unserem Gutachten<br />

handelte es sich um ir -<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Erbe Robert Tönnies<br />

„Vorsätzlich getäuscht“<br />

OLIVER KRATO / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

relevante Zitierfehler in der Arbeit.“ Fünf<br />

Jahre nach Ausstellung könne ein Diplom<br />

ohnehin nicht mehr aberkannt werden.<br />

Außerdem werde das Testament „fehlinterpretiert“.<br />

Bernd Tönnies habe in jedem<br />

Fall gewollt, dass seine Söhne erben.<br />

Um zu verstehen, wie es zu dem Streit<br />

kam, muss man in die Historie der Metzger-Dynastie<br />

eintauchen. 1971 gründete<br />

Schlachtersohn Bernd Tönnies sein erstes<br />

Fleischwerk in Ostwestfalen, 1982 beteiligte<br />

sich sein jüngerer Bruder Clemens mit<br />

40 Prozent an dem expandierenden Unternehmen.<br />

1994 starb Bernd Tönnies und<br />

hinterließ seinen Söhnen Clemens junior<br />

und Robert 60 Prozent des Unternehmens.<br />

Das Unternehmen machte damals 500<br />

Millionen Euro Umsatz im Jahr, hatte<br />

Schulden, das Eigenkapital war fast aufgezehrt.<br />

2012 erzielte die Tönnies-Gruppe<br />

einen Umsatz von fünf Milliarden Euro,<br />

die Eigenkapitalquote stieg auf 60 Prozent.<br />

Clemens Tönnies reklamiert das als<br />

seinen Erfolg, für den er in 80-Stunden-<br />

Wochen schufte.<br />

Den beiden Neffen war das lange recht.<br />

Clemens junior, 38, soll kein großes In -<br />

ter esse am Fleischgewerbe haben. Vor<br />

fünf Jahren machten die beiden Brüder<br />

ihrem erfolgreichen Onkel ein großzügiges<br />

Geschenk, jeweils fünf Prozent ihrer<br />

Firmenanteile.<br />

Anfang 2012 war der Frieden vorbei.<br />

Clemens junior übertrug seinem Bruder<br />

seine Beteiligung. Robert hielt dann genauso<br />

viele Anteile wie C.T., außerdem<br />

wollte Robert die Schenkung an seinen<br />

Onkel rückgängig machen – wegen „groben<br />

Undanks“. Er begründete dies damit,<br />

dass sich Clemens Tönnies ohne Wissen<br />

der Neffen mehrere Unternehmen gekauft<br />

hatte, die seiner Meinung nach Konkurrenten<br />

der Tönnies-Gruppe sind.<br />

Zudem forderte der Neffe, dass der Onkel<br />

das Unternehmen nicht mehr allein<br />

führen dürfe und von einem Aufsichtsrat<br />

kontrolliert werden müsse. Dies erläuterte<br />

er 2012 den mehreren tausend Mitarbeitern<br />

in einem offenen Brief. Für den Alleinherrscher<br />

C.T. war das eine Kampfansage.<br />

Der Betriebsrat in Rheda schrieb dar -<br />

aufhin an Robert Tönnies: Man sei „sehr<br />

verwundert, dass Sie … zum wiederhol -<br />

ten Male den sozialen Frieden in der Belegschaft<br />

auf das empfindlichste stören.“<br />

Die „Nordwest-Zeitung“ erfuhr von angeblichen<br />

„Ausrastern“ des Neffen: Einem<br />

Mitarbeiter habe er einen<br />

Schinkenknochen hinterhergeworfen<br />

und in einem Wutanfall<br />

gegen einen Schreibtisch<br />

getreten – so dass ihn<br />

angeblich ein Tischler befreien<br />

musste.<br />

C.T. will sich zu der Angelegenheit<br />

nicht äußern. Der<br />

nächste Gerichtstermin ist<br />

für den 10. Januar angesetzt.<br />

BARBARA SCHMID


<strong>Deutschland</strong><br />

ARBEITSMARKT<br />

Herzlich, äh, willkommen<br />

<strong>Deutschland</strong> wird zum Einwanderungsland: Gutausgebildete Migranten<br />

sollen den Wohlstand hierzulande sichern. Doch die<br />

Bundesrepublik ist im Werben um Talente aus aller Welt nicht konkurrenzfähig.<br />

Es schien nicht allzu kompliziert zu<br />

sein, nach <strong>Deutschland</strong> einzuwandern:<br />

Als Enio Alburez, Ingenieur<br />

aus Guatemala, im Frühjahr davon hörte,<br />

dass er ein Visum bekommen könne, um<br />

in <strong>Deutschland</strong> einen Job zu suchen,<br />

buchte er einen Flug nach Berlin und ging<br />

zur deutschen Botschaft in Guatemala-<br />

Stadt.<br />

Alburez fragte nach dem Papier – aber<br />

die Mitarbeiter zuckten mit den Schultern.<br />

Sie hatten von dem „Jobseeker-Visum“<br />

noch nichts gehört, das es seit August 2012<br />

für Nicht-EU-Bürger gibt, versprachen jedoch,<br />

den Fall zu prüfen. Es verstrich eine<br />

Woche, eine zweite, sechs Wochen lang<br />

wartete Alburez vergebens auf eine Nachricht<br />

aus der Botschaft. Dann reiste der<br />

25-Jährige, der in seiner Heimat an der<br />

Österreichischen Schule Deutsch gelernt<br />

hatte, als Tourist nach <strong>Deutschland</strong>; der<br />

Flug war schließlich gebucht.<br />

Als er in Berlin angekommen war,<br />

meldete sich die Botschaft aus Guatemala<br />

bei ihm: Das Jobseeker-Visum sei nun<br />

genehmigt. Leider müsse Alburez nach<br />

Guatemala fliegen, um es in den Pass<br />

kleben zu lassen. Ansonsten bekomme<br />

er in <strong>Deutschland</strong> weder eine Aufenthalts-<br />

noch eine Arbeitsgenehmigung.<br />

„Es war schon verrückt, dass ich den<br />

Botschaftsleuten erklären musste, welche<br />

Möglichkeiten es in <strong>Deutschland</strong> gibt“,<br />

sagt Alburez. Er flog also nach Guate -<br />

mala-Stadt, nahm an der Botschaft das<br />

Jobseeker-Visum entgegen und kehrte<br />

nach Berlin zurück. Er bewarb sich bei<br />

verschiedenen Unternehmen, vom Autozulieferer<br />

Continental in Hannover bekam<br />

er eine Zusage. Er suchte sich eine<br />

Wohnung und tauschte das Visum gegen<br />

eine langfristige Aufenthaltserlaubnis ein.<br />

<strong>Deutschland</strong> hat gerade erst begonnen,<br />

ein Einwanderungsland zu werden. Nach<br />

und nach bauen Politiker die Hürden für<br />

Neuankömmlinge ab. Mit dem Jobseeker-<br />

Visum können ausländische Hochschulabsolventen<br />

in <strong>Deutschland</strong> auf Arbeitssuche<br />

gehen, ein halbes Jahr lang; wer<br />

eine Stelle mit einem Bruttojahresgehalt<br />

von mehr als 46000 Euro vorweisen kann,<br />

darf bleiben. Die Bundesregierung aus<br />

Union und FDP senkte die Grenze, die<br />

Dumpinglöhne verhindern soll, im Jahr<br />

Ingenieur Alburez: Zurück nach Guatemala wegen eines Aufklebers<br />

CHRISTIAN BURKERT / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 50/2013 49


Adidas-Personalmanagerin Anders: Kampf mit den Formularen<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

2012 um 20000 Euro. Sie erließ zudem<br />

eine neue „Beschäftigungsverordnung“,<br />

die auch ausländischen Nichtakademikern<br />

das Arbeiten in <strong>Deutschland</strong> erleichtert.<br />

Schwarz-Rot will diesen Kurs fortsetzen:<br />

Der Koalitionsvertrag verspricht<br />

weitere Angebote an Einwanderer. Insbesondere<br />

die Beratung in den Behörden<br />

soll verbessert werden.<br />

Laut OECD hat <strong>Deutschland</strong> mittlerweile<br />

eines der liberalsten Zuwanderungsgesetze<br />

für hochqualifizierte Migranten.<br />

Und dennoch gelingt es selten, Talente<br />

wie Enio Alburez aus Guatemala hierherzulocken.<br />

Zwar zogen 2012 mehr als eine Million<br />

Menschen nach <strong>Deutschland</strong>, so viele wie<br />

lange nicht mehr. Doch knapp zwei Drittel<br />

der Migranten kommen aus EU-Staaten.<br />

Viele fliehen vor der Wirtschaftskrise<br />

in ihrer Heimat. Fachleute gehen davon<br />

aus, dass der Zuzug erlahmen wird, sobald<br />

sich die Lage in Südeuropa entspannt.<br />

Die gegenwärtige Migration europäischer<br />

Krisenflüchtlinge sei nicht von<br />

Dauer, sagt der Migrationsforscher Klaus<br />

Bade. Sie täusche darüber hinweg, dass<br />

<strong>Deutschland</strong> dringend mehr Einwanderer<br />

aus Nicht-EU-Staaten gewinnen müsse.<br />

2012 waren 155000 Stellen für hoch -<br />

qualifizierte Arbeitskräfte wie Techniker,<br />

Ingenieure oder Informatiker unbesetzt.<br />

Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt-<br />

und Berufsforschung (IAB)<br />

aus dem Jahr 2010 wird das Potential an<br />

erwerbsfähigen Menschen in <strong>Deutschland</strong><br />

bis 2025 um 6,5 Millionen sinken.<br />

Bevölkerungswissenschaftler schätzen:<br />

Nur wenn jedes Jahr 400000 Menschen<br />

mehr zu- als abwandern, kann <strong>Deutschland</strong><br />

seine Wirtschaftskraft erhalten. Zwischen<br />

August 2012 und Juni 2013 sind allerdings<br />

lediglich 2500 Hochqualifizierte<br />

aus dem nichteuropäischen Ausland gekommen<br />

– mit Hilfe der Blauen Karte<br />

EU. Insgesamt lassen sich pro Jahr lediglich<br />

25000 Arbeitsmigranten aus Nicht-<br />

EU-Staaten in <strong>Deutschland</strong> nieder. In<br />

Kanada und Neuseeland ist der Wert, gemessen<br />

an der Einwohnerzahl, etwa zehnmal<br />

so hoch.<br />

„Wir müssen uns von der Vorstellung<br />

verabschieden, Scharen von Hochqualifizierten<br />

warteten nur auf eine Einwanderungschance<br />

nach <strong>Deutschland</strong>“, mahnte<br />

der frühere Integrationsminister Nordrhein-Westfalens,<br />

Armin Laschet (CDU),<br />

bereits vor zwei Jahren. <strong>Deutschland</strong> sei,<br />

trotz der hohen Wirtschaftskraft und des<br />

Lebensstandards, beim Werben um Talente<br />

aus aller Welt nicht hinreichend<br />

wettbewerbsfähig, urteilt die OECD. Und<br />

das hat nach der Ansicht von Experten<br />

vor allem vier Gründe:<br />

Es gibt etwas, was Yvonne Anders nicht<br />

mag: „Deutsche Formulare!“ Angaben<br />

über dies, das und jenes, viele Seiten, zusätzliche<br />

Dokumente, mal sind Übersetzungen<br />

gewünscht, mal nicht – ohne einen<br />

Experten schickt sie die Papiere nicht<br />

mehr ab. Anders arbeitet als Personal -<br />

managerin für Adidas. Sie sucht nach<br />

Fachkräften in Europa, im Mittleren Osten<br />

und in Afrika. Selbst ein Konzern wie<br />

Blaue Karte EU<br />

WER HAT ANSPRUCH?<br />

Hochschulabsolventen * in einem Arbeitsverhältnis<br />

mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 46 400 €<br />

Hochqualifizierte aus Mangelberufen (Ingenieure,<br />

Ärzte, IT-Fachkräfte) in einem Arbeitsverhältnis mit<br />

einem Bruttojahresgehalt von mindestens 36200 €<br />

GÜLTIGKEIT<br />

zunächst max. vier Jahre, nach drei Jahren Niederlassungserlaubnis,<br />

wenn das Arbeitsverhältnis fortbesteht<br />

* oder vierjährige Berufserfahrung, die mit einem Hochschulabschluss<br />

vergleichbar ist; Quelle: www.bluecard-eu.de<br />

50 DER SPIEGEL 50/2013<br />

PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL<br />

Adidas findet neue Mitarbeiter nur noch<br />

selten in <strong>Deutschland</strong>, vor allem IT-Experten<br />

und Designer.<br />

Interessiert sich Adidas für ein Talent,<br />

beginnt für Yvonne Anders der Kampf<br />

mit der Bürokratie: Jobseeker-Visum, Entsendestatus,<br />

befristete Aufenthaltserlaubnis,<br />

Niederlassungserlaubnis, Anerkennungsverfahren<br />

– selbst sie hat Probleme,<br />

die Bestimmungen noch auseinanderzuhalten.<br />

„Wenn das für uns schon komplex<br />

ist, wie sollen es dann Menschen aus China,<br />

Russland oder Serbien können?“<br />

Viele große Unternehmen beauftragen<br />

spezialisierte Agenturen damit, für ihre<br />

ausländischen Mitarbeiter den rechtlichen<br />

und bürokratischen Aufwand zu erle -<br />

digen – weil es sie mehr Geld und Zeit<br />

kosten würde, sich über die neuesten<br />

Gesetze und Verordnungen zu informieren<br />

und Kontakt zu den Behörden zu<br />

halten.<br />

Oliver Clapham betreibt schon seit<br />

Jahren in der Nähe von Frankfurt am<br />

Main eine sogenannte Relocation-Agentur.<br />

Er kümmert sich für seine Kunden<br />

um alles, vom Visum bis zur Wohnung.<br />

Aber auch er verzweifelt manchmal: Die<br />

Ausländerbehörden und Arbeitsagenturen<br />

seien unterbesetzt, so dass seine Anträge<br />

nur stark verzögert bearbeitet werden.<br />

„Oft warte ich monatelang, nur um<br />

einen Termin zu bekommen, bei dem<br />

eine Aufenthalts erlaubnis ausgestellt<br />

werden soll.“ Manchmal mussten Be -<br />

werber dann vorläufig als Touristen einreisen<br />

– oder sie entschieden sich für ein<br />

anderes Land.<br />

Die OECD fordert die Bundesregierung<br />

auf, Arbeitsmigration zu fördern. Manche<br />

Experten plädieren für ein Punktesystem,<br />

das die Zuwanderung steuert, so wie in<br />

Kanada oder Australien. Es würde internationalen<br />

Studenten und potentiellen<br />

Einwanderern gleichermaßen transparent<br />

machen, welche Kriterien erwünscht sind,<br />

etwa auf einer zentralen Website. Punkte<br />

könnte es für eine bestimmte Berufsqualifikation<br />

geben, für einen Studienabschluss<br />

oder für Sprachkenntnisse – und<br />

wer ausreichend viele Punkte gesammelt<br />

hat, kann einwandern.<br />

Das im April 2012 in Kraft getretene<br />

Anerkennungsgesetz<br />

sollte ein transparentes Verfahren<br />

für die Bewertung ausländischer<br />

Berufsausbildungen garantieren.<br />

Rund 30 000 Menschen<br />

haben im ersten Jahr<br />

einen Antrag auf Überprüfung<br />

ihres Abschlusses gestellt. Dabei<br />

könnten zehnmal so viele<br />

von der Regelung profitieren.<br />

Bundesbildungsministerin Johanna<br />

Wanka (CDU) spricht


dennoch von einem „wichtigen Beitrag<br />

zur Fachkräftesicherung“.<br />

Die Augsburger Integrationsexpertin<br />

Bettina Englmann sieht das anders: „Die<br />

Bundesregierung hat viel versprochen,<br />

aber das Ergebnis ist enttäuschend“, sagt<br />

sie. Englmann hatte 2007 mit ihrer Studie<br />

„Brain Waste“ den Anstoß für eine neue<br />

Regelung gegeben. Sie kritisiert, das Gesetz<br />

gelte bei weitem nicht für alle Berufe<br />

und nicht in ganz <strong>Deutschland</strong> einheitlich.<br />

Für Ausbildungsberufe, etwa in Industrie<br />

und Handel, ist der Bund zuständig. Für<br />

Lehrer, Ingenieure, Erzieher sind dagegen<br />

die Bundesländer verantwortlich. Das<br />

Chaos sei weiterhin groß.<br />

Und auch dort, wo das Gesetz greife,<br />

zum Beispiel bei den Gesundheitsberufen,<br />

fehle es an klaren Leitlinien dafür, wie<br />

Abschlüsse in <strong>Deutschland</strong> anerkannt<br />

werden könnten, be anstandet der Sachverständigenrat<br />

für Integration und Migration<br />

in einem Gutachten. Der Verwaltung<br />

fehle Personal. „Für Außenstehende“<br />

sei das System bei den Heilberufen „praktisch<br />

undurchschaubar“. Auch Union und<br />

SPD sehen Handlungsbedarf: Das Potential<br />

von Zuwanderern liege „noch zu oft<br />

brach“, heißt es im Koali tionsvertrag.<br />

Die „Willkommenskultur“, von der Bundesarbeitsministerin<br />

Ursula von der Leyen<br />

(CDU) gern spricht, ist in vielen Ämtern<br />

noch nicht etabliert. Häufig beherrscht<br />

dort kaum jemand gut Englisch<br />

oder eine andere Fremdsprache. Einwanderer<br />

werden wie Bittsteller behandelt.<br />

Vergangenen Juni trat der damalige<br />

bayerische Wirtschaftsminister Martin<br />

Zeil (FDP) auf einer Podiumsdiskussion<br />

der Universität Passau auf: „Study and<br />

stay in Bavaria“. Er warb für den exzellenten<br />

Hochschulstandort Bayern, die<br />

herausragenden Bedingungen für Studenten<br />

aus dem Ausland. Nach Zeils Rede<br />

stand Carlos García, 27, auf, ein Gaststudent<br />

aus Venezuela. Seine Hand zitterte,<br />

als er zum Mikrofon griff. Die Behörden<br />

hätten ihn wie einen Ein dringling behandelt,<br />

erzählte er. Sie hätten alles unternommen,<br />

um ihn loszuwerden.<br />

García war vor zehn Jahren als Austauschschüler<br />

nach Passau gekommen. Er<br />

leistete ein Freiwilliges Soziales Jahr, besuchte<br />

das Studienkolleg in München und<br />

begann, in Passau Wirtschaft zu studieren.<br />

Er fühlte sich wohl in Bayern, fand<br />

Freunde.<br />

Die Schikane in den Ämtern jedoch,<br />

sagt García, habe ihn „zermürbt“. Er bekam<br />

seine Aufenthaltserlaubnis jeweils<br />

nur für wenige Monate verlängert. Andernfalls,<br />

hieß es, könne er die deutsche<br />

Großzügigkeit ausnutzen und versuchen,<br />

in der Bundesrepublik zu arbeiten. Wenn<br />

er sich um die Genehmigung für ein Praktikum<br />

bewarb, sagte man ihm, er sei hier,<br />

um zu studieren.<br />

García schickte einen Brief an den Passauer<br />

Oberbürgermeister. Er schrieb, dass<br />

er davon träume, eingebürgert zu werden<br />

und eine Firma zu gründen: „Für mich<br />

ist die Zukunft hier. Ich möchte mich frei<br />

bewegen und mehr für mein Dasein leisten<br />

dürfen.“ Der SPD-Mann antwortete,<br />

dass er leider nichts für García tun könne.<br />

Für Studenten wie ihn sei die Rückkehr<br />

ins Heimatland vorgesehen.<br />

Laut einer Studie der OECD hatten zwischen<br />

Juli 2010 und Juli 2011 neun von<br />

zehn deutschen Unternehmen offene<br />

Stellen, doch nur jedes vierte machte sich<br />

auch außerhalb <strong>Deutschland</strong>s auf die<br />

Suche. Bei Klein- und Mittelständlern zogen<br />

dies gerade mal ein bis zwei von zehn<br />

in Betracht. Viele Unternehmen fürchten,<br />

dass es schwierig, unsicher und teuer sei,<br />

Personal aus dem Ausland anzuwerben.<br />

„Kleine und mittelständische Firmen<br />

können sich diesen Aufwand nicht leisten“,<br />

sagt Volker Steinmaier vom Arbeitgeberverband<br />

Südwestmetall. Er vertritt<br />

Unternehmen, die momentan große Probleme<br />

haben, ihre freien Stellen mit Fachkräften<br />

zu besetzen: Produktionsbetriebe,<br />

Tüftlerfirmen. Im Ausland zu suchen sei<br />

viel zu aufwendig, sagt Steinmaier. Jobmessen<br />

im Ausland, Netzwerke zu ausländischen<br />

Hochschulen, Kontakte zu ausländischen<br />

Arbeitsverwaltungen: „Das<br />

kann kaum ein Betrieb leisten.“<br />

Konzerne wie die Allianz tun sich leichter.<br />

Das Unternehmen organisiert in seiner<br />

Münchner Zentrale „Wel<strong>com</strong>e Days“.<br />

Neuen Mitarbeitern werden sogenannte<br />

Buddys an die Seite gestellt, die bei der<br />

Orientierung helfen sollen. „Unternehmen<br />

wie Politik müssen die Rahmenbedingungen<br />

für diejenigen verbessern, die<br />

mit ihrem Wissen und ihrer Expertise zu<br />

<strong>Deutschland</strong>s Wettbewerbsfähigkeit beitragen<br />

können“, sagt Werner Zedelius,<br />

Vorstandsmitglied der Allianz.<br />

<strong>Deutschland</strong> muss lernen, Einwanderer<br />

zu umwerben. Dies bedeutet nicht weniger,<br />

als eine neue Kultur in der Gesellschaft<br />

zu verankern – in Ämtern, unter<br />

Politikern und Personalchefs.<br />

Dazu zählt für Allianz-Vorstand Zedelius,<br />

die Vorteile <strong>Deutschland</strong>s zu vermarkten.<br />

Das habe man „vielleicht bisher<br />

noch nicht richtig“ getan. „Die Bundesregierung<br />

verhält sich viel zu defensiv“,<br />

sagt auch Christine Langenfeld, die Vorsitzende<br />

des Sachverständigenrats für Integration<br />

und Migration. Es fehle ein modernes<br />

„Zuwanderungsmarketing“. Erleichterungen<br />

wie die Blaue Karte seien<br />

im Ausland viel zu wenig bekanntgemacht<br />

worden. „Die Reformen gehören<br />

ins Schaufenster“, fordert Langenfeld,<br />

„und nicht unter den Ladentisch.“<br />

MAXIMILIAN POPP, JANKO TIETZ<br />

DER SPIEGEL 50/2013 51


Szene<br />

Was war da los,<br />

Frau Old?<br />

Samantha Old, 42, Schneiderin aus<br />

Bournemouth, über ungewöhnliche<br />

Kundschaft: „Ich habe zwei Hühnern<br />

Jacken aus Fleece geschneidert. Ein<br />

Ehepaar aus Bournemouth hat die beiden<br />

Tiere aus einer Legebatterie gerettet.<br />

Sie haben sie Margot und Valerie<br />

getauft. Der Besitzer rief an und<br />

sagte, er habe Angst, dass es im Winter<br />

zu kalt für die Tiere werden würde,<br />

schließlich haben sie vorher nur in<br />

engen Käfigen gelebt, waren nie draußen.<br />

Wenn man Tiere liebt, so wie<br />

ich, tut man alles für sie. Ich habe die<br />

Hühner genau vermessen und zwei<br />

verschiedene Jacken geschneidert, da -<br />

mit man die Tiere auseinan der -<br />

halten kann. Außerdem war<br />

es wichtig, dass der Stoff nicht<br />

zu schwer ist, warm hält und<br />

leicht zu reinigen ist. Margot<br />

und Valerie verhalten sich mit<br />

dem neuen Outfit ganz normal.<br />

Sie scheinen es zu mögen.“<br />

Wie bettelt man im Advent, Herr Mariček?<br />

FOTOS: BOURNEMOUTH NEWS / REX FEATURES / HGM<br />

Václav Mariček, 64, lebt seit über<br />

20 Jahren als Obdachloser auf der Stra -<br />

ße, seit vier Jahren in Hamburg. Der<br />

Dezember ist für ihn der beste Monat.<br />

SPIEGEL: Herr Mariček, was ändert sich<br />

für Sie in der Vorweihnachtszeit?<br />

Mariček: Sobald die ganzen Weihnachtsmärkte<br />

öffnen, ist mehr los auf<br />

der Straße. Die Leute sind fröhlich,<br />

der Geldbeutel sitzt lockerer. Es liegt<br />

auch mal ein Fünf- oder ein Zehn-<br />

Euro-Schein im Becher. An einem guten<br />

Adventstag kommen 30 bis 50<br />

Euro zusammen.<br />

SPIEGEL: Worauf achten Sie auf der<br />

Straße? Gibt es Tricks?<br />

Mariček: Entscheidend ist der Standort.<br />

Mein Platz ist seit Jahren die Spitalerstraße<br />

in der Hamburger Innenstadt.<br />

Mal sitze ich vor der Deutschen Bank,<br />

mal vor einem Spielwarengeschäft.<br />

Man muss freundlich gucken. Den<br />

Kindern zuwinken hilft auch. Und<br />

bloß keinen Alkohol vor Kinderaugen –<br />

vor dem Spielzeugladen trinke ich<br />

nie was. Manchmal sitze ich mit einem<br />

52<br />

Kumpel und seinem Hund zusammen.<br />

Wenn Leute dem Hund etwas bringen,<br />

gibt es meist auch was für uns.<br />

SPIEGEL: Betteln Sie auch auf den<br />

Weihnachtsmärkten?<br />

Mariček: Nein, das finde ich belei -<br />

digend. Die Leute wollen ihre Ruhe<br />

haben, etwas essen, Spaß haben.<br />

SPIEGEL: Warum sind Sie auf der Straße<br />

gelandet?<br />

Mariček: Meine Frau ist 1986 an einem<br />

Hirntumor gestorben. Damit bin ich<br />

Mariček<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL<br />

nicht klargekommen. Ich habe angefangen<br />

zu trinken, einen schweren<br />

Autounfall gebaut. Und ich fing an,<br />

durch <strong>Deutschland</strong> zu streifen.<br />

SPIEGEL: Wie überleben Sie im Winter?<br />

Mariček: Die Hauptsache ist, dass<br />

man einen Schlafsack und eine Iso -<br />

matte hat. Mit der Kälte habe ich kein<br />

Problem mehr. Es gibt auch Vorteile.<br />

Man bekommt schneller mal etwas<br />

Warmes zu essen geschenkt.<br />

SPIEGEL: Gibt es jetzt viel Konkurrenz<br />

auf der Straße?<br />

Mariček: Auf jeden Fall. Viele versuchen,<br />

Mitleid zu erregen. Sie laufen mit<br />

Krücken umher oder knien sich mitten<br />

auf den Gehsteig. Ich mach so was<br />

nicht. Und ich sage ihnen, 80 Prozent<br />

von denen sind gar nicht krank.<br />

SPIEGEL: Wie verbringen Sie Weih -<br />

nachten?<br />

Mariček: Ich bin jedes Jahr über Weihnachten<br />

und Silvester bei meiner<br />

Cousine in Hannover. Das ist schön, es<br />

gibt viel zu essen. Aber nach ein<br />

paar Tagen reicht es mir, und es zieht<br />

mich wieder auf die Straße.


Gesellschaft<br />

Gefühle, amtlich geprüft<br />

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Stuttgarterin einen Unbekannten heiratete<br />

Abends, wenn es dunkel wird, setzt<br />

sich Ulrike Shigjeqi manchmal auf<br />

ihr Sofa und schaut sich Fotos an,<br />

die Bilder ihrer Liebe. Mittlerweile füllen<br />

sie ein dickes Album.<br />

Sie und er im Freibad.<br />

Sie und er vor einem Schloss.<br />

Sie und er an einer Imbissbude.<br />

Die Fotos sind kurz nach ihrer Hochzeit<br />

im Kosovo entstanden, das war vor<br />

zweieinhalb Jahren. Ulrike legt den Arm<br />

um Naim, sie sieht glücklich aus. Sie wollten<br />

sich in <strong>Deutschland</strong> ein gemeinsames<br />

Leben aufbauen,<br />

das war damals der Plan.<br />

Drei Monate nach der<br />

Hochzeit erhielt Ulrike Post<br />

von der Ausländerbehörde in<br />

Stuttgart. Das Amt lud sie und<br />

ihren Mann, der noch in seiner<br />

Heimat Kosovo lebte, zu<br />

einer Befragung ein. Das Amt<br />

unterstellte ihnen, dass ihre<br />

Liebe nicht echt sei.<br />

Ulrike Shigjeqi, die den Namen<br />

ihres Mannes trägt, dachte<br />

an das Fotoalbum, an Naim,<br />

an ihre Hochzeit. Dem Amt<br />

das Gegenteil zu beweisen,<br />

dachte sie, sei kein Problem.<br />

Ulrike Shigjeqi ist 28 Jahre<br />

alt und wohnt in einer Kleinstadt<br />

nahe Stuttgart. Ihre Kindheit<br />

sei nicht schön gewesen,<br />

sagt sie, Vater und Mutter stritten<br />

sich oft, Ulrike verbrachte<br />

viel Zeit im Reitstall. Nach der<br />

Schule machte sie eine Ausbildung<br />

zur Landwirtin.<br />

Ab und an lernte sie Männer<br />

kennen. Sie ging mit ihnen<br />

zum Fußball oder in ein Eiscafé, sie<br />

versuchte herauszufinden, ob der jeweilige<br />

Mann sich Kinder wünschte, ob er<br />

sich vorstellen könnte, mit ihr ein Heim<br />

zu gründen. Die meisten interessierte das<br />

nicht.<br />

An einem Nachmittag im August besuchte<br />

Ulrike Shigjeqi ein Fußballspiel in<br />

Bietigheim-Bissingen. Ein Freund stellte<br />

ihr seinen Cousin Naim vor, der zu Besuch<br />

in <strong>Deutschland</strong> war. Naim war damals<br />

25 Jahre alt, er sagte, er beliefere<br />

Restaurants mit Mineralwasser. Er habe<br />

gut ausgesehen, sagt Shigjeqi; an der Art,<br />

wie er aufs Tor zielte, habe sie erkennen<br />

können, dass er ehrgeizig sei. Sie wurden<br />

Freunde auf Facebook, das war 2009.<br />

Während der folgenden zwei Jahre<br />

schrieben sie sich Nachrichten und trafen<br />

sich beim Skype-Videochat. Sie unterhielten<br />

sich über das Wetter und über Fußball.<br />

Weil sie keine gemeinsame Sprache hatten,<br />

nutzten sie einen Übersetzungsdienst<br />

im Internet. Manchmal setzten sie sich<br />

auch einfach so vor den Bildschirm und<br />

lächelten sich an.<br />

Naim erzählte nicht viel, erinnert sich<br />

Ulrike. Häufig fiel während der Unterhaltung<br />

auch der Strom bei ihm aus. Aber<br />

Ulrike Shigjeqi<br />

Aus der Online-Ausgabe der „Stuttgarter Zeitung“<br />

er begann, einen Deutschkurs zu machen,<br />

und als er eines Tages fragte, ob sie ihn<br />

heiraten wolle, sagte sie ja.<br />

Im Juni 2011 kaufte Ulrike Shigjeqi ein<br />

Flugticket nach Priština. Naim kam zu<br />

spät, um sie abzuholen, aber als er sie<br />

umarmte, fühlte sie sich glücklich.<br />

Ihre Hochzeit feierten sie mit einem<br />

großen Fest. Verwandte waren gekommen,<br />

aus dem ganzen Land, sie stellten<br />

ihr Fragen über <strong>Deutschland</strong>. Ein Onkel<br />

traute das Paar. Danach gab es Čevap -<br />

čići und Pommes. Am Nachmittag musste<br />

Naim zum Deutschkurs, Ulrike ging<br />

allein ins Freibad. Nach fünf Tagen<br />

flog sie zurück. Sie freute sich auf die<br />

Zukunft.<br />

Wenige Wochen nach der Hochzeit beantragte<br />

Naim bei der deutschen Botschaft<br />

in Priština ein „Visum zur Familien -<br />

zusammenführung“, das es ihm erlauben<br />

würde, zu seiner Frau zu ziehen.<br />

Jedes Jahr decken die Behörden rund<br />

800 Scheinehen auf, der Kosovo steht auf<br />

der Liste der verdächtigen Herkunftsländer<br />

auf Platz fünf. Die Behörden in Priština<br />

und Stuttgart luden Ulrike und Naim<br />

zeitgleich zur Befragung ein, sie stellten<br />

ihnen 50 Fragen über ihr Leben.<br />

„Auf welcher Etage wohnen<br />

Sie?“<br />

„Wer hat den Heiratsantrag<br />

gemacht?“<br />

„Wer zahlte die Eheringe?“<br />

„Welche Hobbys hat Ihr<br />

Ehepartner?“<br />

„Ist Ihr Ehepartner Linksoder<br />

Rechtshänder?“<br />

„Ist Ihr Ehepartner Raucher<br />

oder Nichtraucher? Sie selbst?<br />

(Bitte Zigarettenmarke angeben).“<br />

Die Behörde geht davon aus,<br />

CIRA MORO / DER SPIEGEL<br />

dass Liebe auch auf der Kenntnis<br />

von Fakten beruht. Es ist<br />

eine eher bürokratische Vorstellung<br />

von Ehe, sie deckt sich<br />

nicht hundertprozentig mit der<br />

Vorstellung von Liebe und Romantik,<br />

die Ulrike Shigjeqi hat.<br />

Bei der Befragung sei sie<br />

aufgeregt gewesen, sagt sie.<br />

So konnte sie sich nicht an die<br />

Namen all seiner Verwandten<br />

erinnern. Naim gab an, dass<br />

Ulrike mit links schreibe, dabei<br />

ist sie Rechtshänderin; er<br />

wusste nicht, dass sie reitet.<br />

Sie klagten gegen den Entscheid. Das Verwaltungsgericht<br />

Berlin kommt in seinem<br />

Urteil zu dem Schluss, dass Ulrike und Naim<br />

Shigjeqi eine Scheinehe eingegangen seien,<br />

um ihm ein Daueraufenthaltsrecht zu sichern.<br />

Aus den Antworten könne man auf<br />

„mangelnde wechselseitige Vertrautheit“<br />

schließen. Die Klage wurde abgewiesen.<br />

Ulrike Shigjeqi hat seit sieben Monaten<br />

nichts mehr von ihrem Mann gehört.<br />

Doch sie hat sich entschlossen, für ihre<br />

Liebe zu kämpfen. Ihr Anwalt hat gegen<br />

das Urteil Berufung eingelegt, sie erzählte<br />

die Geschichte ihrer Lokalzeitung.<br />

Sie findet, dass sie ein Anrecht auf Liebe<br />

hat. Und dass Gefühle nicht durch Fakten<br />

gedeckt sein müssen. KATRIN KUNTZ<br />

DER SPIEGEL 50/2013 53


Gesellschaft<br />

NEUANFÄNGE<br />

Herr Meinhardt ist frei<br />

Politiker der FDP hatten immer einen warmen Platz, ihre Partei war Inventar des<br />

Bundestags. Nun sind sie dem Markt ausgesetzt. Das Beispiel des Abgeordneten<br />

Patrick Meinhardt zeigt, wie mühsam das sein kann. Von Barbara Hardinghaus<br />

Es ist seine eigene Wahlparty, auf<br />

der das Leben von Patrick Meinhardt<br />

für drei Sekunden zum Stillstand<br />

kommt. Er steht mit verschränkten<br />

Armen in einem Hotel in Karlsruhe und<br />

wartet zusammen mit seinen Gästen aus<br />

der Partei auf die erste Hochrechnung.<br />

„4,5 Prozent für die FDP“, sagt die Moderation<br />

vom ZDF. Meinhardt weiß, dass<br />

das der Moment ist, in dem alles aus dem<br />

Gleis springt.<br />

Er ist bildungspolitischer Sprecher der<br />

FDP und seit acht Jahren Mitglied des<br />

Bundestags. Auf der Landesliste Baden-<br />

Württemberg steht er auf Platz neun.<br />

7,2 Prozent hätte seine Partei für ihn erreichen<br />

müssen. Sein Kopf ist rot, er<br />

schwitzt, niemand im Raum rührt sich,<br />

bis einer sagt: „Mein lieber Gott!“ Meinhardt<br />

sucht die Blicke der anderen.<br />

54<br />

Abgeordneter Meinhardt<br />

Er packt beim Aufräumen mit an<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL<br />

Fünf Kilo hat er im Wahlkampf gelassen,<br />

seit Juni ist er pausenlos unterwegs<br />

gewesen, 22 000 Kilometer durch seinen<br />

Wahlkreis Karlsruhe-Land gefahren, alles<br />

mit Bus und Bahn, denn er hat keinen<br />

Führerschein. 22 000 Kilometer ist einmal<br />

um die halbe Welt. 11 500 Postkarten hat<br />

er verschickt, noch am Vortag stand er<br />

an den FDP-Ständen von sechs Städten<br />

und verteilte 300 Bananen mit den Worten:<br />

„Darf ich Ihnen ein bisschen Energie<br />

geben?“, immer getragen von der Hoffnung,<br />

er könne es noch schaffen.<br />

An diesem Abend versteht er, dass niemand<br />

mehr seine Energie haben möchte.<br />

In einigen Tagen wird er 47 Jahre alt und<br />

in vier Wochen arbeitslos.<br />

In das Hotel in Karlsruhe kommt jetzt,<br />

etwas verspätet, ein Konditor aus der Gegend<br />

und bringt eine riesige Torte mit ei-


MICHAEL GOTTSCHALK / DAPD<br />

nem Foto von Meinhardt, das ihn fröhlich<br />

zeigt. Der Konditor zerschneidet die Torte,<br />

reicht Meinhardt ein Stück, der jetzt an einem<br />

der Bistrotische an der Seite steht und<br />

sein eigenes Lächeln vom Teller löffelt.<br />

„Was wir brauchen, ist eine wirkliche<br />

Erneuerung!“, sagt er, als eine Reporterin<br />

vom Fernsehen ihn interviewt. Als die<br />

meisten seiner Gäste gegangen sind, sitzt<br />

er im Hotelgarten unter Geranien, drückt<br />

sich ein Taschentuch über seine Tränen<br />

und sagt: „Ich mache natürlich weiter!“<br />

Er entschuldigt sich, verschwindet kurz<br />

auf dem Klo, kehrt zurück in den Raum,<br />

in dem seine Party zu Ende geht. Er packt<br />

jetzt beim Aufräumen mit an. Von weitem<br />

hört man ihn noch lange reden, mit<br />

kräftiger Stimme, als ginge es morgen<br />

früh weiter wie immer. Als hätte es diesen<br />

Abend gar nicht gegeben, an dem die<br />

FDP nach 64 Jahren aus dem Deutschen<br />

Bundestag geflogen ist.<br />

Was lernt man daraus als Mann von<br />

der FDP? Was bedeutet so ein Ergebnis<br />

für einen, der dafür mitverantwortlich<br />

ist? Was ändert es an einem Leben, das<br />

von Politik geleitet war?<br />

Patrick Meinhardt sitzt am Morgen<br />

nach der Wahl schon früh in einer Air-<br />

Berlin-Maschine, die ihn von Karlsruhe<br />

in die Hauptstadt fliegen wird, zu den anderen.<br />

Vormittags tagt der Vorstand der<br />

FDP-Fraktion im Bundestag, mittags die<br />

gesamte Fraktion. Auf dem Weg vom einen<br />

in den anderen Raum sind die Kameras<br />

auf die Gesichter von Verlierern gerichtet,<br />

Philipp Rösler, Rainer Brüderle.<br />

Meinhardt verschwindet hinter ihnen<br />

im Großen Sitzungssaal, er begrüßt Parteikollegen<br />

mit einem Schlag auf die<br />

Schulter. Er sagt: „2017 sind wir spätestens<br />

wieder da!“<br />

Am Nachmittag bespricht er mit seinen<br />

Mitarbeitern den Auszug aus dem Ab -<br />

geordnetenbüro. Er muss seine Wohnung<br />

in Prenzlauer Berg kündigen und sein<br />

Bürgerbüro räumen, in Bretten bei Baden-Baden,<br />

seiner Heimat.<br />

Drei Tage später kommt er in dieses<br />

Büro, eine Mitarbeiterin packt erste Kartons.<br />

Das Büro liegt direkt am Marktplatz<br />

von Bretten, in den großen Fenstern kleben<br />

Plakate von Patrick Meinhardt und<br />

seine Telefonnummer in großen Ziffern,<br />

damit sie jeder leicht erkennen und<br />

wählen kann. Die Nähe zum Bürger war<br />

Meinhardt schon immer wichtig.<br />

Es ist eigentlich ein trauriger Tag heute,<br />

aber man merkt ihm das nicht an, denn<br />

für den Abend erwartet er schon wieder<br />

DER SPIEGEL 50/2013 55


FDP-Ikone Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag 1989: „Brutal gut“<br />

56<br />

die nächsten Bürger, Mitglieder der Initia -<br />

tive Baden-Baden Stadt. Sie treffen sich<br />

zum Oktoberfest in der „Alten Turnhalle“.<br />

Sie unternehmen auch Wanderungen,<br />

suchen Ostereier oder feiern Fasching.<br />

Meinhardt ist ihr Vorsitzender, seit 20 Jahren.<br />

Seit er 27 Jahre alt ist.<br />

Meinhardt bewegt sich durch die Halle,<br />

wie Dieter Thomas Heck durch die Hitparade<br />

raste. Meinhardt rennt, redet,<br />

trinkt einen mit, überreicht Blumensträuße<br />

an Jubilare, er macht diese Menschen<br />

glücklich. Er ist ein guter Gastgeber.<br />

Ein Lokalreporter, der Meinhardt während<br />

dessen Wahlkampf des Öfteren traf,<br />

sagt, dass Meinhardt sich verändert habe<br />

in dieser Zeit. Meinhardts Stimme sei<br />

noch lauter geworden und auch sein Lachen.<br />

Er habe gekämpft, bis zuletzt.<br />

Man könnte sich jetzt fragen, was die<br />

Menschen heute von Politikern erwarten,<br />

außer dass sie kämpfen und fröhlich sind.<br />

Das Allensbach-Institut stellt „im Ansehen<br />

der Politiker einen historischen Tiefstand“<br />

fest. Die FDP befindet sich demnach auf<br />

dem tiefsten Punkt des Tiefstands.<br />

Wenn man Meinhardt fragt, was er geleistet<br />

habe in seinen acht Jahren Bundestag,<br />

als Vorsitzender des Arbeitskreises<br />

Innovation, Gesellschaft und Kultur der<br />

FDP-Bundestagsfraktion, als Vorsitzender<br />

der Parlamentariergruppe Östliches Afrika,<br />

als Vorsitzender des FDP-Bundesfachausschusses<br />

Bildung, Wissenschaft, Forschung<br />

und Technologie, sagt er, er sei<br />

einer von denen gewesen, die die Gruppe<br />

der „Christen in der FDP-Bundestagsfraktion“<br />

gegründet haben, ein wöchentliches<br />

Gebetsfrühstück mit Andacht.<br />

Das ist vielleicht das Überraschendste<br />

an Patrick Meinhardt: das Gebetsfrühstück.<br />

Man traut einem Politiker der FDP<br />

nichts zu, was sich in einer Partei des wirtschaftsliberalen<br />

Starrsinns Aufmerksamkeit<br />

verschaffen könnte, nichts Über natür -<br />

liches, nichts, was mit einem Gemeinschaftsgefühl<br />

verbunden werden könnte.<br />

Wie die meisten Politiker seiner Generation<br />

hat Meinhardt keine große Idee, an<br />

die er glauben könnte, schon gar keine<br />

Vision, in ihm lodert auch keine politische<br />

Leidenschaft. Er hat das Gebetsfrühstück<br />

eingerichtet, so wie andere Menschen einen<br />

Adventsbasar einrichten. Es macht<br />

ihm Spaß, aber es ist nicht Teil einer poli -<br />

tischen Strategie. Meinhardt ist einer dieser<br />

vielen Abgeordneten, die ihr Thema<br />

nicht mit in den Bundestag bringen, sondern<br />

sich so lange treiben lassen, bis sie<br />

auf ein Thema stoßen, von dem sie irgendwann<br />

verkünden: Das Thema ist meines.<br />

Man kann dieses Zufallsprinzip für<br />

unpolitisch halten, man kann aber auch<br />

sagen: Die Generation Meinhardt passt<br />

Politik ihren Lebensgewohnheiten an.<br />

Wie viele Politiker seiner<br />

Generation hat Meinhardt<br />

keine große Idee,<br />

an die er glauben könnte.<br />

Man muss Politik nicht so fundamental<br />

verstehen wie Herbert Wehner, um sie<br />

attraktiv zu finden.<br />

Dann zählt Meinhardt noch folgende<br />

Punkte auf: Er habe das Konzept „Bildungssparen“<br />

mit auf den Weg gebracht,<br />

eine Art Bausparmodell fürs Studieren.<br />

Er habe das „<strong>Deutschland</strong>stipendium“ zusammen<br />

mit anderen erfunden, 14 000 zusätzliche<br />

Universitätsstipendien. Und für<br />

die 7,5 Millionen Analphabeten im Land<br />

habe seine Arbeitsgruppe ein Konzept<br />

für einen Masterplan entwickelt.<br />

Was er im Bundestag gern noch getan<br />

hätte? Das <strong>Deutschland</strong>stipendium aus -<br />

bauen, den Masterplan für die Analphabeten<br />

schreiben. Er sagt, er wäre an diesen<br />

Themen gern noch länger drangeblieben.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

DPA<br />

Gesellschaft<br />

Meinhardt wurde 1966 als uneheliches<br />

Kind geboren, er wuchs bei seiner Oma<br />

auf, in einer billigen Wohnung, an einer<br />

der teuersten Straßen von Baden-Baden.<br />

Und während die anderen Jungs zum Spielen<br />

gingen, erledigte er für seine Oma den<br />

Einkauf oder die Gänge zum Sozialamt.<br />

Eines Tages klingelte die Diakonin der<br />

Gemeinde an der Haustür. Sie fragte, ob<br />

Patrick mit zum Kindergottesdienst kommen<br />

wolle. Und weil Meinhardt kein anderes<br />

Leben kannte als das der Aufgaben,<br />

wurde er mit elf Jahren Leiter der Kinderkirchengruppe.<br />

Er las den Vier- bis<br />

Elfjährigen jeden Sonntagvormittag aus<br />

der Bibel vor oder erzählte ihnen die Geschichte<br />

von Jona und dem Fisch.<br />

Das habe ihm, so beschreibt er es, „unendlich<br />

viel innere Freude bereitet“. Er<br />

konnte das gut, vor anderen reden. Er<br />

mochte es, wenn man ihm zuhörte.<br />

Mit 21 wurde er Kreisvorsitzender der<br />

Jungen Liberalen in Baden-Baden. Er erfuhr<br />

damals, dass es Streit gab zwischen<br />

den Bürgern und einem Künstler, der für<br />

1,6 Millionen Mark einen Brunnen auf<br />

den Leopoldsplatz stellen ließ und dafür<br />

jetzt auch noch drei Kugelbäume fällen<br />

wollte. Zusammen mit seinen vier Kollegen<br />

informierte er die Presse, stellte einen<br />

Tapeziertisch in die Fußgängerzone und<br />

sammelte Unterschriften gegen das Fällen<br />

ein, 3000 Stück. Danach kannten alle die<br />

Jungen Liberalen in Baden-Baden. Zwei<br />

Monate später gehörte Meinhardt zum<br />

Landesvorstand der FDP und besuchte<br />

Veranstaltungen in ganz <strong>Deutschland</strong>.<br />

Wieso die FDP?<br />

„Aus einem liberalen Grundempfinden“,<br />

sagt er und schließt kurz die Augen.<br />

Außerdem habe ihn dieses eine Bild beeindruckt,<br />

Hans-Dietrich Genscher auf<br />

dem Balkon der deutschen Botschaft in<br />

Prag im Herbst ’89. Das war „gigantisch“,<br />

sagt er. Er mag diese starken Wörter, „gigantisch“,<br />

„grandios“, „brutal gut“, er setzt<br />

auch ein kurzes Lachen hinter jeden seiner<br />

Sätze, als brauchte er ständig Verstärker.<br />

Erst später beschäftigte sich Meinhardt<br />

mit politischen Inhalten, er las Max<br />

Weber, Theodor Heuss, Karl-Hermann<br />

Flach, Reinhold Maier. Ihm gefiel die Idee<br />

der Graswurzeldemokratie. Er versuchte,<br />

das auch in seinem Bürgerbüro in Bretten<br />

zu leben. Also baute Meinhardt eine gemütliche<br />

Sitzecke in sein Büro.<br />

„Das Schönste waren hier eigentlich<br />

immer die Bürgerempfänge!“, sagt er. Bei<br />

den Empfängen hatte er den Laden voll<br />

mit 40, 50 oder 60 Bürgern. Meinhardt<br />

brauchte immer die Bürger, um sich wohl<br />

zu fühlen.<br />

Die Themen, für die Meinhardt sich<br />

einsetzt, sind die, in denen es vor allem<br />

um Chancengleichheit geht. Er selbst hat<br />

in seinem Leben davon profitiert, dass es<br />

Menschen gab, die ihm die gleichen Chancen<br />

gaben wie anderen. Einer seiner<br />

Lehrer half ihm, weil es bei Meinhardt zu


Arbeitsloser Politiker Meinhardt: Ein Leben aus Ehrenämtern<br />

Hause einen Fernseher gab, aber kein<br />

Geld für Bücher. In der Oberstufe sammelte<br />

ein anderer Lehrer Geld, damit<br />

Meinhardt mit auf die Rom-Fahrt konnte.<br />

In der Wahrnehmung der Bürger ist die<br />

einst liberale FDP zu einer Wirtschaftspartei<br />

geworden, die sich vor allem um<br />

die Interessen einer einzelnen Gruppe<br />

kümmerte, die des Mittelstands. Mit Meinhardts<br />

Vorstellungen von Chancengleichheit<br />

hat diese FDP nichts zu tun. In den<br />

Augen vieler Bürger ist es die Partei, die<br />

arbeitslosen Schlecker-Angestellten riet,<br />

schnellstmöglich und aus eigener Kraft<br />

und ohne staatliche Hilfe eine „Anschlussverwendung“<br />

zu finden. Es sieht so aus,<br />

als hätte sie das Gefühl für die Gesamtheit<br />

der Menschen verloren, als verfügte sie<br />

nur noch über einzelne Inselbegabungen,<br />

was sie für den Alltag untauglich macht.<br />

Wer nicht weiß, wozu die FDP gut sein<br />

könnte, der weiß auch nicht, warum er<br />

den FDP-Abgeordneten Meinhardt wählen<br />

sollte. Die FDP war mal die Partei<br />

der Bürgerrechte, die Partei der begründeten<br />

Skepsis gegenüber der herrschenden<br />

Meinung, die Partei der Argumentierer,<br />

hin und wieder auch die Partei der<br />

Querulanten. Sie war nicht pausenlos allein<br />

die Partei des Machtkalküls und des<br />

politischen Opportunismus. Sie galt als<br />

Funktionspartei, weil sie eine Funktion<br />

hatte, im Zweifel die des Züngleins an<br />

der Waage. Welche Funktion könnte sie<br />

heute noch haben?<br />

Von einem Politiker wie Meinhardt, der<br />

als persönliche Bilanz nicht mehr zu bieten<br />

hat als ein Gebetsfrühstück, ist keine<br />

überzeugende Antwort zu erwarten. Seine<br />

Kollegen im Parteivorstand müssten eine<br />

Antwort haben, aber sie reden sich nur<br />

darauf heraus, dass die Große Koalition<br />

riesige Pannen verursachen werde. Sie hoffen<br />

auf Fehler der beiden Volksparteien,<br />

die noch gar keine Koalition gebildet und<br />

folglich noch gar keine Fehler begangen<br />

58<br />

Für die FDP geht es<br />

jetzt nur noch um<br />

ihre eigene „Anschlussverwendung“.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

CIRA MORO / DER SPIEGEL<br />

Gesellschaft<br />

haben. Das ist eine erschreckend dürftige<br />

Hoffnung für einen Neuanfang der FDP.<br />

Für die FDP selbst geht es jetzt bloß<br />

noch um ihre eigene „Anschlussverwendung“.<br />

Welche wird Meinhardt finden?<br />

An einem Montag Mitte Oktober läuft<br />

Meinhardt leger, in Jeans, Sakko und offenem<br />

Hemd, über die Flure des Abgeordnetenhauses<br />

in Berlin. Er zeigt sich<br />

wieder gutgelaunt, obwohl ihm über das<br />

Wochenende ein Herpes an der Oberlippe<br />

gewachsen ist und er in den Tagen zuvor<br />

mit seinem Blutdruck zu tun hatte.<br />

Der ist zu hoch, obwohl er eigentlich immer<br />

zu niedrig war. Jetzt suchen die Ärzte<br />

nach einer Ursache, aber finden sie nicht.<br />

Er solle sich schonen, haben sie gesagt.<br />

Aber Meinhardt hat zu tun. Für den<br />

Nachmittag erwartet er schon wieder Gäste<br />

in seinem Abgeordnetenbüro. Auch in<br />

Berlin hat er immer gern Feste gegeben,<br />

zu Weihnachten oder zum Saint Patrick’s<br />

Day. Er schüttet Wasabi-Nüsse auf ein<br />

Tablett. Nur noch bis Mitternacht wird er<br />

Abgeordneter sein.<br />

Seine Mitarbeiter haben, während er<br />

sich mit seinem Blutdruck herumschlug,<br />

sein Büro verpackt. Möbelpacker brachten<br />

seinen schweren Eichenschreibtisch<br />

nach Baden-Baden, über das Kreuz, das<br />

immer über seiner Tür hing, sagte er: Das<br />

Kreuz verlässt als Letztes den Raum. Seine<br />

Akten und Papiere liegen in hohen<br />

Kartons gestapelt.<br />

Um die Rechner sind Folien gespannt,<br />

die Kabel aufgerollt. Die SPD zieht ein.<br />

Meinhardt musste schon seinen Abgeordnetenausweis<br />

abgeben, seine Mailadresse,<br />

die Telefonnummer.<br />

Er sucht jetzt einen Korkenzieher.<br />

Er läuft über den Flur Richtung Küche.<br />

Vor dem Büro von Stefan Ruppert, der<br />

noch wenige Stunden lang Parlamen -<br />

tarischer Geschäftsführer der FDP ist,<br />

steht ein Karton mit der Aufschrift „Bücher<br />

zum Mitnehmen“. Er trifft Birgit<br />

Homburger, die in Wollpullover und<br />

Turnschuhen Sektgläser in Papier wickelt<br />

und blaue Müllsäcke befüllt. Er<br />

begrüßt Pascal Kober, der sagt: „Und?<br />

Jetzt die Schlüssel abgeben? Na ja, toi,<br />

toi, toi.“<br />

Mit Meinhardt werden an diesem Tag<br />

92 weitere Bundestagsabgeordnete arbeitslos.<br />

Auch 700 Partei- und Fraktionsmitarbeiter<br />

verlieren ihre Stelle. Das Jobcenter<br />

von Berlin-Mitte hat ein „Notfall-<br />

Büro“ im Haus eingerichtet. Die FDP<br />

glaubte immer daran, dass der Markt solche<br />

Situationen schon regle. Sie kann<br />

jetzt ausprobieren, wie sich das in der<br />

Wirklichkeit verhält.<br />

Zu Meinhardts Berliner Büro gehören<br />

fünf Mitarbeiter, junge Männer mit weichem<br />

Gesicht und sanfter Stimme. Meinhardt<br />

hat in den vergangenen Tagen viel<br />

Zeit darauf verwendet, sie in neue Jobs<br />

zu telefonieren. Zu seinen guten Eigenschaften<br />

gehört auch, dass er sich kümmert.<br />

Seine Mitarbeiter bleiben weitgehend<br />

in anderen Fraktionen, unter dem<br />

regenfesten Dach der Politik.<br />

Meinhardt ist mit dem Korkenzieher<br />

zurück, er erwartet Kollegen, Mitarbeiter<br />

aus dem Fraktionsbüro und aus der Arbeitsgruppe.<br />

Am Wochenende musste er<br />

ihre Namen, Adressen und Geburtsdaten<br />

in eine Liste eintragen und sie an den<br />

Empfang schicken, damit sie überhaupt<br />

noch reinkommen.<br />

Der erste Gast an diesem Tag ist ein<br />

Bildungsreferent aus der Arbeitsgruppe.<br />

Er ist 13 Minuten zu früh. Er hat jetzt<br />

Zeit. An einen leeren Schrank gelehnt<br />

stehen drei Sekretärinnen. Eine von ihnen<br />

ist 38 Jahre alt, seit 14 Jahren in der<br />

Fraktion, sie arbeitete schon im Vorzimmer<br />

von Wolfgang Gerhardt. Sie sagt, sie<br />

gehe zurück in die Bundestagsverwaltung,<br />

aber ihre beiden Kolleginnen seien noch<br />

auf der Suche.<br />

„Am schwersten haben es die Referenten<br />

und die älteren Sekretärinnen“, sagt<br />

sie. „Die jungen Mädels sind alle untergebracht.“<br />

Das Problem sei, dass viele von ihnen<br />

kaum Englisch sprechen würden und auch<br />

am Computer nicht so fix seien. „Wenn<br />

man hier arbeitet und dann in die freie<br />

Wirtschaft geht, ist das etwas ganz, ganz<br />

anderes“, sagt sie. Es sieht so aus, als<br />

würde der Markt für sie erst mal nichts<br />

regeln.<br />

Und die anderen?<br />

„Über weitere Pläne lässt sich derzeit<br />

nichts sagen“, heißt es aus der Pressestelle


Gesellschaft<br />

von Philipp Rösler. Rösler war früher in<br />

der Augenheilkunde tätig.<br />

„Leider werden wir Ihre Frage nicht beantworten<br />

können“, schreibt jemand aus<br />

der Pressestelle von Rainer Brüderle. Er<br />

ist 68 und will vielleicht mal in Rente.<br />

„Über weitere Pläne ist noch nichts entschieden“,<br />

übermitteln die Presseleute<br />

von Dirk Niebel. Der arbeitete früher im<br />

Arbeitsamt.<br />

Guido Westerwelle ist Anwalt mit Zulassung.<br />

Meinhardt sagt, er werde Westerwelle<br />

demnächst einen Brief schreiben. Er<br />

möchte ihn motivieren, Spitzenkandidat<br />

der FDP bei der Europawahl zu werden.<br />

Und Meinhardt selbst?<br />

Er begann nach dem Abitur ein<br />

Theologiestudium, er brach es ab,<br />

weil er seine Oma pflegte, bis sie<br />

1994 starb. Er verdiente sein Geld<br />

als Nachhilfelehrer. Er ist ohne<br />

Ausbildung und ohne Beruf. Für<br />

jedes Abgeordnetenjahr bekommt<br />

er, sofern er keine anderen Einkünfte<br />

hat, einen Monat Gehalt,<br />

also achtmal 8000 Euro. Im Sommer<br />

ist Schluss.<br />

Bis dahin hat er Zeit. Seine Idee<br />

ist, sich wieder selbständig zu machen,<br />

mit einem Büro für „Politische<br />

Beratung“, das den Namen<br />

„Carpe Diem“ tragen soll.<br />

In seinem Büro in Berlin erhebt<br />

er jetzt das Glas Sekt. „Das soll<br />

kein Abschiedsempfang sein, nur<br />

ein Zwischenempfang, bis wir uns<br />

spätestens in vier Jahren hier wiedersehen<br />

werden“, sagt er.<br />

Das Wort „spätestens“ dehnt er<br />

über mehrere Sekunden. Er bittet<br />

alle, ihre Mail-Adressen aufzuschreiben,<br />

er wolle Kontakt halten.<br />

Für einen Berufspolitiker, wie<br />

Meinhardt einer ist, ist die Zeit<br />

nach der Wahl die Zeit vor der<br />

Wahl. Er schreibt Leserbriefe, Pressemitteilungen,<br />

Facebook-Einträge.<br />

Ein Politiker, der die Bürger<br />

braucht. Nicht Bürger, die Politik<br />

brauchen. Vielleicht liegt darin das<br />

große Missverständnis von Patrick<br />

Meinhardt.<br />

Zehn Tage später, am 31. Oktober, ist<br />

auch Meinhardts Brettener Büro ausgeräumt.<br />

Der Mietvertrag läuft in der Nacht<br />

aus. Meinhardt nutzt die Gelegenheit,<br />

um sich den Bürger noch einmal ins Haus<br />

zu holen. Er hat Schnittchen vorbereiten<br />

lassen.<br />

Am Abend besucht er den Gottesdienst<br />

in Bretten zum Reformationstag. „Ständig<br />

ist Erneuerung“, sagt der Pastor der<br />

Gemeinde. In dunklem Mantel steht<br />

Meinhardt in der Bank, senkt den Kopf.<br />

Er betet. In zwei Tagen will er sich auf<br />

dem FDP-Landesparteitag zum Generalsekretär<br />

wählen lassen.<br />

Das Amt eines Generalsekretärs bedeutet<br />

vor allem: viel Arbeit und kein Geld,<br />

60<br />

es ist ein Ehrenamt. Meinhardt hat schon<br />

neun Ehrenämter. Im Grunde bestand<br />

sein Leben aus Ehrenämtern, seit er losgelaufen<br />

war als Kind und anfing mit<br />

Jona und dem Fisch.<br />

Mit dem Amt des Generalsekretärs<br />

würde er wenigstens noch vorkommen.<br />

Er könnte Pressemitteilungen schreiben.<br />

Die Zeitungen würden berichten. Das<br />

Amt würde ihn am Leben halten.<br />

Vielleicht merkt der Bürger ja, wenn<br />

Politiker auf seine Kosten leben, und vielleicht<br />

muss Meinhardt nur noch merken,<br />

dass der Bürger es gemerkt hat.<br />

Am Morgen des Landesparteitags stößt<br />

Patrick Meinhardt zu Fuß aus dem Nebel<br />

Abtransport von FDP-Wahlplakaten: „Carpe Diem“<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

an die Veranstaltungshalle in Filderstadt.<br />

Er ist wie immer mit der Bahn gekommen.<br />

Er sagt, er habe die vergangenen<br />

48 Stunden nur telefoniert, er sei um<br />

3.30 Uhr aufgestanden.<br />

Er begrüßt einige seiner Parteifreunde,<br />

er geht mit hektischen Schritten auf sie<br />

zu, und schon eine Stunde später, um<br />

9.45 Uhr, liegt sein Haar verschwitzt im<br />

Nacken. An diesem Tag geht es für einige<br />

der Delegierten um die letzten Ämter<br />

und Ehrenämter in der baden-württembergischen<br />

FDP, sie suchen sie, wie Hungernde<br />

Nahrung suchen.<br />

Meinhardt muss bis zum Nachmittag<br />

warten, bis er erfährt, ob Michael Theurer<br />

ihn rettet. Theurer will sich zum Landeschef<br />

wählen lassen, und wenn das so<br />

kommt, zieht er Meinhardt mit.<br />

Vorher spricht die bisherige Landesvorsitzende<br />

Birgit Homburger, die 2009<br />

FDP-Fraktionsvorsitzende im Bundestag<br />

wurde und nach knapp 19 Monaten von<br />

ihrer Partei entmachtet worden ist. Sie<br />

kennt den Schmerz, den der Verlust von<br />

politischen Ämtern verursachen kann. In<br />

ihrer Rede sagt sie, sie blicke auch auf<br />

schwere Zeiten zurück. Sie erinnert die<br />

anderen daran, dass auch für sie die wirklich<br />

schweren Tage noch kommen werden,<br />

dann, wenn keiner von ihnen hier<br />

im Saal mehr eine Rolle spielen werde.<br />

Es gibt andere, die politische Niederlagen<br />

schlechter verkraftet haben als<br />

Homburger. Die Bündnisgrüne<br />

Andrea Fischer wurde 1998 Gesundheitsministerin,<br />

drei Jahre<br />

später schickten ihre eigenen<br />

Leute sie nach Hause. Sie wurde<br />

depressiv.<br />

Gegen Nachmittag tritt Michael<br />

Theurer zu seiner Rede an. Meinhardt<br />

wirkt unruhig, sein Blutdruck<br />

presst ihm dunkelrote Flecken<br />

ins Gesicht, er beklatscht<br />

seinen Freund Theurer nach jeder<br />

Pointe. Kurz nach 16 Uhr gewinnt<br />

Theurer im zweiten Wahlgang die<br />

Wahl. Die Delegierten bestätigen<br />

Patrick Meinhardt als General -<br />

sekretär mit 72,05 Prozent der<br />

Stimmen. „Knapp drei Viertel“, er<br />

wirkt sehr zufrieden. Sein Leben<br />

ist zurück ins Gleis gesprungen. Er<br />

hofft jetzt darauf, dass er Beisitzer<br />

im Bundesvorstand wird.<br />

Generalsekretär in Baden-Württemberg,<br />

Beisitzer im Bundesvorstand.<br />

Patrick Meinhardt baut sich<br />

ein neues Leben zusammen. Ein<br />

Parteiposten-Leben. Der Freiheit<br />

des Marktes, dem Evangelium seiner<br />

Partei, hat er sich gar nicht erst<br />

ausgesetzt. Er musste keinen Wirklichkeitstest<br />

bestehen. Im politischen<br />

Apparat haben sich Plätzchen<br />

gefunden, die Meinhardt<br />

warm halten.<br />

Wie geht es ihm damit?<br />

Er antwortet auf diese Frage am Tag<br />

nach seiner Ernennung zum General -<br />

sekretär in einer SMS. Er schreibt:<br />

„Ich war gestern und heute von einer<br />

ausgesprochenen inneren Ruhe getragen.<br />

Ich habe mich sehr gefreut – und seither<br />

so viele Gespräche mit Delegierten geführt,<br />

dass ich sie schon nicht mehr zählen<br />

kann… Theodor Heuss hat gesagt: ,Ich ha -<br />

be nicht das Talent, faul zu sein!‘ Das passt<br />

auch ziemlich gut zu mir. Herzlichst, schon<br />

wieder aus Berlin. Ihr Patrick Meinhardt.“<br />

FOTOS: ROLAND WEIHRAUCH / DPA<br />

Animation:<br />

Die lange Geschichte der FDP<br />

spiegel.de/app502013fdp<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Gesellschaft<br />

ALTENBURG<br />

Pik ohne zwei<br />

ORTSTERMIN: In Altenburg tagt das Internationale Skatgericht –<br />

das Spiel ist in schweres Fahrwasser geraten.<br />

62<br />

Die Skatrichter werden in den kommenden<br />

zehn Stunden Apfelsaft<br />

trinken und Entscheidungen fällen.<br />

Die Diskussion wird manchmal laut<br />

werden, aber immer präzise bleiben. Die<br />

Skatrichter tragen weiße Hemden, der<br />

oberste Knopf ist geschlossen. In den Kragen<br />

sind die Zeichen der Zunft gestickt:<br />

Karo, Herz, Pik, Kreuz. Auf der Brust ist<br />

ein Mann mit Richterhut zu erkennen,<br />

der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf<br />

den Betrachter zielt. Es geht um Schuld,<br />

es geht auch um Verantwortung.<br />

Die Skatrichter sitzen im<br />

Bräu-Stübel der Altenburger<br />

Gaststätte „Am Rossplan“,<br />

sie ziehen schwere Ordner<br />

aus ihren Aktentaschen und<br />

legen sie auf den Holztisch,<br />

daneben Rotstifte und die<br />

Skatordnung. In den Ordnern<br />

sind die Skatgerichtsanfragen.<br />

Streitfälle, bei denen<br />

Spieler allein nicht mehr<br />

weiterkommen. Sie werden<br />

nun 78 Anfragen behandeln,<br />

SkGE 265-13 bis 342-13.<br />

Etwa 400 Anfragen erreichen<br />

das Gericht jedes Jahr.<br />

Ein Skatrichter gewinnt<br />

Einblick in den Charakter<br />

der Menschen. „Für 30<br />

Punkte“, sagt einer von ihnen,<br />

„würden manche Leute<br />

ihre Seele verkaufen.“<br />

Was darf ein Skatspieler? Was passiert<br />

ihm, wenn er jemanden anders ins Blatt<br />

greift? Darf ich meinen Sohn nach einer<br />

Spielkarte benennen? Darf ein ein -<br />

armiger Mitspieler eine Kartenmisch -<br />

maschine benutzen? Was ist Gerechtigkeit?<br />

Mischmaschinen mischen anders,<br />

gründlicher als Hände. Gerecht wäre es,<br />

wenn entweder immer eine Mischmaschine<br />

verwendet würde oder nie. Die Skatrichter<br />

sind dafür, dass einer der Mit -<br />

spieler für den Einarmigen mischt. Es<br />

sei denn, alle am Tisch sind für die Maschine.<br />

Jedes Land hat sein Spiel. Jedes Spiel<br />

braucht seine Ordnung. <strong>Deutschland</strong> hat<br />

Skat, erfunden vor 200 Jahren, unter anderem<br />

von einem Regierungsrat, einem<br />

Gymnasialprofessor und einem Notar;<br />

in einer Oper gewürdigt von Richard<br />

Strauss, verbreitet in den Schützengräben<br />

zweier Weltkriege. Heute liegt es an Skatgerichtspräsident<br />

Peter Luczak und seinen<br />

Leuten, die Ordnung des Spiels zu<br />

hüten. Sie sind das höchste Gremium im<br />

Skat, die letzte Instanz, unanfechtbar, für<br />

alle verbindlich. Es ist nicht einfacher<br />

geworden mit den Jahren.<br />

Tagesordnungspunkt 7 behandelt offene<br />

Spiele, also Skatspiele, bei denen der<br />

Spieler alle Karten auf den Tisch legt, anstatt<br />

sie verdeckt zu halten. So steht es in<br />

der Skatordnung, Punkt 2.2.5.: Die Karten<br />

auf dem Tisch müssen deutlich sichtbar<br />

geordnet sein. Nur: Was heißt „deutlich<br />

sichtbar“?<br />

Skatrichter Rehmke, Luczak, Kraft: Letzte Instanz<br />

Skatgerichtspräsident Luczak schlägt<br />

vor, mindestens 50 Prozent der Oberfläche<br />

der Spielkarten zeigen zu müssen. Skatrichter<br />

Bock sagt, die Karten müssten in<br />

der ganzen Größe aufgelegt werden. Skatrichter<br />

Kraft sieht keinen Änderungsbedarf.<br />

Der bisher meist schweigsame norddeutsche<br />

Skatrichter Rehmke wirft ein,<br />

es gebe Lichtreflexe, die selbst völlig freie<br />

Spielkarten nur für manche erkennbar<br />

sein lassen. Er habe das selbst so erlebt,<br />

in einer Tennishalle bei Kirchheim. Die<br />

hatte Oberlicht. Die Runde nickt. Nach<br />

30 Minuten Diskussion einigt man sich<br />

darauf, das „deutlich sichtbar“ in der<br />

Skatordnung zu unterstreichen und fett<br />

zu drucken. Alles Weitere wird bei der<br />

nächsten Tagung besprochen.<br />

Mittagspause. Die Skatgerichtsmitglieder<br />

schauen sich den Weihnachtsmarkt<br />

an. Skatgerichtspräsident Luczak bleibt<br />

am Tagungsort, er hält Wache. Er hat in<br />

der Nacht schlecht geschlafen. Manchmal<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

rufen ihn Skatrunden noch um drei Uhr<br />

in der Früh an und wollen eine Antwort.<br />

Er ist jetzt 66 Jahre alt, das Haar ist grau<br />

geworden mit der Zeit. Er ist auch dünnhäutiger<br />

geworden, sagt er. Manche Diskussionen<br />

hat er schon zu oft geführt.<br />

Skatspieler seit 54 Jahren, seit 24 Jahren<br />

beim Skatgericht, 6000 Skatgerichtsan -<br />

fragen hat er in dieser Zeit beantwortet.<br />

Alles ehrenamtlich. „Die kompetenteste<br />

Person weltweit in Sachen Skatregeln“,<br />

sagen Bekannte. Er ist Goldnadelträger<br />

des Deutschen Skatverbands. Aber sei -<br />

ne Verdienste seien nicht<br />

wichtig, sagt er, er sei nicht<br />

wichtig. Ein Funktionär müs -<br />

se funktionieren. Auch in<br />

schwierigen Zeiten.<br />

Früher spielte jeder Student<br />

Skat, in jedem Schulbus,<br />

jeder Schulpause wurden<br />

Karten ausgespielt. Lu -<br />

czak hat mit fünf Jahren bei<br />

seinem Großvater gelernt,<br />

was ein Skatblatt ist. Seine<br />

Enkel spielen kein Skat. Er<br />

hat versucht, es ihnen beizu -<br />

bringen, aber sie spielen auf<br />

Besuch immer nur mit ihrem<br />

Mobiltelefon. Es scheint<br />

so, als verliere <strong>Deutschland</strong><br />

langsam das Interesse an seinem<br />

eigenen Spiel.<br />

Am Abend, während die<br />

Skatrichter einen Preisskat<br />

spielen, steht Luczak draußen, eine rauchen.<br />

Er schaut nach oben, keine Sterne<br />

stehen am Himmel. Es soll kalt werden.<br />

Er schaut in Richtung Skatbrunnen, an<br />

dem manche in Altenburg ihre Karten<br />

taufen. Auf einmal erinnert er sich an ein<br />

Spiel, 22 Jahre ist es her, ein schweres<br />

Spiel, Pik ohne zwei, wenig Trümpfe, nur<br />

Mist im Skat.<br />

Luczak weiß noch die genaue Verteilung<br />

aller 32 Karten. Sein Mund öffnet<br />

sich leicht, seine Augen schauen in die<br />

Ferne. In Gedanken sitzt er wieder am<br />

Spieltisch, während er Stich für Stich seine<br />

Gegner in die Knie zwingt.<br />

Die besten Spiele, sagt er, sind nicht<br />

die einfachen, die mit den guten Karten.<br />

Sondern die aussichtslosen, bei denen<br />

man bis zum Ende kämpfen muss. Er<br />

drückt die Zigarette aus und geht hinein.<br />

Seine Mitspieler warten auf ihn. Es gibt<br />

noch ein Spiel zu gewinnen.<br />

JONATHAN STOCK<br />

SVEN DOERING / AG FOCUS / DER SPIEGEL


Trends<br />

LUKAS BARTH / DDP IMAGES<br />

Karstadt-Filiale<br />

Benko mit Ehefrau<br />

STARPIX / PICTUREDESK.COM / ACTION PRESS<br />

HANDEL<br />

Investoren verkaufen weitere<br />

Karstadt-Häuser<br />

Sie waren der Hauptvermieter der Karstadt-Immobilien,<br />

jetzt aber verkaufen<br />

sie Haus für Haus: Das Highstreet<br />

Konsortium, zu dem neben Goldman<br />

Sachs auch die Deutsche Bank und die<br />

italienische Borletti Group gehören,<br />

will sich bis zum Ende des Jahres von<br />

weiteren 25 Karstadt-Immobilien trennen.<br />

Fünf davon gehen an den österreichischen<br />

Immobilienunternehmer<br />

René Benko, der bereits etliche<br />

Karstadt-Häuser besitzt. Das geht aus<br />

einem Kaufvertrag vom Dezember<br />

vergangenen Jahres hervor. Damals<br />

hatte der österreichische Immobilienunternehmer<br />

insgesamt 17 Häuser<br />

erworben, die letzten 5 sollen nun<br />

binnen Jahresfrist übertragen werden.<br />

Dabei handelt es sich um die Karstadt-<br />

Standorte am Münchner Bahnhofsplatz,<br />

in Nürnberg, Offenburg, Celle<br />

und am Hamburger Schloßmühlendamm.<br />

Insgesamt soll Benko 1,1 Mil -<br />

liarden Euro für die Häuser bezahlt<br />

haben. High street hatte ab 2006 vom<br />

damaligen Karstadt-Konzern insgesamt<br />

85 Karstadt-Häuser erworben<br />

und dafür rund 4,5 Milliarden Euro<br />

bezahlt. Im Zuge der Kaufhauspleite<br />

musste das Konsortium in der Vergangenheit<br />

deutliche Abstriche bei den<br />

Mieteinnahmen machen. Bis zum<br />

Ende des Jahres sollen nun weitere<br />

20 Häuser verkauft werden. Offenbar<br />

dieses Mal nicht an Benko, sondern<br />

an einen Finanzinvestor.<br />

Über die Zukunftsaussichten der Deutschen<br />

Lufthansa gibt es in der Chef -<br />

etage des Konzerns offenbar unterschiedliche<br />

Auffassungen. Das zeigte<br />

sich auf der jüngsten Aufsichtsrats -<br />

sitzung am Mittwoch vergangener Woche.<br />

Anstatt sich mit der Frage zu beschäftigen,<br />

wer Lufthansa-Chef Christoph<br />

Franz nachfolgen soll, wenn der<br />

Anfang Juni zum Schweizer Pharmakonzern<br />

Roche wechselt, übten zwei<br />

prominente Kapitalvertreter massive<br />

Kritik am derzeit amtierenden Vorstand.<br />

Ihm gehören neben Franz und<br />

Passagechef Carsten Spohr noch drei<br />

weitere Mitglieder an, sie amtieren allerdings<br />

erst seit kurzer Zeit. Die Top-<br />

64<br />

LUFTHANSA<br />

Aufsichtsräte kanzeln Vorstand ab<br />

Franz<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

MAURIZIO GAMBARINI / DPA<br />

Manager, wurde moniert, hätten den<br />

Wettbewerb durch arabische Airlines<br />

wie Emirates, Etihad oder Qatar unterschätzt<br />

und es bislang versäumt, Politik<br />

und Öffentlichkeit den Ernst der<br />

Lage ausreichend klarzumachen. Tatsächlich<br />

hatten die aufstrebenden Golf-<br />

Carrier kürzlich fast 400 neue Jets im<br />

Wert von knapp 200 Milliarden Dollar<br />

bestellt. Als Folge, so die besorgten<br />

Aufsichtsräte, drohten bei deutschen<br />

Airlines und Flughäfen empfindliche<br />

Jobverluste. Franz und seine Kollegen<br />

sollen nun, so der Arbeitsauftrag, ein<br />

Konzept gegen die Angreifer aus den<br />

Emiraten erarbeiten, obwohl der Vorstandschef<br />

selbst den Abflug plant.


Wirtschaft<br />

ENERGIE<br />

Millionenschwere<br />

Rückforderung<br />

Die energieintensiven Unternehmen<br />

in <strong>Deutschland</strong> müssen sich auf erhebliche<br />

Belastungen durch die EU einstellen.<br />

Darauf hat die NRW-Landes -<br />

regierung große Chemie- und Metallverarbeitungskonzerne<br />

des Landes in<br />

den vergangenen Tagen telefonisch<br />

vorbereitet. Danach plant EU-Wettbewerbskommissar<br />

Joaquín Almunia die<br />

weitreichenden Befreiungen deutscher<br />

Unternehmen von der EEG-Umlage<br />

offenbar nicht nur für die Zukunft zu<br />

verbieten. Der EU-Kommissar, so die<br />

Warnung, könnte auch die bereits genehmigten<br />

Ausnahmeregelungen als<br />

Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht<br />

einstufen und eine Rückzahlung<br />

für die vergangenen zwei bis<br />

drei Jahre fordern. Auf die energie -<br />

intensiven Unternehmen in der Zement-Chemie-<br />

oder Stahlindustrie<br />

kämen damit millionenschwere Belastungen<br />

zu. Der ohnehin schon schwer<br />

angeschlagene Stahlkocher Thyssen-<br />

Krupp etwa müsste in seiner Bilanz<br />

Rückstellungen von mehr als hundert<br />

Millionen Euro bilden. Für kleinere<br />

Aluminiumhütten im Ruhrgebiet könnte<br />

eine solche EU-Attacke sogar das<br />

endgültige Aus bedeuten. Unternehmen<br />

mit sehr großem Energiebedarf<br />

sind in <strong>Deutschland</strong> teilweise von den<br />

hohen Kosten der Energiewende befreit.<br />

Die Bundesregierung will so erreichen,<br />

dass die Firmen im internationalen<br />

Wettbewerb konkurrenzfähig<br />

bleiben. Die EU-Kommission hatte bereits<br />

vor Monaten angekündigt, dass<br />

sie diese Befreiung zumindest in Teilbereichen<br />

als „unzulässige Beihilfe“<br />

einstuft und noch vor Ende des Jahres<br />

ein entsprechendes Wettbewerbsverfahren<br />

einleiten will.<br />

Mähdrescher bei der Ernte<br />

ROHSTOFFE<br />

Hunger durch Biosprit?<br />

FRANK RUMPENHORST / DPA<br />

Umwelt- und Verbraucherorganisationen<br />

warnen vor einer Ausweitung der<br />

Biosprit-Förderung, die die EU-Energieminister<br />

am Donnerstag dieser<br />

Woche beschließen wollen. Von den<br />

Rohstoffen, die künftig zusätzlich gebraucht<br />

werden, um den Anteil von<br />

Biosprit in Benzin und Diesel von fünf<br />

auf sieben Prozent zu erhöhen, könnten<br />

68 Millionen Menschen ernährt<br />

werden, hat die britische Menschenrechtsorganisation<br />

ActionAid errechnet.<br />

Würde die EU ganz auf die Bei -<br />

mischung von Agrosprit verzichten,<br />

könnten mehr als 120 Millionen Menschen<br />

ernährt werden, so das Ergebnis<br />

des Demokratienetzwerks Campact.<br />

Bis 2020 will die Europäische Union<br />

den Anteil erneuerbarer Energien im<br />

Verkehr auf zehn Prozent steigern.<br />

Die Bundesregierung hatte bis vor<br />

kurzem eine Obergrenze von fünf<br />

Prozent Biosprit-Anteil unterstützt,<br />

scheint aber unter dem Druck der<br />

Agrarlobby eingeknickt zu sein. Interne<br />

Dokumente deuten darauf hin, dass<br />

<strong>Deutschland</strong> den Fünfprozentdeckel<br />

aufgibt und die Förderung bis 2030<br />

ausweiten will. <strong>Deutschland</strong> ist der<br />

größte Biosprit-Erzeuger der EU. Galt<br />

Biosprit bis vor ein paar Jahren noch<br />

als erstrebenswerte Alternative zu fossilen<br />

Energieträgern wie Erdöl, wird<br />

seine Herstellung und Verwendung<br />

inzwischen sehr kritisch gesehen. Für<br />

den Anbau der Pflanzen wird groß -<br />

flächig Regenwald abgeholzt, was dem<br />

Klima schadet. Außerdem geht in großem<br />

Stil Ackerboden für den Anbau<br />

von Nahrungsmitteln verloren, oder<br />

diese werden direkt zu Kraftstoffen<br />

statt zu Lebensmitteln verarbeitet.<br />

Schon jetzt wird ein wachsender Anteil<br />

der weltweiten Zuckerrohr- oder<br />

Ölpflanzenproduktion zur Herstellung<br />

von Biokraftstoffen benötigt.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 65


Wirtschaft<br />

FINANZMÄRKTE<br />

Das Kartell<br />

Weltweit gehen die Behörden gegen fragwürdige Absprachen und Manipulationen<br />

großer Geldhäuser vor, doch die Macht der Institute wächst. Im Visier<br />

der Fahnder steht besonders die Deutsche Bank mit ihrem Co-Chef Anshu Jain.<br />

Die bislang brutalste Lektion für<br />

einen deutschen Banker erteilt<br />

Wolfgang Schäuble scheinbar<br />

nebenbei. Es ist Donnerstagnachmittag<br />

vergangener Woche, der Bundesfinanzminister<br />

hält mal wieder eines seiner berüchtigten<br />

Grundsatzreferate über solide<br />

Haushaltspolitik in Zeiten der Krise.<br />

Doch dann kommt sie endlich, die<br />

Chance, seinen Frust über die lernun -<br />

fähige Banker-Kaste loszuwerden. Was<br />

er denn zu den Äußerungen von Deutsche-Bank-Chef<br />

Jürgen Fitschen sage,<br />

lautet die Frage. Fitschen hat Schäuble<br />

am Vortag Verantwortungslosigkeit und<br />

Populismus vorgeworfen, weil der Ressortchef<br />

den Banken unterstellt hatte, sie<br />

umgingen noch immer die Regeln.<br />

„Ich weiß nicht, ob Herr Fitschen verstanden<br />

hat, was ich sagen will“, antwortet<br />

Schäuble süffisant. Er habe dem Manager<br />

erst vor kurzem erneut erklärt, dass die Finanzkrise<br />

nicht von der Politik verursacht<br />

wurde. Und als wäre einer der wichtigsten<br />

Banker der Republik damit nicht schon<br />

genug abgewatscht, legt Schäuble nach.<br />

„Wenn Herr Fitschen sich seine Erklärung<br />

noch einmal genau durchliest, wird er sicher<br />

zu der Erkenntnis kommen, dass er<br />

in der Sache nicht recht hat.“ Und im Ton<br />

habe Fitschen sich ganz sicher vergriffen.<br />

Der Chef der altehrwürdigen Deutschen<br />

Bank, gemaßregelt wie ein Schuljunge?<br />

Das sitzt.<br />

Schäubles Ohrfeige ist ein Warnsignal<br />

an die Deutsche Bank. Der Minister ist<br />

zugleich Dienstherr der Finanzaufsicht<br />

BaFin. In der Bonner Behörde laufen so<br />

viele Untersuchungen gegen das größte<br />

deutsche Geldhaus wie selten zuvor. Welche<br />

Folgen sie haben, für die Bank und<br />

ihre Co-Chefs Fitschen und Anshu Jain,<br />

ist nicht zuletzt eine politische Frage.<br />

Im zweiten Jahr des neuen Führungsduos<br />

schien es lange, als hätten sie die<br />

Bank und ihr Umfeld befriedet. Jetzt aber<br />

geht es in <strong>Deutschland</strong>, ja in ganz Europa<br />

und den USA erneut um die großen<br />

Fragen der Bankenregulierung: Hat die<br />

Finanzwirtschaft aus der Krise gelernt?<br />

Wurden die Verantwortlichen zur Rechenschaft<br />

gezogen? Ist das Finanzsystem stabiler<br />

geworden?<br />

Weltweit gehen Behörden aggressiv gegen<br />

die Geldbranche vor. In London ermitteln<br />

sie gegen Banken, die den Goldpreis<br />

manipuliert haben sollen. In Brüssel<br />

verhängte die EU-Kommission milliardenschwere<br />

Bußgelder gegen Geldhäuser, die<br />

sich über wichtige Zinssätze abgesprochen<br />

hatten.<br />

Eindrücklich wie nie zuvor lenkte das<br />

Vorgehen den Blick auf eine Frage, die<br />

in der bisherigen Aufarbeitung der Finanzkrise<br />

eine erstaunlich kleine Rolle<br />

spielte: Wie gefährlich ist die Marktmacht<br />

der führenden Investmentbanken?<br />

Eine Handvoll Finanzkonzerne dominiert<br />

den Handel mit Währungen, Rohstoffen<br />

und Zinsprodukten. Zwar beteiligen<br />

sich Millionen Investoren und Firmen<br />

an diesen Geschäften, kaufen und<br />

verkaufen, sichern sich ab oder speku -<br />

lieren.<br />

Abgewickelt aber werden die Geschäfte<br />

über einen exklusiven Kreis globaler<br />

Institute: die Deutsche Bank, J.P. Morgan<br />

oder Goldman Sachs. Diese Geldgiganten<br />

sind es auch, die Referenzkurse ermitteln,<br />

an denen sich billionenschwere Geschäfte<br />

orientieren.<br />

Die Hauptprofiteure des Handels verfassen<br />

wichtige Spielregeln selbst. Und<br />

in diesen Wochen zeigt sich, dass sie dabei<br />

ihre Macht nicht selten missbrauchen.<br />

Ein Weckruf für die Branche und ihre<br />

Aufseher könnte sein, was Joaquín Al -<br />

munia vergangenen Mittwoch verkündete.<br />

Der EU-Wettbewerbskommissar verhängte<br />

gegen acht Finanzkonzerne Geldbußen in<br />

Höhe von 1,7 Milliarden Euro, weil sie Teil<br />

von Kartellen waren, die Geldmarktzinsen<br />

wie den Libor manipuliert haben. Die<br />

Deutsche Bank zahlt allein 725 Millionen<br />

Euro, die mit Abstand größte Summe.<br />

Weitere Strafen von internationalen<br />

Behörden stehen bevor, und meist gehört<br />

der Frankfurter Konzern zu den Beschuldigten.<br />

Die EU-Kommission hat den Verdacht,<br />

dass Banken sich im Geschäft mit<br />

Kreditausfallversicherungen (CDS) abgesprochen<br />

haben – darunter die Deutsche<br />

Bank. Londoner Ermittler und die BaFin<br />

prüfen, ob Finanzinstitute am Gold- und<br />

Silberpreis herumgefingert haben – mit<br />

von der Partie: die Deutsche Bank.<br />

Den größten Sprengstoff könnten<br />

Untersuchungen im täglich 5,3 Billionen<br />

ĴŅćō<br />

ťųŋŋğ<br />

DĴŅŅĴćšĚğōųšœ<br />

>ĴĒœš^łćōĚćŅ 2012 zahlt die Bank fast<br />

1,2 Mrd. € Strafe in den USA, Großbritannien und<br />

der Schweiz; 2013 wird ihr dank der Kronzeugenregelung<br />

eine EU-Buße von 2,5 Mrd. € erlassen. <br />

^ĴĒœš^łćōĚćŅ Die US-Bank muss 70 Mio. €<br />

Geldbuße zahlen; weitere 55 Mio. € werden ihr von<br />

der EU durch die Kronzeugenregelung erlassen.<br />

ğžĴťğōıćōĚğŅ Die US-Zentralbank (Fed)<br />

ermittelt wegen Manipulation. ^ĴĒœš^łćōĚćŅ2012 wird der Bank von britischen<br />

und US-Behörden eine Strafe von 450 Mio. $<br />

auferlegt; 2013 entgeht Barclays durch die Kronzeugenregelung<br />

einer EU-Geldbuße von 690 Mio. €. <br />

ğžĴťğōıćōĚğŅ Die Fed ermittelt. ^


Deutsche-Bank-Chefs Fitschen und Jain<br />

BORIS ROESSLER / DPA<br />

Dollar schweren Währungsmarkt bergen.<br />

Die Bankexperten des britischen Analyse -<br />

hauses KBW schätzen, die mutmaßliche<br />

Manipulation von Devisenkursen könne<br />

die Investmentbanken mit 26 Milliarden<br />

Dollar belasten. Allein die Deutsche<br />

Bank müsse sich auf Zahlungen in Höhe<br />

von 3,4 Milliarden Dollar einstellen.<br />

In fast all diesen Verfahren tauchen<br />

die Namen derselben großen Banken auf.<br />

Zufall ist das nicht, ziehen doch diese<br />

Finanzjongleure immer mehr Handels -<br />

volumen auf sich. Am Devisenmarkt<br />

machten in <strong>Deutschland</strong> 1998 neun Banken<br />

drei Viertel des Handels unter sich<br />

aus, heute sind es nur noch fünf. Über<br />

alle Währungen und Länder hinweg<br />

wickeln die vier führenden Banken die<br />

Hälfte des Handels ab: die Deutsche<br />

Bank, die Citigroup, Barclays und die<br />

UBS.<br />

Solche Dominanz lädt zur Absprache<br />

förmlich ein. „Je kleiner die Zahl der<br />

Marktteilnehmer, desto einfacher ist es,<br />

das Verhalten zu koordinieren“, sagt Daniel<br />

Zimmer, Chef der deutschen Monopolkommission<br />

(siehe Interview Seite 68).<br />

Und je größer die umgesetzten Summen,<br />

desto lohnender ist es, den Devisenkurs<br />

selbst noch an der dritten Stelle<br />

hinter dem Komma zu beeinflussen. Am<br />

Devisenmarkt wird einmal am Tag, beim<br />

sogenannten Londoner Nachmittagsfixing<br />

um 16 Uhr, für wichtige Währungspaare<br />

wie Euro/Dollar der Kurs eingefroren.<br />

An dieser Zahl orientieren sich zahllose<br />

weitere Finanzgeschäfte von Unternehmen<br />

und Investoren weltweit.<br />

Das Fixing ergibt sich aus den Währungsgeschäften,<br />

die in der Minute rund<br />

um den 16-Uhr-Termin abgewickelt werden.<br />

Weil die Handelsaufträge dafür aber<br />

meist über die großen Investmentbanken<br />

gehen, können diese wittern, in welche<br />

Richtung sich der Kurs zum Fixing hin<br />

bewegt. Sie könnten daraus für eigene<br />

Geschäfte Kapital schlagen und sich mit<br />

ihren Wettbewerbern absprechen – diesen<br />

Verdacht jedenfalls haben Ermittler<br />

in New York, London und Frankfurt.<br />

Deshalb bekam Robert Wallden vor<br />

ein paar Wochen Besuch von der amerikanischen<br />

Ermittlungsbehörde FBI. Sie<br />

hielt dem New Yorker Devisenhändler<br />

der Deutschen Bank Chat-Protokolle aus<br />

dem Internet unter die Nase. Sie sollen<br />

dokumentiert haben, wie sich Wallden<br />

damit brüstete, Währungskurse zu manipulieren.<br />

Die Deutsche Bank kommentiert<br />

den Vorgang nicht, im Umfeld heißt<br />

es, Wallden habe Scherze gemacht.<br />

Ein Insider aus der Bank sagt: „Was da<br />

gesprochen wird, sollte man nicht für bare<br />

Münze nehmen, jeder weiß mittlerweile,<br />

dass die Chats aufgezeichnet werden.“ Wer<br />

manipulieren wolle, nutze andere Wege.<br />

Trotzdem hat die Deutsche Bank ihren<br />

Händlern mittlerweile verboten, sich bei<br />

der Arbeit an Online-Chats zu beteiligen.<br />

An den dramatischen Folgen, die das Gebaren<br />

ihrer Händler haben könnte, ändert<br />

das nichts. Britische Ermittler untersuchen<br />

schon seit dem Frühsommer den Devisenhandel<br />

auf Manipulation, ein Dutzend<br />

Banken haben sie im Visier.<br />

Seit dem Sommer hat sich auch die<br />

BaFin der Sache angenommen. Hinweise,<br />

dass die Deutsche Bank beteiligt war,<br />

habe sie bislang nicht, erklärt die Aufsicht.<br />

Bisher aber hat die Behörde nur<br />

ein Auskunftsersuchen gestellt. Im Klar-<br />

ǾDĴŅŅĴćšĚğōųšœ<br />

ǾǿǽDĴŅŅĴćšĚğōųšœ<br />

ǿǽǾDĴŅŅĴćšĚğōųšœ<br />

Stand: 3. Quartal<br />

Quelle: Bloomberg<br />

>ĴĒœš^łćōĚćŅ Die EU verhängt 2013 ein Bußgeld<br />

in Höhe von 725 Mio. €; aufgrund der Kronzeugenregelung<br />

bleibt der Bank ein höherer Betrag<br />

erspart. ^ĴĒœš^łćōĚćŅ Die EU-Kommission verhängt<br />

ein Bußgeld in Höhe von 80 Mio. € und ermittelt in<br />

einem weiteren Fall. ^ĴĒœš^łćōĚćŅ Die EU-Kommission ermittelt<br />

weiterhin gegen das britische Geldhaus, das sich<br />

einem Vergleich verweigert hatte. <br />

^


Wirtschaft<br />

„Drakonische Strafen“<br />

Daniel Zimmer, Chef der Monopolkommission, über das Libor-<br />

Kartell, die Macht der Banken und darüber, wie sie zu begrenzen ist<br />

Zimmer, 54, ist Professor an der Universität<br />

Bonn und seit Juli 2012 Chef<br />

der Monopolkommission. Der Jurist<br />

berät die Bundesregierung auch in<br />

Bankenfragen.<br />

SPIEGEL: Herr Zimmer, die EU-Kommission<br />

hat gegen Banken, die an der<br />

Libor-Manipulation beteiligt waren,<br />

Bußgelder von 1,7 Milliarden Euro<br />

verhängt. Ist die Strafe angemessen?<br />

Zimmer: Die Bußen bemessen sich nach<br />

der Schwere und der Dauer des begangenen<br />

Unrechts. Sie können bis zu<br />

zehn Prozent des Umsatzes der Unternehmen<br />

erreichen. Davon ist man hier<br />

noch weit entfernt, insofern<br />

erscheinen die Strafen<br />

auf den ersten Blick nicht<br />

außergewöhnlich hoch.<br />

SPIEGEL: Überrascht es Sie,<br />

dass Banken die Zinsen<br />

manipuliert haben?<br />

Zimmer: Im Rückblick: nein.<br />

Die Manipulation wurde<br />

den Bankmitarbeitern<br />

leichtgemacht, es gab keine<br />

hoheitliche Kontrolle über<br />

die Festsetzung der Zinsen.<br />

Schockiert hat mich dennoch<br />

das Ausmaß: Eine<br />

Vielzahl von Instituten hat<br />

offenbar in verschiedenen<br />

Märkten manipuliert.<br />

Zimmer<br />

MARIUS BECKER / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

SPIEGEL: Eine kleine Gruppe von Banken<br />

dominiert Märkte wie den Devisenhandel<br />

oder Zinsgeschäfte. Sind<br />

die großen internationalen Institute<br />

einfach zu mächtig?<br />

Zimmer: Je kleiner die Zahl der Marktteilnehmer,<br />

desto einfacher ist es, das<br />

Verhalten zu koordinieren. Aber solange<br />

sich die Banken nicht absprechen,<br />

ist ihre schiere Größe nicht entscheidend.<br />

SPIEGEL: Was dann?<br />

Zimmer: Das Problem liegt zunächst<br />

im Verhalten der Personen. Deshalb<br />

brauchen wir eine strengere Aufsicht<br />

über Handelsgeschäfte der Banken<br />

und eine bessere rechtliche Grundlage<br />

für scharfe Sanktionen. Die Libor-Manipulation<br />

etwa lässt sich mit dem Kapitalmarktrecht<br />

bisher nicht befriedigend<br />

bestrafen. Auch das Kartellrecht<br />

lässt sich nur auf einen Teil der Manipulationshandlungen<br />

anwenden: Es<br />

greift nur, soweit Banken ihre künftige<br />

Zinssetzung abstimmen. Wenn sie<br />

durch Absprachen lediglich die Abrechnungsgrundlage<br />

für bereits abgeschlossene<br />

Derivategeschäfte manipulieren,<br />

läuft das Kartellrecht leer. Die<br />

hier bestehenden Schlupflöcher sollten<br />

durch eine Nachrüstung des Kapitalmarktrechts<br />

geschlossen werden.<br />

SPIEGEL: Sie weisen die Schuld einzelnen<br />

Bankern zu. Sind es nicht auch<br />

die Geldhäuser als Institutionen, die<br />

Fehler machen?<br />

Zimmer: Personen und Institutionen<br />

kann man nicht trennen. Für mich ist<br />

bisher nicht geklärt, ob Leitungsgremien<br />

der beteiligten Banken bei der<br />

Kontrolle der Zinssetzung<br />

und der Handelsgeschäfte<br />

versagt haben und welche<br />

Konsequenzen das haben<br />

sollte.<br />

SPIEGEL: Gilt das auch für<br />

den Vorstand der Deutschen<br />

Bank?<br />

Zimmer: Ich will mich zu<br />

einzelnen Instituten nicht<br />

äußern. Aber grundsätzlich<br />

muss die Frage nach<br />

der Verantwortung der<br />

Leitung eines Instituts gestellt<br />

werden.<br />

SPIEGEL: Sollte man Banken<br />

aufspalten, um die<br />

Machtkonzentration zu<br />

verringern und den Wettbewerb zu<br />

fördern?<br />

Zimmer: Mit hoheitlichen Eingriffen in<br />

die Märkte wäre ich sehr vorsichtig.<br />

Eine Entflechtung von Großbanken<br />

erscheint mir nicht als das richtige Mittel,<br />

um Manipulation zu erschweren.<br />

Man sollte eher an eine verschärfte<br />

Aufsicht und drakonische Strafen<br />

auch für die handelnden Personen<br />

denken.<br />

SPIEGEL: Könnten die verschärften Regeln<br />

für die Finanzmärkte dazu führen,<br />

dass sich das Geschäft noch stärker<br />

auf wenige Anbieter konzentriert?<br />

Zimmer: Wenn die kleinen Banken zu<br />

stark belastet werden, könnte dies<br />

eine Konzentration begünstigen, die<br />

wir uns nicht wünschen. Schließlich<br />

wollten wir keine Banken mehr haben,<br />

die so groß sind, dass man sie<br />

nicht ohne Gefahr für das Finanz -<br />

system fallenlassen kann.<br />

INTERVIEW: MARTIN HESSE<br />

text heißt das: Die Bank ermittelt intern,<br />

die BaFin wird erst selbst aktiv, wenn sie<br />

nicht zufrieden damit ist, was die Konzernjuristen<br />

liefern.<br />

Der Fall Libor dürfte die BaFin eher<br />

misstrauisch gemacht haben. Schließlich<br />

stellte der Aufsichtsratschef der Deutschen<br />

Bank, Paul Achleitner, dem Vorstand<br />

inklusive Anshu Jain nach einer<br />

internen Untersuchung schon im Sommer<br />

2012 eine Art Persilschein aus, sie hätten<br />

sich in der Angelegenheit nichts zuschulden<br />

kommen lassen.<br />

Die BaFin hat bis heute Zweifel, ob<br />

Jain und andere Top-Manager ihre Hände<br />

in Unschuld waschen können. Sie treibt<br />

eine kriminalistische Untersuchung voran,<br />

um zu ergründen, wer bis hoch zum Vorstand<br />

von der Manipulation gewusst hat.<br />

Deshalb ist es noch immer möglich, dass<br />

Jain über den Libor-Skandal fällt.<br />

Oder über den Devisenskandal, wenn<br />

aus dem Verdacht, dem die Ermittler<br />

nachgehen, Gewissheit werden sollte.<br />

Wurden die Wechselkurse manipuliert,<br />

so ist kaum vorstellbar, dass die Deutsche<br />

Bank nicht dabei war, so heißt es in Bankenkreisen<br />

immer wieder. Warum? Weil<br />

sie in dem Geschäft mit einem Marktanteil<br />

von 15 Prozent fast ununterbrochen<br />

die Nummer eins ist – seit 13 Jahren.<br />

Vor genau derselben Zeit übernahm<br />

Jain bei der Deutschen Bank den Handel<br />

mit Rohstoffen und Devisen, später auch<br />

die Zinsprodukte. Er machte diese Geschäfte<br />

binnen weniger Jahre zur wichtigsten<br />

Ertragsquelle der Deutschen Bank.<br />

Später stieg Jain zum Chef des gesamten<br />

Investmentbankings auf, das Zins- und<br />

Währungsgeschäft führte sein Vertrauter<br />

Alan Cloete weiter. Jain belohnte ihn später<br />

mit der Berufung in den erweiterten<br />

Vorstand, der Libor-Skandal entfaltete<br />

bald darauf seine ganze Wucht.<br />

Zur Strategie Jains und Cloetes gehörte<br />

es – so erzählen es Händler, die für die<br />

beiden gearbeitet haben –, die verschiedenen<br />

Handelsbereiche eng miteinander<br />

zu verzahnen.<br />

Die Verzahnung ging allerdings so weit,<br />

dass teilweise ein und dieselbe Person zugleich<br />

Händler und für die Ermittlung des<br />

Libor-Zinses zuständig war. Ein institutionalisierter<br />

Interessenkonflikt, so hat es<br />

die Frankfurter Arbeitsrichterin Annika<br />

Gey in einem Urteil festgehalten.<br />

Doch die Deutsche Bank vertritt eisern<br />

die These, die fragwürdige Kurspflege sei<br />

das Werk von Einzeltätern gewesen.<br />

Selbst nach der Kartellentscheidung der<br />

EU sprach sie noch mutig von „Verhaltensweisen<br />

von einzelnen Mitarbeitern<br />

in der Vergangenheit“. Kommissar Al -<br />

munia hält die Theorie für Humbug. „Wir<br />

ermitteln nicht gegen Individuen, sondern<br />

gegen Kartelle von Institutionen“,<br />

sagte er bei der Verkündung der Strafen.<br />

Der Druck auf die Führung der Bank<br />

wächst. Er wird sichtbar in Schäubles Rüf-<br />

68 DER SPIEGEL 50/2013


Londoner Finanzdistrikt Canary Wharf: „Bankvorstände zur Rechenschaft ziehen“<br />

fel gegen Fitschen, er wird spürbar durch<br />

das Bohren der Aufseher.<br />

Und selbst aus dem Kreis angelsäch -<br />

sischer Investoren kommt mittlerweile<br />

unverhohlene Kritik. „Wir wollen, dass<br />

die Aufsichtsräte Bankvorstände für die<br />

Risikokontrolle zur Rechenschaft ziehen<br />

und nicht nur am finanziellen Erfolg<br />

messen“, sagte Colin McLean, Chef der<br />

schottischen SVM Asset Management,<br />

der Nachrichtenagentur Bloomberg.<br />

Das hält auch Anat Admati, Professorin<br />

an der Stanford-Universität, für das<br />

entscheidende Problem beim Kampf gegen<br />

Betrug auf großen Finanzmärkten.<br />

„Bei all diesen Vergleichen“, sagt sie über<br />

die Strafen, die derzeit über die Industrie<br />

verhängt werden, „werden die Leute, die<br />

verantwortlich waren, selten belangt.“ So<br />

werde der Anreiz für bessere Risiko -<br />

kontrolle kaum erhöht.<br />

Gut möglich, dass die Kritik der Investoren<br />

auch die Gesetzgeber ermutigt, härter<br />

gegen die Banken vorzugehen. Der<br />

für die Finanzmarktregulierung zuständige<br />

EU-Kommissar Michel Barnier legt einen<br />

Gesetzesvorschlag nach dem anderen<br />

vor, um dem unkontrollierten Treiben<br />

ein Ende zu bereiten.<br />

Doch der Widerstand der Finanzindu -<br />

strie ist zäh. Die Konzerne setzen darauf,<br />

dass viele Regulierungsvorschläge vor<br />

dem Ende der bis zum Herbst laufenden<br />

Amtsperiode der jetzigen EU-Kommis -<br />

sion nicht mehr verabschiedet werden.<br />

Die Banken sollen gezwungen werden,<br />

ihre riskanten Geschäftszweige wie den<br />

Eigenhandel mit Wertpapieren und die<br />

Finanzierung von Hedgefonds organisatorisch<br />

abzuspalten. Doch Barniers Entwurf<br />

für ein sogenanntes Trennbanken-<br />

Gesetz hat sich immer wieder verzögert,<br />

obwohl ihm eine Kommission unter Führung<br />

des finnischen Zentralbankers Erkki<br />

Liikanen schon vor über einem Jahr konkrete<br />

Vorschläge unterbreitet hatte. Nun<br />

Die größten Banken im Devisenhandel<br />

Deutsche Bank<br />

15,2<br />

Sonstige 31,0<br />

Marktanteile<br />

weltweit<br />

14,9 Citigroup<br />

2013,<br />

in Prozent<br />

5,6<br />

10,2 Barclays<br />

RBS<br />

6,1<br />

6,9 10,1<br />

J. P. Morgan<br />

Quelle:<br />

HSBC UBS<br />

Euromoney<br />

CHARLES BOWMAN / DESIGN PICS<br />

heißt es intern, dass der Entwurf „in den<br />

nächsten Wochen“ komme, in deutlich<br />

abgespeckter Form. Die Chance, dass das<br />

Gesetz noch kommendes Jahr in Kraft<br />

tritt, geht damit gegen null.<br />

Der Franzose will erst einmal abwarten,<br />

wie weit die Amerikaner gehen.<br />

In den USA basteln die Aufseher seit<br />

drei Jahren an einer Gesetzesvorlage her -<br />

um, die die übermäßige Macht der Banken<br />

eindämmen soll: Diese Woche nun<br />

soll das Regelwerk, das unter dem Namen<br />

des früheren Notenbank-Chefs Paul Volcker<br />

firmiert, abgesegnet werden. Doch<br />

die großen Finanzkonzerne, so sagen Experten<br />

voraus, werden weiterwachsen.<br />

Die Banken seien im Laufe der vergangenen<br />

fünf Jahre immer mächtiger geworden,<br />

„und auch die Volcker Rule wird das<br />

Problem nicht lösen“, sagt Andrew Lo,<br />

Finanzprofessor am Massachusetts Institute<br />

of Technology (MIT).<br />

Denn Größe bedeutet für Bankchefs<br />

wie Jamie Dimon von J.P. Morgan oder<br />

Anshu Jain vor allem: geringere Kosten<br />

und bessere Chancen, die Verluste des einen<br />

Geschäftsfelds mit Gewinnen des anderen<br />

aufzuwiegen.<br />

Jeder Bankchef, der nur halbwegs bei<br />

Sinnen sei, werde deshalb versuchen, weiterzuwachsen,<br />

sagt Finanzmarktexperte<br />

Lo: „Die neuen Regeln haben die Motivation,<br />

zu groß zu sein, um zu scheitern,<br />

sogar noch vergrößert. Es ist schwieriger<br />

geworden für kleine Banken.“ Denn um<br />

mit den Bergen an Papier und den<br />

komplexen neuen Vorschriften fertigzuwerden,<br />

müssen die Institute Heere von<br />

Anwälten beschäftigen. So werden viele<br />

Geschäfte für kleinere Häuser zu teuer.<br />

„Es ist ganz klar so, dass die Kapitalmarktgeschäfte<br />

sich auf immer weniger<br />

Player konzentrieren“, glaubt Christoph<br />

Kaserer von der Technischen Universität<br />

München. „Das bedeutet, dass wenige<br />

Personen Entscheidungen von enormer<br />

materieller Bedeutung treffen.“ Darin liege<br />

ein großer Anreiz zu betrügen.<br />

Die hohen Bußgelder und Vergleichssummen,<br />

die viele Banken derzeit zahlen<br />

müssen, werden daran wenig ändern.<br />

„Die Strafen gleichen oft nicht einmal<br />

die Gewinne aus, die tatsächlich erzielt<br />

wurden“, sagt Mario Mariniello, Wettbewerbsforscher<br />

der Brüsseler Denkfabrik<br />

Bruegel. Zudem sei die Chance, bei den<br />

Absprachen erwischt zu werden, gerade<br />

im Finanzsektor sehr niedrig gewesen.<br />

Welche Lektion zieht ein Bankchef aus<br />

den jüngsten Ereignissen?, fragt Bankenforscher<br />

Lo – und liefert die Antwort<br />

gleich mit: „Du bist besser zu groß, um<br />

unterzugehen, denn sonst kannst du eine<br />

Summe von 13 Milliarden Dollar, wie sie<br />

jetzt J.P. Morgan in den USA bezahlen<br />

muss, gar nicht tragen.“<br />

So sieht das offenbar auch Deutsche-<br />

Bank-Chef Fitschen. Statt den „Unsinn“<br />

des „too big to fail“ ständig zu wieder -<br />

holen, könne man doch auch mal fragen,<br />

ob es nicht besser ist, wenn Banken „too<br />

strong to fail“ sind, zu stark, um zu fallen.<br />

Ein Lob der unkaputtbaren Megabank.<br />

Um die Börsengänge, Unternehmensfusionen<br />

oder Schuldschein-Emissionen<br />

globaler Industrieriesen begleiten zu<br />

können, bedürfe es großer Universalbanken,<br />

argumentieren die Spitzen der Geld -<br />

häuser gern. Die Frage ist aber, ob ein<br />

Haus wie J.P. Morgan dafür wirklich eine<br />

Bilanzsumme von 2,5 Billionen Dollar<br />

braucht oder ob ein paar hundert Milliarden<br />

auch reichen.<br />

Der Staat müsse das Wachstum der<br />

Banken begrenzen, sagt Lo – und fordert<br />

die Regierungen zugleich auf, global<br />

vorzugehen. Nationale Regeln führten<br />

schlicht dazu, „dass Banken anderswo<br />

weiterwachsen“.<br />

Doch solange vorwiegend nationale<br />

Aufsichtsbehörden für die Überwachung<br />

zuständig sind, bleiben solche Vorschläge<br />

Ideen ohne Aussicht auf Umsetzung. Nationale<br />

Aufseher sind oft überfordert und<br />

ihre Regierungen wollen die eigenen Institute<br />

letztlich im weltweiten Wettbewerb<br />

vorne sehen. Da sind sich Jürgen<br />

Fitschen und Wolfgang Schäuble dann<br />

wieder einig – allen verbalen Scharmützeln<br />

zum Trotz. SVEN BÖLL, MARTIN HESSE,<br />

CHRISTOPH PAULY, ANNE SEITH<br />

70<br />

DER SPIEGEL 50/2013


LOBBYISTEN<br />

Betteln beim<br />

Klassenfeind<br />

Der Wirtschaftsrat der CDU<br />

spricht gern über solide Finanz -<br />

politik, nun könnte er selbst<br />

bittere Verluste erleiden: Dem Verein<br />

droht eine Millionenklage.<br />

Wenn sich die Mitglieder des Wirtschaftsrats<br />

der CDU an die sem<br />

Montag in der noblen Ver tre -<br />

tung der Deutschen Bank in Berlin treffen,<br />

gehen die Honoratioren der Beschäftigung<br />

nach, von der sie am meisten<br />

verstehen – sie feiern sich selbst. Der<br />

Wirtschaftsrat wird 50, und als Festred -<br />

ner hat sich EU-Kommissar Günther<br />

Oettinger angemeldet.<br />

Gewöhnlich beschwört der Verein bei<br />

solchen Jubiläen kaufmännische Tugenden<br />

und belehrt Kanzlerin Angela Merkel<br />

(CDU) in Sachen Ordnungspolitik. „Wir<br />

wollen Kurs halten“, tönt Präsident Kurt<br />

Lauk gern, „wir bleiben beim Erfolgsmodell<br />

Soziale Marktwirtschaft.“<br />

Dumm nur, dass Anspruch und Wirklichkeit<br />

auseinanderklaffen. Denn aus -<br />

gerechnet der Wirtschaftsrat scheint<br />

selbst kein leuchtendes Vorbild für solides<br />

Wirtschaften zu sein. Im Gegenteil:<br />

Der Verein, dessen Mitgliederverzeichnis<br />

sich einst wie ein Who’s who der deutschen<br />

Unternehmerschaft las, ist überaltert,<br />

seine politische Durchschlagskraft<br />

gering.<br />

* Am 25. Juni in Berlin.<br />

Wirtschaft<br />

Vor allem aber macht dem noblen Altherrenclub<br />

eine langjährige Geschäftsbeziehung<br />

zu schaffen. Um Mitglieder zu<br />

werben, hatte der Wirtschaftsrat die Firma<br />

WR Marketing beauftragt. Obwohl<br />

sich bald herausstellte, dass die von ihr<br />

akquirierten Unternehmer in großer Zahl<br />

nicht lange beim Wirtschaftsrat blieben,<br />

beschäftigte der Verein die Firma über<br />

sechs Jahre weiter – gegen Honorare von<br />

bis zu einer Million Euro im Jahr.<br />

Inzwischen beschäftigt der Fall die<br />

Gerichte. Dem Rat drohen Forderungen<br />

in Höhe von mehreren hunderttausend<br />

Euro, es könnten aber auch mehr als eine<br />

Million werden. Die dafür bisher gebildeten<br />

Rücklagen in der Vereinskasse werden<br />

womöglich nicht ausreichen.<br />

Damit droht der Verein in eine ähnliche<br />

Finanzkrise abzurutschen wie schon einmal<br />

am Ende der sozial-liberalen Regierung<br />

unter Helmut Schmidt. Besonders<br />

prekär: Die juristische Ausein andersetzung<br />

bedroht die zentrale Geldquelle des Rats –<br />

die Jahresbeiträge. Denn der Verein finanziert<br />

sich weit gehend über seine rund 11000<br />

Kanzlerin Merkel, Verbandspräsident Lauk*: Belehrende Worte zum Jubiläum<br />

72<br />

Mitglieder. Die streng vertraulich behandelten<br />

Zahlungen belaufen sich auf bis zu<br />

25000 Euro pro Unternehmen. Namhafte<br />

Konzerne wie die Allianz (25000 Euro), Dr.<br />

Oetker (18000 Euro) oder Gazprom Germa -<br />

nia (10000 Euro) überweisen diese Summen<br />

gern, damit der Verein die hohen Kosten<br />

für seinen Apparat und aufwendige Kongresse<br />

in First-Class-Hotels decken kann.<br />

Bis vor wenigen Jahren brachte auch<br />

die Mitgliederwerbung Geld ein. Zwischen<br />

2006 und 2008 waren laut einer internen<br />

Erhebung fast drei Viertel aller Neumitglieder<br />

den Werbern von WR Marketing<br />

zu verdanken, 2009 und 2010 waren es immer<br />

noch zwei Drittel. Auch für WR Marketing<br />

war es ein einträgliches Geschäft.<br />

Knapp jeder dritte eingeworbene Euro soll<br />

als Provision in ihre Kassen geflossen sein.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

TIM BRAKEMEIER / DPA<br />

Solange die Zahlen stimmten, sah der<br />

noble Wirtschaftsclub nur zu gern dar -<br />

über hinweg, dass die Akquiseprofis offen -<br />

bar recht unkonventionell arbeiteten. Fest<br />

steht: Viele Neumitglieder kehrten dem<br />

Wirtschaftsrat schnell wieder den Rücken.<br />

Der Vereinsspitze blieb dies nicht ver -<br />

bor gen. Bereits im Mai 2006, so ist in einem<br />

Wirtschaftsratsprotokoll festgehalten,<br />

klagte die Vertriebschefin, dass „die<br />

durch die WR Marketing GmbH gewonnenen<br />

Mitglieder die niedrigste Verweildauer<br />

aufweisen“.<br />

Kein Wunder, denn die Werbeleute<br />

waren bei ihrer Ansprache potentieller<br />

Mitglieder nicht gerade wählerisch. So versuchten<br />

sie, ausgerechnet die Geschäftsführerin<br />

des altlinken und stramm antikapitalistischen<br />

Konkret-Verlags in Hamburg<br />

für den CDU-nahen Lobbyverein zu werben<br />

– eine Bettelaktion beim Klassenfeind,<br />

die allerdings vergeblich blieb.<br />

Trotz solcher Pannen dauerte es noch<br />

Jahre, bis sich der Wirtschaftsrat von seinem<br />

Marketingunternehmen trennte.<br />

Zwar betont der Wirtschaftsrat, die Verträge<br />

seien „kontinuierlich überprüft“<br />

worden. Doch erst im Juni 2012 feuerte<br />

der Verein seinen Dienstleister.<br />

Anlass dafür war, dass die Profiwerber<br />

ihr Know-how nicht nur für den Wirtschaftsrat<br />

eingesetzt hatten, sondern auch<br />

für den Familienunternehmerverband<br />

ASU, der nahezu dieselbe Klientel umwirbt.<br />

Dies stelle „einen groben Vertragsund<br />

Vertrauensverstoß“ dar, heißt es im<br />

Bericht des Vereinsschatzmeisters.<br />

Wirtschaftsrat und WR Marketing bestätigen<br />

den Rechtsstreit, wollten zu Details<br />

allerdings nicht Stellung nehmen.<br />

Die Folgen des Streits waren fatal, wie<br />

eine interne Erhebung belegt. Allein bis<br />

zum 15. September dieses Jahres wurden<br />

Mitgliedsbeiträge in Höhe von mehr als<br />

einer Million Euro gekündigt. Noch 2013,<br />

so zeigen interne Unterlagen, stammen<br />

über 60 Prozent der Kündigungen von<br />

Mitgliedern, die ursprünglich von WR<br />

Marketing geworben worden waren.<br />

Geschwunden ist auch der politische<br />

Einfluss des Verbands, so klagen CDUnahe<br />

Unternehmer. Generalsekretär<br />

Wolfgang Steiger brüstet sich zwar gern<br />

seiner guten Kontakte. Doch in Wahrheit<br />

ist er noch nicht einmal in seinem CDU-<br />

Landesverband Hessen eine große Nummer.<br />

Gleiches gilt für Verbandspräsident<br />

Lauk. Der ist zwar im Ausland bestens<br />

vernetzt, hat es in der Heimat aber nur<br />

als beratendes Mitglied in den CDU-Bundesvorstand<br />

geschafft, ein Gremium, in<br />

dem sich über 50 Leute drängeln.<br />

Auswirkungen auf die Gehälter der festangestellten<br />

Mitarbeiter hat der Bedeutungsverlust<br />

aber nicht. Sein Personal lässt<br />

sich der Verein in diesem Jahr 5,3 Mil -<br />

lionen Euro kosten, rund die Hälfte des<br />

Etats.<br />

PETER MÜLLER,<br />

ANDREAS WASSERMANN


VW-Produktion in Chattanooga<br />

74<br />

AUTOINDUSTRIE<br />

Fremde DNA<br />

Wieder einmal haben die Manager des Volkswagen-Konzerns<br />

den US-Markt falsch eingeschätzt. Nun<br />

sind die ehrgeizigen Ziele der Wolfsburger in Gefahr.<br />

Für die Führung des VW-Konzerns ist<br />

diese Zahl ein Schock. Minus 16,3<br />

Prozent. So stark brach der Absatz<br />

der Marke Volkswagen im November auf<br />

dem amerikanischen Markt ein. Dabei<br />

wächst der Autoverkauf dort insgesamt um<br />

knapp neun Prozent. Die Konkurrenten<br />

Ford, GM, Toyota, aber auch Mercedes-<br />

Benz und BMW verkaufen mehr Autos.<br />

„Wir kriegen Gegenwind“, hatte VW-<br />

Chef Martin Winterkorn noch vor wenigen<br />

Wochen gesagt. Mittlerweile ist klar:<br />

Damit hatte er noch untertrieben. Der<br />

Einbruch in den USA kann sogar sein großes<br />

Ziel gefährden, den VW-Konzern bis<br />

2018 zum größten Autohersteller der Welt<br />

zu machen.<br />

Nordamerika soll neben China einen<br />

großen Beitrag dazu leisten. Bislang ist<br />

Volkswagen in den USA ein Exot mit<br />

einem Marktanteil von 2,6 Prozent. VW<br />

liegt dort auf einem Niveau mit Subaru<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

GETTY IMAGES<br />

und deutlich hinter dem koreanischen<br />

Hersteller Kia.<br />

Das ist kein Platz, auf dem Winterkorn<br />

sich wohl fühlt. Der Wolfsburger Konzern<br />

investierte deshalb mehr als eine Mil -<br />

liarde Euro in den Bau einer Fabrik in<br />

Chatta nooga und die Entwicklung eines<br />

eigenen Modells für den US-Markt. Und<br />

die Rechnung schien aufzugehen. Von<br />

2009 bis 2012 verdoppelte Volkswagen<br />

seinen Absatz in den USA. So sollte es<br />

weitergehen. Doch jetzt kommt das böse<br />

Erwachen, und in Wolfsburg fragen sich<br />

viele, was in den USA schiefgelaufen ist.<br />

Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch sagt:<br />

„Wir verstehen Europa, wir verstehen<br />

China, und wir verstehen Brasilien, aber<br />

wir verstehen die USA bislang nur in<br />

einem begrenzten Maße.“<br />

Das ist der Kern. Volkswagen betrachtet<br />

die USA durch eine Wolfsburger Brille.<br />

Winterkorn sagt: „Das größte Problem<br />

von uns Deutschen ist, wir glauben zu<br />

wissen, was die Amerikaner von uns haben<br />

wollen.“<br />

Beim Angriff auf den US-Markt wollte<br />

der VW-Chef es besser machen. VW<br />

befragte US-Händler, wie ein Modell aus -<br />

sehen müsste, das den amerikanischen<br />

Geschmack trifft, und konstruierte eine<br />

eigene Variante des Passat. Das Modell<br />

wurde geräumiger, das Fahrwerk weicher<br />

abgestimmt und der Preis gesenkt. VW-<br />

Entwickler kostete es schon Überwindung,<br />

ein Modell mit solchen Fahreigenschaften<br />

zu konstruieren. Aber es war,<br />

wie sich nun zeigt, nur ein halber Schritt.<br />

Jim Ellis, VW-Händler in Atlanta, sagt,<br />

seine Kundschaft wolle alle zwei Jahre<br />

ein neues Modell. Es soll neu aussehen.<br />

Dafür genügen mitunter optische Retuschen,<br />

ein neuer Kühlergrill, ein paar Zierleisten.<br />

Volkswagen aber gönnt seinen<br />

Modellen frühestens nach vier Jahren ein<br />

Facelift.<br />

Der US-Passat, 2011 eingeführt, wirkt<br />

schon alt. Doch VW-Vertriebschef Christian<br />

Klingler schlug nicht Alarm. Er plante<br />

weiter mit Rekordverkäufen. VW stellte<br />

500 Zeitarbeiter für eine dritte Schicht<br />

ein, die das Unternehmen nach kurzer<br />

Zeit nicht mehr beschäftigen konnte.<br />

Deutlich bremsen dürfte den Verkauf<br />

auch, dass der Marke Volkswagen in den<br />

USA ein schlechtes Qualitätsimage bescheinigt<br />

wird. In der Statistik der Marktforscher<br />

von J.D. Power rangiert sie auf<br />

dem 28. von 32 Plätzen. Dafür werden<br />

Kunden, die ein drei Jahre altes Fahrzeug<br />

haben, nach Problemen in den vergangenen<br />

zwölf Monaten gefragt.<br />

Für viele Manager in Wolfsburg ist<br />

dieses Ergebnis ein Rätsel. Das Werk in<br />

Chattanooga muss Fahrzeuge in der<br />

gleichen Qualität produzieren wie die Fabriken<br />

in Wolfsburg oder Emden. Schon<br />

auf dem Weg zur Arbeit werden den 3200<br />

Beschäftigten in Chattanooga Qualitätskennziffern<br />

vorgehalten. Monitore zei-


Wirtschaft<br />

gen, dass die Lackiererei mit „Team Red“,<br />

der Spätschicht, eine Note von 1,0 erreicht<br />

hat. Das ist gut. Ab einem Wert<br />

von 1,8 könnten die Kunden Mängel erkennen,<br />

kleine Schlieren beispielsweise.<br />

Und auch für die Spaltmaße,<br />

die Fugen zwischen<br />

Tür und Rahmen, Motorhaube<br />

und Kotflügel, gelten<br />

dieselben Vorgaben<br />

wie in deutschen Werken:<br />

Sie sollen 3,5 Millimeter betragen,<br />

zulässig ist eine Abweichung<br />

von maximal 0,5<br />

Millimetern. „Das ist einfach<br />

unsere DNA“, sagt ein<br />

Qualitätsexperte von VW.<br />

Die amerikanische Kundschaft<br />

hat eine eigene DNA.<br />

Sie hat ein anderes Qua -<br />

litätsverständnis, wie VW-<br />

Manager feststellten, als<br />

ein Zulieferer mit seinem<br />

Toyota zur Besichtigung<br />

des VW-Werks anreiste.<br />

Volkswagen in den USA<br />

Veränderung des Pkw-Absatzes<br />

im Vergleich zum Vorjahreszeitraum,<br />

in Prozent<br />

20,3<br />

26,3<br />

Bei dem Toyota hatte das Weiß des<br />

Stoßfängers einen anderen Farbton als<br />

das Weiß der Karosserie. Ein solches<br />

Auto dürfte die VW-Fabrik nie verlassen.<br />

Als Volkswagen-Mitarbeiter den Lieferanten<br />

darauf ansprachen, sagte er nur:<br />

„Ach das, das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“<br />

35,1<br />

2010 2011 2012 2013 *<br />

* Januar bis November<br />

–5,2<br />

Wichtiger als Lack und Spaltmaß ist<br />

etwa, dass das Auto über das neueste Navigationssystem<br />

verfügt und der Tempomat<br />

dort sitzt, wo die Fahrer es von ihren<br />

früheren Autos gewohnt sind. Zwei Punkte,<br />

bei denen der Passat<br />

Schwächen zeigte, die ihn<br />

in den Umfragen von J.D.<br />

Power zurückfallen ließen.<br />

Zu schaffen macht dem<br />

US-Passat auch, dass die<br />

Konkurrenten auf dessen<br />

anfänglichen Erfolg reagiert<br />

haben. Ford, Toyota<br />

und Co. haben ihre Modelle<br />

mit besserer Ausstattung<br />

versehen und die Preise<br />

gesenkt. Das Fahrzeug -<br />

segment, in dem der Passat<br />

antritt, ist in den USA heftig<br />

umkämpft. Deshalb ist<br />

nicht zu erwarten, dass der<br />

Absatz wieder anzieht.<br />

Im Nachhinein zeigt<br />

sich, dass die Entscheidung,<br />

ein Mittelklassemodell in der neuen<br />

Fabrik zu produzieren, falsch war. Mercedes-Benz<br />

und BMW stellen in ihren US-<br />

Fabriken Geländewagen her. Nordamerika<br />

ist der größte Markt für diese Fahrzeuggattung,<br />

und er wächst noch immer.<br />

Die deutschen Konkurrenten haben keine<br />

Probleme, ihre Werke auszulasten.<br />

Für VW dagegen wird die Fabrik in<br />

Chattanooga zum Problem. 200 000 Autos<br />

könnten dort produziert werden. In<br />

diesem Jahr dürften es noch nicht einmal<br />

140 000 werden. Um das Werk auszulasten,<br />

muss dort ein zweites Modell montiert<br />

werden. Der VW-Vorstand hat bereits<br />

entschieden, einen großen Geländewagen<br />

für den US-Markt zu entwickeln.<br />

Bis zu dessen Produktionsstart aber dürften<br />

noch zwei Jahre vergehen. Winterkorns<br />

Ziel, den Absatz in den USA von<br />

438 000 (2012) auf 800 000 (2018) fast zu<br />

verdoppeln, ist nach Ansicht hochrangiger<br />

VW-Manager nicht mehr zu erreichen.<br />

Die neuen Schwierigkeiten in den USA<br />

sind zwar harmlos im Vergleich zu den<br />

Problemen, denen der VW-Konzern dort<br />

vor einiger Zeit noch gegenüberstand.<br />

Das Nordamerika-Geschäft brachte dem<br />

Konzern mitunter eine Milliarde Euro<br />

Verlust im Jahr ein. Nun ist es profitabel.<br />

Dennoch ärgern die schlechten Nachrichten<br />

aus den USA den VW-Boss gewaltig.<br />

Um kaum ein Projekt hat er sich<br />

persönlich so intensiv gekümmert. Er ist<br />

immer wieder in die USA geflogen, um<br />

den Bau des Werks zu kontrollieren. „Die<br />

USA-Strategie“, hatte er schon vor dem<br />

Produktionsstart in Chattanooga erkannt,<br />

„ist unsere Achillesferse.“<br />

DIETMAR HAWRANEK


Wirtschaft<br />

Ulla Herz und Hannes Kuhn sitzen<br />

in ihrer Goldschmiede in der historischen<br />

Lübecker Altstadt und<br />

gruseln sich. Gerade hat ihnen ein be -<br />

geisterter Kunde geraten, ihren Schmuck<br />

doch in Zürich anzubieten, dort würde<br />

das gesamte Sortiment an einem einzigen<br />

Tag weggekauft. „Schauderhaft“, sagt<br />

Ulla Herz. „Ein Alptraum“, sagt Hannes<br />

Kuhn. Undenkbar ist es für die beiden,<br />

sich auf eine derart profane Art von ihren<br />

Schätzen zu trennen.<br />

Denn das, was sie seit 1986 in ihrer<br />

Galerie Nimbus herstellen, ist mehr als<br />

Schmuck. Ihr Herzblut hängt an den jahrtausendealten<br />

Perlen, Steinen und Münzen,<br />

die sie über Jahrzehnte in aller Welt<br />

zusammengesammelt haben, um daraus<br />

Schmuck zu machen. Sie kennen ihre Provenienz,<br />

ihren Werdegang, ihren Wert.<br />

Sie fassen sie täglich an und brauchen<br />

Monate, manchmal Jahre, bis sie das perfekte<br />

Design für diese Materialien finden,<br />

die passenden Fassungen, die stimmige<br />

Form.<br />

Wer ahnt schon, dass die Granitperlen<br />

aus der Steinzeit stammen? Dass die Bergkristalle,<br />

die verschwenderisch zu einer<br />

armdicken Kette verschlungen sind, 2000<br />

vor Christus aus indischem Fels geschlagen<br />

wurden? Wer sieht den afghanischen<br />

Bronzeperlen an, dass sie über 5000 Jahre<br />

alt und ein Vermögen wert sind?<br />

Nur der Besitzer des erlesenen Unikats<br />

weiß, welche einzigartige Kostbarkeit er<br />

am Leib trägt. Und es liegt an ihm, ob er<br />

dieses Vergnügen still genießt oder anderen<br />

verrät, dass der in Feingold gebettete<br />

Lapislazuli möglicherweise mal an Kleopatras<br />

Hof getragen wurde. Es ist eine<br />

ganz eigene Aura, die von den handgemachten<br />

Objekten ausgeht, als wären sie<br />

durch den Prozess irgendwie beseelt und<br />

aufgeladen worden – ganz anders als industriell<br />

gefertigte Produkte.<br />

Der jüngste Schrei im Geschäft mit Luxusprodukten<br />

ist der Luxus der Namenlosigkeit.<br />

Uhren, Handtaschen, Schmuck:<br />

Verbraucher, die über das nötige Kleingeld<br />

verfügen, kaufen ihre edelsten<br />

Stücke neuerdings nicht mehr in den<br />

Großstadtfilialen weltbekannter Markenhersteller,<br />

sondern in kleinen Spezial -<br />

manufakturen abseits der City-Lagen, die<br />

sich der Qualität verschrieben haben: Nur<br />

handgemacht ist gut gemacht.<br />

76<br />

KONSUM<br />

Perlrochen aus Parchim<br />

Wer Luxus liebt, kauft Uhren oder Schuhe nicht mehr im Markengeschäft,<br />

sondern im extravaganten Handwerksbetrieb.<br />

<strong>Deutschland</strong>s Spezialmanufakturen erleben eine Renaissance.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Dagegen hat der traditionelle Markenluxus<br />

viel von seinem Glanz eingebüßt.<br />

Im Massenmarkt angekommen, taugen<br />

Taschen von Louis Vuitton oder rotbesohlte<br />

High Heels von Christian Louboutin<br />

kaum noch als Unterscheidungsmerkmal.<br />

Und warum soll man 40 000 Euro<br />

für eine Rolex-Uhr ausgeben, wenn jeder<br />

zweite Golfkumpel eine trägt?<br />

Die Neureichen aus Osteuropa oder<br />

China haben in den vergangenen Jahren<br />

zwar für zweistellige Wachstumsraten im<br />

Luxussegment gesorgt, doch gleichzeitig<br />

wurden die Marken schleichend abgewirtschaftet.<br />

In diesem Jahr legt die Branche<br />

voraussichtlich nur noch zwei Prozent zu.<br />

Konsumenten, die den Luxus lieben,<br />

haben es satt, ein berühmtes Logo spazieren<br />

zu tragen, als wären sie eine Litfaßsäule.<br />

Und manche Kunden fragen<br />

sich, warum sie ein halbes Vermögen für<br />

Designerklamotten ausgeben sollen, die<br />

ähnlich produziert werden wie der Billigfummel<br />

von C&A. In der Liste der wertvollsten<br />

Marken der Welt, die von der<br />

Agentur Millward Brown durch Verbraucherbefragung<br />

ermittelt wird, rangiert die<br />

Einkaufszonen-Kette Zara vor Hermes<br />

und H&M vor Prada. Das ist ernüchternd.<br />

So wird der Markenkonsum von der<br />

neuen Luxusgeneration zunehmend als<br />

ordinär empfunden. Was heute zählt, ist<br />

Einzigartigkeit, Qualität und feines Handwerk.<br />

Man möchte wieder etwas haben<br />

für sein Geld.<br />

Das freut viele kleine Edelmanufakturen,<br />

die in <strong>Deutschland</strong> eine Renaissance<br />

erleben. „Die Kunden suchen wieder<br />

nach echten Werten“, sagt Axel Kmo -<br />

nitzek, Geschäftsführer des Hamburger<br />

Uhrenherstellers Fischer&Cie. In dem<br />

eleganten Verkaufsraum in der Hamburger<br />

HafenCity stellt das Unternehmen<br />

hochwertige Unikate nach den Wünschen<br />

der Kundschaft her.<br />

Schon in ihrer Schulzeit waren Kmonitzek<br />

und sein Kompagnon Christopher<br />

Graf verrückt nach Uhren, tauschten die<br />

einschlägigen Magazine unter der Schulbank.<br />

Jahre später trafen sich die beiden<br />

wieder, im Hamburger Laden „Männerträume“,<br />

einem Spielwarengeschäft für<br />

Herren. Der eine war mittlerweile Volkswirt,<br />

der andere Grafikdesigner. Immer<br />

noch uhrenfanatisch, gründeten sie ein<br />

Unternehmen, das noch keiner zu gründen<br />

gewagt hatte: Sie würden personalisierte<br />

Uhren herstellen.<br />

Seit 2009 gibt es ihre Firma, pro Jahr<br />

entwerfen sie etwa hundert Uhren nach<br />

den Wünschen ihrer Kunden. Manche<br />

lassen sich Initialen, Geburtstage oder<br />

Jubiläumsdaten aufs Zifferblatt drucken,<br />

andere das durch ein Glas sichtbare Laufwerk<br />

vergolden, gravieren oder mit filigransten<br />

Mustern verzieren.<br />

Einige Uhren sind den Tachos von<br />

Oldtimern nachempfunden, viele tragen<br />

Stadt- oder Familienwappen. Ein Kunde<br />

bekam den Frosch, den sein Kind gezeichnet<br />

hatte, als Motiv. Nur jener Kunde, der<br />

Nazi-Symbole haben wollte, wurde abgewiesen.<br />

„Die Kunden lieben es, Zeit bei uns zu<br />

verbringen und stundenlang am Design<br />

zu basteln“, sagt Graf. 2500 Euro kostet<br />

ein personalisiertes Basismodell, je nach<br />

Extras kann eine Fischer&Cie aber auch<br />

mehrere zehntausend kosten. Nur ganz<br />

klein steht das Firmenlogo auf der Uhr.<br />

Der Kunde soll hier keine Marke kaufen,<br />

sondern Exklusivität. „Bei uns ist der<br />

Kunde die Marke“, sagt Kmonitzek.<br />

Eine Erkenntnis, die langsam auch in<br />

der Industrie ankommt.<br />

Bei den Herbst-Modeschauen in Paris<br />

überraschte Louis Vuitton mit einer Kollektion<br />

ganz ohne Markennamen. Keine<br />

Spur war zu sehen vom berühmte Logo<br />

und dem typischen Damierstoff. Auch<br />

der deutsche Kamerahersteller Leica verkauft<br />

seine Digitalkamera Monochrom M<br />

erstmals ohne den typischen roten Punkt<br />

auf dem Gehäuse.<br />

Das Londoner Nobelkaufhaus Selfridges<br />

folgte dem Trend und richtete eilig<br />

eine ganze Abteilung ein, in der Luxusprodukte<br />

ohne Namen angeboten werden.<br />

Andere Markenproduktler versuchen den<br />

Kompromiss: Bei der Mode marke Bur -<br />

berry dürfen die Kunden Stoffe, Futter<br />

und Knöpfe selbst wählen und so ihr ganz<br />

eigenes Modell kreieren.<br />

Ob der Spagat gelingt, darf bezweifelt<br />

werden. Die Mischung aus Schrulligkeit,<br />

Qualität und Kundennähe, die kleine<br />

Manufakturen ausstrahlen, können Groß -<br />

unternehmen nicht kopieren. In Selfridges<br />

logofreiem „Quiet Shop“ einzukaufen<br />

ist nicht annähernd so einmalig, wie auf<br />

dem Marktplatz der Mecklenburger<br />

Kleinstadt Parchim zu stehen, vor Kay<br />

Gundlacks Maßschuh-Manufaktur.<br />

15 Jahre lang war der gelernte Schuhmacher<br />

als Hersteller orthopädischen<br />

Schuhwerks weit entfernt von Krokodilleder<br />

und Perlrochenhaut. Doch mit 32<br />

wechselte der Handwerker, der sich schon<br />

als Kind in der unaufgeräumten Werkstatt<br />

des örtlichen Schusters am wohlsten fühlte,<br />

ins Luxussegment: Er mietete den kleinen<br />

Laden neben dem Pizzaservice, legte<br />

im Januar 2006 los – und hatte Glück. Eine<br />

Journalistin des NDR entdeckte den Laden<br />

in der Pampa und berichtete davon.


Maßschuster Gundlack, rahmengenähte Herrenschuhe: Machen, was man liebt<br />

FOTOS: CHRISTIAN O. BRUCH / LAIF / DER SPIEGEL<br />

Halskette aus Millefiori-Glasperlen, Goldschmiedin Herz: „Der kaufmännische Aspekt ist für uns drittrangig“<br />

Plötzlich kamen Kunden aus Hamburg<br />

und Berlin, Gundlack wurde eingeladen<br />

und freundete sich mit dem Berliner Universal-Musikmanager<br />

Sven Kilthau-Lander<br />

an. Kurz darauf vermaß er die Füße<br />

von „Teufelsgeiger“ David Garrett und<br />

entwarf Stiefel für Ryan Tedder, den<br />

Leadsänger der US-Band OneRepublic.<br />

Beide sind nun seine Freunde.<br />

Wie im Schleudersitz wurde der Kleinstädter<br />

in die Lady-Gaga-Welt katapultiert.<br />

Kürzlich bekam er einen Anruf, er<br />

solle sofort nach Monaco kommen, einen<br />

Schuh anmessen. Er wäre fast in Ohnmacht<br />

gefallen, als die Kundin auf ihn zukam:<br />

ein Supermodel.<br />

Warum er trotzdem die Bodenhaftung<br />

nicht verliert, weiß er selbst nicht so genau.<br />

Vielleicht hilft Parchim, und dass er<br />

für seine Parchimer immer noch Absätze<br />

für acht Euro repariert, wenn er nicht<br />

gerade Maßschuhe aus Kaiman-, Pferdeoder<br />

Lachsleder schustert. Vielleicht aber<br />

auch ist es das Glück, endlich das machen<br />

zu können, was er liebt.<br />

Besonders stolz ist er auf die Schuhe<br />

aus Elefantenleder, die er gerade fertiggestellt<br />

hat. Über 3000 Euro kostet das<br />

Paar, andächtig hebt Gundlack sie aus<br />

dem extra gepolsterten Karton und wickelt<br />

sie aus dem Seidenpapier. Beim Elefanten,<br />

sagt er, habe er emotionale Probleme,<br />

ins Leder zu schneiden. Und nein,<br />

er selbst könnte sich diesen Luxus nicht<br />

erlauben.<br />

1400 Euro zahlt ein Kunde normalerweise<br />

für ein Paar maßgeschneiderte<br />

Gundlack-Unikate, auf die man fünf bis<br />

sieben Monate warten muss. Doch nicht<br />

jeder, der will, bekommt auch welche.<br />

Dreimal hat er Kunden weggeschickt.<br />

„Ich mag es nicht, wenn man mir erklären<br />

will, wie man Schuhe macht“, sagt er. Einem<br />

besonders Großmäuligen erklärte er:<br />

„Wissen Sie, für mich ist jeder Auftrag<br />

eine Wertschätzung meiner Arbeit. Die<br />

kann ich bei Ihnen nicht erkennen.“<br />

Unliebsame Kundschaft einfach abzulehnen,<br />

das ist der Luxus, den Edelhandwerker<br />

sich leisten.<br />

„Der kaufmännische Aspekt ist für uns<br />

drittrangig“, sagt auch Nimbus-Inhaber<br />

Kuhn. Mit Hingabe legen die beiden<br />

Goldschmiede ihren Kunden Ohrringe,<br />

Ketten oder Armreife an, lassen stundenlang<br />

alles probieren, bis das eine, das passende<br />

Stück zum Menschen gefunden<br />

wird. Doch manche Entwürfe, jene, die<br />

ihnen besonders am Herzen liegen, schaffen<br />

es nicht in die Verkaufsvitrine.<br />

Und so ist die kunstvolle Millefiori-<br />

Perlenkette aus uraltem antiken Glas,<br />

die sie kürzlich fertiggestellt haben, auch<br />

absolut unverkäuflich. „Das“, sagt Ulla<br />

Herz, „ist unser ganz privater Luxus.“<br />

MICHAELA SCHIESSL<br />

DER SPIEGEL 50/2013 77


Finanzminister Schäuble, Walter-Borjans: Finstere Befürchtungen bestätigt<br />

FINANZEN<br />

Ausgebremst<br />

Trotz bester Voraussetzungen<br />

bringt Bremen seinen<br />

maroden Haushalt nicht in<br />

Ordnung. Die anderen<br />

Länder lassen Milde walten.<br />

Als Rheinländer ist Nordrhein-Westfalens<br />

Finanzminister Norbert<br />

Walter-Borjans (SPD) nicht gezwungen,<br />

alles immer ganz genau zu nehmen.<br />

„Leben und leben lassen“, das Motto<br />

seiner Heimat, gilt für ihn nicht nur<br />

zum Karneval, sondern auch im Advent.<br />

Am vergangenen Donnerstag brachte<br />

er es zur praktischen Anwendung. Als<br />

Mitglied des Stabilitätsrats, jener Versammlung<br />

von Finanzministern aus Bund<br />

und Ländern, die über die Staatsfinanzen<br />

wacht, sorgte er dafür, dass seiner Bremer<br />

Kollegin Karoline Linnert (Grüne) eine<br />

offizielle Rüge erspart blieb.<br />

So viel Milde könnte Folgen haben.<br />

Auf dem Spiel steht die Glaubwürdigkeit<br />

der Schuldenbremse, also des Regelwerks,<br />

das Bund und Länder verpflichtet, bis<br />

2020 ihre Haushalte zu sanieren und weitgehend<br />

ohne neue Kredite auszukommen.<br />

Den Hüter über die finanzpolitische<br />

Tugend gibt der Stabilitätsrat.<br />

Die Runde darf ein Land förmlich ermahnen,<br />

wenn es sich nicht an Sparzusagen<br />

hält und seine Finanzen nicht im Griff<br />

hat. Beides ist in Bremen der Fall, und<br />

dennoch konnten sich die Minister nicht<br />

durchringen, die volle Strenge des Gesetzes<br />

zur Geltung zu bringen. Damit hat<br />

die Runde finstere Befürchtungen bestätigt:<br />

Die Schuldenbremse greift nicht automatisch,<br />

im Zweifel dominieren Willkür<br />

und politische Opportunität.<br />

Schließlich richten über den Sünder<br />

von heute potentielle Missetäter von mor-<br />

78<br />

gen. Wer sich jetzt großzügig zeigt, darf<br />

künftig auf Entgegenkommen hoffen.<br />

Zwar tröstet sich die Mehrheit der Teilnehmer<br />

damit, dass noch nie ein Land so<br />

schonungslos an den Pranger gestellt wurde.<br />

„Immerhin haben wir einen blauen<br />

Brief verschickt, auch wenn er in einem<br />

weißen Umschlag steckt“, sagt ein Beteiligter.<br />

Aber in dem Schreiben wird Linnert<br />

lediglich gebeten, ihren Konsolidierungskurs<br />

zu verstärken. „Natürlich hätte<br />

sie in der Vergangenheit bereits mehr machen<br />

müssen“, sagt ein Kollege. Und ob<br />

Linnert dem Anliegen tatsächlich nachkommt,<br />

ist ungewiss. Denn ihr Unrechtsbewusstsein<br />

ist übersichtlich.<br />

Dabei wäre jetzt die beste Gelegenheit,<br />

die traditionell maroden Finanzen Bremens<br />

endlich in Ordnung zu bringen: Gegenüber<br />

früheren Planungen wird der<br />

Haushalt um insgesamt 230 Millionen Euro<br />

entlastet – niedrigeren Zinsen, höheren<br />

Steuereinnahmen und der Übernahme von<br />

Sozialleistungen durch den Bund sei Dank.<br />

Doch was an zusätzlichem Geld reinkommt,<br />

bringt Linnert wieder unters Bremer<br />

Volk. In den kommenden Jahren will<br />

sie jeweils über 150 Millionen Euro mehr<br />

ausgeben als noch im Herbst 2012 geplant.<br />

Schulden je Einwohner in Euro * , 2012<br />

Bremen<br />

Berlin<br />

Saarland<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Hamburg<br />

Schleswig-Holstein<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Hessen<br />

Brandenburg<br />

Niedersachsen<br />

Thüringen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Baden-Württemberg<br />

Bayern<br />

Sachsen<br />

7591<br />

6537<br />

3384<br />

2302<br />

30155<br />

18213<br />

16077<br />

14699<br />

14273<br />

11444<br />

11164<br />

10556<br />

9834<br />

8877<br />

8813<br />

8498<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

*inkl.<br />

Gemeinden;<br />

Quelle:<br />

Statistisches<br />

Bundesamt<br />

MAJA HITIJ / DAPD<br />

Besonders problematisch ist, dass die<br />

Mehrausgaben durch zusätzliche Schulden<br />

finanziert werden sollen. Das bringt<br />

Bremen gefährlich nah an die Neuverschuldungsobergrenze,<br />

zu deren Ein -<br />

haltung sich der Stadtstaat verpflichten<br />

musste, als er 2011 unter eine Art föderalen<br />

Rettungsschirm schlüpfte. Für 2016<br />

liegt sie bei 270 Millionen Euro. Ursprünglich<br />

sollten die neuen Kredite dann<br />

bei 70 Millionen Euro liegen, das hätte<br />

einen Sicherheitspuffer von gut 200 Millionen<br />

Euro bedeutet. So wäre Bremen<br />

gegen einen drohenden Konjunktureinbruch<br />

und andere Unbill gewappnet. Tatsächlich<br />

ist dieser Puffer nun auf weniger<br />

als ein Viertel zusammengeschnurrt. „So<br />

kann man bei maroden Finanzen einen<br />

Haushalt nicht planen“, sagt ein Teilnehmer<br />

der Sitzung.<br />

Und dennoch wollten einige Länder<br />

nicht ganz so hart sein. Man solle nicht<br />

rein formal argumentieren, hieß es hin -<br />

ter verschlossenen Türen. Thüringens<br />

Finanzminister Wolfgang Voß (CDU) dagegen<br />

warnte eindringlich: „Wenn wir<br />

gleich bei der ersten Bewährungsprobe<br />

einknicken, hat das schlimme Folgen.“<br />

In der hitzigen Diskussion blieb kaum<br />

ein historischer Vergleich aus. Die Aushebelung<br />

des europäischen Stabilitätspakts<br />

durch <strong>Deutschland</strong> und Frankreich<br />

im Jahr 2003 wurde genauso bemüht wie<br />

die spitze Bemerkung, die Bremer Argumentation,<br />

es werde schon irgendwie passen,<br />

ähnele verdächtig der griechischen.<br />

Schließlich schlug NRW-Finanzminister<br />

Walter-Borjans den Kompromiss vor. Gegen<br />

die Aufweichung votierten am Ende<br />

nur Bayern und Hessen, Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble stimmte zu.<br />

„Bayern hätte Bremen gern mit offiziellem<br />

Siegel aufgefordert, stärker zu sparen“,<br />

sagt der bayerische Finanzminister<br />

Markus Söder. „Wir können es uns nicht<br />

leisten, die Anstrengungen im eigenen<br />

Land nicht konsequent anzugehen.“<br />

Doch der Ärger über die Bremer ist<br />

weit verbreitet, gerade in Ländern, die<br />

selbst Schwierigkeiten mit ihrem Haushalt<br />

haben und sich mühen, die Schuldenbremse<br />

einzuhalten. Sachsen-Anhalts<br />

Amtschef Jens Bullerjahn (SPD) beklagte<br />

intern, er habe seinen Sparkurs gegen<br />

Widerstände stets mit dem Argument<br />

durchgesetzt, es gebe keine andere Wahl.<br />

Mittlerweile erwirtschaftet er in seinem<br />

Etat Überschüsse – so wie sein Berliner<br />

Kollege Ulrich Nußbaum (parteilos).<br />

„Auf EU-Ebene haben wir gesehen, was<br />

passieren kann, wenn man die selbstgesetzten<br />

Stabilitätskriterien schleifen lässt.<br />

Ich hoffe, wir machen es in der Bundesrepublik<br />

besser“, warnt der Finanzsena -<br />

tor der Hauptstadt. „Der Stabilitätsrat<br />

soll Bund und Länder dazu bringen, sich<br />

ehrlich zu machen. Politischen Kuhhandel<br />

darf es dort nicht geben.“ SVEN BÖLL,<br />

CHRISTIAN REIERMANN


Wirtschaft<br />

STADTPLANUNG<br />

Schlauer parken<br />

Deutsche Metropolen wollen sich<br />

in hocheffiziente „Smart Citys“<br />

verwandeln. Technologiekonzerne<br />

wittern ein Milliardengeschäft.<br />

Eigentlich war für diese Woche in<br />

Hamburg der nationale IT-Gipfel<br />

angesetzt mit Kanzlerin Angela<br />

Merkel als prominentem Gast. Doch in<br />

Berlin zieht sich die Regierungsbildung<br />

hin – und so wurde das Hightech-Treffen<br />

kurzfristig verschoben.<br />

Da nun aber Fachleute aus aller Welt<br />

den Termin schon geblockt hatten, gaben<br />

die Hanseaten der Veranstaltung kurzerhand<br />

einen neuen Namen. Hamburgs Erster<br />

Bürgermeister Olaf Scholz lädt nunmehr<br />

zu einem „Smart City Summit“ ein,<br />

so der griffige Titel, um eines seiner Lieblingsthemen<br />

voranzubringen: die intelligente<br />

Stadt von morgen.<br />

Am Dienstag dieser Woche kommt ein<br />

Kreis von etwa 40 Experten im Rathaus<br />

zusammen: Stadtplaner, Zukunftsforscher<br />

und Manager von Technologiekonzernen<br />

wie SAP, Cisco, IBM und der Telekom.<br />

Sie treibt die Idee einer Stadt um, in der<br />

Smarter Alltag Beispiele für intelligente Technik im Haus und auf der Straße<br />

2 Wärme<br />

Die intelligente<br />

Heizung hat deshalb<br />

das Bad ebenfalls<br />

früher erwärmt.<br />

3 Navigation<br />

Das Fahrzeug findet<br />

den schnellsten Weg<br />

zum Ziel und zu einem<br />

freien Parkplatz.<br />

1 Terminplanung<br />

Der intelligente Wecker<br />

weiß vom Stau auf dem<br />

Weg zur Arbeit und<br />

klingelt früher.<br />

4 Beleuchtung<br />

Das Licht der Laterne wird<br />

heller, wenn sich der Wagen<br />

seinem Parkplatz nähert.<br />

5 Abrechnung<br />

Sensoren messen<br />

die Parkdauer. Die<br />

Gebühr wird automatisch<br />

abgebucht.<br />

alles miteinander vernetzt ist: Autos, Ampeln,<br />

Parkplätze, Mülleimer, Lampen –<br />

jeder Gegenstand in der Smart City ist<br />

elektronisch identifizierbar.<br />

Der Sensor misst, der Rechner denkt,<br />

und der Mensch lässt sein Verhalten davon<br />

leiten: Zeichnet sich auf dem Arbeitsweg<br />

ein Stau ab, klingelt morgens der<br />

Wecker früher (siehe Grafik). Oder umgekehrt,<br />

die Technik stellt sich auf das<br />

Verhalten der Nutzer ein. Das Thermostat<br />

„Nest“, das Ex-Apple-Entwickler<br />

konstruiert haben, merkt sich, wann die<br />

Bewohner üblicherweise zu Hause sind,<br />

und steuert entsprechend die Heizung.<br />

Die digitale Verheißung elektrisiert derzeit<br />

Politiker in vielen Metropolen. Sie<br />

sind fasziniert von der Aussicht, städtische<br />

Dienstleistungen effizienter zu machen<br />

und die Lebensqualität der Bürger<br />

zu verbessern, so jedenfalls versprechen<br />

es ihnen die IT-Konzerne.<br />

General Electric nennt das Ganze „Industrial<br />

Internet“, Cisco spricht vom „Internet<br />

der Dinge“, IBM sogar vom „Smarter<br />

Planet“. Die Begriffe sind austauschbar,<br />

hinter ihnen steht die Hoffnung auf<br />

ein Megageschäft: Die Marktforschungsfirma<br />

IDC rechnet für 2014 mit einem Volumen<br />

von weltweit 44 Milliarden Euro.<br />

Besonderes Augenmerk richten die<br />

Konzerne auf den deutschen Markt. Er<br />

ist kaum erschlossen, die Städte haben<br />

wenig in eine smarte Infrastruktur investiert.<br />

Bislang beschränkt sich ihre Aktivität<br />

auf eine Vielzahl kleiner Pilotprojekte.<br />

In Köln experimentiert der Versorger<br />

RheinEnergie in einem Straßenabschnitt,<br />

wie der Verbrauch von Strom, Heizenergie<br />

und Beleuchtung zu steuern ist. In Dresden<br />

existiert seit vorigem Sommer ein<br />

Informationssystem, das Pendler je nach<br />

Verkehrslage über die Elbbrücken lotst.<br />

Und in Hamburg werden derzeit 40<br />

Lkw-Parkplätze im Hafen mit Sensoren<br />

ausgestattet; sie sehen aus wie Eishockeypucks<br />

und sind in den Asphalt eingelassen.<br />

Mit ihrer Hilfe sollen Trucker leichter<br />

einen Stellplatz finden, ihr Navigationsgerät<br />

führt sie direkt zum Ziel.<br />

Gerade das leidige Thema Parken demonstriert<br />

die Potentiale intelligenter Vernetzung.<br />

Die Suche nach freien Flächen<br />

macht rund ein Drittel des innerstädtischen<br />

Verkehrsaufkommens aus, eine<br />

schlaue Steuerung könnte Staus und<br />

Emissionen verringern helfen. Zugleich<br />

nimmt die Kommune mehr Geld ein:<br />

Dank automatischer Abrechnung geht ihr<br />

kein Falschparker mehr durch die Lappen.<br />

In Teilen San Franciscos ist ein solches<br />

System bereits im Einsatz, mehr als 8000<br />

Parkplätze hat die Stadt mit Sensoren<br />

ausgestattet. Die Gebühren sind variabel,<br />

sie sinken und steigen mit der Nachfrage.<br />

Andere Metropolen gehen noch viel<br />

weiter, sie bauen regelrechte digitale Nervensysteme<br />

auf. In New Songdo, einer<br />

südkoreanischen Retortenstadt, können<br />

alle Gebäude per Videokonferenz mitein -<br />

ander verbunden werden: Wohnungen,<br />

Büros, Kliniken, Geschäfte. Und in Rio<br />

de Janeiro hat die Stadt zusammen mit<br />

IBM ein Kontrollzentrum mit meterhohen<br />

Bildschirmwänden installiert. Darauf können<br />

die Mitarbeiter jeden Bus, jede Polizei -<br />

streife, jeden Müllwagen verfolgen.<br />

Spätestens hier ist für Urbanitätsforscher<br />

wie Anthony Townsend eine Grenze<br />

überschritten. Zwar sei angesichts von<br />

Klimawandel und Verstädterung jeder<br />

Effizienzgewinn zu begrüßen, so der New<br />

Yorker Wissenschaftler. Was aber fehle,<br />

sei eine ernsthafte Debatte der Risiken.<br />

Townsend sieht eine Gefahr darin, dass<br />

Städte die Sammlung von Big Data und,<br />

noch wichtiger, ihre Auswertung an private<br />

Unternehmen übertrügen; damit<br />

machten sie sich abhängig. Problematisch<br />

findet er auch, wenn die Stadt die Konzepte<br />

dem Bürger aufzwänge. Die Systeme<br />

würden starr und anfällig: für Fehler, für<br />

Sabotage und für unbefugten Zugriff.<br />

Am Ende aber dürfte entscheidend für<br />

Erfolg oder Misserfolg sein, ob die Dienste<br />

einer Smart City ihren Bewohnern<br />

spürbaren Nutzen bringen. Oder ob sie<br />

bloß ein Gimmick sind wie der vernetzte<br />

Kühlschrank, der selbständig Milch bestellt,<br />

wenn der Vorrat zur Neige geht.<br />

Seit Jahren ist er auf Messen zu bestaunen<br />

– aber niemand braucht ihn.<br />

ALEXANDER JUNG<br />

80<br />

DER SPIEGEL 50/2013


JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL (L.); SPENCER PLATT / AFP (R.)<br />

Physiotherapeutin Herbst, Yelp-Büro in New York: „Kontrolle über ihr Image im Internet verloren“<br />

INTERNET<br />

Krieg der<br />

Sterne<br />

Viele Unternehmer sind verärgert<br />

über die Bewertungsplattform<br />

Yelp. Seitdem die Seite<br />

einen neuen Eigentümer<br />

hat, werden sie schlechter benotet.<br />

Wenn die Hamburger Physio -<br />

therapeutin Kathrin Herbst in<br />

diesen Tagen im Internet surft,<br />

fühlt sie sich wie eine Schülerin, die<br />

immer gut in Mathe war, aber plötzlich<br />

nur noch Vieren bekommt. Und keine<br />

Ahnung hat, warum.<br />

Vor ein paar Wochen gehörte Herbsts<br />

Praxis auf dem Online-Bewertungsportal<br />

Yelp zu den besten unter den Hambur -<br />

ger Physiotherapeuten. Patienten hatten<br />

die Praxis auf der Vorgängerseite Qype<br />

überwiegend gelobt und sie durchschnittlich<br />

mit viereinhalb von fünf Sternen<br />

bewertet. Nachdem Yelp den deutschen<br />

Konkurrenten Qype gekauft und stillgelegt<br />

hatte, war die Praxis zwischenzeitlich<br />

auf zwei Sterne abgestürzt; aber nicht,<br />

weil die Patienten plötzlich unzufrieden<br />

waren. Stattdessen hat der Dienst einen<br />

Großteil der alten Bewertungen aussortiert<br />

– ohne erkennbaren Grund, wie<br />

Herbst sagt.<br />

Seit aus Qype Ende Oktober Yelp wurde,<br />

klagen Cafébetreiber, Ärzte oder Friseure<br />

über das undurchsichtige System<br />

des US-Unternehmens. Sie werfen Yelp<br />

vor, sie grundlos herabzustufen. Manche<br />

sehen ihr Geschäft bedroht, weil Kunden<br />

von den miesen Zensuren abgeschreckt<br />

würden.<br />

Die Betreiber hatten versprochen, dass<br />

alle Bewertungen von Qype auf das neue<br />

Portal übernommen werden. Tatsächlich<br />

ist nach dem Umzug eine Vielzahl der<br />

alten Kundenurteile verschwunden, zumindest<br />

auf den ersten Blick.<br />

Anders als die Vorgängerseite lässt<br />

Yelp alle Bewertungen von einer Software<br />

prüfen. Der Algorithmus siebt nicht<br />

nur offensichtlich gekaufte Kritiken aus,<br />

sondern auch solche, die Yelp für „nicht<br />

hilfreich“ hält. Die ausgemusterten Kundenurteile<br />

fließen nicht in die Bewertung<br />

ein und erscheinen nur versteckt auf dem<br />

Portal. Wie der Algorithmus funktioniert,<br />

beantwortet Yelp nur vage. „Qualität“<br />

und „Vertrauenswürdigkeit“ eines Urteils<br />

seien entscheidend, nur rund ein Viertel<br />

der Kritiken falle durchs Raster.<br />

Doch auf der deutschen Yelp-Seite bleiben<br />

derzeit in vielen Fällen erheblich<br />

mehr Voten unberücksichtigt. 70 Beiträge<br />

über die Leistungen des Berliner Friseurs<br />

Peter Arnheim hat der Service beispielsweise<br />

aktuell aussortiert. Übrig geblieben<br />

sind 12; der Salon ist im Gesamturteil von<br />

fünf auf dreieinhalb Sterne abgefallen.<br />

„Wenn man auf Qype nach ,Friseur in<br />

Berlin‘ gesucht hat, waren wir unter den<br />

ersten 20“, sagt Arnheim. „Jetzt erscheinen<br />

wir auf Seite elf. So weit klickt niemand.“<br />

Seit dem Wechsel habe sich die<br />

Zahl der Neukunden spürbar verringert.<br />

Die Lücke, die sich nun in seinem Terminkalender<br />

auftue, umfasse pro Woche<br />

10 bis 15 Stunden, schätzt er.<br />

Arnheim ist verärgert, dass unter den<br />

ausrangierten Urteilen überdurchschnittlich<br />

viele gute sind. Zwar sind nicht bei<br />

allen Geschäften und Dienstleistern nur<br />

die schlechten Bewertungen übrig geblieben,<br />

aber bei so vielen, dass es auffällt.<br />

Yelp verweist darauf, dass es oft genau<br />

umgekehrt sei und Unternehmen nun<br />

besser dastünden. „Die Geschäfte sind<br />

sauer, weil sie die Kontrolle über ihr<br />

Image im Internet verloren haben. Jetzt<br />

können sie ihre Kunden nicht mehr einfach<br />

um eine positive Bewertung bitten“,<br />

sagt Elliot Adams, Europa-Chef der PR-<br />

Abteilung.<br />

Im Netz, wo sich der Zorn der Betroffenen<br />

Bahn bricht, werden die schlechten<br />

Beurteilungen dagegen mitunter so erklärt:<br />

Yelp bevorzuge Unternehmen, die<br />

dem Portal monatlich Geld für Anzeigen<br />

zahlten. Auch in den USA haben Gastronomen<br />

oder Anwälte wiederholt diesen<br />

Vorwurf erhoben. Yelp weist ihn zurück.<br />

Unbestritten ist, dass Yelp derzeit sehr<br />

um neue Anzeigenkunden aus <strong>Deutschland</strong><br />

wirbt. Mitarbeiter verschicken E-Mails<br />

an potentielle Geschäftspartner, in denen<br />

sie auf „eine Studie der Boston Consulting<br />

Group über Umsatzsteigerung durch<br />

Yelp“ hinweisen. 200 bis 800 Euro kostet<br />

ein Anzeigenpaket pro Monat.<br />

Auf Beschwerden reagiert Yelp dagegen<br />

kurz angebunden, mit einer Standard-E-Mail,<br />

versendet aus San Francisco.<br />

„Yelp hat sich bislang nicht besonders<br />

interessiert gezeigt an den Bedürfnissen<br />

der Nutzer und Unternehmer aus<br />

<strong>Deutschland</strong>“, sagt Stephan Uhrenbacher,<br />

Gründer von Qype. Die Beschwerden<br />

über die US-Site hält er für „vollkommen<br />

berechtigt“. Uhrenbacher ist bei Qype als<br />

Geschäftsführer ausgeschieden, bevor der<br />

US-Wettbewerber die deutsche Plattform<br />

vor einem Jahr gekauft hat. Heute sagt<br />

er: „Das Filtersystem von Yelp ist in der<br />

jetzigen Form nicht mit den Prinzipien<br />

von Qype vereinbar.“<br />

Dass die Methoden von Yelp zumindest<br />

willkürlich sind, hat nun auch ein<br />

deutsches Gericht festgestellt. Das Landgericht<br />

Hamburg erließ kürzlich eine<br />

einstweilige Verfügung gegen Yelp. Das<br />

Portal darf nun nicht länger die Bewertungen<br />

einer Hamburger Zahnarztpraxis<br />

nur unvollständig anzeigen. Das Filtersystem<br />

sei unzulässig, weil ihm keine objektiven<br />

Kriterien zugrunde lägen, sagt<br />

Hendrik Sievers, Anwalt des Klägers.<br />

Ob Yelp das Profil des Zahnarztes nun<br />

löschen oder den Filter ausschalten muss,<br />

lässt der Gerichtsbeschluss offen. Andere<br />

Unternehmer wollen jetzt ebenfalls juristisch<br />

gegen Yelp vorgehen.<br />

Die Entscheidung des Hamburger<br />

Gerichts will Yelp mit Berufung auf das<br />

laufende Verfahren nicht kommentieren.<br />

Und auch die Funktion des Algorithmus<br />

mag PR-Mann Adams nicht näher erklären:<br />

„Coca-Cola verrät ja auch nicht sein<br />

Rezept.“<br />

ANN-KATHRIN NEZIK<br />

DER SPIEGEL 50/2013 81


Panorama<br />

NORDKOREA<br />

Geschwächter Diktator<br />

MEXIKO<br />

Erz statt Kokain<br />

Drogenkartelle des Landes haben ein<br />

neues Geschäftsfeld entdeckt: Sie exportieren<br />

Eisenerz und andere Rohstoffe.<br />

Im Bundesstaat Michoacán an<br />

der Pazifikküste kontrolliert vor allem<br />

die Rauschgiftmafia der „Tempelritter“<br />

die Ausfuhr von Mineralien, die<br />

Gangster haben sich großer Teile des<br />

Bergbaus bemächtigt. Bewohner von<br />

Michoacán berichten, dass die Verbrecherorganisationen<br />

auch am Abbau<br />

der Rohstoffe beteiligt seien. Allein im<br />

Jahr 2010 haben Drogenkartelle nach<br />

Schätzungen der Staatsanwaltschaft<br />

1,1 Millionen Tonnen Eisenerz gefördert.<br />

Anfang November besetzte das<br />

Militär den Hafen von Lázaro Cárdenas,<br />

einen der wichtigsten Umschlagplätze.<br />

Die Stadt war praktisch in der<br />

Hand der „Tempelritter“. Die Drogenhändler<br />

unterwandern die Wirtschaft,<br />

um sich gegen Schwankungen in<br />

ihrem traditionellen Gewerbe abzu -<br />

sichern. Und sie stecken ihr Geld in legale<br />

Unternehmen, um es zu waschen.<br />

Das Wirtschaftsministerium hat im<br />

vergangenen Jahr diversen Firmen Exportlizenzen<br />

verweigert, weil sie nicht<br />

nachweisen konnten, dass die Mine -<br />

ralien aus sauberen Quellen stammten.<br />

Kim Jong Un (r.), General Chang Song Taek<br />

Die Entmachtung seines Onkels als<br />

Vizechef der Nationalen Verteidigungskommission<br />

markiert wohl eine<br />

Niederlage für Diktator Kim Jong<br />

Un – und nicht, wie viele Beobachter<br />

spekulieren, einen Sieg. Der Sturz von<br />

General Chang Song Taek, 67, belege<br />

das vorläufige Ende eines Machtkampfes<br />

im Sicherheitsapparat, sagt auf<br />

jeden Fall der vor neun Jahren aus<br />

Nordkorea geflohene Ex-Geheimdienstmann<br />

Jang Jin Sung, der bis heute<br />

gute Beziehungen zu Regime-Leuten<br />

unterhält. Die Anhänger des verstorbenen<br />

Vaters von Kim im Ministerium<br />

für Staatssicherheit hätten sich<br />

gegen den Onkel durchgesetzt, der das<br />

Ministerium für Volkssicherheit dominierte.<br />

Der Onkel galt als der wichtigste<br />

Berater des erst 30-jährigen Kim. Er<br />

stand für eine vorsichtige ökonomische<br />

Öffnung des totalitären Regimes,<br />

für die Reform der Landwirtschaft und<br />

die Verbesserung der schwierigen Beziehungen<br />

zu China. Das Staatssicherheitsministerium<br />

dagegen setzt eher<br />

auf militärische Stärke und höhere Investitionen<br />

ins Atomprogramm. Anders<br />

als zwei Vertraute aus seiner unmittelbaren<br />

Umgebung, die Mitte November<br />

hingerichtet wurden, habe der<br />

entmachtete Onkel nicht den Tod zu<br />

fürchten, so der ehemalige Geheimdienstler<br />

Jang Jin Sung. Die Herrscherfamilie<br />

stehe unter besonderem<br />

Schutz. „Letztlich ist Kim Jong Un ein<br />

Opfer.“ Zu erwarten sei nun „mehr<br />

Politik mit militärischen Mitteln und<br />

eine Beschleunigung des Nuklearprogramms“.<br />

82<br />

KYODO / REUTERS<br />

Palästinensische Familie im Gaza-Streifen<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

NAHOST<br />

Verheerende Isolation<br />

Nachdem die ägyptische Armee seit<br />

Juli nahezu alle Schmugglertunnel in<br />

den Gaza-Streifen zerstört hat, verschlechtern<br />

sich die Lebensverhältnisse<br />

der 1,7 Millionen Einwohner dort<br />

dramatisch. Ein normaler Haushalt hat<br />

nur noch zwei Stunden Strom am Tag,<br />

die Wasserversorgung ist noch schwieriger<br />

geworden. Wegen der Stromknappheit<br />

funktionieren die Klärwerke<br />

nicht mehr, manche Straßen sind<br />

regelrecht mit Abwässern geflutet. Es<br />

fehlt mittlerweile an allem: an Baumaterialien,<br />

deren Einfuhr auf regulärem<br />

Weg Israel nahezu völlig unterbindet,<br />

an Medikamenten und Treibstoff.<br />

Auch die Preise für Lebensmittel sind<br />

stark gestiegen. Zugleich dürfen weniger<br />

Menschen denn je Gaza verlassen.<br />

Das Gebiet werde langsam unbewohnbar,<br />

sagt der Generalkommissar des<br />

Uno-Flüchtlingshilfswerks. Für die<br />

regierende radikalislamische Hamas<br />

geht es ums politische Überleben: Sie<br />

ist isoliert wie nie zuvor. Ihren Bündnispartner<br />

Iran hat sie verprellt, indem<br />

sie sich im Syrien-Krieg auf die Seite<br />

der Rebellen stellte. Die ägyptische<br />

Muslimbruderschaft kann der Hamas<br />

auch nicht mehr helfen. Aus Angst vor<br />

israelischen Reaktionen verhaften Hamas-Leute<br />

sogar Kämpfer, damit diese<br />

nicht Israel mit Raketen beschießen.<br />

Hinweise auf mögliche Unruhestifter<br />

stammen angeblich auch von israelischen<br />

Geheimdienstlern.<br />

MOHAMMED SALEM / REUTERS


Ausland<br />

NOORULLAH SHIRZADA / AFP<br />

Lernen unter freiem Himmel. Über eine halbe Million<br />

Afghanen sind in der ersten Jahreshälfte vor der Bedrohung<br />

durch die Taliban geflohen. Viele leben in Camps im eigenen<br />

Land. Afghanische Kinder, von denen 40 Prozent unterernährt<br />

sind, werden dort im Freien und nur bei gutem Wetter unterrichtet<br />

– wie hier in Jalalabad an der Grenze zu Paki stan. Die<br />

Schüler arbeiten in einer Ziegelfabrik. Afghanistan hat seit<br />

über 30 Jahren wenig Friedenszeiten erlebt. Schon nach der<br />

sowjetischen Invasion 1979, im Bürgerkrieg der neun ziger<br />

Jahre und während der Taliban-Herrschaft wurden Schulen<br />

geschlossen. Auch deshalb sind 57 Prozent der afgha nischen<br />

Männer und 87 Prozent der Frauen Analphabeten.<br />

DIPLOMATIE<br />

Camerons Erniedrigung<br />

Premier Cameron<br />

Mit seiner demütigen Haltung beim<br />

Staatsbesuch in China hat sich der britische<br />

Premier David Cameron nicht<br />

nur dem Spott seiner Gastgeber und<br />

Landsleute ausgesetzt, sondern auch<br />

noch seine europäischen Partner verärgert.<br />

Bevor er vorvergangenen Sonntag<br />

nach Peking aufbrach, hatten sich<br />

EU-Politiker über den plötzlichen<br />

Anfall europäischen Gemeinsinns der<br />

Briten gewundert. Ausgerechnet Camerons<br />

europaskeptische Regierung<br />

drängte darauf, dass Brüssel – und<br />

nicht London – Peking für die Einrichtung<br />

einer Luftverteidigungszone über<br />

dem Ostchinesischen Meer kritisieren<br />

solle. Cameron wollte in Peking für Interessen<br />

der britischen Industrie werben<br />

und vermied es so,<br />

sich während seines Besuchs<br />

selbst mit den Chinesen<br />

anlegen zu müssen.<br />

Viel brachte ihm das nicht:<br />

Die chinesische „Global<br />

Times“ begrüßte Cameron<br />

mit dem Vorschlag,<br />

Großbritannien möge anerkennen,<br />

dass es „in den<br />

Augen der Chinesen keine<br />

Großmacht“ sei. „Es ist<br />

bloß ein altes europäisches<br />

Land, das sich zum<br />

Reisen und Studieren eignet.“<br />

Unverdrossen versprach Cameron<br />

in Peking, sich mit seinem „vollen<br />

politischen Gewicht“ für eine euro -<br />

päisch-chinesische Freihandelszone<br />

einzusetzen – die freilich<br />

viele EU-Mitglieder nicht<br />

umsetzen wollen, solange<br />

China seine Investitionsbedingungen<br />

nicht verbessert.<br />

Man werde die<br />

Briten wissen lassen, so<br />

europäische Diplomaten<br />

in Peking, dass man vom<br />

Vorschlag ihres Premiers<br />

nichts halte. „Camerons<br />

politische Karriere“, kommentierte<br />

der „Guardian“<br />

aus diesem Anlass,<br />

„kommt an ihr Ende.“<br />

PETAR KUJUNDZIC / REUTERS<br />

DER SPIEGEL 50/2013 83


Titel<br />

Madibas Magie<br />

Er befreite die Schwarzen, einte sein Land, wurde zum Idol für Millionen in aller<br />

Welt, zu einem Superstar. Nelson Mandelas Tod erschüttert Afrika, sein<br />

Leben wird zu einer Legende – größer als der Mann selbst. Von Bartholomäus Grill<br />

84<br />

Genadendal, die Residenz des südafrikanischen<br />

Präsidenten in Kapstadt.<br />

Der Herr des Hauses betrat<br />

den Salon. Ging er nicht ein bisschen gebückter?<br />

Sah er nicht älter, grauer aus?<br />

Wirkte er nicht erschöpft? Er trug, leger<br />

wie meistens, eine weiße Leinenhose,<br />

dazu eines seiner Ethno-Hemden, erdnussbraun<br />

mit schwarzen Ornamenten.<br />

Ein fester Druck einer großen Maurerhand,<br />

ein hinreißendes Lächeln. Dann<br />

saß er im Sessel unter einem Gemälde,<br />

das indische Frauen im zinnoberroten<br />

Sari zeigt: Nelson Mandela, Präsident des<br />

neuen Südafrika, bereit zum Interview.<br />

Wir hatten uns schon früher getroffen.<br />

Aber diesmal war ich zunächst so befangen,<br />

dass mir die erste Frage nicht gleich<br />

einfiel. Also fragte Mandela:<br />

„Wie alt war eigentlich Adenauer, als<br />

er Bundeskanzler wurde?“<br />

„Ich glaube, er war über 70.“<br />

„Aha.“<br />

Mandela war damals, im September<br />

1995, 77 Jahre alt. Er suchte den Vergleich<br />

mit greisen Staatsmännern. Denn Skeptiker<br />

im Lande meinten, er sei zu alt für<br />

das kraftraubende Amt des Staatschefs.<br />

Er schaute versonnen durch die offene<br />

Flügeltür in den Garten, auf die Bougainvilleen,<br />

Frangipani und Flammenbäume,<br />

die in den prächtigsten Frühlingsfarben<br />

blühten. Eine seltsame Aura umgab diesen<br />

Menschen. Es war, als würde man ihn<br />

schon lange kennen, als wäre er einem<br />

nahe wie ein väterlicher Freund.<br />

Zugleich aber tat sich in diesem Kraftfeld<br />

eine ebenso merkwürdige Distanz<br />

auf, Mandela wirkte sternenfern und<br />

fremd. Ein Mythos, unwirklich, erstarrt<br />

zu einer Ikone der Geschichte.<br />

Nelson Rolihlahla Mandela, der erste<br />

schwarze Präsident Südafrikas, war in jenen<br />

Tagen auf dem Höhepunkt seiner<br />

Macht. Er wurde verehrt, ja vergöttert.<br />

Viele Landsleute nahmen ihn als Erlöser<br />

und Heilsbringer wahr, die Schwarzen,<br />

weil er sie aus der Knechtschaft in die<br />

Freiheit geführt hatte, die Weißen, weil<br />

er auf Rache verzichtete und ihnen die<br />

Hand zur Versöhnung reichte.<br />

Am Donnerstag vergangener Woche,<br />

kurz vor 21 Uhr Ortszeit, ist Nelson Mandela<br />

in seinem Haus im Johannesburger<br />

Viertel Houghton gestorben. Er wurde<br />

95 Jahre alt.<br />

Am Morgen danach strömten die Menschen<br />

in die St.-George’s-Kathedrale in<br />

Kapstadt. Jeden Freitag um sieben Uhr<br />

morgens findet hier die Frühmesse statt,<br />

normalerweise besuchen sie nur ein paar<br />

alte Leute. Doch diesmal war das Kirchenschiff<br />

voll, und den Gottesdienst<br />

zelebrierte der ehemalige Erzbischof<br />

Desmond Tutu persönlich.<br />

Die Gläubigen, Schwarze und Weiße<br />

bunt gemischt, repräsentierten einen<br />

Querschnitt der multiethnischen Regenbogennation,<br />

die sich Mandela immer erträumt<br />

hat. Sie beteten gemeinsam für<br />

ihren Ex-Präsidenten. Viele hatten Tränen<br />

in den Augen, als die Orgel die Natio -<br />

„Gut zu wissen, dass<br />

er auch nur ein Mensch<br />

ist“, sagte Erzbischof<br />

Desmond Tutu.<br />

nalhymne spielte: Nkosi sikelel’ iAfrika.<br />

Gott schütze Afrika.<br />

Die Südafrikaner hatten zwar täglich<br />

mit dem Tod Mandelas gerechnet, nachdem<br />

er im Sommer wochenlang im<br />

Krankenhaus gelegen und sich von einer<br />

schweren Lungenentzündung nie mehr<br />

richtig erholt hatte. Aber als sich die Nachricht<br />

von seinem endgültigen Abschied<br />

verbreitete, versank die Nation in Trauer.<br />

In den Postämtern, Banken, Behörden<br />

und Cafés der Kapstädter Innenstadt liefen<br />

ununterbrochen TV-Übertragungen,<br />

aus der ganzen Welt gingen Beileids -<br />

bekundungen ein, von Angela Merkel,<br />

Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon, Barack<br />

Obama. Der US-Präsident sagte:<br />

„Ich kann mir mein eigenes Leben ohne<br />

Mandelas Beispiel nicht vorstellen.“<br />

Die nationalen und internationalen<br />

Fernsehsender hatten sich seit Jahren auf<br />

den Tag X vorbereitet. Voraussichtlich<br />

werden an diesem Dienstag eine Milliarde<br />

Menschen rund um den Globus die Toten -<br />

feier verfolgen.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Mandela hatte in seinem Kampf gegen<br />

die Apartheid die größte Menschenrechtsbewegung<br />

aller Zeiten ausgelöst, die weltweite<br />

Kampagne gegen die Apartheid. Er<br />

beendete die Kolonialära in Afrika, indem<br />

er der schwarzen Bevölkerungsmehrheit<br />

ihre Bürgerrechte gab und zugleich<br />

das Land einte. Er war eine Projektionsfigur,<br />

in der viele Menschen ihre universellen<br />

Ideale erkannten, die Gleichheit<br />

aller, die Utopie von der Weltfamilie.<br />

Der Freiheitskämpfer wurde als archetypische<br />

Heldengestalt wahrgenommen,<br />

die das Böse bezwingt, noch klarer, noch<br />

reiner als die wenigen anderen Heroen<br />

der jüngeren Geschichte, John F. Kennedy<br />

etwa oder Che Guevara. Anthony<br />

Sampson, einer seiner Biografen, vergleicht<br />

ihn mit Odysseus: Mandela verkörpere<br />

den „universalen Mythos vom<br />

Triumph des menschlichen Willens“.<br />

Weltberühmt wurde Mandela am<br />

20. April 1964. Es war der Tag, an dem er<br />

eine fulminante Verteidigungsrede im<br />

Obersten Gerichtshof zu Pretoria hielt.<br />

Das weiße Regime hatte ihn und sieben<br />

Mitstreiter wegen Sabotage und Verschwörung<br />

angeklagt. Nach einem monate -<br />

langen Schauprozess drohte den Männern<br />

die Todesstrafe.<br />

Nelson Mandela war damals Staatsfeind<br />

Nummer eins. Er führte den Widerstand<br />

des African National Congress<br />

(ANC) gegen das weiße Rassenregime<br />

an, in dem Schwarze als Menschen zweiter<br />

Klasse unterdrückt und ausgebeutet<br />

wurden.<br />

Zunächst hatte sich die Befreiungsbewegung<br />

mit friedlichen Mitteln gewehrt.<br />

Mandela hatte sich intensiv mit „Satyagraha“<br />

beschäftigt, mit Mahatma Gandhis<br />

Prinzip des gewaltfreien Widerstands.<br />

Aber angesichts der Brutalität des Staatsapparats<br />

kam er bald zu der Überzeugung,<br />

dass Feuer nur mit Feuer bekämpft<br />

werden könne. „Sebatana ha se bokwe<br />

ka diatla“, lehrt ein Sprichwort seines Volkes,<br />

der Xhosa: Den Angriff eines Raubtieres<br />

kann man nicht mit bloßen Händen<br />

abwehren.<br />

Nach dem Massaker von Sharpeville<br />

im März 1960, bei dem die Polizei 69 Menschen<br />

erschossen hatte, die meisten von


ANNIE LEIBOVITZ / CONTACT PRESS IMAGES / AGENTUR FOCUS<br />

Volksheld Mandela 1990: „Ich habe das Ideal einer freien Gesellschaft hochgehalten – ich bin bereit, für dieses Ideal zu sterben“<br />

DER SPIEGEL 50/2013 85


86<br />

Titel<br />

Er zog die Mauer, die das<br />

weiße Regime um ihn<br />

errichtet hatte, unsichtbar<br />

immer höher.<br />

hinten, hatte der ANC einen militärischen<br />

Flügel, den „Speer der Nation“, gegründet.<br />

Und um dessen Anschläge ging es nun.<br />

Im Gerichtssaal wurde es stiller und stiller,<br />

je länger der Hauptangeklagte redete.<br />

Am Ende seiner vierstündigen Ausführungen<br />

legte Nelson Mandela das Manuskript<br />

zur Seite, fixierte den Richter und<br />

sprach die letzten Sätze frei.<br />

„Ich habe mein ganzes Leben dem<br />

Kampf des afrikanischen Volkes geweiht …<br />

Ich habe das Ideal einer demokratischen<br />

und freien Gesellschaft hochgehalten, in<br />

der alle Menschen friedlich und mit<br />

gleichen Möglichkeiten zusammenleben.<br />

Wenn es sein muss, Euer Ehren, bin ich<br />

auch bereit, für dieses Ideal zu sterben.“<br />

Der Richter sprach sieben der acht Angeklagten<br />

schuldig und verurteilte sie zu<br />

lebenslanger Kerkerhaft. Beamte führten<br />

Mandela ab. Er sollte erst zweieinhalb<br />

Jahrzehnte später wieder freikommen.<br />

Das Burenregime ließ ihn wegsperren<br />

auf Robben Island, einer Insel im Atlantik,<br />

auf die früher Leprakranke verbannt<br />

worden waren. Er war wie ein Aussätziger,<br />

den die Welt vergessen sollte. Selbst<br />

die Veröffentlichung von Fotos des „Terroristen“<br />

stand unter Strafe. Doch gerade<br />

dieses archaische Bilderverbot stärkte<br />

den Mythos Mandela. Er sollte zum berühmtesten<br />

Gefangenen des 20. Jahrhunderts<br />

werden.<br />

Am 11. Februar 1990, nach 10 000 Hafttagen,<br />

beugte sich das Apartheid-Regime<br />

internationalem Druck und ließ Mandela<br />

frei. „Ich hatte trotz meiner 71 Jahre das<br />

Gefühl, ein neues Leben zu beginnen.“<br />

In seiner ersten Ansprache vor 100000 Anhängern<br />

in Kapstadt versuchte er, sich<br />

selbst zu entmystifizieren: „Ich sprach<br />

von Herzen. Zuerst wollte ich den Leuten<br />

sagen, dass ich kein Messias war.“<br />

Südafrika stand nun ein Umbruch bevor,<br />

in dem beinahe ein Bürgerkrieg zwischen<br />

den Kräften der alten Ordnung und<br />

radikalen Schwarzen ausgebrochen wäre.<br />

In dieser kritischen Phase traf ich Nelson<br />

Mandela zum ersten Mal.<br />

In KwaXimba, einem armseligen Nest<br />

im Zululand, waren im März 1993 sechs<br />

Schulkinder massakriert worden, Opfer<br />

der Kämpfe zwischen Anhängern und<br />

Gegnern des ANC. Mandela fuhr in das<br />

abgelegene Dorf, um die Rachsüchtigen<br />

zu zügeln. Er kam ohne Leibgarde.<br />

Die dunkelblaue Limousine hielt auf<br />

einem Feld am Ortsrand. Ein hochgewachsener,<br />

kräftiger Mann stieg aus,<br />

strahlte und ging mit lockerem Schritt auf<br />

die wartende Menge zu. Ganz vorn stand<br />

ein kleiner Junge, der gerade ein Eis<br />

lutschte. Mandela nahm ihn lachend auf<br />

den Arm, der Knirps schaute den Fremden<br />

unverwandt an. Ein magischer Augenblick.<br />

Rundherum begannen Tausende Menschen<br />

zu tanzen: Toyi-toyi, den Stampftanz<br />

des Widerstands. Als Mandela die<br />

Faust hochreckte, schwoll der Jubel zum<br />

Orkan an.<br />

Erst dann begrüßte er die Lokalhonoratioren<br />

und Parteifreunde. Als er mir<br />

mit den Worten „How are you today,<br />

Sir?“ die Hand gab, hatte ich den Eindruck,<br />

dass mir für wenige Sekunden seine<br />

ganze Aufmerksamkeit zuteilwurde.<br />

Der Wahlkampf im April 1994 bot des<br />

Öfteren Gelegenheit, den ANC-Spitzenkandidaten<br />

in die hintersten Winkel der<br />

Republik zu begleiten. Die Stimmung<br />

war manchmal ausgelassen wie auf einer<br />

Klassenfahrt. Zur Begrüßung sagte Mandela:<br />

„Willkommen, ich frage mich, ob<br />

Sie wissen, wer ich bin.“ Oder: „Ich<br />

fürchte, Sie werden sich nicht an mich<br />

erinnern.“ Er kokettierte gern mit seinem<br />

Ruhm.<br />

Wo immer er hinkam, glühten die Menschen<br />

vor Glück. Wenn er durch eine<br />

Menge schritt, öffneten sich Schneisen.<br />

Manchmal trat Mandela betont aristokratisch<br />

auf, er war an einem traditionellen<br />

Königshof erzogen worden. Aber schon<br />

im nächsten Moment wirkte er wieder<br />

volksnah, ein Held zum Anfassen. In den<br />

Townships, den Ghettos der Schwarzen,<br />

wurde er nur Madiba gerufen, das ist der<br />

Name seines adligen Clans.<br />

Queen Elizabeth II., Bill Clinton, Michael<br />

Jackson, die mächtigsten Politiker<br />

und berühmtesten Künstler suchten Kontakt,<br />

um in Mandelas Glanz zu schillern.<br />

Man sprach von Madiba Magic, von seinem<br />

unwiderstehlichen Zauber.<br />

Gestalt und Gangart. Mienenspiel, Gestik<br />

und Redeweise. Die Augen. Die Falten<br />

und Fäuste. Das heitere, weise Lächeln.<br />

Immer wieder wurde Nelson Mandela beschrieben,<br />

dennoch weiß man über seine<br />

Persönlichkeit recht wenig.<br />

Was machte diesen Mann so furchtlos<br />

und unbeugsam? Woher nahm er die<br />

Zuversicht? Woher die Kraft zur Ver -<br />

söhnung? Warum haben ihn nicht Hass<br />

und Rachsucht zerfressen?<br />

Der Schlüssel zu seinem Charakter<br />

liegt auf Robben Island, in einer kahlen<br />

Zelle, zwei mal zwei Meter eng, mintgrün<br />

gestrichene Betonwände, Lüftungsschlitz,<br />

Fäkalienkübel, Holzschemel, dünne Filzmatte.<br />

Durch das vergitterte Fenster fällt<br />

der Blick auf den Vorplatz, wo die Gefangenen<br />

Steine klopfen mussten. Ein<br />

trostloser Ort, auch heute noch.<br />

Zwei einsame Fotos schmückten damals<br />

den Raum: ein Porträt seiner Frau<br />

Winnie und die Abbildung einer nackten<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

schwarzen Schönheit von den Andamanen-Inseln,<br />

die Mandela aus einem Magazin<br />

gerissen hatte. Die Liebe und die<br />

Lust, zwei Sehnsuchtsbilder.<br />

18 Jahre verbrachte er in dieser Zelle.<br />

Und dabei zog er die Mauer, die das weiße<br />

Regime um ihn errichtet hatte, unsichtbar<br />

immer höher. An ihr prallten alle Erniedrigungen<br />

und Beleidigungen ab. Die<br />

Mauer wuchs so hoch, dass niemand<br />

mehr darüberschauen konnte. In seiner<br />

Autobiografie „Der lange Weg zur Freiheit“<br />

deutet Mandela an, dass das, was<br />

dort zu sehen wäre, nicht so wichtig sei.<br />

Er trat hinter die Sache zurück, für die er<br />

sein Leben lang kämpfte: die Überwindung<br />

der Apartheid.<br />

„Ich tat es einfach, weil ich nicht anders<br />

konnte“, schreibt er in seinen Erinnerungen.<br />

„Es war diese Sehnsucht nach der<br />

Freiheit meines Volkes, in Würde und<br />

Selbstachtung zu leben, die mein Leben<br />

beseelte.“<br />

Mandela empfand den Rassismus der<br />

weißen Herrenmenschen als schwere<br />

Kränkung. Er demonstrierte selbst in<br />

brenzligen Situationen seinen unerschütterlichen<br />

Stolz. Bei einer Straßenkontrolle<br />

brüllte ihn ein hellhäutiger Polizist in<br />

Afrikaans an, der Sprache der Buren:<br />

„Kaffer, jy sal kak vandag – Nigger, heute<br />

wirst du scheißen!“ Mandela konterte<br />

kaltschnäuzig: „Ich brauche keinen Polizisten,<br />

der mir sagt, wann ich scheiße!“<br />

Der Häftling Nr. 466/64, mit 45 Jahren<br />

eingeliefert, mit 71 Jahren entlassen, überstand<br />

die Kerkerzeit, weil er nie an sich<br />

und seiner Mission zweifelte: „Wir betrachteten<br />

den Kampf im Gefängnis als<br />

Mikrokosmos des Kampfes insgesamt.“<br />

„Er war der Inbegriff unseres Widerstands“,<br />

erzählte mir Indres Naidoo einmal,<br />

der als Häftling Nr. 885/63 zehn Jahre<br />

auf der Insel verbrachte. „Wir haben<br />

uns an Madiba aufgerichtet.“ Er sei eine<br />

natürliche Autorität gewesen, bewundert,<br />

aber wegen seiner moralischen Unerbittlichkeit<br />

auch gefürchtet. Und dennoch<br />

reinigte er wie jeder andere Insasse die<br />

Nachttöpfe von Wärtern und Häftlingen,<br />

wenn er dran war.<br />

Das Gefängnisregime wandte alle Schikanen<br />

an, um ihn körperlich und seelisch<br />

zu brechen und, so Mandela, „jenen Funken<br />

auszutreten, der uns zu Menschen<br />

macht“. Als die Regierung erkannte, dass<br />

man diesen Baum nicht biegen kann, beschloss<br />

sie, ihn zu fällen. Ein Geheimagent<br />

sollte einen Ausbruch inszenieren,<br />

bei dem die Wachmänner den Flüchtigen<br />

hätten erschießen können. Die Gefangenen<br />

aber durchschauten den Plan.<br />

James Gregory, ein Wächter, der Mandelas<br />

Briefe zensierte, erinnert sich, dass<br />

der Gefangene niemals Schwäche gezeigt<br />

und mit stoischer Selbstdisziplin Trauer,<br />

Schmerz, Zorn, Angst oder Bitterkeit verborgen<br />

habe. Die seelische Panzerung<br />

war seine Überlebensstrategie. Eines


1 2 3<br />

V.L.: LEON MULLER / SIPA PRESS; THEMBA HADEBE / AP; WOLF P. PRANGE<br />

1 Mandela mit Pop-Idol Michael Jackson<br />

1999<br />

2 Bei einem Treffen 2008 überreicht<br />

Fifa-Präsident Sepp Blatter ihm ein<br />

Replikat der Weltmeister-Trophäe<br />

3 Willy Brandt trifft Mandela 1990<br />

bei dessen Besuch in Bonn<br />

10<br />

9<br />

FELIBERTO CARRIE / RAPHO / GAMMA / GETTY IMAGES (U.); GUIDO BERGMANN / BUNDESREGIERUNG / REUTERS (O.)<br />

4 Bischof Desmond Tutu überreicht<br />

ihm 1998 den Abschlussbericht der<br />

Wahrheitskommission<br />

5 Mandela empfängt Rockstar Bono<br />

2002 in seinem Haus in Johannesburg<br />

6 Amerikas First Lady Michelle Obama<br />

besucht 2011 den Greis<br />

7 Südafrikas Präsident Jacob Zuma<br />

holt sich 2010 Rat bei seinem Amtsvorgänger<br />

8 Mit Queen Elizabeth 1996 in<br />

London<br />

9 Kuba besucht der Freiheitskämpfer<br />

1991. Dort empfängt ihn der „Máximo<br />

Líder“ Fidel Castro<br />

10 Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

trifft Mandela 2007 in Johannesburg<br />

4<br />

5<br />

JUDA NGWENYA / AFP (U.); WALTER DHLADHLA / AFP (O.)<br />

8<br />

7<br />

6<br />

V.L.: PHOTOSHOT / PICTURE-ALLIANCE / DPA; PICTURE-ALLIANCE / DPA;<br />

ABACA / FACE TO FACE<br />

DER SPIEGEL 50/2013 87


Tages aber schaute er in den Abgrund<br />

der Verzweiflung: Im Juli 1969, er trauerte<br />

noch um seine verstorbene Mutter, kam<br />

sein erster Sohn Madiba Thembekile bei<br />

einem Verkehrsunfall ums Leben. Mandela<br />

durfte natürlich nicht zur Beerdigung.<br />

In der Rückschau auf sein Leben<br />

klagt er: „In meinem Herzen blieb eine<br />

innere Leere zurück, die sich nie mehr<br />

ausfüllen lässt.“<br />

Im Widerstand hatte Mandela gelernt,<br />

in militärischen Kategorien zu denken.<br />

Er studierte Schriften, die mit Revolution<br />

und Kriegsführung zu tun hatten: Clause -<br />

witz, Mao, Che Guevara. Eines seiner<br />

Lieblingsbücher war „Die Kunst des Krieges“<br />

des chinesischen Feldherrn Sun Tzi.<br />

Darin findet sich einer seiner Leitgedanken:<br />

„Wenn du den Feind und dich selbst<br />

kennst, brauchst du das Ergebnis von hundert<br />

Schlachten nicht zu fürchten.“<br />

Mandela kannte seine Feinde genau.<br />

Er versetzte sich in sie hinein, er analysierte<br />

ihre Mentalität, ihre Sitten, und er<br />

lernte Afrikaans, die Sprache der Unterdrücker.<br />

Du musst deinen Gegner genau<br />

lesen – diesen taktischen Grundsatz hatte<br />

er bereits als junger Amateurboxer in Soweto<br />

verinnerlicht.<br />

Seine ärgsten Widersacher, die maßgeblichen<br />

Politiker und Generäle der<br />

Apartheid, kapitulierten schließlich vor<br />

diesem Zeitgenossen, der ihnen so kenntnisreich<br />

und hoheitsvoll, ja gebieterisch<br />

entgegentrat und dennoch eine entwaffnende<br />

Menschlichkeit ausstrahlte.<br />

Schon als kleiner Junge habe er beim<br />

Stockkampf gelernt, seine Gegner zu bezwingen,<br />

ohne sie zu entehren, schreibt<br />

Mandela in seinen Memoiren. Er wurde<br />

1918 im Gebiet Transkei geboren, man<br />

gab ihm den Namen Rolihlahla. Das bedeutet<br />

wörtlich „der, der am Zweig eines<br />

Baumes reißt“ und im übertragenen Sinn<br />

„Unruhestifter“.<br />

Die Erziehung an einem traditionellen<br />

Königshof prägte sein aristokratisches<br />

Selbstwertgefühl, er fühlt sich schon früh<br />

zum Herrscher geboren. Das spürten<br />

auch die weißen Gefängniswärter, die ihn<br />

anfänglich als „Kaffer“ beschimpft hatten.<br />

Am Ende redeten sie ihn mit „Mister<br />

Mandela“ an. Selbst Piet Badenhorst, der<br />

brutale Kommandant der Haftanstalt,<br />

streckte vor ihm die Waffen. „Er benahm<br />

sich wie eine Bestie, weil er für bestia -<br />

Titel<br />

lisches Verhalten belohnt wurde“, so Mandela.<br />

Auch Badenhorst habe einen „anständigen<br />

Kern“ gehabt. Mandela sprach<br />

vom „Schimmer der Humanität“ in jedem<br />

Menschen.<br />

Er sah auch die Weißen, die Rassisten,<br />

die Ausbeuter, die Folterknechte als Opfer<br />

einer verblendeten Ideologie: „Der<br />

Unterdrücker und der Unterdrückte sind<br />

gleichermaßen ihrer Freiheit beraubt.“<br />

Irgendwann in den Kerkerjahren führten<br />

die Gefangenen die „Antigone“ des<br />

Sophokles auf, ein Lehrstück über den<br />

Aufstand des Individuums gegen den ungerechten<br />

Staat: Der weise König Kreon<br />

wird im Ringen um Thebens Thron zum<br />

Tyrannen. Antigone lehnt sich gegen den<br />

Herrscher auf.<br />

„Antigone widersetzt sich, weil es ein<br />

höheres Gesetz als das des Staates gibt“,<br />

„Der Sport hat die Kraft,<br />

die Welt zu<br />

verändern. Er ist mächtiger<br />

als Regierungen.“<br />

schrieb Mandela, „sie war das Symbol<br />

für unseren Kampf.“ Die ungebildeten<br />

Wärter auf Robben Island begriffen nicht,<br />

dass die Häftlinge hinter dem Paravent<br />

der griechischen Tragödie über das System<br />

der Apartheid richteten. Mandela<br />

spielte den Kreon – eine Rolle über die<br />

Fehlbarkeit der Macht.<br />

Im wirklichen Staat erprobte er sich<br />

erstmals Ostern 1993. Nach der Ermordung<br />

des Kommunistenführers Chris<br />

Hani durch einen rechtsextremen Weißen<br />

waren in den Townships Unruhen ausgebrochen.<br />

Hunderttausende Schwarze riefen<br />

nach Rache, die ersten Weißen wurden<br />

gelyncht. Frederik Willem de Klerk,<br />

der letzte weiße Präsident Südafrikas,<br />

wirkte konfus und ratlos.<br />

Am Abend trat ANC-Chef Mandela im<br />

Fernsehen vor die Nation. „Heute spreche<br />

ich aus tiefstem Herzen zu jedem einzelnen<br />

Südafrikaner, schwarzen und weißen“,<br />

sagte er. Die Zeit sei gekommen,<br />

um zusammenzuhalten gegen die Kräfte,<br />

die die Freiheit zerstören wollen.<br />

Es war eine der eindringlichsten Reden,<br />

die Mandela je gehalten hat. Es gelang<br />

ihm, den drohenden Rassenkrieg abzuwenden.<br />

An diesem Abend wurde er zum<br />

wahren Präsidenten des neuen Südafrika,<br />

noch ehe ein einziger Wähler für ihn gestimmt<br />

hatte.<br />

Im April 1994, in der Endphase des<br />

Wahlkampfs, hatte Mandela seinen letzten<br />

großen Auftritt in KwaMashu, einer<br />

gewaltgeplagten Township bei Durban.<br />

Auf dem Weg dorthin geriet ich in eine<br />

Radarfalle.<br />

„Wohin so eilig?“, fragte der Polizist,<br />

ein Bure.<br />

„Zu Präsident Mandela“, sagte ich.<br />

„Was sagen Sie da? Mandela? Präsident?“<br />

Dann öffnete er ganz langsam sein<br />

Halfter, zog die Dienstpistole – und reichte<br />

sie mir durch das Autofenster. „Hier.<br />

Nehmen Sie die Waffe. Erledigen Sie die<br />

Sache für mich!“<br />

Das Ergebnis der ersten freien Wahlen<br />

in der Geschichte des Landes, an denen<br />

alle Bürger teilnehmen durften, stand von<br />

vornherein fest: Am 27. April 1994 bescherte<br />

die schwarze Bevölkerungsmehrheit<br />

Nelson Mandela einen überwältigenden<br />

Sieg. Die letzte Bastion der Kolo -<br />

nialherrschaft in Afrika war gefallen.<br />

Nelson Mandela vermied es aber, als<br />

Triumphator aufzutreten. Er beschwor<br />

vielmehr den Traum von der Regen -<br />

bogennation, von einer multiethnischen<br />

Gesellschaft, in der niemand mehr diskriminiert<br />

werden dürfe. Auch nicht die Weißen.<br />

Dennoch blieben viele Weiße zunächst<br />

argwöhnisch.<br />

Schon bald aber merkten sie, dass die<br />

neue Regierung sogar ihren im Unrechtssystem<br />

angehäuften Wohlstand und ihre<br />

Privilegien unangetastet ließ. Und weil<br />

ihnen die Versöhnungspolitik des Präsidenten<br />

auch noch das Gefühl der Schuld<br />

abnahm, betrachteten ihn viele Weiße<br />

bald gar als eine Art Schutzpatron.<br />

„Wat is verby, is verby“, sagte Mandela<br />

am Tage seiner Amtseinführung in Afrikaans:<br />

Vorbei ist vorbei.<br />

Schließlich konnte er sogar viele jener<br />

Weißen für sich einnehmen, die in Südafrika<br />

„verkrampt“ genannt werden:<br />

Ewiggestrige, die davon überzeugt waren,<br />

dass ihr schönes Land untergehen<br />

werde, sobald die Schwarzen die Macht<br />

übernehmen würden. Wieder schlug er<br />

den ehemaligen Feind mit den eigenen<br />

Nelson Mandela<br />

1939/1940<br />

18. Juli 1918<br />

Mandela wird<br />

in der südafrikanischen<br />

Kap-Provinz<br />

geboren.<br />

Anwalt<br />

Mandela<br />

Jurastudium<br />

an der Universität<br />

in Fort Hare<br />

Mai 1948<br />

Knapper Wahlsieg der<br />

Nationalen Partei.<br />

Beginn der Apartheid-<br />

Politik<br />

1944<br />

Beitritt zum Afrikanischen<br />

Nationalkongress (ANC)<br />

1952<br />

Mandela und<br />

Oliver Tambo eröffnen<br />

als erste<br />

Schwarze in<br />

Johannesburg<br />

eine Anwaltskanzlei.<br />

1956<br />

Prozessbeginn<br />

gegen Mandela<br />

und weitere 155<br />

Angeklagte wegen<br />

Hochverrats – alle<br />

werden 1961 freigesprochen.<br />

21. März 1960<br />

Beim Sharpeville-Massaker<br />

werden 69 Demonstranten<br />

erschossen.<br />

Anschließendes<br />

ANC-Verbot<br />

88<br />

1920<br />

AP<br />

1940<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Hobby-Boxer Mandela (l.) 1957<br />

BOB GOSANI / BAILEY'S<br />

31. Mai 1961<br />

Die südafrikanische<br />

Republik<br />

wird ausgerufen.<br />

Juni 1964<br />

Mandela wird im sogenannten<br />

Rivonia-Prozess<br />

zu lebenslanger Haft auf<br />

Robben Island verurteilt.<br />

Februar 1990<br />

Haftentlassung nach mehr<br />

als 27 Jahren<br />

A. TANNENBAUM<br />

1993<br />

Eine Übergangsverfassung wird verabschiedet;<br />

Mandela und Präsident<br />

Frederik Willem de Klerk erhalten<br />

gemeinsam den Friedensnobelpreis.<br />

1994 bis 1999<br />

Nach klarem Wahlsieg des ANC<br />

wird Nelson Mandela erster<br />

Präsident des neuen Südafrika.<br />

1970 Mit Ehefrau Winnie<br />

2000<br />

AP<br />

Mit Staatspräsident de Klerk<br />

2004<br />

Rückzug aus<br />

dem öffentlichen<br />

Leben<br />

5. Dezember<br />

2013<br />

Mandela stirbt<br />

im Alter von<br />

95 Jahren.<br />

89


Titel<br />

Am Ende des Regenbogens<br />

Wie der Afrikanische Nationalkongress das Erbe Nelson Mandelas ruiniert<br />

Schon als Säugling sollen den kleinen<br />

Siener van Rensburg seltsame<br />

Träume heimgesucht haben, Träume<br />

von der Zukunft seines Volkes. 1864<br />

in der heutigen Nordwest-Provinz als<br />

Sohn von Buren geboren, sah van Rensburg<br />

angeblich Katastrophen und Glücksfälle<br />

voraus – er wurde ein afrikanischer<br />

Nostradamus.<br />

Noch heute hat van Rensburg Anhänger,<br />

die aus seinen rund 700 überlieferten<br />

Visionen Erstaunliches meinen her -<br />

auslesen zu können: So soll er 1920 für<br />

die Zeit nach dem Tod Nelson Mandelas<br />

eine „Nag van die lang messe“ vorhergesagt<br />

haben, eine Nacht der langen<br />

Messer, in der die Schwarzen die Buren<br />

auslöschen würden.<br />

Eine solche Racheaktion hatten viele<br />

Weiße schon gleich nach dem Ende der<br />

Apartheid befürchtet. Heute glauben<br />

nur noch ausgesprochene Rassisten an<br />

so etwas, schreibt der Publizist und<br />

weiße Anti-Apartheid-Kämpfer Max du<br />

Preez. Außerdem: „Längst haben Klassen-Ressentiments<br />

die Rassen-Ressen -<br />

timents abgelöst.“<br />

Fast 20 Jahre nachdem Nelson Mandelas<br />

Afrikanischer Nationalkongress<br />

ANC die Vorherrschaft der Weißen gebrochen<br />

hat, kämpft das Land mit enormen<br />

wirtschaftlichen Problemen, verstärkt<br />

durch Korruption und Machtmissbrauch.<br />

Der Abstand zwischen den<br />

Ärmsten und den Reichsten in Süd -<br />

afrika ist extrem geworden, Dritte Welt<br />

und Erste existieren hier Tür an Tür.<br />

Experten schätzen die Arbeitslosigkeit<br />

auf mehr als 40 Prozent, Tendenz<br />

steigend. Und Schuld trägt vor allem<br />

der Nationalkongress, er regiert noch<br />

immer unangefochten, ist aber auf<br />

dem besten Weg, das politische Erbe<br />

seines berühmtesten Mitglieds zu verspielen.<br />

Die Partei Mandelas ist moralisch am<br />

Ende. Wie tief gespalten ihr Land mittlerweile<br />

ist, zeigte sich am deutlichsten,<br />

als im August 2012 schwarze Polizisten<br />

protestierende schwarze Arbeiter in<br />

der Marikana-Mine zusammenschossen.<br />

Das Gemetzel mit 36 Toten weckte Erinnerungen<br />

an die Massaker des Apartheid-Regimes.<br />

Bis jetzt hat die von der<br />

Regierung eingesetzte Untersuchungskommission<br />

nicht geklärt, wie es zu dem<br />

Blutvergießen kommen konnte.<br />

„Längst haben Klassen-<br />

Ressentiments<br />

die Rassen-Ressentiments<br />

abgelöst.“<br />

Heute gilt das Kürzel ANC als Syn -<br />

onym für schlechte Amtsführung, für<br />

Vetternwirtschaft, Inkompetenz, Bestechlichkeit.<br />

Besonders innerhalb der<br />

„born free“-Generation – unter jenen<br />

jungen Menschen also, die die Zeit der<br />

Rassentrennung nicht miterlebt haben –<br />

verblasst der historische Nimbus des<br />

Sieges über die weißen Buren.<br />

Mandelas Nachfolger als Präsident,<br />

Jacob Zuma, steht wie kaum ein anderer<br />

für das neue, schlechte Image des<br />

ANC: Seine Privatvilla ließ er mit Hubschrauberlandeplatz,<br />

Tennis-Courts und<br />

anderem Luxus ausstatten, für umgerechnet<br />

bis zu 25 Millionen Euro aus<br />

Steuer geldern.<br />

Schon vor seinem Amtsantritt stand<br />

Zuma, der einst mit Mandela auf Robben<br />

Island in Haft gesessen hatte, wegen<br />

Vergewaltigung vor Gericht. Ein<br />

Korruptionsverfahren wurde gerade<br />

noch rechtzeitig vor der Wahl eingestellt.<br />

Schlagzeilen machte auch Zumas<br />

Empfehlung, dass man nach dem Geschlechtsverkehr<br />

nur heiß duschen<br />

müsse, um einer HIV-Infektion vorzubeugen.<br />

Trotz allem wählte der ANC Zuma<br />

vor einem Jahr mit großer Mehrheit<br />

wieder zum Vorsitzenden. Damit ist ihm<br />

eine zweite Amtszeit auch als Präsident<br />

des Landes praktisch sicher. Innerparteiliche<br />

Gegner wie den Vizepräsidenten<br />

Kgalema Motlanthe hat Zuma kaltgestellt,<br />

seine Gefolgsleute beherrschen<br />

den Sicherheitsapparat und wichtige<br />

Stellen in der Justiz.<br />

Bis heute hat der Nationalkongress<br />

den Sprung in die moderne Demokratie<br />

nicht geschafft, er agiert immer noch<br />

wie eine konspirative Kampforganisa -<br />

tion: Nach außen demonstriert er Einheit,<br />

im Innern kennt die Partei keinen<br />

offenen Wettstreit der Argumente. Wer<br />

auf Wahllisten landet, wer ein lukratives<br />

Amt erhält – all das kungeln die Parteioberen<br />

aus.<br />

ANC-Leute haben sich Schlüssel -<br />

positionen im Staatsapparat und vor<br />

allem in der Wirtschaft gesichert. Das<br />

ANC-Programm des „Black Economic<br />

Empowerment“ war einst dafür gedacht,<br />

den Schwarzen Teilhabe am nationalen<br />

Reichtum zu sichern. Wo immer beispielsweise<br />

Schürflizenzen oder öffentliche<br />

Aufträge zu vergeben waren, sollten<br />

Firmen von Schwarzen bevorzugt<br />

werden. Doch in Wirklichkeit wurde dadurch<br />

eine kleine Schicht treuer Parteigänger<br />

unermesslich reich. In manchen<br />

Provinzen würden mehr als 70 Prozent<br />

der öffentlichen Aufträge von ANC-Poli -<br />

tikern an Verwandte oder Freunde vergeben,<br />

schätzen Experten.<br />

Immer wieder decken Zeitungen neue<br />

Skandale auf. Deshalb brachte der ANC<br />

unlängst ein Gesetz „zum Schutz staatlicher<br />

Informationen“ durch das Parlament.<br />

Dessen Paragrafen sind so elastisch gestaltet,<br />

dass kritische Berichterstattung<br />

damit unmöglich gemacht werden kann.<br />

Aus Protest erschienen Zeitungen wie<br />

der eigentlich loyale „Sowetan“ mit geschwärzten<br />

Seiten. Das Gesetz wurde dar -<br />

aufhin wenigstens teilweise entschärft.<br />

Eine Schmach wurde der Regierungspartei<br />

im März in der Zentralafrikanischen<br />

Republik beigebracht, als Rebellen<br />

dort den korrupten Präsidenten<br />

François Bozizé stürzten: Auf dem Weg<br />

zu dessen Palast töteten sie 13 südafrikanische<br />

Soldaten. Eine Tragödie, aber<br />

auch ein Skandal – denn was hatten<br />

Südafrikas Kämpfer dort zu suchen?<br />

Die Soldaten seien auf einer Ausbildungsmission<br />

gewesen, hieß es offiziell<br />

vom ANC. Im Übrigen solle es die Presse<br />

unterlassen, „auf die Gräber der toten<br />

Soldaten zu urinieren“ – etwa indem<br />

sie spekuliere, ob der ANC die Männer<br />

nicht doch eher entsandt haben könnte,<br />

um die Geschäftsinteressen einiger<br />

schwarzer Unternehmer in dem rohstoffreichen<br />

Land zu sichern.<br />

Noch gewinnt der ANC trotz solcher<br />

Vorwürfe landesweite Wahlen, doch<br />

kann er sich seiner Mehrheiten immer<br />

weniger sicher sein: Die Demokratische<br />

Allianz unter Führung der Weißen<br />

Helen Zille hat ihm die Provinz um<br />

Kapstadt bereits abgejagt.<br />

Mamphela Ramphele, eine populäre<br />

Armenärztin, hat angekündigt, 2014 mit<br />

der neuen Formation Agang – „Wir bau-<br />

GAMMA / STUDIO X (O.); ALON SKUY / POLARIS / LAIF (U.)<br />

90<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Polizeieinsatz gegen Schwarze in Johannesburg 1984: Rassistische Diktatur<br />

Massaker in der Marikana-Mine 2012: Ein tiefgespaltenes Land<br />

en auf“ – gegen den ANC antreten zu<br />

wollen. Die 65-Jährige war einst die<br />

Freundin des Anti-Apartheid-Aktivisten<br />

Steve Biko. 1977 hatten Polizisten Biko<br />

totgeprü gelt – und damit die ganze Welt<br />

gegen die rassistische Diktatur Südafrikas<br />

aufgebracht.<br />

„Die Großartigkeit unserer Gesellschaft<br />

wird von massivem Regierungsversagen<br />

untergraben“, sagt Ramphele:<br />

„Unser Land hat die moralische Autorität<br />

und den internationalen Respekt<br />

verloren, den es genoss, als es eine Demokratie<br />

wurde.“<br />

Im Mai wandte sich noch ein weiterer<br />

Weggefährte Mandelas von der<br />

Partei ab – und das schmerzt beson -<br />

ders, denn der Mann ist selbst eine<br />

Legende, eine Autorität. „Ich werde<br />

den ANC nicht wiederwählen“, sagte<br />

Desmond Tutu, Südafrikas schwarzer<br />

Erzbischof.<br />

JAN PUHL<br />

Waffen. Er gewann die Schlacht auf dem<br />

Rugbyfeld, beim Weltcup in Südafrika.<br />

„Der Sport hat die Kraft, die Welt zu<br />

verändern … Er ist mächtiger als Regierungen,<br />

wenn es darum geht, Rassenschranken<br />

niederzureißen“, erklärte Mandela.<br />

Er hatte sich auf das Endspiel gegen<br />

Neuseeland am 24. Juni 1995 vorbereitet,<br />

denn er wusste, dass ihm an diesem Tag<br />

die Herzen aller Landsleute zufliegen<br />

könnten. So kam es dann auch.<br />

Das Rugby-Team von Südafrika wurde<br />

Weltmeister. In den Townships jubelten<br />

Millionen Schwarze den einst so verhassten<br />

weißen Nationalspielern zu – und die<br />

Weißen im Stadion feierten zum ersten<br />

Mal frenetisch ihren Präsidenten, der im<br />

gold-grünen Trikot der Nationalmannschaft<br />

die Trophäe überreichte.<br />

Mandelas Nachsicht mit Tätern der<br />

Apartheid verstörte allerdings seine radikalen<br />

Weggefährten, und sein Schmusekurs<br />

nach dem Machtwechsel ging auch<br />

gemäßigten Freunden manchmal zu weit.<br />

Er lud sogar Percy Yutar zum Essen ein,<br />

den Staatsanwalt, der 1964 seinen Tod<br />

durch den Strang gefordert hatte.<br />

Mandela sagte mir bei unserem Gespräch<br />

in Genadendal: „Wir brauchen die<br />

Weißen für den Wiederaufbau und wollen<br />

ihnen die Unsicherheit nehmen.“ Er<br />

machte deutlich, wie prekär die Lage vor<br />

der Wende war. „Wir mussten unbedingt<br />

verhindern, dass die rechten Weißen einen<br />

Bürgerkrieg entfachen. Es ist daher<br />

von höchster Wichtigkeit, die Frage der<br />

Versöhnung immer wieder zu betonen.“<br />

Vermutlich gibt es nur einen Menschen,<br />

dem der alte Mann nicht verzeihen konnte<br />

– es war ausgerechnet jener Mensch,<br />

den er einst abgöttisch geliebt hatte: seine<br />

Ehefrau Winnie Madikizela-Mandela. Im<br />

Allmachtswahn hatte sie in der blutigsten<br />

Phase des Widerstandskampfs zur Lynchjustiz<br />

aufgerufen und eine Schlägerbande<br />

um sich geschart.<br />

Mandela warf Winnie „mangelhafte<br />

Urteilskraft“ vor, hielt aber an ihrer Unschuld<br />

fest. Erst beim Scheidungsprozess<br />

im März 1996 bekannte er: „Selbst wenn<br />

das gesamte Universum versuchen würde,<br />

mich zu überreden, mich mit der Beklagten<br />

zu versöhnen, ich würde es nicht.“<br />

War die größte Liebe seines Lebens am<br />

Ende die bitterste Enttäuschung? Winnie<br />

Mandela hatte einige Affären, als ihr<br />

Mann im Gefängnis saß. Nach seiner Freilassung<br />

schliefen sie in getrennten Betten,<br />

hieß es. Mandela hat nicht mehr über dieses<br />

Thema geredet, auch in seiner Autobiografie<br />

schweigt er darüber. Beim Begräbnis<br />

seines Freundes Oliver Tambo<br />

machte er eine Andeutung über seinen<br />

Gram. „Wir bluten aus unsichtbaren Wunden,<br />

die so schwer zu heilen sind.“ Bei<br />

solchen Gelegenheiten wirkte sein Lächeln<br />

wie eine Maske.<br />

Bis heute gibt es keinen kritischen<br />

Rückblick auf das Leben Mandelas, die<br />

DER SPIEGEL 50/2013 91


Titel<br />

BEN CURTIS / AP / DPA<br />

Mandela-Anhänger am vergangenen Freitag in Soweto: Er wollte begraben werden in dem Dorf seiner Ahnen<br />

meisten Biografen bewunderten ihn.<br />

Aber der Heilige, Unfehlbare, den manche<br />

aus ihm machten, war Mandela nie.<br />

Er konnte dickköpfig, selbstgerecht<br />

und uneinsichtig sein, auch von Wutausbrüchen<br />

berichten Mitarbeiter. Mandela<br />

war in jungen Jahren ein Feuerkopf, aufbrausend,<br />

wildentschlossen, kompromisslos,<br />

gelegentlich brachen diese Charakterzüge<br />

noch im alten Mann durch.<br />

Unvergesslich, wie er tobte, als Präsident<br />

de Klerk die Demokratieverhandlungen<br />

beinahe zum Scheitern brachte. Mandela<br />

konnte den kantigen Buren ohnehin<br />

nie leiden und empfand es offenbar als<br />

Zumutung, dass er den Friedensnobelpreis<br />

1993 mit ihm teilen musste.<br />

Mandela ließ zudem Leute kalt fallen,<br />

die nicht seine Ansichten goutierten. Er<br />

sprach gern von kollektiver Führung, regierte<br />

aber eigensinnig. Seine Genossen<br />

haben oft kritisiert, dass er etwa die Aufnahme<br />

von Geheimverhandlungen mit<br />

dem Apartheid-Regime im Juli 1986 ohne<br />

Absprache mit der ANC-Führung beschlossen<br />

hatte.<br />

Mandela verwendete dann gern das<br />

Sinnbild vom guten Hirten: „Es gibt<br />

Zeiten, in denen ein Führer der Herde<br />

vor angehen muss.“<br />

Manchmal zweifelte er sogar an den<br />

Fähigkeiten der Afrikaner: Als er in ein<br />

92<br />

Flugzeug der Ethiopian Air einsteigen<br />

sollte, das von einem schwarzen Piloten<br />

gesteuert wurde, überkam ihn ein Gefühl<br />

der Panik.<br />

Der Superstar war empfänglich für<br />

Schmeicheleien und liebte glamouröse<br />

Ereignisse, bei denen er im Mittelpunkt<br />

stand. „Es ist gut zu wissen, dass er auch<br />

nur ein Mensch ist“, sagte Erzbischof<br />

Tutu einmal.<br />

Am Ende seiner Amtszeit im Juni 1999<br />

setzte Präsident Mandela ein letztes politisches<br />

Zeichen gegen die autoritären<br />

Herrscher Afrikas, die üblicherweise bis<br />

zum Tod nicht von der Macht lassen: Er<br />

trat aus freien Stücken zurück.<br />

Am Abend seines Lebens wollte Nelson<br />

Mandela nur noch seine Ruhe haben.<br />

Die Massenhysterie, der Heiligenkult, es<br />

sei ihm alles zu viel geworden, sagen<br />

Vertraute. Er saß im Garten seiner Villa<br />

in Johannesburg, las, spielte mit den<br />

Enkelkindern und schaute den Luftballons<br />

nach, die sie in die Wolken steigen<br />

ließen.<br />

Oft zog es ihn in sein Heimatdorf in<br />

der Provinz Ostkap, nach Qunu: eine<br />

Streusiedlung, ringsum grüne Hügel – das<br />

alte Afrika, in dem es bis heute keine<br />

Zäune gibt.<br />

Beim Anblick dieser elegischen Landschaft<br />

ahnt man, wie frei er sich als Junge<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

gefühlt haben muss. Er hütete das Vieh,<br />

jagte Vögel mit der Steinschleuder, und<br />

da ist auch noch die spiegelglatte Rinne<br />

in einem Felsen, durch die er und seine<br />

Spielkameraden zu Tal rutschten.<br />

In Qunu beginnt und endet Nelson<br />

Mandelas Lebenskreis, hier wollte er<br />

begraben werden, in dem Dorf seiner<br />

Ahnen.<br />

Dieser Mann hat das Wunder vollbracht,<br />

sein hasszerfressenes Land gewaltfrei<br />

von der Apartheid in die Demokratie<br />

zu führen und den Rassenwahn zu<br />

überwinden. Er war für die Südafrikaner,<br />

was Simón Bolívar für die Latein -<br />

amerikaner, Mahatma Gandhi für die<br />

Inder oder Martin Luther King für die<br />

Afroamerikaner war – ein Freiheitskämpfer,<br />

der wie eine Lichtgestalt aus der<br />

Finsternis kam. Wie Barack Obama<br />

schenkte er den Schwarzen in aller Welt<br />

Selbstwertgefühl: Schaut her, wir können<br />

es auch.<br />

„Ich nähere mich meinem Ende“, sagte<br />

er vor Jahren schon, „ich möchte bis in<br />

alle Ewigkeit mit einem Lächeln auf meinem<br />

Gesicht schlafen.“<br />

Video: Eine Begegnung mit<br />

Nelson Mandela<br />

spiegel.de/app502013mandela<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Ausland<br />

UKRAINE<br />

Die Machtprobe<br />

Die Opposition mit dem Boxer Vitali Klitschko heizt den Aufstand gegen die Regierung an,<br />

hat aber keinen Plan dafür, wie es weitergehen soll.<br />

Die Führung in Kiew gibt sich siegesgewiss und verschärft den Ton.<br />

GENYA SAVILOV / AFP<br />

Demonstrantin am vorigen Montag auf<br />

dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew


Die Hilflosigkeit spricht aus jedem<br />

Satz, den Außenminister Guido<br />

Westerwelle in der Lobby des Kiewer<br />

Fünf-Sterne-Hotels Hyatt sagt. Dass<br />

die „Tür nach Europa“ für die Ukraine<br />

„offen steht“, dass es „gemeinsame europäische<br />

Werte“ gebe, dass die Ukraine<br />

„den Deutschen nicht gleichgültig“ sei, ja<br />

„kulturell und historisch“ zum alten Kontinent<br />

gehöre. Dann ruft er den Ukrainern<br />

ein „Thank you so much“ zu und<br />

geht auf die Straße.<br />

Es ist bereits dunkel, Westerwelle<br />

nimmt den Weg vom Michaels-Kloster<br />

hin unter in Richtung des Maidan, des Unabhängigkeitsplatzes.<br />

Rechts neben ihm<br />

geht Vitali Klitschko von der Oppositions -<br />

partei Udar, links Arsenij Jazenjuk, einst<br />

ebenfalls Außenminister, jetzt amtierender<br />

Vorsitzender der Vaterlandspartei – am -<br />

tierend deshalb, weil Parteichefin Julija<br />

Timoschenko im Gefängnis sitzt. Der<br />

Bruder Wladimir Klitschko ist auch dabei.<br />

„Es war ein gutes Gespräch mit Westerwelle“,<br />

sagt er. „Aber was soll dabei<br />

her auskommen?“<br />

„Klitschko, Klitschko“, rufen die Leute<br />

auf dem Bürgersteig den beiden Boxer-<br />

Riesen zu, aber den kleinen Mann daneben,<br />

der die Hände in den Taschen seines<br />

schwarzen Mantels vergraben hat, kennen<br />

sie nicht. „Ich war jüngst erst hier, da<br />

schien alles noch gut“, sagt Westerwelle<br />

zu Vitali Klitschko. „Jetzt sind wir überrascht.“<br />

Mehr Ehrlichkeit ist kaum möglich.<br />

In dem Moment schieben Leibwächter<br />

und Fotografen den Minister in das Gedränge<br />

auf dem Platz im Zentrum Kiews,<br />

auf dem in diesen Tagen wieder einmal<br />

Geschichte geschrieben wird.<br />

Es ist der fünfte Tag des Aufstands gegen<br />

Präsident Wiktor Janukowitsch. Er begann,<br />

als der Staatschef vom EU-Gipfel<br />

aus Vilnius zurückkam, ohne den fertig<br />

ausgearbeiteten Assoziierungsvertrag mit<br />

der EU unterschrieben zu haben. Die<br />

Ukraine wolle sich wieder Russland zuwenden,<br />

kündigte Janukowitsch an. Gleich<br />

danach zogen die ersten Demon stranten,<br />

die sich nun um ihre Zukunft betrogen<br />

fühlen, auf den Maidan; sie nennen den<br />

Platz jetzt „Euro-Maidan“.<br />

Fünf Tage, das reicht selbst für eine<br />

spontane Revolution, um sich einzurichten.<br />

Vor der besetzten Stadtverwaltung<br />

stehen Toilettenhäuschen in Reih und<br />

Glied, Barrikaden sind aufgeschichtet, in<br />

Zelten empfangen Parlamentarier der<br />

Opposition das Volk zum Gespräch, auf<br />

Unterschriftenlisten wird der Rücktritt<br />

Janukowitschs und seiner Regierung gefordert.<br />

An die 20000 Protestler sind es jetzt,<br />

nicht mehr Hunderttausende, es ist ein<br />

Werktag. Sie haben die blau-gelbe Staatsflagge<br />

um ihre Schultern gewickelt; es ist<br />

kalt, in den Krankenwagen am Rande des<br />

Platzes werden bereits erfrorene Zehen<br />

behandelt. Ein Mann aus dem westukrainischen<br />

Lemberg bietet aus Kartons her -<br />

aus indischen Hustensaft an: „Ich hab das<br />

privat bezahlt“, sagt er, „wir müssen ja<br />

durchhalten.“ Über dem Platz liegt<br />

der beißende Rauch der Holzfeuer und<br />

Gulaschkanonen – der Geruch aller post -<br />

sowjetischen Revolutionen.<br />

Die Leute sind gutgelaunt, sie rufen<br />

„Ruhm der Ukraine“ und „Ohne Janukowitsch<br />

nach Europa!“. Aber bis nach<br />

Europa ist es für sie noch weit. Premierminister<br />

Nikolai Asarow hat gerade erklärt,<br />

dass er viele der Protestler auf dem<br />

Maidan für „Nazis, Extremisten und Kriminelle“<br />

hält.<br />

Der Ton der ukrainischen Führung hat<br />

sich verschärft – ein Zeichen dafür, dass<br />

sich Janukowitsch und seine Leute bereits<br />

als Sieger wähnen. Die Polizei hat erklärt,<br />

sie gebe den Demonstranten noch bis<br />

Dienstag Zeit, um die Blockade der Regierungsgebäude<br />

zu beenden. „Wir sind<br />

stark genug, um uns zu wehren“, bekräftigt<br />

der Premier.<br />

Asarow macht im Moment die<br />

Schmutzarbeit, Staatschef Janukowitsch<br />

ist in China unterwegs. Der Premier droht<br />

und blufft, gerade erst hat er die ausländischen<br />

Botschafter belogen. Kiews Polizeichef<br />

sei wegen der gewaltsamen Räumung<br />

des Maidan am vorvorigen Wochenende<br />

entlassen worden, hat er ihnen<br />

bei einem Treffen gesagt. Das Innen -<br />

ministerium dementierte.<br />

Janukowitsch hat den brutalen Polizeieinsatz<br />

verurteilt, bei dem die Spezial -<br />

einheit „Berkut“ am frühen Samstag -<br />

morgen die auf dem Platz verbliebenen<br />

Demonstranten zusammenknüppelte. Aber<br />

Verantwortung übernommen oder sich<br />

gar entschuldigt hat er nicht. Er fühlt sich<br />

wieder sicherer als in den Tagen zuvor.<br />

Denn für kurze Zeit war im Regierungslager<br />

Panik ausgebrochen. Dass 200000<br />

Menschen wegen der Absage an die EU<br />

auf die Straße gehen würden, das hatte<br />

dort niemand erwartet. Der Kanzleichef<br />

des Präsidenten reichte den Rücktritt ein.<br />

Und in Janukowitschs Partei waberten<br />

Gerüchte, 20 Abgeordnete wollten zur<br />

Opposition überlaufen. Es kam aber anders<br />

– weil die Machthaber schnell die<br />

Schwächen der Opposition erkannten<br />

und nutzten.<br />

„Zu versuchen, die Regierung mit Hilfe<br />

eines Misstrauensantrags im Parlament<br />

zu stürzen – das war ein Fehler“, sagt<br />

Mustafa Nayem. „In diesem Moment verstand<br />

die andere Seite: Die Leute um<br />

Klitschko und Jazenjuk wollen keinen<br />

Krieg. So haben sie ihre eigene Partei<br />

schnell wieder in den Griff bekommen.“<br />

Die Opposition erreichte nicht mal die<br />

erwarteten 195 Stimmen.<br />

Dass 200 000 Menschen wegen der Absage an die EU<br />

auf die Straße gehen würden, hatte niemand erwartet.<br />

Nayem ist 32 Jahre alt, Ukrainer mit<br />

afghanischen Wurzeln und einer der bekanntesten<br />

Fernsehmoderatoren des Landes.<br />

Zusammen mit sieben prominenten<br />

Kollegen hat er Hromadske.tv gegründet,<br />

einen Internetsender, der nun auch live<br />

von den Schauplätzen der Unruhen berichtet.<br />

„Es ist das erste Mal, dass wir Ukrainer<br />

für etwas demonstrieren“, sagt Nayem:<br />

„Nämlich für die Annäherung an die EU,<br />

nicht gegen irgendetwas. Aber ich habe<br />

ein total ungutes Gefühl: Die Opposition<br />

hat die Planke extrem hoch gelegt, sie ist<br />

zur Geisel der Straße geworden.“<br />

Dann erzählt der Mann mit der Glatze<br />

und dem Kinnbart, wie sie neulich mit<br />

Klitschko und Jazenjuk zusammensaßen<br />

und die beiden selbst nicht dar an geglaubt<br />

hätten, dass nach der fehlgeschlagenen<br />

Orangen Revolution noch einmal<br />

Hunderttausende auf die Straße gehen<br />

würden. „Nun stehen sie da und haben<br />

Angst vor den Demonstranten, sie wollen<br />

keine Verantwortung übernehmen. Statt<br />

Wichtige Ereignisse in der Ukraine<br />

1991<br />

Unabhängigkeit<br />

In einem Referendum<br />

bestätigen<br />

92 Prozent der<br />

Wähler den Parlamentsentscheid<br />

zum Austritt aus<br />

der Sowjetunion.<br />

2004<br />

Orange Revolution<br />

Nach wochenlangen friedlichen<br />

Protesten gegen<br />

Wahlfälschung gewinnt<br />

Wiktor Juschtschenko<br />

die wiederholte Präsidentenwahl<br />

gegen den moskautreuen<br />

Wiktor Janukowitsch.<br />

2009<br />

Boykott<br />

Im Januar stoppt Moskau<br />

alle Gaslieferungen in die<br />

Ukraine.<br />

Östliche Partnerschaft<br />

Im Mai bietet die EU<br />

der Ukraine eine engere<br />

Zusammenarbeit an.<br />

2010<br />

Präsidentenwahl<br />

Wiktor Janukowitsch<br />

gewinnt<br />

in einer Stichwahl<br />

gegen<br />

die Ministerpräsidentin<br />

Julija<br />

Timoschenko.<br />

2011<br />

Timoschenko in Haft<br />

Ein Gericht verurteilt<br />

die Ex-Regierungschefin<br />

wegen Amtsmissbrauchs<br />

bei<br />

einem Gasgeschäft<br />

mit Russland zu<br />

sieben Jahren Haft.<br />

2013<br />

Großdemos<br />

Seit Ende November<br />

protestieren Hunderttausende<br />

gegen die<br />

Entscheidung der<br />

Regierung, das Assoziierungsabkommen<br />

mit der EU abzulehnen.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 95


alle Brücken hinter sich abzubrennen,<br />

sind sie ins Parlament gegangen.“ Das Janukowitsch-Lager<br />

habe schnell gemerkt,<br />

dass die Opposition keine Ahnung habe,<br />

wie sie weiter agieren solle. „Die alte Regierung<br />

mit legalen Mitteln abzulösen ist<br />

bis Februar nicht mehr möglich, erst dann<br />

könnte man das Misstrauensvotum wiederholen.<br />

Es bleibt also nur die Straße.“<br />

Nach außen hin lassen sich Klitschko<br />

und seine Mitstreiter nicht anmerken,<br />

dass sie in der neuen Schlacht um die<br />

Ukraine nach Punkten zurückliegen. Je<br />

lauter die Leute auf dem Maidan nach einem<br />

Plan für die nächsten Tage rufen,<br />

desto martialischer geben sich die Oppositionsführer.<br />

Im „Stab des nationalen Widerstands“<br />

im Gewerkschaftshaus kündigen<br />

sie an, den Aufstand auf den Osten<br />

und Süden der Ukraine auszuweiten, wo<br />

das Gros der Janukowitsch-Anhänger<br />

lebt. Sie wollen jetzt auch das Innen -<br />

ministerium, die Gerichte und den Sicherheitsrat<br />

blockieren. „Wir haben Janukowitsch<br />

noch zwei Tage gegeben. Tritt die<br />

Regierung dann immer noch nicht zurück,<br />

legen wir auch die letzten Staatsorgane<br />

lahm“, sagt ein Sprecher der Timoschenko-Partei.<br />

Die Frage ist nur, wie viele Leute in<br />

der zweiten Woche der Revolution noch<br />

auf dem Maidan sein werden. „Viele Forderungen<br />

der Opposition sind unrealistisch“,<br />

sagt Nayem. „Die Männer an ihrer<br />

Spitze haben keine politische Erfahrung,<br />

und sie misstrauen einander. Klitschko<br />

lebt nur von seiner Popularität und der<br />

Schlagkraft seiner Fäuste, ihm fehlen der<br />

Wille zur Macht und die Entschlossenheit<br />

einer Julija Timoschenko.“<br />

Am vergangenen Freitag, Staatschef<br />

Janukowitsch hat nach seiner China-Reise<br />

noch einen Abstecher zu Wladimir Putin<br />

in Sotschi gemacht, kommt auf dem<br />

Maidan Ratlosigkeit auf. Niemand weiß<br />

so richtig, wie es weitergehen soll. Es war<br />

ein Fehler, schreiben inzwischen selbst<br />

die mit der Opposition sympathisierenden<br />

Zeitungen, dass diese sich nicht von<br />

Beginn an auf einen einzigen Anführer<br />

einigte: Die Regierung behauptet nun,<br />

keinen Ansprechpartner zu haben. Sie<br />

wolle mit der Gegenseite auch nicht reden,<br />

solange diese Ultimaten stelle.<br />

So wird der Aufstand wohl mit einem<br />

Scheinkompromiss enden. Janukowitsch<br />

könnte zu einem Runden Tisch einladen,<br />

unter Vermittlung des Europarats. Er lässt<br />

aber schon jetzt ausrichten, dass er so etwas<br />

nur tun werde, wenn die Regierungsgebäude<br />

nicht mehr blockiert würden.<br />

Die Opposition müsste also alle ihre Anhänger<br />

nach Hause schicken – ihre einzige<br />

scharfe Waffe.<br />

CHRISTIAN NEEF<br />

96<br />

Video:<br />

Die Wütenden<br />

spiegel.de/app502013ukraine<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

PIOTR MALECKI / DER SPIEGEL<br />

Vermittler Kwaśniewski: „Der Westen unterschätzt Russlands Entschlossenheit“<br />

SPIEGEL-GESPRÄCH<br />

„Brüssel war naiv“<br />

Aleksander Kwaśniewski hat mit Kiew über die Assoziierung<br />

verhandelt. Jetzt kritisiert er die Fehler der EU – und<br />

Regierungschef Janukowitsch, der sein Volk ignorierte.<br />

Kwaśniewski, 59, empfängt in seinem Warschauer<br />

Büro, aber er ist auf dem Sprung<br />

nach Brüssel. Zehn Jahre lang – von 1995<br />

bis 2005 – war er Polens Präsident, er hat<br />

sein Land in die Nato und die EU geführt.<br />

Nun spricht er im Auftrag der EU mit der<br />

Ukraine; gemeinsam mit Pat Cox, dem<br />

früheren Präsidenten des Europäischen<br />

Parlaments, sollte Kwaś niewski helfen,<br />

das zweitgrößte Land des Kontinents auf<br />

eine Assoziierung mit der Union vor -<br />

zubereiten. Seit die ukrainische Führung<br />

das Abkommen Ende November platzen<br />

ließ, blockieren Hunderttausende das Zentrum<br />

Kiews. Man werde die Proeuropäer<br />

in der Ukraine nicht allein lassen, hat<br />

Kwaśniewski gesagt – und sich damit den<br />

Vorwurf aus Moskau eingehandelt, er rufe<br />

die Opposition zum Staatsstreich auf.<br />

SPIEGEL: Herr Kwaśniewski, wer in diesen<br />

Tagen nach Kiew kommt, erlebt ein Déjàvu:<br />

Wieder ist Dezember, wieder sind<br />

Zehntausende auf der Straße, wieder auf<br />

dem Maidan – wie 2004 bei der Orange<br />

Revolution. Warum kommt die Ukraine<br />

nicht voran?<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Kwaśniewski: Ich war 2004 auch in Kiew,<br />

und allein in den vergangenen Monaten<br />

27-mal. Ich erlebe ebenfalls ein Déjà-vu.<br />

Die Ukrainer haben in diesen neun Jahren<br />

viele Chancen verpasst. Statt Reformen<br />

durchzuführen und sich Europa anzunähern,<br />

haben der damalige Präsident Wiktor<br />

Juschtschenko und seine Regierungschefin<br />

Julija Timoschenko viel Energie in internen<br />

Kämpfen vergeudet. Dann kam Wiktor<br />

Janukowitsch an die Macht, und auch<br />

das schaffte keine grundsätzlichen Reformen<br />

in Richtung Demokratie und beim<br />

Umbau der Wirtschaft. Deswegen ist die<br />

Gesellschaft enttäuscht und tief gespalten.<br />

SPIEGEL: 2004 ging es um Wahlfälschung,<br />

mit deren Hilfe Janukowitsch ins Amt gehievt<br />

werden sollte. Diesmal dagegen<br />

geht es um Geopolitik: Der Assoziierungsvertrag<br />

mit der EU wurde von Moskau<br />

und Russlandtreuen in der Ukraine<br />

als Kriegserklärung verstanden.<br />

Kwaśniewski: Diesmal ist die Situation<br />

schwieriger als 2004. Jetzt hat Janukowitsch<br />

ein legales Mandat als Präsident<br />

und die Regierung eine gültige Parlamentsmehrheit.<br />

Doch die Frage, ob man


Ausland<br />

sich der EU annähern soll, spaltet die<br />

Ukrainer: Eine Mehrheit ist dafür, 15 bis<br />

20 Prozent sind für eine Union mit Russland,<br />

der Rest hat keine Meinung. Die Entscheidung,<br />

die Janukowitsch kurz vor<br />

dem EU-Gipfel in Vilnius fällte, nämlich<br />

Brüssel einen Korb zu geben, kam überraschend.<br />

Er hat sie seinem Volk nicht erklärt<br />

und offenbar geglaubt, die Leute<br />

würden das nicht so wichtig nehmen.<br />

SPIEGEL: Dabei ging es um nicht weniger<br />

als den künftigen Kurs der Ukraine.<br />

Kwaśniewski: Deswegen sind die Reaktionen<br />

jetzt so konträr. Die Leute in Sewa -<br />

stopol wollen, dass Russland militärisch<br />

eingreift, denn auf der Krim ist die Mehrheit<br />

der Bevölkerung russisch. Und dann<br />

gibt es Orte wie Lemberg, die proeuropäischste<br />

Stadt des Landes, wo der Bürgermeister<br />

sich nicht mehr der Zentralmacht<br />

unterordnen will. Nach 22 Jahren<br />

Unabhängigkeit, nach all den Frustrationen<br />

ist die Frage, ob Kiew sich Russland<br />

oder der EU zuwendet, alles andere als<br />

abstrakt, vor allem für junge Leute.<br />

SPIEGEL: Die Regierung unterstellt den proeuropäischen<br />

Demonstranten auf dem<br />

Maidan, sie würden einen Putsch vorbereiten.<br />

Da fehlt nicht viel zur Eskalation.<br />

Kwaśniewski: Nachdem der Misstrauensantrag<br />

gegen die Regierung gescheitert<br />

ist, könnte es passieren, dass die Protestler<br />

müde werden. Und das wiederum<br />

könnte das Signal für die Ordnungskräfte<br />

sein, Gewalt anzuwenden.<br />

SPIEGEL: Wie würde die EU reagieren?<br />

Kwaśniewski: Sie muss beide Seiten dazu<br />

bringen, auf Gewalt zu verzichten, und<br />

auf Gespräche zwischen Regierung und<br />

Opposition drängen. Sie muss sagen, dass<br />

die Tür zur EU offen bleibt, auch die Möglichkeit<br />

der Rückkehr an den Verhandlungstisch.<br />

Die Fachleute müssen sich dar -<br />

über unterhalten, wie der Ukraine finanziell<br />

zu helfen ist. Und nicht zu vergessen:<br />

Die EU muss klarstellen, dass russischer<br />

Druck wie zuletzt inakzeptabel ist.<br />

SPIEGEL: Hat man in Brüssel wirklich geglaubt,<br />

Russland werde stillhalten, wenn<br />

die EU mit der Ukraine ein als „historisch“<br />

bezeichnetes Abkommen schließt,<br />

das Kiew enger an den Westen bindet?<br />

Kwaśniewski: Ich erinnere mich noch an<br />

eine Parlamentsrede von Janukowitsch,<br />

in der er sagte, die Integration mit Europa<br />

habe Priorität, auch die Modernisierung<br />

der Wirtschaft sei nur in enger Abstimmung<br />

mit Europa möglich. Bis auf die<br />

Kommunisten haben das damals alle Parteien<br />

im Parlament unterstützt. Und es<br />

gab keinen Grund, diese Bekenntnisse<br />

nicht zu glauben. Aber dann kam es<br />

plötzlich zu einem Meinungsumschwung.<br />

SPIEGEL: Weil Russland den Knüppel aus<br />

dem Sack holte und ukrainische Waren<br />

nicht mehr ins Land ließ? Diese Reaktion<br />

hatte die EU offenbar nicht erwartet.<br />

Kwaśniewski: Ja, Brüssel war naiv. Aus Putins<br />

Blickwinkel ist die Ukraine ein wichtiger<br />

Faktor, vielleicht der wichtigste.<br />

Wenn es sein Ziel ist, eine eigene euroasiatische<br />

Union aufzubauen, kommt er<br />

nicht ohne die Ukraine aus. Der Westen<br />

unterschätzt die russische Entschlossenheit,<br />

er unterschätzt aber auch das, was<br />

sich jetzt in Kiew abspielt.<br />

SPIEGEL: Sie und Pat Cox haben in den vergangenen<br />

Wochen fast ununterbrochen mit<br />

Janukowitsch gesprochen. Wie war das?<br />

Kwaśniewski: Wir haben uns 20-mal mit<br />

dem Präsidenten getroffen, dazu immer<br />

auch mit Regierung und Opposition,<br />

selbst Julija Timoschenko haben wir besucht.<br />

Mindestens 50 Stunden lang haben<br />

wir mit Janukowitsch geredet. Wir haben<br />

auf die Liberalisierung des Wahlrechts,<br />

der Justiz und eine Reform der Staats -<br />

anwaltschaft gepocht, die nach sowjetischem<br />

Muster arbeitet. Und wir haben<br />

erreicht, dass drei der prominentesten<br />

poli tischen Häftlinge freigelassen wurden:<br />

die ehemaligen Minister für Verteidigung,<br />

Inneres und Umwelt.<br />

SPIEGEL: Das waren für Sie Zeichen, dass<br />

Janukowitsch es ernst meint mit der EU?<br />

Kwaśniewski: Er schien es wirklich ernst<br />

zu meinen. Aber im Sommer, als die Russen<br />

die ukrainischen Exporte zu blockieren<br />

begannen, änderte sich die Atmosphäre.<br />

Da verstärkte sich der Druck vieler<br />

Parlamentarier der Regierungspartei, die<br />

mit Firmen liiert sind. Sie produzieren<br />

Die ukrainische Führung denkt nur kurzfristig,<br />

um die nächsten Monate zu überleben.<br />

Protestführer Klitschko in Kiew: „Die Mehrheit ist für eine Annäherung an die EU“<br />

ALEXEY FURMAN / DPA<br />

für den russischen Markt – sie flehten:<br />

Rettet uns! Sie hatten kein Geld mehr,<br />

die Leute verloren ihre Arbeit. Damals<br />

begannen die Gespräche Putins mit Janukowitsch,<br />

die immer länger wurden.<br />

SPIEGEL: Was für ein Mann ist Janukowitsch?<br />

Viele sagen, intellektuell sei er<br />

eher schlicht.<br />

Kwaśniewski: Janukowitsch kennt die<br />

ukrainische Politik genau, im Guten wie<br />

im Schlechten. Er ist nach der Niederlage<br />

bei der Wahl 2004 nicht in Depressionen<br />

verfallen, sondern hat 2010 ein Comeback<br />

geschafft. Er ist ein harter Mann und ein<br />

harter Politiker. Seine Erfahrungen haben<br />

aus ihm einen misstrauischen Menschen<br />

gemacht. Kommunikation liegt ihm nicht,<br />

er ist eher ein Technokrat. Und seine Familie<br />

hat erheblich an Einfluss gewonnen.<br />

SPIEGEL: Hat er eine politische Vision?<br />

Kwaśniewski: Vor kurzem hätte ich noch<br />

gesagt: Ja. Aber in den letzten Tagen<br />

habe ich erkannt, dass die ukrainische<br />

Führung keine Strategie hat, nur kurzfristig<br />

denkt, um die nächsten Monate zu<br />

überleben. Deswegen hat sie die Reaktion<br />

der Öffentlichkeit nicht vorhergesehen.<br />

Sie glaubt, dass diese nicht spontan ist,<br />

sondern vom Ausland organisiert.<br />

SPIEGEL: Hat Janukowitsch die EU genutzt,<br />

um sich gegenüber Putin zu profilieren,<br />

von dem er so oft gedemütigt worden ist?<br />

Und um mehr Geld zu fordern?<br />

Kwaśniewski: Natürlich hat er versucht, unsere<br />

Gespräche zu instrumentalisieren, um<br />

mehr von Russland zu ergattern. Um den<br />

Russen zu sagen: Hört mal, Europa will<br />

uns, also müsst ihr noch was drauf legen.<br />

So denken ukrainische Politiker seit 22<br />

Jahren. Die Politik der Balance zwischen<br />

dem Westen und dem Osten hat ein Vakuum<br />

geschaffen. Deswegen steht die Wirtschaft<br />

so schlecht da, deswegen vertraut<br />

niemand dem Staat, deswegen wandern<br />

Millionen Menschen aus. Die Ukrainer hö-<br />

DER SPIEGEL 50/2013 97


Beschmiertes Janukowitsch-Plakat in Kiew: „Ein harter Mann, ein harter Politiker“<br />

ren das nicht gern, aber: Wir Polen sind<br />

ein gutes Beispiel dafür, dass sich der Weg<br />

nach Westen lohnt. Wir sind vor 20 Jahren<br />

mit etwa dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen<br />

gestartet wie die Ukraine. Heute ist<br />

es dreimal so hoch.<br />

SPIEGEL: Hat die EU geglaubt, wenn sie<br />

Janukowitsch dazu brächte, ein paar libe -<br />

rale Gesetze umzusetzen, sei Kiew vom<br />

Westkurs nicht mehr abzubringen?<br />

Kwaśniewski: Die Ukraine ist kein ideales<br />

Land und wird das auch noch lange nicht<br />

sein. Aber wir haben die Chance, sie an<br />

unsere Standards heranzuführen. Wenn<br />

wir das nicht machen, wird Kiew dem<br />

russischen und dem weißrussischen Modell<br />

folgen. Die Ukraine stand Hunderte<br />

Jahre unter starkem Einfluss Russlands,<br />

die Menschen hier haben den Kommunismus<br />

in einer sehr brutalen Form erlebt.<br />

Und es gibt jede Menge historische und<br />

geopolitische Besonderheiten und Konflikte.<br />

Nur eine europäische Strategie hilft<br />

der Ukraine aus der Krise heraus. Zum<br />

Glück hat das Land eine sehr lebendige<br />

Zivilgesellschaft, die in die EU will.<br />

SPIEGEL: Im Umgang mit dem Osten wirkt<br />

die EU ziemlich weltfremd. In Russland<br />

hat der Westen an der neuen Verfassung<br />

mitgeschrieben – trotzdem werden Urteile<br />

weiter per Telefon gefällt. Und in Weißrussland<br />

hatte die EU sich 2010 mit Machthaber<br />

Lukaschenko auf eine halbwegs<br />

faire Präsidentenwahl geeinigt – und noch<br />

am Wahlabend wurden die Oppositionsführer<br />

verhaftet.<br />

Kwaśniewski: Wir haben eine unterschiedliche<br />

Mentalität. Im Westen ist Demokratie<br />

ein Wert an sich, im Osten ist der zentrale<br />

Wert die Macht. Dort sagen sich die<br />

Führer: Wenn Demokratie unserem Ziel<br />

dient, wenden wir sie an. Wenn nicht, bedienen<br />

wir uns anderer Verfahren.<br />

SPIEGEL: Warum hat die EU die Freilassung<br />

von Julija Timoschenko zur Bedingung<br />

gemacht?<br />

* Mit den Redakteuren Jan Puhl und Christian Neef.<br />

98<br />

Kwaśniewski: Cox und ich wurden gebeten,<br />

eine Lösung des Falls zu finden, damit<br />

der Assoziierungsvertrag unterschrieben<br />

werden kann. Das hätte auch eine teilweise<br />

Begnadigung sein können, eine<br />

Senkung der Haftzeit auf zwei Jahre. Janukowitsch<br />

selbst hat dann vorgeschlagen,<br />

sie zur Behandlung ausreisen zu lassen.<br />

Seine Anhänger möchten aber, dass<br />

sie die volle Strafe absitzt.<br />

SPIEGEL: War es ein Fehler, auf ihrer Freilassung<br />

zu bestehen? Für Janukowitsch<br />

bedeutete das einen Gesichtsverlust.<br />

Kwaśniewski: Aus heutiger Sicht vielleicht.<br />

Zu einem früheren Zeitpunkt wäre Timoschenkos<br />

Ausreise für eine Operation<br />

noch eher möglich gewesen. Janukowitsch<br />

hätte nicht das Gesicht verloren,<br />

aber damit unter Beweis gestellt, dass er<br />

zu einer humanitären Geste fähig ist. Es<br />

ging ja um eine medizinische Behandlung<br />

und eben nicht um eine Rehabilitierung<br />

Timoschenkos. Sie weiter gefangen zu<br />

halten ist politisch viel kostspieliger.<br />

SPIEGEL: Das andere Problem, das zum<br />

Schluss unlösbar schien, war das Geld.<br />

Die 610 Millionen Euro Hilfe, die die EU<br />

bot, waren lächerlich. Die Ukraine steckt<br />

in einer tiefen Zahlungskrise.<br />

Kwaśniewski beim SPIEGEL-Gespräch*<br />

„50 Stunden mit Janukowitsch geredet“<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

CARSTEN KOALL / GETTY IMAGES<br />

PIOTR MALECKI / DER SPIEGEL<br />

Kwaśniewski: Ja, die Ukraine braucht blitzschnelle<br />

Hilfe. Es gab Gespräche mit dem<br />

IWF, nur hat der sehr harte Bedingungen<br />

gestellt – die Ukraine sollte etwa die stark<br />

subventionierten Gaspreise heraufsetzen.<br />

Das ist kurz vor Wahlen politischer<br />

Selbstmord. Die EU hätte über kurz -<br />

fristige Hilfen nachdenken und sanftere<br />

Lösungen vom IWF fordern müssen. Das<br />

passiert leider erst jetzt.<br />

SPIEGEL: Inzwischen bietet Moskau den<br />

Ukrainern etliche Milliarden Euro an.<br />

Kwaśniewski: Dieses Versprechen liegt bislang<br />

nirgendwo konkret auf dem Tisch.<br />

Noch immer zahlt die Ukraine den höchsten<br />

Preis für russisches Gas in Europa.<br />

SPIEGEL: War die Drohung, Russland würde<br />

die Ukraine nach Unterzeichnung des<br />

Assoziierungsabkommens in den Staatsbankrott<br />

treiben, ein Bluff?<br />

Kwaśniewski: Ich fürchte, das war real.<br />

SPIEGEL: Dann hätte die EU konsequenter<br />

handeln müssen. Nahm sie das Assoziierungsabkommen<br />

selbst nicht so ernst?<br />

Kwaśniewski: Nein, das wollten wirklich<br />

alle. Die zentrale Schwäche dieses Dokuments<br />

ist: Wir reden mit keinem Wort<br />

von einer Mitgliedsperspektive, weil sich<br />

Europa da nicht einig ist.<br />

SPIEGEL: Wozu braucht die EU ein Land, das<br />

ein Flickenteppich mit riesigen sozialen Unterschieden<br />

ist, wo es kein einheitliches nationales<br />

Interesse gibt? Wir haben schon den<br />

Beitritt Rumäniens und Bulgariens bereut.<br />

Wir müssen eine gemeinsame Politik gegenüber<br />

Russland betreiben – die haben wir im Moment nicht.<br />

Kwaśniewski: Solidarität ist das Fundament<br />

Europas. Wenn wir das in Frage<br />

stellen, haben wir keine Chance. Wozu<br />

nationaler Egoismus führen kann, wissen<br />

wir in Europa nur zu gut. Wir sollten den<br />

Plan beibehalten, die östlichen Länder in<br />

den Orbit unserer Werte zu führen.<br />

SPIEGEL: Wladimir Putin feiert gegenüber<br />

dem Westen einen Triumph nach dem anderen<br />

– Snowden, Syrien, nun die Ukraine.<br />

Er hält den Westen für einen Papiertiger,<br />

die EU sowieso. Wie können wir je<br />

wieder einen normalen Dialog mit Russland<br />

hinbekommen?<br />

Kwaśniewski: Die Erfolge stärken auf kurze<br />

Sicht die Position Putins, bremsen<br />

aber die nötigen Reformen. Russland<br />

braucht eine Modernisierung, ökonomisch,<br />

gesellschaftlich, institutionell. Und<br />

die ist ohne den Westen kaum machbar.<br />

Aber Putin muss Europa als ernsthaften<br />

Partner empfinden, schließlich ist<br />

die EU keine historische Episode wie die<br />

Sowjetunion. Wir müssen unsere inneren<br />

Probleme lösen – und eine gemeinsame<br />

Politik gegenüber Russland betreiben.<br />

Die haben wir im Moment überhaupt<br />

nicht.<br />

SPIEGEL: Herr Kwaśniewski, wir danken<br />

Ihnen für dieses Gespräch.


Ausland<br />

Demonstrierende Regierungsgegner in Bangkok: „Ich repräsentiere das Volk, und das Volk erhebt sich“<br />

WILL BAXTER / DER SPIEGEL<br />

Allmählich werde er zu alt für diese<br />

Art von Spielchen, die tückisch<br />

sind und keineswegs ungefährlich,<br />

sagt Sunai Chulpongsatorn, er sagt es<br />

halb im Scherz, aber nur halb. Der Abgeordnete<br />

der Regierungspartei ist 62 Jahre<br />

alt, er ist erschöpft von den vergangenen<br />

Tagen und Wochen; er ist grau im Gesicht,<br />

seine Stimme ein Krächzen.<br />

Das Fernsehstudio liegt in der Innenstadt<br />

von Bangkok, und Sunai kommt<br />

gerade aus dem Aufnahmeraum 1, wo er<br />

seine Polit-Sendung eingespielt hat.<br />

„Asia Update“ heißt sie, eine Million Zuschauer<br />

sehen sie täglich, sagt er. Und<br />

nachdem er eben eine Stunde lang geredet<br />

hat, in den Tagen zuvor ununterbrochen<br />

debattiert, Parteimitgliedern gedroht<br />

und um ihre Hilfe gebettelt hat, ist<br />

jetzt seine Stimme weg. Er wankt in den<br />

Ruheraum neben dem Studio, lässt sich<br />

auf ein Sofa fallen. „Nur einen Schluck<br />

Wasser“, flüstert er, „dann erkläre ich,<br />

100<br />

THAILAND<br />

Revolte rückwärts<br />

Der Abgeordnete Sunai und der Protestführer Suthep<br />

stehen für die zwei Lager, die darum ringen, wer<br />

künftig das Sagen hat: gewählte Populisten oder Putschisten.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

was hier passiert, es ist leider alles etwas<br />

kompliziert.“<br />

Nein, er fühlt sich nicht zu alt für diese<br />

Spielchen, er liebt sie, je gefährlicher, desto<br />

besser – das findet Suthep Thaugsuban,<br />

64 Jahre alt. Er hat seinen Parlamentssitz<br />

und sein Amt als Vizechef der Demokratischen<br />

Partei aufgegeben; er setzt alles<br />

auf diese eine Karte, auf diese Bewegung,<br />

deren Tribun und Anführer er ist. Sein<br />

Ziel: die Regierung stürzen. Seine Mission:<br />

Thailand retten. So sieht er es jedenfalls.<br />

Am Tag zuvor erschien ein kritischer<br />

Artikel über ihn auf der Titelseite der<br />

„Bangkok Post“. Na und? Immerhin, die<br />

Titelseite! Er sitzt in einem Plastikstuhl<br />

und lächelt. „Es wird ein bisschen dauern“,<br />

sagt er, „aber wir sind auf bestem<br />

Wege, jeden Tag haben wir mehr Zulauf.“<br />

Sutheps Leute haben das Regierungsviertel<br />

besetzt, Tausende Menschen kampieren<br />

jetzt hier, hocken oder liegen auf<br />

Matten in den Fluren oder in der mit weißem<br />

Marmor ausgelegten Halle. Sie haben<br />

die wichtigsten Ministerien gekapert,<br />

dazu 19 Büros in der Provinz, die großen<br />

Zufahrtsstraßen um das Demokratie- und<br />

das Sieges-Monument. Ende Oktober, als<br />

er die Bewegung ins Leben rief, habe er<br />

nur 40000 Anhänger gehabt, sagt er. Jetzt<br />

seien es 2 Millionen.<br />

Suthep hat sein Hauptquartier im Keller<br />

von Gebäudekomplex B aufgeschlagen;<br />

Räume, Computer, Telefone hat ein<br />

Reisebüro zur Verfügung gestellt. Drei<br />

Reihen schwarzer Security-Leute schützen<br />

ihn, man wird nach Waffen durchsucht,<br />

bevor man zu Suthep gelangt, der<br />

behaglich auf seinem Stuhl sitzt, mit der<br />

Trillerpfeife spielt, die um seinen Hals<br />

hängt, und lächelt. „Das ist alles ganz einfach“,<br />

sagt er. „Ich repräsentiere das Volk,<br />

und das Volk erhebt sich.“<br />

Sunai und Suthep – zwei Männer, zwei<br />

Geschichten, zwei Ansichten dieses Aufstands.<br />

Sunai, der Abgeordnete, fühlt sich<br />

als Gejagter, obwohl seine von den Rothemden<br />

unterstützte Partei die Regierung<br />

stellt. Und Suthep, der Anführer der<br />

Gelbhemden, der, obwohl ohne Amt, mit<br />

Verve seine Rolle als Jäger spielt. Beide<br />

kennen einander seit Jahren, sie saßen<br />

Jahrzehnte zusammen im Parlament –<br />

und sie sind Todfeinde.<br />

Seit Wochen treiben Suthep, der Mann<br />

mit der Trillerpfeife, und sein Demokratisches<br />

Reformkomitee des Volkes die Regierungspartei<br />

„Für Thailand“ vor sich


102<br />

Ausland<br />

Kontrahenten Sunai, Suthep: Neuwahl? Oh, keinesfalls!<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

her. Der Versuch, ein Amnestiegesetz<br />

durchzusetzen, das Ex-Premier Thaksin<br />

Shinawatra die Rückkehr aus dem Exil<br />

ermöglicht sowie Straffreiheit garantiert<br />

hätte, war der willkommene Anlass für<br />

die Revolte.<br />

Die Gelbhemden haben Chaos geschürt,<br />

haben Straßenkämpfe mit Tränengas<br />

und Wasserwerfern provoziert und<br />

dafür gesorgt, dass in Bangkok etwa<br />

20000 Polizisten eingesetzt werden mussten.<br />

Mindestens vier Menschen wurden<br />

getötet, Hunderte verletzt. Dann aber<br />

kehrte vorige Woche plötzlich Waffen -<br />

ruhe ein, denn der greise König Bhumibol<br />

Adulyadej hatte Geburtstag. Und Thailand<br />

ging gehorsam über in den Happy-<br />

Birthday-Modus. Es ist der heiligste Tag<br />

des Jahres. Denn der „König der Könige“,<br />

angeblich einer der reichsten Monarchen<br />

der Welt, ist für die meisten Thais ein<br />

Übervater, beinahe ein Halbgott. Wer im<br />

Kino nicht aufsteht, auf der Straße nicht<br />

erstarrt, sobald die Hymne gespielt<br />

wird, bekommt Ärger. Thailänder<br />

sehen sich um, bevor sie<br />

ein viertelkritisches Wort über ihren<br />

König aussprechen.<br />

Undenkbar, die zeremoniellen<br />

Feiern durch Proteste oder Gewalt<br />

zu schänden. Es gab also<br />

eine Atempause – die der königstreue<br />

Aufrührer Suthep nutzte,<br />

um Drohungen auszustoßen. Sobald<br />

die Regierung entmachtet<br />

sei, kämen die nächsten Schritte:<br />

Ein Rat des Volkes würde gebildet,<br />

Gesetze würden verabschiedet,<br />

um die Polizei zu dezentra -<br />

lisieren, um angeblich korrupte<br />

Politiker zu bestrafen, um die<br />

Monarchie zu stärken.<br />

Wollen Sie keine Neuwahl abhalten,<br />

Mr. Suthep?<br />

Er wedelt mit dem Zeigefinger: „Oh,<br />

keinesfalls! Erst müssen wir das Wahlsystem<br />

reformieren und sicherstellen, dass<br />

keine Stimmen gekauft werden.“ Er senkt<br />

die Stimme und redet im Verschwörerton<br />

weiter. „Glauben Sie etwa, wir haben hier<br />

eine Demokratie? Ha!“<br />

Warum gibt es ausgerechnet in Thailand<br />

einen derart hässlichen Kampf, der<br />

die Gesellschaft zu zerlegen droht? Hier,<br />

im Sehnsuchtsland so vieler Touristen,<br />

wo es die schönsten Strände gibt, die besten<br />

Curry-Gerichte; wo auch die Wirtschaft<br />

floriert und 2012 um 6,5 Prozent<br />

wuchs, die Banken stabil sind und die<br />

Staatsschuldenquote bei 45 Prozent liegt,<br />

wovon europäische Finanzminister träumen.<br />

Wo man auf den Straßen wenige<br />

Bettler sieht und viele neue Autos. Woher<br />

also dieser Zorn?<br />

Vielleicht kommt er gerade daher: weil<br />

sich Thailand entwickelt.<br />

Einer der besten Landeskenner, der<br />

US-Professor Benedict Anderson, schrieb<br />

unlängst über den gesellschaftlichen Wandel<br />

in Thailand, er berief sich dabei auf<br />

den Denker Antonio Gramsci: Wenn das<br />

Alte sterbe und das Neue nicht geboren<br />

werden könne – dann entstünden, so Anderson,<br />

Monster. Die politische Krise in<br />

Thailand ist ein solches Monster.<br />

Im Nordosten, dem Isaan, lebt knapp<br />

ein Drittel der 69 Millionen Einwohner,<br />

sie sind die Armen, die Dummen, auf die<br />

man in Bangkok hinabschaut. In thailändischen<br />

Serien ist die Deppenrolle stets<br />

mit Isaan besetzt; die schönen Frauen und<br />

Helden sind aus Bangkok oder dem Süden,<br />

sie gehören zur reichen, mächtigen<br />

Oberschicht, mit Nähe zum Königshaus.<br />

So war es, so sollte es bleiben. Doch<br />

dann trat ein promovierter Kriminologe<br />

mit eckigem Schädel und Goldrandbrille<br />

auf den Plan – und änderte die Machtverhältnisse.<br />

Man wird Thaksin Shinawatra<br />

wohl nicht zu nahe treten, wenn man<br />

ihn als gerissen, skrupellos und machtgierig<br />

beschreibt. So sehen ihn viele Thailänder,<br />

selbst Sunai stimmt bekümmert<br />

zu. Als Thaksin damals antrat, schloss<br />

Sunai sich ihm an, er wurde einer seiner<br />

Vertrauten, noch heute telefonieren sie<br />

mehrmals die Woche.<br />

Geschäftemacherei und Staatsdienst<br />

waren im Thailand vor Thaksin säuberlich<br />

getrennt; Thaksin schloss diese Lücke.<br />

Sein erstes großes Geld verdiente er mit<br />

dem Auftrag, die Polizei mit Computern<br />

auszustatten. Dann bekam er eine von<br />

zwei Mobilfunklizenzen und wurde reich.<br />

Er ging in die Politik und erkannte, dass<br />

Demokratie eine schöne Idee war – vor<br />

allem um die Macht zu erringen. Und die<br />

Macht war ein Hebel, um mehr Geld zu<br />

verdienen.<br />

Thaksin verbesserte die Lage der Armen<br />

im Nordosten, das war seine Strategie,<br />

so fuhr seine Partei grandiose Wahlsiege<br />

ein – und er wurde Regierungschef.<br />

In den Kreisen der alten Oligarchie jedoch<br />

machte Thaksin sich keine Freunde,<br />

eher mächtige Feinde.<br />

Als er 2003 den „Krieg gegen Drogen“<br />

ausrief, wurden in einigen Monaten schätzungsweise<br />

mehr als 2000 Menschen getötet,<br />

ohne umständliche Gerichtsverfahren.<br />

Er ließ Gesetze schreiben, die ihm<br />

als Unternehmer nutzten, er erinnert damit<br />

an Silvio Berlusconi. Um Anteile der<br />

Telekommunikationsfirma Shin Corp<br />

steuerfrei verkaufen zu können, brachte<br />

er 2006 ein eigenes Gesetz auf den Weg.<br />

Kurz darauf wurde er vom Militär seines<br />

Amtes enthoben und später zu zwei Jahren<br />

Gefängnis verurteilt. Er floh ins Ausland<br />

und lebt nun abwechselnd in Dubai,<br />

Hongkong oder London.<br />

Seitdem befindet sich das Land in einer<br />

politischen Dauerkrise, denn aus dem<br />

Ausland zieht Thaksin weiter die Strippen,<br />

die virtuose Anwendung des thailändischen<br />

Schattentheaters auf die Politik.<br />

2007 gewann eine von ihm gesteuerte Partei<br />

die Wahlen, dagegen demonstrierten<br />

die Gelbhemden so lange, bis Ende 2008<br />

ein Premierminister der Anti-Thaksin-<br />

Kräfte vom Militär ernannt wurde. Dann<br />

demonstrierten wieder die Rothemden.<br />

Seit 2011 regiert seine Schwester<br />

Yingluck Shinawatra das Land.<br />

Thaksin nennt sie „mein anderes<br />

Ich“. Ihre oder eben seine Partei<br />

warb mit dem Slogan: Thaksin<br />

denkt, Yingluck führt aus. Seine<br />

Anhänger halten zu Thaksin, seine<br />

Entmachtung sehen sie als Versuch<br />

der alten Elite, das Rad zurückzudrehen.<br />

Zudem gilt er ihnen als<br />

der Einzige, der stark, reich und<br />

gerissen genug ist, all diesen Su -<br />

theps mit ihren Verbindungen<br />

zum Königshaus zu trotzen.<br />

Die zwei Männer, Sunai, der<br />

erschöpfte Thaksin-Anhänger,<br />

und Suthep, der Vertreter der alten<br />

Elite, stehen für diese sich bekämpfenden<br />

Systeme.<br />

Sunai stammt aus dem Norden; in den<br />

siebziger Jahren, als Thailand eine Militärdiktatur<br />

war, lebte er jahrelang im<br />

Dschungel und kämpfte auf Seiten der<br />

Kommunisten.<br />

Suthep hingegen ist ein Mann des begüterten<br />

Südens, er besitzt dort Plantagen<br />

und Shrimp-Farmen. „Nichts gegen diese<br />

Leute. Aber sie sind ungebildet und lassen<br />

sich ihre Stimmen abkaufen“, sagt<br />

Suthep abfällig über die Isaan. Die Polizei<br />

sucht ihn jetzt per Haftbefehl, der Vorwurf:<br />

Aufruhr gegen die Regierung. Zudem<br />

soll er als Vizepremier 2010 den<br />

Schießbefehl gegen Sunais Rothemden<br />

erteilt haben, 90 Menschen starben.<br />

Thaksins Gegner, unterstützt vom Militär,<br />

glauben, dass jetzt die Zeit reif ist<br />

für einen erneuten Umsturz – denn ist<br />

der alte König erst einmal tot, könnte<br />

das royale Machtvakuum die Gegner der<br />

Monarchie ermutigen. Und dem wollen<br />

Suthep und seine Aufständischen nun<br />

zuvorkommen, mit einer Wiederherstellung<br />

der alten Verhältnisse. Mit einer<br />

Revolte, die eine Rolle rückwärts ist.<br />

RALF HOPPE<br />

FOTOS: WILL BAXTER / DER SPIEGEL


GOOGLE EARTH<br />

USA<br />

Das Klima der anderen<br />

New York investiert Milliarden Dollar, um sich gegen Monsterstürme und den steigenden<br />

Meeresspiegel zu wappnen. North Carolina schreibt per Gesetz vor, den Klimawandel<br />

zu ignorieren. Wer setzt sich durch, in diesem Kulturkampf um das bessere Amerika?<br />

Es ist dasselbe Meer, das vor ihnen<br />

liegt, das Wasser, über das einst<br />

Christoph Kolumbus segelte. Aber<br />

wenn sie an der Küste stehen, 680 Kilometer<br />

voneinander entfernt, und über<br />

den Atlantik blicken, sehen sie unterschiedliche<br />

Dinge.<br />

Veronica White steht an der Strandpromenade<br />

in New York. Sie sagt: „Wir müssen<br />

die ganze Küste auf Katastrophen<br />

vorbereiten, auf Stürme und steigende<br />

Fluten.“<br />

Tom Thompson steht im Yachthafen<br />

von New Bern, North Carolina. Er sagt:<br />

„Ich wundere mich immer wieder über<br />

diese Klimapanik, aber die Menschen<br />

glauben an Horrorgeschichten.“<br />

Das Meer, das New York umspült, ist<br />

seit dem Jahr 1900 um gut 30 Zentimeter<br />

gestiegen. Vor New Bern, North Carolina,<br />

achteinhalb Autostunden südlich von<br />

New York an derselben Küste gelegen,<br />

104<br />

hob sich das Meer ebenfalls um rund 30<br />

Zentimeter.<br />

So weit die Fakten. Die Frage ist nun,<br />

was man daraus macht.<br />

In New York, so hat eine Gruppe von<br />

Klimaforschern im Auftrag der Stadt errechnet,<br />

könnte der Meeresspiegel bis<br />

2050 um mehr als einen Dreiviertelmeter<br />

steigen, 30 Jahre später sogar um anderthalb<br />

Meter. Bis zum Ende des Jahrhunderts,<br />

warnt das Expertengremium, könnte<br />

es in New York ähnlich warm sein wie<br />

heute in North Carolina.<br />

Auch in North Carolina, stellte das dortige<br />

Küstenamt fest, werde es Ende des<br />

Jahrhunderts wärmer sein als heute. Der<br />

Meeresspiegel könnte bis zum Ende des<br />

Jahrhunderts um mehr als einen Meter<br />

steigen. Ähnlich also wie in New York.<br />

Dann aber verpasste die Regierung von<br />

North Carolina ihrem Küstenamt einen<br />

Maulkorb. Die Prognosen wurden per<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Gesetz ignoriert. Das Gesetz besagt nun,<br />

dass der Meeresspiegel vor North Caro -<br />

lina nicht schneller steigen wird als in den<br />

vergangenen hundert Jahren.<br />

Beide Szenarien spielen in Amerika.<br />

Eine Küste, zwei Welten.<br />

In der einen Welt werden Klimapro -<br />

gnosen gelesen, in der anderen nicht. Die<br />

New Yorker glauben, dass sie etwas tun<br />

müssen gegen die Erwärmung der Erde,<br />

weil ihnen der Untergang droht. Die Menschen<br />

in New Bern vertrauen lieber auf<br />

die Schöpfung. Der Klimawandel ist hier<br />

eine Glaubensfrage, die den Kern der<br />

amerikanischen Identität berührt. An ihm<br />

entzündet sich ein Kulturkampf um das<br />

bessere Amerika.<br />

„Wenn der Meeresspiegel wirklich um<br />

einen Meter steigen würde“, sagt Tom<br />

Thompson am Hafen von New Bern,<br />

„wäre der größte Teil von New Bern unbewohnbar.“<br />

Man merkt ihm die 69 Jah-


Ausland<br />

New York<br />

Washington<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

New<br />

Bern<br />

200 km<br />

Überflutete Gebiete Manhattans im<br />

Jahr 2050. Szenario nach Berechnungen<br />

des New Yorker Office of<br />

Long-Term Planning and Sustainability.<br />

re nicht an, trotz der weißen Haare. Er<br />

geht die Strandpromenade entlang, am<br />

neuen Strandpark vorbei, am Hilton-<br />

Hotel. All das ist sein Werk als Stadtentwickler;<br />

Thompson hat Firmen hierhergebracht,<br />

die Elektrogerätefabrik von<br />

Bosch- Siemens etwa, und er kennt jeden<br />

in North Carolina, der mit Wirtschaft zu<br />

tun hat.<br />

Er war gerade in Rente gegangen und<br />

stolz auf die Welt, die er geschaffen hatte.<br />

Doch dann kam diese Prognose des Küstenamtes,<br />

dass der Meeresspiegel in den<br />

nächsten hundert Jahren um rund einen<br />

Meter steigen und Gebäude, Straßen und<br />

Plätze verschlucken würde. Es war der<br />

gleiche Wert, auf den man auch in anderen<br />

Küstenstaaten gekommen war, denn<br />

er entspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen.<br />

Aber für Thompson war dieser<br />

Wert, dieser Meter, eine Kriegserklärung,<br />

ein Angriff auf sein Erbe.<br />

Kurz nachdem die Nachricht in der Zeitung<br />

gestanden hatte, zog Thompson in<br />

den Lagerraum des Geschäfts seiner Frau,<br />

eines Einrichtungsladens für allerhand<br />

Kitsch in der Main Street von New Bern.<br />

Da saß er in einer Nische zwischen zwei<br />

Kuckucksuhren und mobilisierte die alte<br />

Lobby, die er einst gegründet hatte, um<br />

die Wirtschaft vor zu viel Regulierung zu<br />

schützen.<br />

Er schlug sein Telefonbuch auf, darin<br />

standen die Nummern der Handelskammerchefs,<br />

die er mit Vornamen kannte,<br />

der Stadtentwickler und der Geschäftsführer<br />

der Firmen, die er nach North<br />

Carolina geholt hatte. Es war immer die<br />

gleiche Geschichte, die Thompson ihnen<br />

erzählte, seine Horrorgeschichte: Sie handelte<br />

von Landstraßen und Autobahnen,<br />

die wegen des prognostizierten Anstiegs<br />

des Meeresspiegels mindestens einen<br />

Meter höher gelegt werden müssten, von<br />

verschwindenden Strandpromenaden,<br />

von flüchtenden Unternehmen. Vor Milliardenkosten<br />

warnte er, die für Umbauten,<br />

Fluchtwege und Gebäudeversicherungen<br />

fällig würden. 5200 Quadratkilometer<br />

des Bundesstaates wären gefährdet.<br />

Und die Freunde und Geschäftsleute bekamen<br />

Angst. North Carolina, ein Milliar -<br />

dengrab?<br />

Tom Thompson erzählte seine Geschichte<br />

so lange, bis die republikanische<br />

Abgeordnete Pat McElraft einen Abschnitt<br />

gegen den Klimawandel in ein Gesetz<br />

schreiben ließ, HB 819.<br />

Im April 2013 legte das Ministerium für<br />

öffentliche Sicherheit in North Carolina<br />

einen offiziellen Bericht darüber vor, was<br />

es für den Bundesstaat heißen würde,<br />

wenn der Meeresspiegel wirklich um einen<br />

Meter stiege. Der wirtschaftliche<br />

Schaden wäre enorm: Auf dem betroffenen<br />

Gebiet stehen Wohnhäuser, Büro -<br />

DER SPIEGEL 50/2013 105


Küstenschützerin White: Ein Jahrhundertsturm wie „Sandy“ alle zwei Jahre?<br />

106<br />

Der Ort war überflutet,<br />

voller Sand, umgestürzter<br />

Bäume und Strom -<br />

masten mit losen Kabeln.<br />

gebäude und öffentliche Einrichtungen<br />

im Wert von 7,4 Milliarden Dollar. Sie<br />

müssten umgebaut werden, um den Fluten<br />

zu trotzen.<br />

Und warum? „Nur weil ein paar Wissen -<br />

schaftler behaupten, dass es so kommt“,<br />

sagt Thompson. „Aber sie haben keine<br />

Beweise. Wir sollen Geld für etwas ausgeben,<br />

das vielleicht gar nicht passiert.“<br />

Thompson ist ein Konservativer, er<br />

glaubt an Gott, und er bekämpft die wissenschaftliche<br />

Erkenntnis, dass es den Klimawandel<br />

gibt. Er sieht: zu viele Zahlen,<br />

zu viele Schätzungen, die sich scheinbar<br />

widersprechen. Für ihn wirkt das wie Lotterie,<br />

nicht wie Wissenschaft.<br />

Es ist früh am Morgen in Queens, New<br />

York, über dem Atlantik geht die Sonne<br />

auf. Das Wasser glitzert und schlägt sanfte<br />

Wellen. Veronica White, 54, eine zierliche<br />

Frau mit Schneewittchenhaut und<br />

Zopf, ist nicht ideal gekleidet für einen<br />

herbstlichen Strandspaziergang: Sie trägt<br />

ein schwarzes Kleid mit weißen Punkten,<br />

ein Jäckchen, eine Perlenkette und<br />

Pumps, mit denen sie durch den feuchten<br />

Sand stapft. Abends ist sie zu einem<br />

Galadiner mit dem Bürgermeister eingeladen;<br />

sie hat Wichtigeres zu tun, als sich<br />

vorher extra umzuziehen.<br />

White leitet die städtische Behörde für<br />

Parkanlagen und Erholungsgebiete – ihr<br />

Job ist es, New York vor dem Klimawandel<br />

und den steigenden Meeresfluten zu<br />

schützen. Sie und ihre rund 6000 Mitarbeiter<br />

sind verantwortlich für die Strände<br />

und Küsten der Stadt, für Monumente<br />

wie die Freiheitsstatue, für den Central<br />

Park, die Highline und rund 1700 weitere<br />

Parkanlagen, 500 Gemeinschaftsgärten<br />

und 2500 Alleen. Doch warum New York<br />

den Klimawandel so fürchtet, kann White<br />

nirgendwo besser erklären als hier, am<br />

Rockaway Beach.<br />

Wenn man vom Ufer aus auf den Atlantik<br />

blickt, wirkt alles ganz idyllisch:<br />

ruhiges, blaues Wasser, ein paar fette Möwen.<br />

Doch man muss sich nur umdrehen,<br />

um die Verwüstung zu sehen: einen<br />

Strand, der diese Bezeichnung nicht mehr<br />

verdient.<br />

Denn Rockaway Beach wurde weg -<br />

gespült, verschlungen von einer wütenden<br />

Sturmflut im Oktober des vergangenen<br />

Jahres, als Hurrikan „Sandy“, der<br />

„Frankenstorm“, über die Ostküste der<br />

USA hinwegzog.<br />

Die Überreste des Strands liegen, von<br />

Sandsäcken gesäumt, mehrere Meter tiefer<br />

als die Küstenstraße. Die Promenade<br />

ist verschwunden. „Sie flog in die Luft<br />

und war hinterher im ganzen Ort verstreut“,<br />

erzählt White. Der Ort war überflutet,<br />

voller Sand, umgestürzter Bäume<br />

und Strommasten mit abgerissenen Kabeln;<br />

die Bewohner konnten sich kaum<br />

fortbewegen. „Wir haben monatelang nur<br />

aufgeräumt“, sagt White. „Gott, es war<br />

so entmutigend.“<br />

Schnellen Schrittes stöckelt sie über einen<br />

provisorischen Holzsteg und guckt<br />

zu der Baustelle am Strand herab, wo Arbeiter<br />

Bretter in den Sand schlagen. Das<br />

soll verhindern, dass Rockaway Beach<br />

vom nächsten Sturm gleich wieder weggefressen<br />

wird. 2,7 Millionen Kubikmeter<br />

Sand müssen die Ingenieure der US-Armee<br />

in den kommenden Monaten herankarren,<br />

aufschichten und befestigen, mit<br />

Hilfe von Schutzwänden, Geotextilien<br />

und Strandhafer, damit aus Rockaway<br />

Beach wieder ein richtiger Strand wird.<br />

Aber wird das genügen?<br />

Schon vor dem Sturm unterstützte die<br />

Mehrheit der New Yorker die Pläne ihres<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

KATJA HEINEMANN / DER SPIEGEL<br />

Ausland<br />

Bürgermeisters Michael Bloomberg, ihre<br />

Stadt der Superlative nun auch in die<br />

grünste Metropole der Welt zu verwandeln.<br />

„Aber ,Sandy‘ hat den Leuten auf<br />

drastische Weise vor Augen geführt, was<br />

Klimawandel wirklich bedeutet“, sagt<br />

White. „Genau wie 9/11 den New Yorkern<br />

gezeigt hat, was beim Krieg gegen den<br />

Terror auf dem Spiel steht.“<br />

White räumt ein, dass ein einzelner<br />

Sturm nicht direkt auf den Klimawandel<br />

zurückgeführt werden kann. Doch sie<br />

verweist auf die Modelle des New York<br />

City Panel on Climate Change (NPCC),<br />

die besagen, dass ein Sturm wie „Sandy“<br />

zum Ende des Jahrhunderts alle zwei Jahre<br />

zu erwarten sein wird. Allein in New<br />

York City tötete der Sturm 44 Menschen,<br />

er zerstörte Tausende Gebäude und Hunderttausende<br />

Autos – und richtete einen<br />

Schaden von 19 Milliarden Dollar an.<br />

Und je höher der Meeresspiegel steigt,<br />

desto weiter werden die Folgen jeder<br />

Sturmflut reichen – für eine wachsende<br />

Zahl von Menschen. Heute leben rund<br />

400000 New Yorker in flutgefährdeten<br />

Stadtgebieten. Das NPCC schätzt, dass<br />

es 2050 doppelt so viele sein werden.<br />

Auch in North Carolina hat „Sandy“<br />

Schaden angerichtet. Die Outer Banks, eine<br />

vorgelagerte Inselgruppe und eines der beliebtesten<br />

Urlaubsziele North Carolinas,<br />

waren zeitweise vom Festland abgeschnitten.<br />

Aber die Anwohner sind Sturmschäden<br />

gewohnt, sie haben sich darauf eingestellt,<br />

zerstörte Häuser wiederaufzubauen,<br />

statt viel Geld in Vorsorge zu investieren.<br />

Gottvertrauen nennen sie das in der<br />

Welt von Tom Thompson. Es ist eine<br />

Welt, in der ein Sozialstaat nicht als moralische<br />

Notwendigkeit gilt, sondern als<br />

unmoralische Versuchung, die aus fleißigen<br />

Menschen Faulenzer macht. In dieser<br />

Welt herrscht die Angst vor dem „nanny<br />

state“, dem Kindermädchen-Staat, der<br />

den Bürgern ihre Freiheit raubt.<br />

Es ist der Teil Amerikas, in dem noch<br />

ein Stück Glaube an den Wilden Westen<br />

geblieben ist, in dem Vorsorge etwas für<br />

Sozialisten oder Angsthasen ist. North<br />

Carolina hatte bis Anfang des Jahres eine<br />

demokratische Gouverneurin, eine Mehrheit<br />

hat 2008 für Barack Obama gestimmt,<br />

und doch ist hier noch das alte, konservative<br />

Amerika zu Hause: ein Staat, der<br />

seine laxen Waffengesetze verteidigt, der<br />

Abtreibungskliniken schließen lässt – und<br />

der eben auch nicht einsehen will, dass<br />

es den Klimawandel gibt.<br />

Und so macht North Carolina weiter<br />

wie bisher und schlägt die Warnungen<br />

der Wissenschaftler in den Wind. Als<br />

das Gesetz im Juli 2012 verabschiedet<br />

wurde, warnte die damalige Gouverneurin<br />

Bev Perdue lediglich: „Wir sollten das<br />

nicht ganz vergessen.“ Sie meinte den<br />

Klimawandel. Trotzdem ließ sie das Gesetz<br />

passieren, das dem Meer vorschreibt,<br />

wie hoch es vor North Carolina steigen


Lobbyist Thompson: „Die Menschen glauben an Horrorgeschichten“<br />

darf. Man solle es in vier Jahren nochmals<br />

überprüfen, sagte Perdue.<br />

„Wenn wir in zehn Jahren feststellen,<br />

dass der Meeresspiegel wirklich schneller<br />

steigt, können wir ja immer noch anfangen,<br />

Straßen höher zu bauen“, sagt<br />

Thompson. „Aber warum schon jetzt?“<br />

In New York regiert seit zwölf Jahren<br />

Michael Bloomberg, nur noch wenige Wochen<br />

sind es bis zum Ende dieses Jahres,<br />

dann läuft seine dritte Amtszeit aus. Bürgermeister<br />

Bloomberg hat die Klima -<br />

berichte schon immer ernst genommen.<br />

Dass New York den Klimawandel bekämpft,<br />

ist vor allem sein Verdienst – und<br />

sein Vermächtnis.<br />

„Gesucht: ein weiterer grüner Bürgermeister“,<br />

schrieb die „New York Times“<br />

und bemängelte, dass Bloombergs Nachfolger<br />

Bill de Blasio grüne Politik nicht<br />

zum Schwerpunkt seiner Wahlkampagne<br />

gemacht habe.<br />

Bloombergs Stellvertreter Caswell F.<br />

Holloway IV, 40, empfängt im prunkvollen<br />

Rathaus in Lower Manhattan und<br />

rühmt den angeblichen Pioniergeist seines<br />

Chefs. Er trägt eine orangeleuchtende<br />

Krawatte zum blauen Hemd, der Schädel<br />

ist rasiert, die Figur athletisch und das<br />

Auftreten so, dass es zu seiner Stadt passt.<br />

„Wenn New York etwas tut, schaut die<br />

Welt hin“, verkündet Holloway. New<br />

York könne globale Entwicklungen in<br />

Gang bringen, weil es eine „Welthauptstadt“<br />

sei.<br />

Als Beleg führt der Vizebürgermeister<br />

das Rauchverbot an: „Kalifornien hat das<br />

Verbot in den neunziger Jahren eingeführt“,<br />

sagt er, „aber es wurde dieser seltsame<br />

Ort, wo man nicht mehr hinwollte.“<br />

Dann habe New York das Rauchen in<br />

Bars und Restaurants untersagt – „und<br />

nun können Sie auch in den Bars und<br />

Restaurants von Paris und Hamburg nicht<br />

mehr rauchen!“.<br />

Für konservative Amerikaner ist<br />

Bloombergs New York ein „nanny state“.<br />

108<br />

Denn der Multimilliardär und seine Mitstreiter<br />

bekämpfen nicht nur den Klimawandel,<br />

sie versuchen auch, die Bürger<br />

gesünder zu machen: New Yorker sollen<br />

aufs Rauchen verzichten, sie sollen keine<br />

ungesunden Fette essen und weniger süße<br />

Limonade trinken. Und sie sollen sich<br />

mehr bewegen, zum Beispiel auf Leih -<br />

rädern. Die Mehrheit der New Yorker<br />

scheint sich daran nicht zu stören. Drei<br />

von vier sagen in Umfragen, dass sie die<br />

Klimapolitik ihrer Stadt gut finden.<br />

Also wird auch das störrische North<br />

Carolina demnächst einsehen, dass die<br />

Welthauptstadt recht hat – und anfangen,<br />

den Klimawandel zu bekämpfen? Holloway<br />

muss nun doch grinsen. Er schüttelt<br />

den Kopf. „Na ja, das hat nun mal eine<br />

New York und New Bern –<br />

zwei Pole in einem Land,<br />

das kaum einen gemeinsamen<br />

Nenner findet.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

JENNY WARBURG / DER SPIEGEL<br />

Ausland<br />

lange Tradition in diesem Land, diese wilden<br />

Unterschiede in der Politik.“<br />

Dann hebt der New Yorker zu einem<br />

Plädoyer an, als säße North Carolina persönlich<br />

vor ihm: „Die können glauben,<br />

was sie wollen, ob der Klimawandel nun<br />

menschengemacht ist oder nicht – aber es<br />

gibt eine Fülle von Daten, die alle in die<br />

gleiche Richtung zeigen.“ Der Weltklimarat<br />

sage voraus, doziert er, dass Phän o -<br />

mene wie der Monstersturm „Sandy“, die<br />

Hochwasser in Colorado oder die Buschbrände<br />

im Mittleren Westen sich wiederholen<br />

würden, und zwar öfter und schlimmer<br />

als früher, wenn die Menschen ihre<br />

Treibhausgasemissionen nicht reduzierten.<br />

Holloway beugt sich in seinem Sessel<br />

vor, sein Körper spannt sich an: „Wenn<br />

eine Regierung all diese Informationen<br />

hat und trotzdem nichts tut, ist das verantwortungslos.“<br />

Das Plädoyer ist beendet,<br />

der Vizebürgermeister lehnt sich zurück.<br />

New Yorks Leistung sei es, fährt er<br />

fort, dass man das alles schon 2007 erkannt<br />

habe. George W. Bush war damals<br />

noch Präsident und Klimawandel ein, vorsichtig<br />

ausgedrückt, exotisches Thema. In<br />

der Welthauptstadt aber lancierte der Bürgermeister<br />

einen Plan, wie man sich für<br />

den Klimawandel rüsten und zugleich<br />

grün und umweltfreundlich werden könne:<br />

„PlaNYC“. Das Ziel: Im Jahr 2030<br />

sollten 30 Prozent weniger Kohlendioxid<br />

ausgestoßen werden als 2005. 16 Prozent<br />

seien bereits geschafft, sagt Holloway.<br />

Natürlich wäre es einfacher, wenn es<br />

so etwas wie eine nationale Klimapolitik<br />

gäbe, an der man sich orientieren könnte.<br />

„Aber die Regierung in Washington tut<br />

ja bis heute nichts gegen den Klima -<br />

wandel.“<br />

So zeigt New York, wie es gehen könnte:<br />

Wolkenkratzer werden saniert, damit<br />

sie weniger Energie fressen. 76 Prozent<br />

aller New Yorker können aus ihrer Haustür<br />

treten und zu Fuß in zehn Minuten<br />

einen Park erreichen – 6 Prozent mehr<br />

als noch vor sechs Jahren. Eine Million<br />

neue Bäume versprach die Stadt -<br />

regierung, 800 000 wurden bis heute gepflanzt.<br />

Der Times Square wurde zur Fußgängerzone.<br />

1000 Kilometer Fahrradwege<br />

wurden durch die Stadt gezogen. Die<br />

New Yorker Luft ist heute so schadstoffarm<br />

wie seit 50 Jahren nicht.<br />

New York und New Bern – das sind<br />

zwei Pole in einem Land, das kaum mehr<br />

einen gemeinsamen Nenner findet.<br />

In Washington sieht sich der demokratische<br />

Präsident einem republikanisch<br />

kontrollierten Abgeordnetenhaus gegenüber,<br />

das von einer kleinen, radikalen<br />

Gruppe von Tea-Party-Abgeordneten beherrscht<br />

wird. Sie stellt sich jedem vernünftigen<br />

Kompromiss in den Weg, bei<br />

Waffengesetzen, bei der Krankenversicherung,<br />

beim Klimaschutz.<br />

Und in New York fragen sie sich nun,<br />

ob Bloombergs grünes Vermächtnis von<br />

Dauer sein wird. „Wir haben versucht,<br />

den Klimaschutz in die DNA dieser Stadt<br />

einzubauen, so dass er sich quasi von allein<br />

fortsetzt“, sagt Vizebürgermeister<br />

Holloway. Er zögert kurz. „Wir hoffen,<br />

dass uns das gelungen ist.“<br />

Veronica White weiß noch nicht, ob<br />

der neue Bürgermeister sie auf ihrem Posten<br />

lassen wird oder sie sich einen neuen<br />

Job suchen muss.<br />

In New Bern hat Tom Thompson seinen<br />

Ruhestand erst mal verschoben. Einer<br />

muss sich ja wehren gegen den Irrsinn.<br />

Er hat jetzt eine Sekretärin eingestellt.<br />

MARC HUJER, SAMIHA SHAFY<br />

Video: Mit Klimaskeptiker<br />

Tom Thompson am Hafen<br />

spiegel.de/app502013klima<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Ausland<br />

ROM<br />

Avanti tutti<br />

GLOBAL VILLAGE: Täglich übersetzt Radio Vatikan die Papstworte<br />

in 44 Sprachen – was unter Franziskus nicht immer leicht ist.<br />

Vieles ist anders, seit Franziskus<br />

Papst wurde. Das sieht man am<br />

besten am Mittwoch, dem Tag der<br />

Generalaudienz: Wie immer um 9.30 Uhr,<br />

eine Stunde früher als sein Vorgänger,<br />

fährt Franziskus im Papamobil über den<br />

Petersplatz. Es ist der inoffizielle Teil, der<br />

ihm und den Pilgern am meisten Spaß<br />

macht, das ist nicht zu übersehen.<br />

Ein Carabiniere wirft Franziskus eine<br />

Kusshand zu. Drei Schüler fangen seine<br />

weiße Kappe und setzen sie auf. Der<br />

Papst nimmt argentinische Fußballtrikots<br />

entgegen, küsst 14 Kinder<br />

und geht auf einen Mann zu,<br />

der keine Nase hat. Er legt<br />

seine Stirn an die Stirn des<br />

Mannes und sagt: „Bete für<br />

mich.“<br />

Keine 500 Meter entfernt<br />

sitzt Anne Preckel von Radio<br />

Vatikan in einem schmucklosen<br />

Gebäude vor dem Fernseher<br />

und verfolgt die Live-<br />

Übertragung. Die Westfälin,<br />

34 Jahre alt, ist an diesem<br />

Mittwoch für die tägliche Radiosendung<br />

verantwortlich.<br />

Seit fünf Jahren ist sie in<br />

Rom, eine kritische Katholikin,<br />

wie sie selbst sagt. Ihr<br />

Computer steht auf einem<br />

Stapel Bücher, das dickste<br />

heißt: „Die Kanzel in der<br />

DDR“. Die Predigt beginnt, der Papst<br />

spricht Italienisch, und Anne Preckel hört<br />

aufmerksam zu.<br />

Franziskus redet über die Bedeutung<br />

der Beichte; er sagt, dass selbst er beichte,<br />

denn auch er sei ein Sünder. Preckel<br />

kennt diese Sätze, Franziskus sagt sie oft,<br />

noch besteht kein Grund zur Unruhe.<br />

Dann blickt er auf, schaut in die Menge,<br />

seine Stimme ist tiefer, fester. Er stellt<br />

Fragen und improvisiert Dialoge, um seine<br />

Zuhörer zu fesseln. Diese Stellen sind<br />

gefährlich. Denn dieser Papst liebt die<br />

freie, spontane Rede. Es kommt jetzt auf<br />

jedes Wort an. Ein aus dem Zusammenhang<br />

gerissener Satz kann ungewollt fatale<br />

Wirkung entfalten, wie 2006, als<br />

Papst Benedikt XVI. sein vermeintlich islamkritisches<br />

Zitat in Regensburg sprach.<br />

Oder eine spontane Äußerung sorgt für<br />

Aufregung, wie im Juli, als Franziskus<br />

nach seiner Brasilienreise vor Preckels<br />

Kollegen über Schwule, Finanzen und<br />

Frauenämter in der Kirche redete.<br />

110<br />

Anne Preckel ist eine von 400 Angestellten<br />

aus 60 Ländern bei Radio Vatikan,<br />

einer Art Vereinte Nationen im Kirchenstaat.<br />

Täglich übersetzen sie hier die Worte<br />

des Papstes in 44 Sprachen und senden<br />

sie in 39 Radioprogrammen um den Globus.<br />

Kein leichter Job, vor allem, seit es<br />

diesen neuen, unberechenbaren Papst<br />

gibt, von dem niemand weiß, was er als<br />

Nächstes sagen wird.<br />

Anne Preckel hört jetzt, wie Franziskus<br />

sagt: „Schämt euch nicht, eure Sünden<br />

zu beichten. Besser einmal rot werden<br />

Radiojournalistin Preckel: Mehr Arbeit, aber lustiger<br />

als tausendmal gelb.“ Zum ersten Mal an<br />

diesem Morgen lacht sie. Ein typischer<br />

Franziskus-Satz ist das, scheinbar banal,<br />

doch sehr authentisch.<br />

„Dieser Papst spricht täglich seine Morgenandacht,<br />

er scherzt gern und hält nicht<br />

viel von Manuskripten, die vom Staatssekretariat<br />

geprüft wurden“, sagt Preckels<br />

Chef, Jesuitenpater Andrzej Koprowski.<br />

„Wir schwitzen hier manchmal, denn wir<br />

müssen überlegen: Ist der Witz auf Mandarin<br />

verständlich? Stimmt die Übersetzung<br />

auf Kisuaheli? Versteht man ihn im<br />

Senegal?“<br />

Koprowski ist der Programmdirektor<br />

von Radio Vatikan, ein feiner älterer Herr,<br />

er spricht Italienisch mit polnischem Akzent;<br />

Johannes Paul II. hat ihn 1983 nach<br />

Rom geholt. Er war damals so etwas wie<br />

ein Übersetzer des Umbruchs: Solidarność,<br />

Perestroika, Mauerfall in Berlin.<br />

Jetzt ist er voll beschäftigt mit Franziskus’<br />

Revolutionen. Dessen volksnaher Stil sei<br />

einigen zu oberflächlich, sagt Koprowski.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

„Sie vermissen das Barocke, das Schwe -<br />

re, das sie mit der Wichtigkeit des Papstamtes<br />

verbinden. Aber mir fehlt da<br />

nichts.“<br />

Franziskus ist ein Papst der starken Verben,<br />

fand eine Mailänder Zeitschrift her -<br />

aus, die seine Reden der ersten sieben Monate<br />

ausgewertet hat. Er spricht oft von<br />

„camminare“, gehen, von „ascoltare“, zuhören.<br />

Sagt oft „avanti“, vorwärts. Lenkt<br />

den Blick nach draußen, „fuori“, an die<br />

Ränder der Gesellschaft. Spitzenreiter unter<br />

den 106000 analysierten Papstwörtern<br />

sind „tutto“ und „tutti“, alles<br />

und alle. Kaum vor handen in<br />

seinem aktiven Wortschatz:<br />

Strafe, Disziplin, Macht.<br />

„Er macht uns mehr Arbeit<br />

als sein Vorgänger, aber<br />

er ist auch lustiger“, sagt<br />

Anne Preckel. Die Mitarbeiter<br />

von Radio Vatikan übersetzen<br />

nicht einfach nur den<br />

Papst. Sie müssen auch auswählen,<br />

einordnen und in -<br />

terpretieren, bei Franziskus<br />

mehr als bei Benedikt.<br />

Was aus den Papstworten<br />

wird und auf welchen We -<br />

gen sie die Gläubigen erreichen,<br />

könnte unterschied -<br />

licher nicht sein: In China<br />

lauschen verfolgte Christen<br />

heimlich; in afrikanischen<br />

Programmen spielen sie viel Musik. Als<br />

besonders liberal und anspruchsvoll gelten<br />

die Programme der Deutschen, Franzosen<br />

und Polen.<br />

An diesem Mittwoch dauert Franziskus’<br />

Audienz bis zur Mittagszeit. Er bestaunt<br />

jetzt die Bilder der Kinder, sie haben<br />

einen Mann in weißem Kleid gemalt.<br />

„Wer ist denn dieser hässliche Mann?“,<br />

fragt der Papst, und die Kinder kreischen:<br />

„Aber das bist doch du!“<br />

Auch das wird aufgezeichnet und archiviert,<br />

wie alles, was der Papst spricht. Die<br />

gesammelten Papstworte lagern in einem<br />

Geheimgang zwischen Engelsburg und Vatikan.<br />

Wenn dieser Papst weiterhin so viel<br />

redet, sagen sie bei Radio Vatikan, könnte<br />

es dort eines Tages eng werden.<br />

FIONA EHLERS<br />

MARCO DI LAURO / GETTY REPORTAGE / DER SPIEGEL<br />

Video: Anne Preckel<br />

bei der Arbeit<br />

spiegel.de/app502013vatikan<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Szene<br />

Wurster (l.) bei der Probe<br />

THEATER<br />

„Ein Husarenstück“<br />

Theaterregisseur Johann Jakob Wurster,<br />

51, über sein Willy-Brandt-Stück<br />

„Willy 100 – Im Zweifel für die Freiheit“,<br />

das an diesem Donnerstag im<br />

Neuen Stadthaus Berlin Premiere hat<br />

SPIEGEL: Ihr Stück spielt 1936, als Willy<br />

Brandt aus seinem norwegischen Exil<br />

nach Berlin zurückkehrte und dort wochenlang<br />

unter falschem Namen lebte.<br />

Warum erzählen Sie ausgerechnet diese<br />

Episode aus seinem<br />

Leben?<br />

Wurster: Weil sie<br />

ihn geprägt hat.<br />

Brandt war damals<br />

Anfang zwanzig,<br />

noch sehr naiv. Er<br />

kam mit einem norwegischen<br />

Pass<br />

nach Berlin, unter<br />

dem Namen Gunnar<br />

Gaasland, und<br />

dachte, er müsse<br />

die Menschen bloß<br />

mobilisieren, ein<br />

bisschen auf sie einreden,<br />

und schon<br />

beginne der Aufstand<br />

gegen Hitler.<br />

Doch er täuschte sich. Viele Deutsche<br />

hatten sich mit den Nazis arrangiert,<br />

es herrschte sogar eine Art Euphorie.<br />

SPIEGEL: Woran lag das?<br />

Wurster: Die Olympischen Spiele waren<br />

gerade erst vorbei, die Begeisterung<br />

über dieses große Fest war noch<br />

überall zu spüren. Der Afroamerikaner<br />

Jesse Owens hatte vier Goldmedaillen<br />

gewonnen, man konnte sich<br />

also einreden, man sei weltoffen.<br />

Doch Brandt spürte, dass dies trügerisch<br />

war.<br />

SPIEGEL: Er nahm schon damals erste<br />

Anzeichen wahr, dass <strong>Deutschland</strong> auf<br />

einen Krieg zusteuerte.<br />

Wurster: Ja, genau. Weil er von außen<br />

kam, hatte er einen klareren Blick auf<br />

<strong>Deutschland</strong> und konnte die Zeichen<br />

lesen. Einmal wurde er von der Polizei<br />

vernommen, der Pass wurde ihm abgenommen.<br />

Er erfuhr die Repressionen<br />

dieses Systems am eigenen Leib und<br />

entkam den Nazis mit knapper Not.<br />

SPIEGEL: Willy, der Thriller-Held?<br />

Wurster: In gewisser Weise schon.<br />

Wir machen uns den jugendlichen<br />

Übermut Brandts zunutze, um spannende<br />

oder auch aberwitzige Situa -<br />

tionen zu erzeugen. Wir zeigen ihn<br />

nicht als moralinsauren Widerstandskämpfer.<br />

Wir erzählen von einem<br />

Husarenstück als Beispiel für Mut und<br />

Zivilcourage.<br />

SPIEGEL: Verklären Sie ihn da nicht?<br />

Wurster: Wir zeigen auch seine düstere<br />

Seite, seine Neigung zum Rückzug, die<br />

spätere Depressionen erahnen lässt.<br />

Manchmal war er antriebslos, wollte<br />

einfach nur schlafen, um sich den Dingen<br />

nicht stellen zu müssen. Aus diesen<br />

Stimmungen musste er immer wieder<br />

herausgeholt werden.<br />

SPIEGEL: Warum hat Brandt über diese<br />

zwei Monate in Berlin in seiner Autobiografie<br />

so wenig geschrieben?<br />

Wurster: In den fünfziger und sechziger<br />

Jahren wurde er in <strong>Deutschland</strong> wegen<br />

seiner Zeit im Widerstand oft als<br />

Vaterlandsverräter beschimpft. Das<br />

hat ihn zutiefst verletzt.<br />

KINO IN KÜRZE<br />

„My Beautiful Country“ erzählt<br />

von einer Liebe zwischen den Fronten<br />

während des Kosovo-Krieges 1999. Der<br />

verletzte UĆK-Kämpfer Ramiz (Mišel Matičević)<br />

flüchtet in ein serbisches Dorf<br />

und beginnt eine Affäre mit der jungen<br />

Witwe Danica (Zrinka Cvitešić). Die in<br />

<strong>Deutschland</strong> geborene Regisseurin Michaela<br />

Kezele erzählt gefühlvoll von<br />

Menschen, die an Leib und Seele versehrt<br />

sind und sich deshalb aneinanderklammern.<br />

Doch statt sich auf das Paar<br />

zu konzentrieren, lässt sie sich oft von<br />

den vielen Figuren ablenken, die sie<br />

durch die Handlung treibt.<br />

Kühnert (l.) in „Die Frau, die sich traut“<br />

X-VERLEIH<br />

Darsteller Matičević, Cvitešić<br />

MOVIENE<br />

„Die Frau, die sich traut“, ist um die fünfzig und bereits Großmutter, als sie den<br />

Entschluss fasst, sich einen Jugendtraum zu erfüllen: Sie will den Ärmelkanal durchschwimmen.<br />

Die große deutsche Schauspielerin Steffi Kühnert, bekanntgeworden<br />

durch die Filme von Andreas Dresen, brilliert in der Titelrolle. Sie gibt ihrer Figur eine<br />

Mischung aus tiefer Verzweiflung, wilder Entschlossenheit und nagender<br />

Angst vor der eigenen Courage. Der von Marc Rensing inszenierte Film ist<br />

leider nicht ganz so sportlich wie seine Heldin. Er geht etwas in die Breite,<br />

weil er ein buntes Allerlei von Konflikten zwischen der Hauptfigur und<br />

ihren Liebsten anzettelt.<br />

114<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Kultur<br />

Mey Mitte der siebziger Jahre<br />

POP<br />

Unter den Wolken<br />

Es ist so einfach, sich über Reinhard Mey lustig zu machen. Dabei dürfte es niemanden<br />

geben, der das Lebensgefühl seiner Generation so genau vertont hat wie<br />

er. Mey, 70, war der gute Westdeutsche. Unideologisch, außer, wenn es gegen<br />

den Krieg ging. Beseelt von dem Glauben, dass viele kleine Schritte die Welt<br />

besser machen können. Weltoffen und frankophil. Selbstdiszipliniert und mit<br />

dem Herzen ein bisschen links. Verträumt und doch pragmatisch, mit Pilotenschein<br />

und der Sehnsucht nach der großen Freiheit – aber geprägt von dem Wissen<br />

des Nachkriegskindes, dass das echte Leben unter den Wolken stattfindet.<br />

All das lässt sich nun auf den vier CD-Boxen der „Jahreszeiten“-Edition nach -<br />

hören, die pünktlich zum Weihnachtsgeschäft noch einmal Meys 26 Studioalben<br />

präsentieren. Von „Ich wollte wie Orpheus singen“ (1967) bis zu „Dann mach’s<br />

gut“ (2013). Es ist die alte Bundesrepublik, der man hier zuhören kann, das<br />

Milieu derjenigen, die zusammen mit ihr groß geworden sind und die heute<br />

manchmal die Welt nicht mehr verstehen.<br />

T. SUCHEFORT / ACTION PRESS<br />

LITERATUR<br />

Schatten und Stille<br />

In dieser Woche wird Alice Munro der<br />

Literaturnobelpreis verliehen, und selten<br />

waren sich Leser und Kritiker so<br />

einig, dass die Auszeichnung die Richtige<br />

getroffen hat. Die Einstimmigkeit<br />

der Begeisterung ist fast schon ein wenig<br />

langweilig. Doch dann nimmt man<br />

Munros neues Buch zur Hand, den Erzählband<br />

„Liebes Leben“. Die darin<br />

versammelten 14 Geschichten handeln<br />

von der Vergänglichkeit des Lebens,<br />

und nach der Lektüre bleibt die hell<br />

leuchtende Überzeugung: wie gut,<br />

dass Munro für ihre hohe, aber stille<br />

Könnerschaft endlich angemessen gewürdigt<br />

wird. Seit je hat die kanadische<br />

Autorin die Lebensgeschichten<br />

von Frauen in den Mittelpunkt ihrer<br />

Kurzgeschichten gerückt und bereits<br />

früh davon erzählt, wie die Träume ihrer<br />

Protagonistinnen in Vergeblichkeit<br />

münden, weil das Leben seinen Lauf<br />

nimmt. Auf 20, 30<br />

Seiten entwickelt<br />

sie den Reichtum einer<br />

Biografie, als ob<br />

sie einen Roman geschrieben<br />

hätte. Die<br />

Ungewissheit, die<br />

ihre Figuren umgibt,<br />

macht ihre Erzählungen<br />

manchmal<br />

so spannend wie<br />

Krimis. In der Geschichte<br />

„Kies“<br />

etwa, in der ein kleines<br />

Mädchen mit<br />

Mutter und Schwester<br />

in einen Wohnwagen<br />

am Rand einer<br />

Kiesgrube zieht,<br />

rückt der Schatten,<br />

Alice Munro<br />

Liebes Leben<br />

Aus dem Englischen<br />

von Heidi<br />

Zerning. S. Fischer<br />

Verlag, Frankfurt<br />

am Main; 368 Seiten;<br />

21,99 Euro.<br />

der das Leben des Mädchens nie mehr<br />

verlassen wird, Seite für Seite näher,<br />

von Munro präzise und meisterlich<br />

beschrieben. Das Besondere an dem<br />

neuen Erzählband sind die letzten vier<br />

Geschichten, die, so die Autorin, „vom<br />

Gefühl her autobiografisch“ seien.<br />

Dem Leser wird nahegelegt, dass<br />

Munros Vater mit einer Farm für Pelztiere<br />

pleiteging, dass ihre Mutter eine<br />

gespreizte Person war, die später an<br />

Parkinson litt. Diese vier Erzählungen<br />

zeigen, dass die leicht anachronistische<br />

ländliche Welt ihrer Geschichten<br />

auch die Welt Alice Munros war. Und<br />

sie offenbaren, dass die 82-jährige<br />

Schriftstellerin ihr eigenes Leben mit<br />

jener liebevollen, aber unsentimentalen<br />

Schärfe betrachten kann, die ihr<br />

gesamtes Werk auszeichnet.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 115


Kultur<br />

KINO<br />

Der Rächer<br />

In Bollywood ist die Frau entweder Göttin oder<br />

Dienerin. In der Wirklichkeit erschüttern<br />

Vergewaltigungen das Land. Ein indischer Filmproduzent<br />

will beides nicht mehr hinnehmen. Von Hauke Goos<br />

Drei Tage bevor in Delhi das Urteil<br />

gegen vier der jungen Männer gesprochen<br />

wird, die im vergangenen<br />

Dezember eine junge Frau zu Tode<br />

vergewaltigten, steigt Siddhartha Jain die<br />

Treppe nach oben in den Schneideraum<br />

seiner Firma. Die Decke ist so niedrig,<br />

dass er leicht gebückt steht, die Jalousien<br />

sind heruntergelassen, vor dem Bildschirm<br />

sitzt der Cutter.<br />

Jain ist Filmproduzent, er trägt eine<br />

gelbe Brille und gelbe Schuhe, die im<br />

Halbdunkel aussehen, als würden sie<br />

leuchten. Er ist 39 Jahre alt und lebt in<br />

Mumbai, mit seiner Firma iRock hat er<br />

Filme produziert, die „Ragini MMS“ heißen<br />

oder „Disco Valley“. Low Budget,<br />

das aussehen soll wie großes Kino.<br />

Es ist das erste Mal, dass er jemandem<br />

den Rohschnitt zeigt, rund zweieinhalb<br />

Stunden Material; der Cutter soll das<br />

Ganze auf 90 Minuten kürzen. Das Filmplakat<br />

ist fertig, es hängt an der Wand.<br />

„Kill the Rapist“, schwarze Buchstaben<br />

auf blutrotem Grund, „Töte den Vergewaltiger“.<br />

„Feinsinnigkeit funktioniert in Indien<br />

nicht“, sagt Jain. „Vergewaltigung ist<br />

Produzent Jain: „Ich schäme mich, Inder zu sein“<br />

116<br />

nicht feinsinnig. Wenn es um Vergewaltigung<br />

geht, muss die Haltung unmissverständlich<br />

sein.“ Und dann sagt er: „Ich<br />

schäme mich, Inder zu sein. Es ist krank.<br />

Dieses Jahrzehnt wird als das schandvollste<br />

Jahrzehnt für indische Männer in die<br />

Geschichte eingehen. Wie können wir<br />

hinnehmen, was hier passiert?“<br />

Am 16. Dezember 2012 wurde in Delhi<br />

eine junge Frau in einem Bus überfallen,<br />

von sechs Männern. Sie vergewaltigten<br />

sie, bissen ihr in Brust und Genitalien,<br />

schließlich stießen sie der Frau eine Eisenstange<br />

in die Vagina. 13 Tage lang<br />

kämpften die Ärzte um ihr Leben, dann<br />

erlag sie ihren Verletzungen. Nach ihrem<br />

Tod gingen in ganz Indien die Menschen<br />

auf die Straße. „Das Land stand für zwei<br />

Tage still“, sagt Jain.<br />

Jains Film hat ein Budget von einer<br />

Million Dollar. Jeweils etwa 100000 Dollar<br />

gaben zwei Frauen, die anonym<br />

bleiben wollen, Jain nennt sie „passion<br />

investors“, Geldgeberinnen mit einer<br />

Mission; der Rest ist sein Erspartes.<br />

Der Film erzählt die Geschichte dreier<br />

junger Frauen, die zusammen in einem<br />

Häuschen wohnen: eine moderne Frau<br />

mit wechselnden Männer be -<br />

kanntschaften, die sich für<br />

Menschenrechte engagiert; ei -<br />

ne eher traditionelle Frau, verlobt,<br />

die in der Vergangenheit<br />

vergewaltigt wurde, was sie<br />

niemandem erzählt hat, nicht<br />

einmal ihren Eltern. Und die<br />

Hauptdarstellerin, die gerade<br />

Single ist. Zu Beginn des Films<br />

wird sie nachts in ihrem Auto<br />

von einem Mann überfallen.<br />

Sie kann sich befreien und<br />

fliehen, sie geht zur Polizei,<br />

aber die Polizisten unternehmen<br />

nichts, es sei schließlich<br />

nichts passiert, sagen sie.<br />

Der Cutter springt zur<br />

nächsten Szene. Die Hauptdarstellerin<br />

ist allein zu Haus,<br />

die Wohnungstür öffnet sich,<br />

der Mann aus dem Auto<br />

kommt rein, schwarzer Bart,<br />

TANVI MISHRA / AG. FOCUS/ DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

IROCK<br />

Szene aus „Kill the Rapist?“: Eine griechische<br />

das Hemd offen. Der Eindringling reißt<br />

das Telefonkabel raus, zertritt ihr Handy.<br />

Er packt sie, reißt an ihren Haaren, sie<br />

wehrt sich, er zieht ein Springmesser.<br />

„Sehen Sie“, ruft Jain, „wie er sich verändert?<br />

Er schmeichelt, er droht. Man<br />

spürt, dass er labil ist.“<br />

Auf dem Bildschirm schlägt der Mann<br />

der Frau hart ins Gesicht. „Sorry, sorry,<br />

sorry, sorry“, ruft er.<br />

„Sehen Sie, es macht ihm Spaß“, flüstert<br />

Jain. „Für ihn ist es ein Spiel.“<br />

Irgendwann erwischt die Frau eine Flasche<br />

mit Bienengift, sie sprüht dem Mann<br />

das Gift ins Gesicht, für einen Moment<br />

ist er nahezu blind. Sie stößt ihn in einen<br />

Schaukelstuhl und fesselt ihn.<br />

Das, sagt Jain feierlich, ist der Moment,<br />

in dem sich das Machtverhältnis umkehrt.<br />

Der Moment, in dem die Frauen sich ent-


Tragödie, übertragen in die indische Gegenwart<br />

scheiden müssen: Sollen sie den Mann<br />

laufen lassen? Sollen sie erneut zur Polizei<br />

gehen? Oder sollen sie ihn töten? Womöglich<br />

seine Geschlechtsteile abhacken?<br />

Lassen sie ihn laufen, wird er wiederkommen.<br />

Gehen sie zur Polizei, wird er sich<br />

rächen, sobald er wieder frei ist. Eine griechische<br />

Tragödie, übertragen in die indische<br />

Gegenwart. Ein Film, das hofft Jain,<br />

über den Indien diskutieren wird.<br />

Ein Wahnsinnsprojekt, einerseits: ein<br />

Riesenland wie Indien, rund 1,2 Milliarden<br />

Menschen, mit einem einzigen Film<br />

aufrütteln und ändern zu wollen.<br />

Andererseits: Das ist nötig, in diesem<br />

Jahr der Schande, in dem sich bereits die<br />

Nachrichten aus nur einer Woche lesen<br />

wie ein Bericht von einer Welt im Untergang:<br />

„Teenager wegen Vergewaltigung<br />

eines einjährigen Babys festgenommen“ –<br />

„21 Jahre alter Mann verhaftet, weil er<br />

taubstummes Mädchen vergewaltigte“ –<br />

„50 Jahre alte Frau vergewaltigt und ermordet“<br />

– „Mann bekommt 7 Jahre für<br />

Vergewaltigung Minderjähriger“ – „5 Jahre<br />

altes Mädchen von Mann in Park<br />

vergewaltigt“.<br />

Im März wurde eine Schweizer Touristin<br />

während einer Fahrradtour von sechs<br />

Männern vergewaltigt. Im Juli geschah es<br />

einer amerikanischen Fotografin in einer<br />

aufgelassenen Fabrik in Mumbai. Kürzlich<br />

veröffentlichte das National Crime Records<br />

Bureau in Delhi die Statistik für<br />

2012. Alle 21 Minuten wird in Indien eine<br />

Frau vergewaltigt, 24923 Fälle waren es<br />

insgesamt. Die Zahl der Fälle, die nicht<br />

angezeigt werden, ist 10- bis 100-mal so<br />

groß, je nachdem, wen man fragt. Entführungen<br />

von Frauen oder Mädchen:<br />

38262. Körperverletzung von Frauen:<br />

45351. Misshandlung von Frauen durch<br />

Ehemänner oder Verwandte: 106527.<br />

Bereits nach dem Tod der jungen Frau<br />

aus dem Bus in Delhi richtete Jain Ende<br />

Dezember eine Facebook-Seite ein, er<br />

nannte sie „Kill the Rapist“. Die Zahl der<br />

„Likes“ wuchs schnell auf mehr als<br />

30000, und viele schrieben dazu: Nicht<br />

einfach töten, das reicht nicht. Erst foltern,<br />

dann töten. Sechs Monate arbeiteten<br />

sie bei iRock an dem Script, im März begannen<br />

sie mit dem Casting. Während<br />

der Dreharbeiten war die Stimmung mitunter<br />

so angespannt, dass die Hauptdarstellerin<br />

vergaß, dass sie nur eine Rolle<br />

spielte, und hart zuschlug, wenn sie sich<br />

gegen den Hauptdarsteller wehren sollte.<br />

„Der Film muss unsere Art und Weise<br />

zu denken verändern, er muss etwas aus-<br />

DER SPIEGEL 50/2013 117


Filmschauspieler Ranjeet: Etwas mehr Haut, etwas mehr Dekolleté<br />

118<br />

lösen“, sagt Jain. „Ich habe eine Verantwortung,<br />

eine einmalige Gelegenheit. Ich<br />

darf sie nicht vorübergehen lassen.“<br />

Indien ist krank“, das sagt Dr. Harish<br />

Shetty, Psychiater am Hiranandani-<br />

Krankenhaus im Norden von Mumbai.<br />

„Indien leidet seit einigen Jahren an einem<br />

chronischen Katastrophensyndrom.<br />

Nach jeder Katastrophe, nach Erdbeben<br />

ebenso wie nach schweren Unruhen,<br />

kann man beobachten, dass ganz normale<br />

Menschen plötzlich plündern und vergewaltigen.<br />

Ich habe es selbst gesehen.“<br />

Shetty, ein kleiner, energischer Mann,<br />

arbeitet zwei Tage in der Woche im Krankenhaus,<br />

seine übrige Zeit widmet er<br />

NGOs. Ein ganzes Jahr lang arbeitete er<br />

mit Erdbebenopfern. Außerdem tritt Shetty<br />

als Gutachter bei Vergewaltigungsprozessen<br />

auf, er spricht mit Tätern ebenso<br />

wie mit Opfern.<br />

Gerade hat er den Fall eines Waisenhausgründers<br />

begutachtet. Der Mann hatte<br />

zusammen mit Angestellten 19 geistig<br />

zurückgebliebene Mädchen vergewaltigt<br />

und gequält. Für die Täter, sagt Shetty,<br />

seien das keine Verbrechen, es sei Spaß<br />

gewesen. Ein Spiel, nicht mehr.<br />

Der Anteil von Verurteilungen liegt bei<br />

Vergewaltigungsprozessen zwischen null<br />

und etwa 45 bis 50 Prozent, je nach Bundesstaat.<br />

Shetty sagt: „In der allgemeinen<br />

Anarchie Indiens haben die Menschen<br />

das Gefühl, dass Taten keinerlei Konsequenzen<br />

haben. Nichts passiert.“<br />

Für Heranwachsende sei das Leben wie<br />

ein Videospiel, mit sich selbst als Schauspieler;<br />

ein Effekt, der durch die Berichterstattung<br />

der Medien noch verstärkt werde.<br />

„Wenn Verbrecher von der Vergewaltigung<br />

in Delhi lesen, sagen sie sich: Lasst<br />

uns das übertreffen!“<br />

Vergewaltigung sei nur ein Teil des Problems,<br />

seit die Globalisierung das Land<br />

ins 21. Jahrhundert katapuliert habe, „beobachten<br />

wir eine Zunahme der Gewalt<br />

in allen Lebensbereichen“.<br />

Häufig sind es Frauen und Männer aus<br />

der Mittelschicht, die zu Shetty kommen.<br />

Die Frauen suchen Schutz vor ihren Männern,<br />

die Männer suchen Schutz vor sich<br />

selbst. Und dabei spiele auch, sagt Shetty,<br />

das indische Kino eine Rolle, das mit rund<br />

tausend Filmen pro Jahr die größte Filmindustrie<br />

der Welt ist.<br />

Shetty sagt: Drei Generationen indischer<br />

Filme haben von Frauen ein un -<br />

vorteilhaftes Bild gezeichnet. „In jedem<br />

Hindi-Film wird gesungen. In jedem Lied<br />

geht es darum, dass der Hauptdarsteller<br />

eine Frau umwirbt. Am Anfang neckt er<br />

Vergewaltigungsszenen sind<br />

im Kino Indiens so etwas<br />

wie das Erkennungszeichen<br />

für den Bösewicht.<br />

sie. Irgendwann wird sie böse und sagt:<br />

Son of a bitch! Aber schon am Ende des<br />

Songs lächelt sie zum ersten Mal. Die beiden<br />

kommen also zusammen. Das ist der<br />

Weg, eine Frau zu erobern. Es spielt keine<br />

Rolle, ob sie ja sagt oder nein. Das ist die<br />

subtile Botschaft: Tanz um die Frau her -<br />

um, berühr sie, versuch, sie zu umarmen,<br />

komm ihr so nah wie möglich. Erst wird<br />

sie ärgerlich werden, aber dann wird sie<br />

nachgeben.“ Alle Filme haben diese Botschaft<br />

transportiert, seit den Sechzigern.<br />

Frauen werden als Objekte präsentiert.<br />

Es geht nicht um Liebe, sondern um Beherrschung,<br />

um Macht.<br />

Nahezu alle Bollywood-Filme zeigen<br />

einen Mann, der unangemessen um eine<br />

Frau wirbt, sagt Shetty. „In einer Weise,<br />

die an sexuelle Belästigung grenzt. Und<br />

er kommt damit durch. Diese Filme zeigen<br />

den Mann als Raubtier.“<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

TANVI MISHRA / AG. FOCUS/ DER SPIEGEL<br />

Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu<br />

tun. „Indische Frauen essen weniger als<br />

Männer, sie schlafen weniger, sie arbeiten<br />

mehr“, sagt Shetty. „Die indische Frau<br />

ist immer noch eine Märtyrerin. Eine Ikone<br />

der Opferbereitschaft.“<br />

Indien ist ein Land der Ambivalenz,<br />

verschiedene Kasten, verschiedene Ethnien,<br />

verschiedene Religionen, verschiedene<br />

Sprachen, Tausende Götter. Eine<br />

Wundertüte, ein Monstrum. Und das, was<br />

dieses Land beschäftigt, seine Konflikte,<br />

seine Wirklichkeiten, das, womit es sich<br />

beschäftigt, das alles zeigt Bollywood.<br />

Ranjeet wohnt im Stadtteil Juhu in Mumbai,<br />

er ist Schauspieler seit über 40 Jahren,<br />

der bekannteste Bösewicht Indiens.<br />

Sein Haus, dreigeschossig, unter alten<br />

Bäumen, kaum 150 Meter vom Ozean entfernt,<br />

steht in einer Privatstraße. Ein Lift<br />

mit Scherengitter geht hinauf in den<br />

dritten Stock, auf eine weitläufige Dach -<br />

terrasse mit Swimmingpool, Nischen und<br />

kleinen Treppen, Säulen und Palmen,<br />

dazu ein Springbrunnen.<br />

Ranjeet, eingehüllt in eine schwarze<br />

Choga, auf dem Kopf eine Art Piratentuch,<br />

groß, schlank, ist der schwarze Prinz<br />

des indischen Kinos. 1942 geboren, in der<br />

Nähe von Amritsar in Punjab, aufgewachsen<br />

in Delhi. Er war 19, als er das erste<br />

Mal ins Kino ging, er war 26, als er seinen<br />

ersten Film drehte, nach ein paar Jahren<br />

als Pilot bei der Luftwaffe.<br />

Die Vergewaltigungsszene, sagt Ranjeet,<br />

ist so etwas wie das Erkennungszeichen<br />

für den Bösewicht. Man kann zeigen,<br />

dass er trinkt, dass er raucht, dass er<br />

flucht, damit ihn das Publikum sofort als<br />

Bösen erkennt. Oder man lässt ihn eine<br />

Frau vergewaltigen.<br />

„Die Zuschauer lieben diese Szenen“,<br />

sagt Ranjeet. In der ersten Reihe im Kino<br />

sind die billigsten Plätze, dort sitzen Menschen<br />

aus den unteren Schichten, meistens<br />

Männer, viele von ihnen gehen allein<br />

ins Kino. „Sie lieben den Bösewicht. Er<br />

tut, was sie nicht tun können. Sie bewundern<br />

ihn dafür.“<br />

Irgendwann lud Ranjeet seine Eltern<br />

nach Delhi ein, zu einer Filmpremiere.<br />

Als die erste Vergewaltigungsszene auf<br />

der Leinwand zu sehen war, standen sie<br />

auf und verließen den Saal. Er zerre den<br />

Namen der Familie in den Schmutz, warf<br />

ihm seine Mutter hinterher vor. „Du solltest<br />

dich schämen.“<br />

Stimmt es, dass er in seiner Karriere<br />

über einhundert Vergewaltigungsszenen<br />

gespielt hat?<br />

Ranjeet schaut überrascht, dann sagt<br />

er: „Einhundert Vergewaltigungsszenen?<br />

Das kann unmöglich stimmen.“ Eine weitere<br />

Pause. „Ich habe etwa 500 Filme gedreht.<br />

Es müssen also mehr als 600 Vergewaltigungsszenen<br />

gewesen sein.“<br />

Ranjeet gibt zu, dass die Vergewaltigung<br />

in einem Film häufig die einzige Ge-


Kultur<br />

legenheit ist, etwas mehr Haut zu zeigen<br />

als üblich. Der Frau den Sari von den<br />

Schultern zu reißen, beispielsweise, oder<br />

ihre Arme zu entblößen oder das Dekolleté<br />

anzudeuten.<br />

Sind solche Szenen schuld an der Gewalt<br />

gegen Frauen?<br />

„Falsch“, sagt Ranjeet. „Ganz falsch.“<br />

„Wir zeigen die Vergewaltigung, aber wir<br />

zeigen gleichzeitig auch die Konsequenzen.<br />

Der Bösewicht wird am Ende verhaftet.<br />

Oder getötet. Nie verherrlichen<br />

wir das Verbrechen. Im Übrigen gab es<br />

schon Vergewaltigungen, als es noch keine<br />

Kinofilme gab.“<br />

Nebenbei bemerkt, sagt Ranjeet, 71 Jahre<br />

alt, mit der Erfahrung von mehr als<br />

600 Filmvergewaltigungen, sei das indische<br />

Kino heute brutaler als früher. Als<br />

er anfing, kämpfte meistens Mann gegen<br />

Mann. Heute sind ständig Explosionen<br />

zu sehen, bei denen Unschuldige sterben.<br />

Für Siddhartha Jain ist Ranjeet einer<br />

der Helden seiner Jugend. Jain glaub -<br />

te lange, dass Vergewaltigungen im Film<br />

Unterhaltung sind; dass die Zu schauer<br />

den Unterschied kennen zwischen Film<br />

und Leben, zwischen Spiel und Wirk -<br />

lichkeit. Bis jener 16. Dezember pas -<br />

sierte.<br />

Am 16. Dezember, ein Jahr nach dem<br />

brutalen Überfall auf die junge Frau in<br />

Delhi, wird „Kill the Rapist?“ Premiere<br />

haben. Jain hat sich entschlossen, hinter<br />

den Filmtitel ein Fragezeichen zu setzen,<br />

das macht seinen Film ambivalenter.<br />

„Ich weiß, dass Vergewaltiger sich meinen<br />

Film nicht anschauen werden“, sagt<br />

Jain. „Aber die Filmposter werden ihn<br />

daran erinnern, in den Tagen und Wochen,<br />

in denen mein Film läuft: Wenn du<br />

eine Frau vergewaltigst, kriegen wir dich.<br />

Das Gesetz wird hinter dir her sein, das<br />

Opfer wird keine Ruhe geben. Deine Aussichten,<br />

ohne Strafe davonzukommen,<br />

sind sehr, sehr klein. Ich will Vergewaltigern<br />

Angst machen.“<br />

Es sei, sagt Jain, ein Männerproblem:<br />

„Es ist die Denkart der Männer, die wir<br />

verändern müssen. Es sind Männer, die<br />

diese Verbrechen begehen. Es sind Männer,<br />

die Frauen verachten. Und es sind<br />

Männer, die dafür sorgen, dass die bestehenden<br />

Gesetze nicht angewandt werden.<br />

In Indien haben immer die Männer die<br />

Regeln bestimmt. Die Frauen haben damit<br />

nichts zu tun. Sie sind die Opfer. Wir<br />

müssen uns ändern.“<br />

Aus dem Gewinn, den Jain mit „Kill<br />

the Rapist?“ macht, will er eine Stiftung<br />

finanzieren: „i Stop Rape!“<br />

Schauspieler wie Ranjeet, sagt Jain, haben<br />

aus dem Vergewaltigen einen Beruf<br />

gemacht, eine Karriere. „Er wurde fürs<br />

Vergewaltigen bezahlt. Er ist Indiens Mr.<br />

Rape.“<br />

Jain will ihn bitten, seine Stiftung zu<br />

unterstützen.<br />

◆<br />

DER SPIEGEL 50/2013 119


Kultur<br />

RELIGION<br />

„Ich hänge nicht an diesem Leben“<br />

Im Vatikan findet zurzeit jene Revolution statt, für die Hans Küng ein Leben lang<br />

gekämpft hat. Doch der Theologe ist am Ende seiner Kräfte und kann nur noch zuschauen.<br />

Ein Gespräch über den katholischen Frühling und die Hölle auf Erden<br />

SPIEGEL: Professor Küng, kommen Sie in<br />

den Himmel?<br />

Küng: Das hoffe ich doch sehr.<br />

SPIEGEL: Für die Hölle spräche, dass Sie<br />

in den Augen der Kirche ein Ketzer sind.<br />

Küng: Ich bin kein Ketzer, sondern ein kritischer<br />

Reformtheologe, der allerdings im<br />

Unterschied zu vielen seiner Kritiker<br />

nicht mittelalterliche Theologie, Liturgie<br />

und Kirchenrecht als Maßstab hat, sondern<br />

das Evangelium.<br />

SPIEGEL: Gibt es die Hölle überhaupt?<br />

Küng: Die Rede von der Hölle ist eine<br />

Warnung, dass ein Mensch seinen Lebenssinn<br />

völlig verfehlen kann. An eine ewige<br />

Hölle glaube ich nicht.<br />

SPIEGEL: Wenn Hölle heißt, den Sinn im<br />

Leben zu verlieren, ist das aber eine ziemlich<br />

diesseitige Vorstellung.<br />

Küng: Sartre sagt, die Hölle, das sind die<br />

anderen. Die Menschen bereiten sich die<br />

Hölle selber, zum Beispiel in Kriegen wie<br />

in Syrien oder auch in einem hemmungslosen<br />

Kapitalismus.<br />

SPIEGEL: Thomas Mann hat in seinem<br />

„Fragment über das Religiöse“ zugegeben,<br />

dass er an fast jedem Tag seines Lebens<br />

an den Tod dachte. Sie auch?<br />

Küng: Ich habe eigentlich von früh an mit<br />

meinem Tod gerechnet, weil ich dachte,<br />

bei dem wilden Leben, das ich führe, erreiche<br />

ich mein 50. Lebensjahr nicht. Jetzt<br />

bin ich überrascht, dass ich 85 Jahre alt<br />

bin und immer noch lebe.<br />

SPIEGEL: Sie sind 2008 zum letzten Mal<br />

Ski gefahren. Wie ist das, wenn man<br />

weiß, das ist jetzt das letzte Mal?<br />

Küng: Das letzte Mal in Lech hoch oben<br />

am Arlberg gestanden zu haben stimmt<br />

mich natürlich schon etwas wehmütig. Ich<br />

liebe die klare, kalte Luft der Alpen, hier<br />

habe ich mein oft gequältes Gehirn durchlüftet.<br />

Aber ich hadere nicht. Ich freue<br />

mich eher, dass ich noch mit 80 Jahren<br />

Ski fahren konnte.<br />

SPIEGEL: Sie sind ein alter, kranker Mann.<br />

Sie leiden unter einem Hörsturz, haben<br />

Arthrose und eine Makuladegeneration,<br />

die dazu führt, dass Sie bald nicht mehr<br />

lesen können.<br />

Küng: Das wäre das Schlimmste, nicht<br />

mehr lesen zu können.<br />

Das Gespräch führte der Redakteur Markus Grill.<br />

120<br />

Hans Küng<br />

ist einer der bekanntesten Theologen<br />

der Welt. Er wurde 1960 Professor für<br />

Fundamentaltheologie an der Universität<br />

Tübingen und zwei Jahre später von<br />

Papst Johannes XXIII. zum Konzilsberater<br />

ernannt. 1979 entzog ihm der Vatikan<br />

die Lehrerlaubnis. 1995 gründete er die<br />

Stiftung Weltethos, um den Dialog zwischen<br />

den Religionen zu fördern. Dieses<br />

Jahr veröffentlichte Küng, 85, den letzten<br />

Band seiner dreiteiligen Autobiografie:<br />

„Erlebte Menschlichkeit“.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

CIRA MORO / DER SPIEGEL<br />

SPIEGEL: Vor einem Jahr hat Ihr Arzt Parkinson<br />

bei Ihnen festgestellt.<br />

Küng: Dennoch arbeite ich noch jeden Tag<br />

intensiv. Allerdings nehme ich all dies als<br />

mahnende Vorboten des Todes. Auch meine<br />

Schrift wird klein und oft unlesbar, sie<br />

scheint fast zu verschwinden. Meine Finger<br />

versagen. Dass sich mein Allgemeinzustand<br />

verschlechtert hat, ist ein Faktum,<br />

aber ich kämpfe auch dagegen an.<br />

SPIEGEL: Wie?<br />

Küng: Ich schwimme täglich eine Viertelstunde<br />

hier im Haus, mache physiotherapeutische<br />

Übungen auf dem Boden, dazu<br />

Stimmübungen, Fingerübungen, konzentriere<br />

mich auf neue Aufgaben. Außerdem<br />

nehme ich täglich zehn verschiedene<br />

Tabletten.<br />

SPIEGEL: Sie haben mehr als 60 Bücher geschrieben,<br />

waren immer ein leistungsstarker<br />

Mensch, der gern Auseinandersetzungen<br />

eingegangen ist. In Ihrer Biografie<br />

fragen Sie sich, ob Sie bald nur noch ein<br />

Schatten Ihrer selbst sein werden.<br />

Küng: Die Diagnosen und Prognosen von<br />

Ärzten sind ja naturgemäß ungenau. Die<br />

Verschlechterung meiner Augen zum Beispiel<br />

geht langsamer voran als vorhergesagt.<br />

Vor zwei Jahren meinte mein Arzt,<br />

ich könne nur noch zwei Jahre lang lesen.<br />

Ich kann es immer noch! Aber ich lebe<br />

auf Abruf und bin bereit, jederzeit Abschied<br />

zu nehmen.<br />

SPIEGEL: Ihre Parkinson-Erkrankung wird<br />

fortschreiten.<br />

Küng: Letztes Jahr war zur Eröffnung der<br />

Olympischen Spiele in London Muhammad<br />

Ali zu sehen, der ebenfalls unter Parkinson<br />

leidet. Er wurde der ganzen Welt<br />

vorgeführt, stier und stumm, es war zum<br />

Erbarmen. Für mich eine schreckliche<br />

Vorstellung.<br />

SPIEGEL: Ihr Freund Walter Jens fiel vor<br />

neun Jahren in eine sich rasch verschlimmernde<br />

Demenz. In diesem Juni starb er.<br />

Küng: Ich habe ihn immer wieder besucht,<br />

auch kurz vor seinem Tod noch. Bis vor<br />

einigen Jahren hat sein Gesicht noch aufgeleuchtet,<br />

wenn ich kam. Aber in den<br />

letzten Jahren wusste er schon nicht<br />

mehr, ob ich ihn gestern oder vor einem<br />

Monat das letzte Mal besucht hatte.<br />

Schließlich hat er mich nicht mehr erkannt.<br />

Das war deprimierend, wenn man<br />

bedenkt, dass Jens, einer der bedeutends -<br />

ten Intellektuellen der Nachkriegszeit, in<br />

eine Art Kindheit zurückgefallen ist.<br />

SPIEGEL: War die Demenz auch für Jens<br />

schlimm oder nur für seine Angehörigen<br />

und Freunde?<br />

Küng: Wenn man ihn am Anfang seiner<br />

Krankheit fragte, wie es ihm gehe, sagte<br />

er fast immer, „schrecklich“ und „schlecht“.<br />

Gleichzeitig entwickelte er eine Freude<br />

an kleinen Dingen, an Kindern, Tieren<br />

und Süßigkeiten. Ich brachte ihm immer<br />

Schokolade mit, anfangs nahm er sie<br />

selbst, später steckte ich sie ihm in den<br />

Mund. Was Jens letztlich erlebte, war uns<br />

verschlossen. Aber das kann man von<br />

mir nicht erwarten, dass ich so einen Zustand<br />

in Kauf nehme.<br />

SPIEGEL: Sie haben 1995 zusammen mit<br />

Jens das Buch „Menschenwürdig sterben“


Papst Franziskus: „Auf dem Umschlag stand als Absender einfach „F., Domus Sanctae Marthae, Vaticano“<br />

FRANCO ORIGLIA / GETTY IMAGES<br />

veröffentlicht. Darf man als Christ seinem<br />

Leben selbst ein Ende setzen?<br />

Küng: Für mich ist das Leben eine Gabe<br />

Gottes. Aber Gott hat diese Gabe in meine<br />

eigene Verantwortung gegeben. Das<br />

gilt auch für die letzte Phase des Lebens,<br />

das Sterben. Der Gott der Bibel ist ein<br />

Gott der Barmherzigkeit und nicht ein<br />

grausamer Despot, der den Menschen<br />

möglichst lang in der Hölle seiner Schmerzen<br />

sehen will. Sterbehilfe kann also die<br />

ultimative, letztmögliche Lebenshilfe sein.<br />

SPIEGEL: Für die katholische Kirche ist es<br />

eine Sünde, ein Eingriff in die Souveränität<br />

des Schöpfergottes.<br />

Küng: Ich habe es nicht geschätzt, dass<br />

der Sprecher des Bischofs von Rottenburg<br />

sofort erklärte, was ich geschrieben habe,<br />

sei die Lehre von Herrn Küng und nicht<br />

die Lehre der Kirche. Eine kirchliche<br />

Hier archie, die sich bei Empfängnisverhütung,<br />

Pille und künstlicher Befruchtung<br />

so sehr geirrt hat, sollte jetzt nicht die<br />

gleichen Fehler machen bei den Fragen<br />

am Ende des Lebens. Unsere Situation<br />

im 21. Jahrhundert hat sich doch grundlegend<br />

geändert. Vor hundert Jahren war<br />

die durchschnittliche Lebenserwartung 45<br />

Jahre, die meisten Leute starben eines<br />

frühen Todes. Ich bin jetzt 85 Jahre alt,<br />

aber das ist eine künstliche Verlängerung<br />

meiner Lebenszeit, dank der zehn Tablet -<br />

ten am Tag, dank der Fortschritte der<br />

Hygiene und der Medizin.<br />

SPIEGEL: Haben Sie Angst vor langem<br />

Siechtum?<br />

Küng: Ich habe jedenfalls eine präzis formulierte<br />

Patientenverfügung gemacht<br />

und bin seit kurzem Mitglied in einer Sterbehilfeorganisation.<br />

Das heißt nicht, dass<br />

ich den Freitod anstrebe. Aber ich möchte<br />

für den Fall, dass meine Krankheit sich<br />

zuspitzt, die Garantie haben, in menschenwürdiger<br />

Weise sterben zu können.<br />

Nirgendwo in der Bibel steht, dass ein<br />

Mensch bis zum verfügten Ende durchhalten<br />

muss. Was „verfügt“ ist, ist uns<br />

verborgen.<br />

SPIEGEL: Um Sterbehilfe in Anspruch zu<br />

nehmen, müssten Sie in ein anderes Land<br />

fahren.<br />

Küng: Ich bin Schweizer Staatsbürger.<br />

SPIEGEL: Wie läuft das technisch ab? Rufen<br />

Sie dort an und sagen, ich möchte jetzt<br />

kommen?<br />

Küng: Ich habe noch keinen Fahrplan.<br />

Aber meine persönliche Sterbeliturgie<br />

habe ich in meinem letzten Memoirenband<br />

genau niedergelegt.<br />

SPIEGEL: Ein Pfarrer darf Ihnen nicht die<br />

Letzte Ölung geben.<br />

Küng: Ich werde einen Freund, der Priester<br />

und einer meiner Schüler ist, dabeihaben.<br />

SPIEGEL: In Goethes „Die Leiden des<br />

jungen Werther“ tötet sich die Haupt -<br />

figur aus Liebeskummer. Das Buch en -<br />

det mit dem Satz: „Kein Geistlicher hat<br />

ihn begleitet.“ Das ist die Position der<br />

Kirche.<br />

Küng: Ich habe mich immer dagegen gewehrt,<br />

dass man meine Einstellung zum<br />

Sterben als Protest gegen die kirchliche<br />

Autorität sieht. Ich will keine allgemeine<br />

Regel geben, ich entscheide nur für mich.<br />

Es wäre doch lächerlich, seinen Tod zu inszenieren<br />

als Protest gegen die kirch liche<br />

Autorität. Ich will aber bewirken, dass man<br />

das Thema offen und freundlich erörtert.<br />

Seit den nationalsozialistischen Massentötungen<br />

von Behinderten ist das Thema „aktive<br />

Sterbehilfe“ in <strong>Deutschland</strong> tabuisiert.<br />

SPIEGEL: Wer will sich aber als unheilbar<br />

Kranker seinen Angehörigen noch zu -<br />

muten, wenn Sterbehilfe gesellschaftlich<br />

akzeptiert ist?<br />

Küng: Natürlich besteht die Gefahr, die<br />

Sie beschreiben. Aber heute findet Sterbe -<br />

hilfe in einer Grauzone statt, weil sie verboten<br />

ist. Viele Ärzte erhöhen die Morphiumdosis,<br />

wenn’s drauf ankommt, und<br />

laufen Gefahr, sich strafbar zu machen.<br />

Einzelne Patienten, die solche Ärzte nicht<br />

finden, stürzen sich in Kliniken aus dem<br />

Fenster. Das ist doch unerträglich! Wir<br />

können diese Fragen nicht in das Belieben<br />

jedes Arztes legen, wir brauchen eine<br />

gesetzliche Regelung, nicht zuletzt auch<br />

zum Schutz der Ärzte.<br />

SPIEGEL: Hängt man am Ende nicht sehr<br />

am Leben und verpasst dann den richtigen<br />

Moment?<br />

DER SPIEGEL 50/2013 121


Küng: Das ist natürlich möglich.<br />

SPIEGEL: Hängen Sie am Leben?<br />

Küng: Ich hänge nicht am irdischen Leben,<br />

weil ich an ein ewiges Leben glaube. Das<br />

macht den großen Unterschied zu einer<br />

rein säkularistischen Position.<br />

SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie schreiben<br />

Sie: „Es wird mir weh ums Herz, wenn<br />

ich bedenke, dass ich das alles aufgeben<br />

soll.“<br />

Küng: Das stimmt schon, ich verabschiede<br />

mich ja nicht aus dem Leben, weil ich ein<br />

Menschenfeind wäre oder dieses Leben<br />

geringschätzte, sondern weil es aus anderen<br />

Gründen an der Zeit ist, langsam zu<br />

gehen. Ich bejahe mit Überzeugung ein<br />

Leben nach dem Tod, allerdings nicht in<br />

primitiver Weise verstanden, sondern als<br />

Eingang meiner ganzen endlichen<br />

Person in die Unendlichkeit Gottes.<br />

Als Übergang in eine andere<br />

Wirklichkeit jenseits der Dimension<br />

von Raum und Zeit, welche<br />

die reine Vernunft weder bejahen<br />

noch verneinen kann. Es ist eine<br />

Sache eines vernünftigen Vertrauens.<br />

Ich habe keine mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Beweise<br />

dafür, aber ich vertraue mit guten<br />

Gründen auf die Botschaft der<br />

Bibel und glaube an ein Aufgefangenwerden<br />

durch einen gnädigen<br />

Gott.<br />

1<br />

SPIEGEL: Haben Sie eine Vorstellung<br />

vom Himmel?<br />

Küng: Die meisten Redensarten<br />

über den Himmel sind reine Bilder,<br />

die man nicht wörtlich nehmen<br />

darf. Wir sind weit entfernt<br />

von den Himmelsvorstellungen<br />

der Zeit vor Kopernikus. Ich hoffe<br />

aber im Himmel auf die Lösung<br />

der großen Welträtsel, auf Fragen<br />

wie: Warum ist etwas und nicht<br />

nichts? Woher kommen der Urknall<br />

und die Naturkonstanten?<br />

Also jene Fragen, die die Astro-<br />

2<br />

physik so wenig klären kann wie<br />

die Philosophie. Es geht jedenfalls<br />

um einen Zustand ewigen Friedens<br />

und ewiger Glückseligkeit.<br />

SPIEGEL: Die Physik kann den dunklen<br />

Kosmos mit Milliarden Sternen heute viel<br />

besser erklären als früher. Hat das Ihren<br />

Glauben erschüttert?<br />

Küng: Wenn man bedenkt, wie riesig das<br />

Universum ist und wie dunkel, macht das<br />

den Glauben zumindest nicht leichter.<br />

Beethoven konnte in seiner 9. Sinfonie<br />

noch hoffen, „überm Sternenzelt muss<br />

ein lieber Vater wohnen“. Seit der Aufklärung<br />

funktioniert dieses Konzept<br />

nicht mehr. Wir müssen aber auch akzeptieren,<br />

wie wenig wir letztlich wissen.<br />

95 Prozent des Universums sind uns<br />

nicht bekannt, wir kennen weder die 27<br />

Prozent Dunkle Materie noch die 68 Prozent<br />

Dunkle Energie. Die Physik kommt<br />

zwar immer näher an den Ursprung ran,<br />

122<br />

PRIVATBESITZ HANS KÜNG PRIVATBESITZ HANS KÜNG<br />

Kultur<br />

1 Kirchenkritiker Küng bei seiner letzten Skiabfahrt 2008<br />

2 Bei einem Ausritt bei Rom in den fünfziger Jahren<br />

kann den Ursprung selber aber nicht erklären.<br />

SPIEGEL: Am Ende Ihrer Beerdigung wünschen<br />

Sie sich das Kirchenlied „Nun danket<br />

alle Gott“.<br />

Küng: Weil es ausdrückt, dass mein Leben<br />

nicht verendet, sondern vollendet ist. Dar -<br />

über kann man doch froh sein, oder?<br />

SPIEGEL: Im Vatikan findet derzeit genau<br />

das statt, wofür Sie ein Leben lang gekämpft<br />

haben, eine Öffnung und Reform<br />

der Kirche; ausgerechnet zu dem Zeitpunkt,<br />

an dem Sie alt und kraftlos werden.<br />

Eine Ironie der Geschichte?<br />

Küng: Die Ironie betrifft mehr meinen früheren<br />

Kollegen Ratzinger als mich. Ich<br />

habe nicht mehr damit gerechnet, eine<br />

Wende in der katholischen Kirche zu erleben.<br />

Ich bin immer davon ausgegangen<br />

und habe mich auch damit abgefunden:<br />

Küng geht, und Ratzinger bleibt. Deshalb<br />

war ich völlig überrascht, dass Benedikt<br />

geht und ausgerechnet an meinem Geburtstag<br />

und Ratzingers Namenstag, dem<br />

19. März 2013, Papst Franziskus sein Amt<br />

antritt.<br />

SPIEGEL: Wie konnte es geschehen, dass<br />

ein Kardinalskollegium aus konservativen<br />

und restaurativen Männern einen Revolutionär<br />

zum Papst wählt?<br />

Küng: Zunächst einmal wussten die gar<br />

nicht, wie revolutionär er ist. Aber abgesehen<br />

vom harten kurialen Kern war vielen<br />

Kardinälen klar, dass die Kirche in<br />

einer tiefen Krise steckt, wofür die Korruption<br />

im Vatikan, die Vertuschung der<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

JOSEF ALBERT SLOMINSKI<br />

MANFRED GROHE<br />

3<br />

4<br />

3 Mit Theologe Ratzinger (vorn l.) 1962<br />

4 Mit demenzerkranktem Freund Jens (l.) 2008<br />

Missbrauchsfälle und die Vatileaks-Affäre<br />

stehen. Die Kardinäle waren in ihrer Heimat<br />

oft mit der harten Kritik der Basis<br />

konfrontiert.<br />

SPIEGEL: Kann ein Einzelner überhaupt<br />

eine Institution wie die katholische Kirche<br />

revolutionieren?<br />

Küng: Ja, wenn er als Papst gut beraten<br />

wird und einen fähigen Stab hat. Juristisch<br />

gesehen hat der Papst eine größere<br />

Macht als der Präsident der Vereinigten<br />

Staaten.<br />

SPIEGEL: Aber nur innerhalb der Kirche,<br />

weil es zum Beispiel keinen Kongress<br />

gibt, der Entscheidungen absegnen muss.<br />

Küng: Es gibt auch keinen Obersten Gerichtshof.<br />

Der Papst könnte, wenn er will,<br />

von heute auf morgen das im 12. Jahrhundert<br />

eingeführte Zölibatsgesetz abschaffen.<br />

SPIEGEL: Kommt nach dem Arabischen<br />

jetzt ein katholischer Frühling?<br />

Küng: Er ist schon da, aber es besteht die<br />

gleiche Gefahr von Rückschlägen und<br />

einer Gegenbewegung wie beim Arabischen<br />

Frühling. Es gibt mächtige Gruppen<br />

in Vatikan und Weltkirche, die gerne das<br />

Rad zurückdrehen möchten. Die haben<br />

Angst um ihre Pfründen.<br />

SPIEGEL: Leiden Sie darunter, dass Sie<br />

nicht mehr mitmischen können?<br />

Küng: Das nehme ich gelassen. Mir ist wichtiger,<br />

dass der Papst das liest, was ich ihm<br />

schicke, als dass er mich nach Rom einlädt.<br />

SPIEGEL: Er hat Ihnen vor kurzem geschrieben,<br />

dass er die zwei Bücher, die


Sie ihm geschickt haben, gern lese und<br />

„zu Ihrer Verfügung bleibe“.<br />

Küng: Ich habe schon zwei handgeschriebene<br />

und sehr freundliche Briefe von ihm<br />

erhalten. Auf dem Umschlag stand als<br />

Absender einfach „F., Domus Sanctae<br />

Marthae, Vaticano“, unterzeichnet „mit<br />

brüderlichem Gruß“. Das ist schon ein<br />

neuer Stil. Johannes Paul II. hat mich 27<br />

Jahre lang keinerlei Antwort gewürdigt.<br />

SPIEGEL: Mit wem ist Franziskus zu vergleichen?<br />

Küng: Am ehesten mit Johannes XXIII.,<br />

aber er hat eine Schwäche von ihm nicht.<br />

Johannes XXIII. hat Reformen en passant<br />

gemacht, ohne Programm. Er hat große<br />

administrative Fehler begangen.<br />

SPIEGEL: Die Frage ist, ob Franziskus nur<br />

durch Gesten beeindruckt oder ob mehr<br />

dahintersteckt.<br />

Küng: Die Vereinfachung der Kleidung,<br />

die Veränderungen des Protokolls, die<br />

ganz andere Sprache, das sind nicht nur<br />

Äußerlichkeiten. Er hat einen Paradigmenwechsel<br />

eingeleitet. Man sieht bei diesem<br />

Papst wieder viel mehr den Dienstcharakter<br />

des Petrusamtes. Er fordert,<br />

dass man rausgeht aus der Kirche, dass<br />

man auf die Menschen zugeht. Dieser<br />

Tage hat er eine Umfrage an die Bischöfe<br />

gestartet, um die Ansichten auch der Laien<br />

zu Familienthemen zu erfahren. Seine<br />

erste Reise führte ihn zu den Flüchtlingen<br />

nach Lampedusa. Das alles ist ein Bruch<br />

mit der Art, wie Benedikt das Amt verstanden<br />

hat. Auch die Forderung nach einer<br />

armen Kirche führt zu einem anderen<br />

Denken. Unter Benedikt wäre der Protzbischof<br />

von Limburg vermutlich noch<br />

immer im Amt.<br />

SPIEGEL: Franziskus hat als Chef der Glaubenskongregation<br />

aber auch Erzbischof<br />

Gerhard Ludwig Müller bestätigt, einen<br />

Hardliner.<br />

Küng: Ich könnte mir vorstellen, dass Benedikt<br />

sich für den Verbleib Müllers starkgemacht<br />

hat. Die Bewährungsprobe wird<br />

aber sein, ob der neue Papst ihn weiter<br />

Glaubensaufseher und Großinquisitor<br />

spielen lässt.<br />

SPIEGEL: Franziskus hat die Heiligsprechung<br />

von Johannes Paul II. angekündigt,<br />

einem restaurativen Papst, der Gruppen<br />

wie Opus Dei und die Legionäre Christi<br />

stark gemacht hat.<br />

Küng: Ich kann nicht verstehen, dass dieser<br />

Papst heiliggesprochen werden soll.<br />

Er ist der widersprüchlichste Papst des<br />

20. Jahrhunderts. Er war ein Marienverehrer<br />

– und verweigerte Frauen Ämter<br />

in der Kirche. Er predigte gegen Massenarmut<br />

– und verbietet Empfängnisverhütung.<br />

Im letzten Band meiner Autobiografie<br />

habe ich elf solche massiven Widersprüche<br />

ausführlich behandelt. Er hat<br />

ständig anders geredet als gehandelt. Er<br />

hat zum Beispiel auch Pater Marcial Maciel,<br />

einen der schlimmsten Knabenschänder<br />

und Gründer der Legionäre Christi,<br />

DER SPIEGEL 50/2013 123


Kultur<br />

als seinen persönlichen Freund betrachtet<br />

und ihn gegen alle Kritik in Schutz genommen.<br />

SPIEGEL: Dennoch verzeihen Sie Franziskus<br />

diese Heiligsprechung?<br />

Küng: Die Heiligsprechung Wojtylas wurde<br />

von Benedikt forciert, unter Missachtung<br />

aller vorgeschriebenen Fristen. Dies<br />

nun einfach abzubrechen wäre nicht nur<br />

ein Affront gegen Benedikt, sondern auch<br />

gegen viele Polen. Ich kann verstehen,<br />

dass Franziskus das nicht will. Immerhin<br />

hat er gleichzeitig angekündigt, den Reformpapst<br />

Johannes XXIII. heiligzusprechen.<br />

Im Übrigen kann man sich fragen,<br />

ob Heiligsprechungen heute überhaupt<br />

noch Sinn machen, sie sind ja eine Erfindung<br />

des Mittelalters.<br />

SPIEGEL: Gibt es etwas in Ihrem Leben,<br />

das Sie gern rückgängig machen würden?<br />

Küng: Ich war manchmal zu polemisch<br />

und wäre froh, wenn ich manches nicht<br />

gesagt hätte. Aber das einschneidendste<br />

Erlebnis war für mich der Entzug der<br />

kirchlichen Lehrbefugnis im Jahr 1979,<br />

das hat mich schließlich psychisch und<br />

physisch umgehauen. Es gab einen Tag,<br />

da lag ich nur noch auf diesem gelben<br />

Sofa hier und konnte nicht in die angekündigte<br />

Fakultätssitzung zu meinem Fall<br />

gehen.<br />

SPIEGEL: Sie waren depressiv?<br />

Küng: Nicht depressiv, aber erschöpft. Ich<br />

habe mich natürlich gefragt, ob ich mich<br />

hätte beugen sollen. Man hat ja nur verlangt,<br />

dass ich ruhig sein soll. Was ich<br />

persönlich glaube, war denen in Rom<br />

egal, die haben gesagt: Sie können glauben,<br />

was Sie wollen. Manche sagen, wenn<br />

ich damals klein beigegeben hätte, wäre<br />

ich längst Kardinal. Aber gerade das war<br />

nicht mein Ziel.<br />

SPIEGEL: Sie haben sich in dieser Zeit<br />

danach gesehnt, einen Lehrstuhl in den<br />

USA zu bekommen. Wollten Sie <strong>Deutschland</strong><br />

verlassen?<br />

Küng: Ich war begeistert von Amerika.<br />

Ich kannte Präsident Kennedy, eine seiner<br />

Schwestern und andere Familienmitglieder,<br />

und ich wurde von vielen Universitäten<br />

in den USA zu Vorträgen<br />

eingeladen. Ja, das war ein Traum: ein<br />

Lehrstuhl etwa in Los Angeles, mit einem<br />

Haus am Pazifik. Aber es war unrea -<br />

listisch. Ich wollte Tübingen gar nie verlassen.<br />

SPIEGEL: Rechnen Sie damit, dass Sie noch<br />

zu Lebzeiten rehabilitiert werden?<br />

Küng: Nein. Die Deutsche Bischofskonferenz<br />

könnte zwar einen Anfang machen,<br />

Rom müsste dem nur zustimmen – aber<br />

ich rechne nicht mehr damit und erwarte<br />

es auch nicht. Papst Franziskus sollte<br />

nicht andere wichtige Aufgaben gefährden,<br />

indem er mich aufwertet und zu viel<br />

Nähe zu mir zeigt.<br />

SPIEGEL: Ihnen wurde ein Leben lang<br />

Eitelkeit vorgeworfen. In Ihrer Biografie<br />

gibt es dazu sogar ein ganzes Kapitel.<br />

Bestseller<br />

Belletristik<br />

1 (1) Jonas Jonasson<br />

Die Analphabetin, die rechnen<br />

konnte Carl’s Books; 19,99 Euro<br />

2 (2) Khaled Hosseini<br />

Traumsammler<br />

S. Fischer; 19,99 Euro<br />

3 (–) Robert Galbraith<br />

Der Ruf des<br />

Kuckucks<br />

Blanvalet; 22,99 Euro<br />

Ein Topmodel stürzt<br />

vom Balkon in den Tod:<br />

Unter Pseudonym<br />

hat Joanne K. Rowling<br />

einen soliden<br />

Krimi geschrieben<br />

4 (4) Elizabeth George<br />

Nur eine böse Tat<br />

Goldmann; 24,99 Euro<br />

5 (11) Suzanne Collins<br />

Die Tribute von Panem –<br />

Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro<br />

6 (5) Jo Nesbø<br />

Koma<br />

Ullstein; 22,99 Euro<br />

7 (6) Jussi Adler-Olsen<br />

Erwartung<br />

dtv; 19,90 Euro<br />

8 (8) Stephen King<br />

Doctor Sleep<br />

Heyne; 22,99 Euro<br />

9 (7) Henning Mankell<br />

Mord im Herbst<br />

Zsolnay; 15,90 Euro<br />

10 (10) Timur Vermes<br />

Er ist wieder da<br />

Eichborn; 19,33 Euro<br />

11 (9) Horst Evers<br />

Wäre ich du, würde ich mich lieben<br />

Rowohlt Berlin; 16,95 Euro<br />

12 (3) P. C. Cast/Kristin Cast<br />

Entfesselt – House of Night 11<br />

FJB; 16,99 Euro<br />

13 (–) Rachel Joyce<br />

Das Jahr, das zwei Sekunden<br />

brauchte Fischer Krüger; 18,99 Euro<br />

14 (18) Nicholas Sparks<br />

Kein Ort ohne dich<br />

Heyne; 19,99 Euro<br />

15 (12) Cecelia Ahern<br />

Die Liebe deines Lebens<br />

Fischer Krüger; 16,99 Euro<br />

16 (14) Rebecca Gablé<br />

Das Haupt der Welt<br />

Ehrenwirth; 26 Euro<br />

17 (13) Ferdinand von Schirach<br />

Tabu<br />

Piper; 17,99 Euro<br />

18 (15) Dan Brown<br />

Inferno<br />

Bastei; 26 Euro<br />

19 (20) Daniel Kehlmann<br />

F<br />

Rowohlt; 22,95 Euro<br />

20 (–) John Williams<br />

Stoner<br />

dtv; 19,90 Euro<br />

124<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom<br />

Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl -<br />

kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller<br />

Sachbücher<br />

1 (1) Guido Maria Kretschmer<br />

Anziehungskraft<br />

Edel Books; 17,95 Euro<br />

2 (3) Christopher Clark<br />

Die Schlafwandler<br />

DVA; 39,99 Euro<br />

3 (2) Christine Westermann<br />

Da geht noch was<br />

Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro<br />

4 (5) Florian Illies<br />

1913 – Der Sommer des<br />

Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro<br />

5 (7) Rolf Dobelli<br />

Die Kunst des klaren Denkens<br />

Hanser; 14,90 Euro<br />

6 (4) Malala Yousafzai mit Christina Lamb<br />

Ich bin Malala<br />

Droemer; 19,99 Euro<br />

7 (6) Christiane zu Salm<br />

Dieser Mensch war ich<br />

Goldmann; 17,99 Euro<br />

8 (9) Rüdiger Safranski<br />

Goethe – Kunstwerk des Lebens<br />

Hanser; 27,90 Euro<br />

9 (8) Bronnie Ware<br />

5 Dinge, die Sterbende am meisten<br />

bereuen Arkana; 19,99 Euro<br />

10 (10) Iris Radisch<br />

Camus – Das Ideal der Einfachheit<br />

Rowohlt; 19,95 Euro<br />

11 (11) Meike Winnemuth<br />

Das große Los<br />

Knaus; 19,99 Euro<br />

12 (15) Dieter Hildebrandt/Peter Ensikat<br />

Wie haben wir gelacht<br />

Aufbau; 19,99 Euro<br />

13 (16) Jennifer Teege/Nikola Sellmair<br />

Amon<br />

Rowohlt; 19,95 Euro<br />

14 (12) Simon Singh<br />

Homers letzter Satz<br />

Hanser; 21,50 Euro<br />

15 (19) Jost Kaiser<br />

Typisch Helmut Schmidt<br />

Heyne; 12 Euro<br />

16 (13) Ruth Maria Kubitschek<br />

Anmutig älter werden<br />

Nymphenburger; 19,99 Euro<br />

17 (–) Umberto Eco<br />

Die Geschichte<br />

der legendären<br />

Länder und Städte<br />

Hanser; 39,90 Euro<br />

Atlantis, Liliput und<br />

Mittelerde: Der Universalgelehrte<br />

begibt<br />

sich auf eine Reise in<br />

phantastische Welten<br />

18 (18) Ronald Reng<br />

Spieltage<br />

Piper; 19,99 Euro<br />

19 (–) Stefan Lukschy<br />

Der Glückliche schlägt keine<br />

Hunde Aufbau; 19,99 Euro<br />

20 (14) Eben Alexander<br />

Blick in die Ewigkeit<br />

Ansata; 19,99 Euro<br />

Küng: Ich bin aber vermutlich nicht eitler<br />

als der Durchschnittsmensch.<br />

SPIEGEL: Sie schreiben, dass andere Theologen<br />

auf Sie neidisch waren, weil Sie öfter<br />

zu Fernsehsendungen eingeladen wurden,<br />

weil Sie auf einen sportlichen Körper<br />

und angemessene Kleidung Wert legen,<br />

einen Schlips tragen.<br />

Küng: Dort steht „bisweilen einen<br />

Schlips“.<br />

SPIEGEL: Noch ein Zitat: „Meine Fähigkeiten<br />

habe ich selten überschätzt.“<br />

Küng: Wenn Sie das so aus dem Zusammenhang<br />

reißen, klingt es tatsächlich<br />

eitel. Auf derselben Seite steht aber auch,<br />

dass ich eine Abneigung gegen illusio -<br />

nistisch überschätzte Eigenschaften habe.<br />

Ich kenne meine Grenzen. Ich verabscheue<br />

Pose, Wichtigtuerei. Aber wenn<br />

ich in der Auseinandersetzung mit Rom<br />

kein Selbstbewusstsein gehabt hätte, wäre<br />

ich untergegangen. Bis auf den heutigen<br />

Tag werden meine Bücher von der Hier -<br />

archie und der Schultheologie ignoriert.<br />

Vielleicht habe ich deshalb auch immer<br />

wieder erwähnt, wer mich in Wissenschaft,<br />

Politik und Medien anerkennend<br />

zitiert.<br />

SPIEGEL: Ihr Vater war Schuhhändler, Sie<br />

wurden mit 32 Jahren Professor für Theologie<br />

in Tübingen, mit 34 Jahren Berater<br />

beim Zweiten Vatikanischen Konzil – und<br />

dann 1979 der Hammer des Lehrverbots.<br />

Küng: Damals wurde eine publizistische<br />

Großaktion gegen mich durchgeführt und<br />

schließlich sogar in allen Kirchen der Bundesrepublik<br />

ein Hirtenwort gegen mich<br />

verlesen, das müssen Sie sich mal klarmachen.<br />

SPIEGEL: Beim Entzug der Lehrerlaubnis<br />

ging es auch darum, dass Sie die Ehe -<br />

losigkeit von Priestern in Frage gestellt<br />

haben. Glauben Sie, dass es unter Franziskus<br />

zu einer Reform beim Zölibat<br />

kommen wird?<br />

Küng: Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen,<br />

dass diese Frage weiter aufgeschoben<br />

wird, weil täglich weniger Priester<br />

für die Gemeinden da sind. Ich weiß nicht,<br />

wie man in der nächsten Generation noch<br />

Seelsorge in <strong>Deutschland</strong> leisten kann.<br />

Die Frage ist schon längst reif, und das<br />

Kirchenvolk ist weithin bereit zu dieser<br />

Reform.<br />

SPIEGEL: Leben Sie selbst zölibatär?<br />

Küng: Ich bin nicht verheiratet, habe weder<br />

Frau noch Kinder.<br />

SPIEGEL: Im Buch gibt es eine Frau, die<br />

Sie „meine ideale Lebensbegleiterin“<br />

nennen.<br />

Küng: Ja, im Sinn einer vorbildlichen Wegkameradschaft:<br />

Wir haben getrenntes Eigentum,<br />

getrennte Stockwerke, getrennte<br />

Wohnungen. Das habe ich alles in meiner<br />

Autobiografie geschrieben, dazu stehe ich<br />

auch. Mehr habe ich darüber nicht zu<br />

sagen.<br />

SPIEGEL: Professor Küng, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

DER SPIEGEL 50/2013 125


Kultur<br />

ESSAY<br />

Republik Seelenruh<br />

Warum die Große Koalition so gut zu <strong>Deutschland</strong> passt und trotzdem problematisch ist<br />

Von Dirk Kurbjuweit<br />

Bundeskanzlerin Merkel<br />

STEFFI LOOS / DDP IMAGES<br />

126<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Ein gigantischer Tisch, 75 Männer und Frauen, einst Gegner,<br />

nun traut beisammen. Ist das nicht ein schöner Anblick?<br />

Wird einem bei diesem Foto nicht warm ums Herz?<br />

Die große Runde der Koalitionsverhandlungen, Konsens, Eintracht.<br />

So kann man es sehen. Das wäre der deutsche Blick.<br />

Es gibt einen anderen. Eine solch große Versammlung von<br />

Politikern wirkt ein bisschen unheimlich, erinnert an Sitzungen<br />

von den Zentralkomitees kommunistischer Parteien. Konsens,<br />

Eintracht, jedenfalls nach außen, aber zu Lasten der Gesellschaft.<br />

Eine Große Koalition ist noch nicht der erste Schritt in die<br />

Diktatur, aber so ganz lupenrein demokratisch ist sie auch<br />

nicht, schon gar nicht auf Dauer.<br />

Trotzdem wird wohl bald wieder ein Kartell der Volksparteien<br />

regieren, das zweite innerhalb von acht Jahren, und die<br />

Legislaturperiode dazwischen war auch von einer engen Kooperation<br />

zwischen Union und SPD geprägt. Hier wächst etwas<br />

zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört. So wollen<br />

es Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Union. So will es<br />

die Spitze der SPD. So wollen es die Bürger, die das elefantöse<br />

Bündnis in Umfragen favorisieren. Fehlen nur noch die Mitglieder<br />

der SPD, die derzeit über den Koalitionsvertrag abstimmen.<br />

Wahrscheinlich werden sie ja sagen.<br />

Und wenn nicht? Halb so schlimm. Es ginge für eine Weile<br />

drunter und drüber, aber irgendwann gäbe es eine Regierung,<br />

und die brächte vielleicht mehr zustande als das, was nun im<br />

Koalitionsvertrag steht. Die Bundesrepublik muss demografischen<br />

Wandel, europäische Ungleichgewichte, Energiewende<br />

und Migrationsströme bewältigen, um hier nur die größeren<br />

Probleme zu nennen. Das Programm von Schwarz-Rot macht<br />

da wenig Hoffnung. Die vielen haben sich auf wenig geeinigt.<br />

Warum sind Große Koalitionen trotz ihrer großen Nachteile<br />

so beliebt bei so vielen Deutschen, vor allem bei Angela Merkel?<br />

Warum gilt <strong>Deutschland</strong> dem Politologen Manfred G.<br />

Schmidt als „grand coalition state“? Und welche Wirkungen<br />

haben diese Bündnisse? Bei den Antworten auf diese Fragen<br />

geht es vor allem um vier Begriffe: Schock, Schonung, Schein.<br />

Der vierte Begriff heißt Wagnis. Er kommt am Ende. Ohne<br />

Wagnis sind große Aufgaben nicht zu lösen. Kann Angela Merkel<br />

etwas wagen? Und wollten die Deutschen das überhaupt?<br />

Die Deutschen sind eine Nation der Schockierten. Das gilt<br />

für die Bürger insgesamt, das gilt insbesondere für Angela Merkel.<br />

Unsere Schocks und ihre Schocks fließen zusammen und<br />

bestimmen die deutsche Politik.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein wachsender Teil der<br />

Bevölkerung schockiert über sich selbst. Deutsche hatten ein<br />

unvergleichliches Blutbad angerichtet und in den Konzentra -<br />

tionslagern den Mord industrialisiert. Das bleibt der Ausgangspunkt.<br />

„Alle Geschichte von 1945 an ist Geschichte im Schatten<br />

und im Bewusstsein der einmal geschehenen Katastrophe“,<br />

schreibt der Politologe Peter Graf Kielmannsegg.<br />

Eine Folge war die Angst der Deutschen vor sich selbst. Eine<br />

solche Katastrophe durfte nicht noch einmal passieren. Also


egann die Zeit der Schonung. Die bundesdeutsche Politik<br />

sorgte dafür, dass es möglichst vielen Bürgern möglichst gut<br />

geht, vor allem über Umverteilung. Alle waren schon Verlierer<br />

gewesen, lebten in zertrümmerten Städten und, zum Teil, mit<br />

zertrümmerten Seelen. Die Politik wollte nicht Verlierer produzieren,<br />

und außerdem gab es einen Nachbarn, der sich auch<br />

schon als großer Kümmerer aufführte, die DDR.<br />

Eine andere Folge war, dass politischer Streit in Verruf geriet.<br />

Die Kämpfe der Parteien in der Weimarer Republik hatten den<br />

Aufstieg des Nationalsozialismus möglich gemacht. Auch demokratische<br />

Politiker hatten sich unversöhnlich gegenüber -<br />

gestanden. Die SPD ließ 1930 eine Regierung platzen, weil sie<br />

nicht zu einem Kompromiss bei der Arbeitslosenversorgung<br />

bereit war. Drei Jahre später war Hitler an der Macht.<br />

Den Deutschen fehlt daher das Urvertrauen in die guten<br />

Kräfte des Streits, wie es Amerikaner oder Briten haben. Ihre<br />

Demokratien sind alt, man hat oft gekämpft, man hat sich oft<br />

versöhnt, ohne dass es zu Katastrophen kam. Der Streit gilt<br />

dort als dynamischer Kern des politischen Systems.<br />

In der Bundesrepublik dagegen entwickelte sich ein System,<br />

das den Konsens anhimmelt, das die Kampfzone verengt. Schon<br />

17 Jahre nach der Staatsgründung gab es die erste Große<br />

Koalition, und die FDP war danach das Scharnier in der Mitte<br />

zwischen den Volksparteien. Bis 1998 blieb nach jeder Wahl<br />

mindestens eine Regierungspartei in der Regierung. Harte<br />

Wechsel gab es nicht, und über den Bundesrat wirkten ohnehin<br />

starke Einigungszwänge auf die Politik. Es gab Kämpfe, aber<br />

es gab auch einen Grundkonsens der Volksparteien: Größere<br />

soziale Einschnitte sind tabu. Die FDP trug das murrend mit.<br />

Doch zu Beginn des neuen Jahrtausends erlebte die Nation<br />

einen neuen Schock. Es war bei weitem nicht so schlimm wie<br />

1945, aber es war ein Schock für die<br />

Geschonten. Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder und seine rot-grüne<br />

Koalition verabschiedeten sich vom<br />

Grundkonsens. Die Agenda 2010<br />

beschnitt erstmals drastisch die soziale<br />

Sicherung, sie stürzte Politik<br />

und Gesellschaft in heftige Kämpfe und spaltete die SPD. Die<br />

Schonzeit war vorbei.<br />

Angela Merkel erlebte ihren persönlichen Schock am<br />

18. September 2005. Sie hatte sich vor dem Wahlkampf als neo -<br />

liberale Politikerin feiern lassen, hatte im Wahlkampf angekündigt,<br />

den Deutschen eine höhere Mehrwertsteuer zumuten<br />

zu wollen, und war damit beinahe baden gegangen. Als Favoritin<br />

konnte sie sich nur knapp in ihre erste Kanzlerschaft<br />

retten, an der Spitze einer Großen Koalition.<br />

Das war die Lage nach der Wahl 2005: Die schockierte Nation<br />

hatte einen neuerlichen Schock erlebt und wurde von einer<br />

geschockten Kanzlerin geführt. Es begann eine zweite Schonzeit,<br />

die, in der wir immer noch leben.<br />

Merkel hatte nun Angst vor den reformmüden Deutschen,<br />

und ihr Konzept hieß: Alles ist Sicherheits -<br />

politik. Die wieder schonungsbedürftigen Deutschen<br />

sollen sich sicher fühlen können, sozial, aber auch ansonsten.<br />

Nach der Rente mit 67, die Franz Müntefering noch mit<br />

schröderscher Verve durchgesetzt hatte, gab es fast nur noch<br />

Wohltaten, vor allem für Familien und Alte. Als 2008 die<br />

Finanzkrise ausbrach, wurde diese Sicherheitspolitik weiter<br />

forciert. Spargarantie, Abwrackprämie und erweiterte Kurzarbeiterregel<br />

schonten die Nerven der Bürger und halfen durch<br />

die Krise.<br />

Dieses Schonprogramm wurde sogar in der schwarz-gelben<br />

Koalition fortgesetzt, Betreuungsgeld, Atomausstieg, Abzug<br />

aus Afghanistan. Für das zentrale Thema, die Euro-Politik,<br />

schmiedete Merkel eine Riesenkoalition mit Union, FDP, SPD<br />

und Grünen. Eine hörbare Opposition gab es in dieser Frage<br />

praktisch nicht mehr. Die Kampfzone war nur noch ein Fleck.<br />

Kleiner Streitraum, große<br />

Kontrollzone: Das ist der<br />

politische Ansatz der Kanzlerin.<br />

Merkels ganze Art zielt darauf ab, den Streitraum klein zu<br />

halten. Leise Sohlen und Samthandschuhe, das ist ihre Grundausstattung<br />

für die Politik. Sie provoziert niemanden, sie hält<br />

sich bedeckt, sie kontrolliert streng ihre Worte und Gesten<br />

und will so möglichst auch die politische Debatte unter Kontrolle<br />

halten. Warum sie so ist? Eine mögliche Erklärung: In<br />

der DDR stand politischer Dissens unter Strafe. Merkel hat<br />

nicht die offene Aussprache gelernt, sondern Selbstkontrolle.<br />

Dazu kommt Ehrgeiz, den sie in der Bundesrepublik als Machtwillen<br />

auslebt. Da ist sie fast die Letzte.<br />

Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier winkten ab,<br />

als es um die Kanzlerkandidatur der SPD ging. Im entscheidenden<br />

Gespräch mit Parteichef Sigmar Gabriel fragte<br />

Peer Steinbrück verzagt, ob sie nicht doch noch einmal Steinmeier<br />

fragen sollten. Im Wahlkampf hatte er dann Beißhemmungen<br />

gegen Merkel, wie so viele andere Männer in der<br />

Politik. Es gibt keine starken, entschlossenen Gegner für sie.<br />

In der Großen Koalition hat Merkel nun wieder die Kontrolle<br />

über zwei Volksparteien.<br />

Es liegt nicht nur an ihr, aber es passt ins Bild, dass während<br />

ihrer Kanzlerschaft zwei von drei Grundströmungen demokratischer<br />

Politik verblasst sind. Das ist der Konservatismus, der<br />

in der Union keinen prominenten Anführer mehr hat. Und<br />

das ist der Liberalismus nach Art der FDP, der sich in der<br />

schwarz-gelben Koalition unmöglich und überflüssig gemacht<br />

hat. Wohl nicht zufällig sind dies die beiden Richtungen, die<br />

nicht für Sanftheit bekannt sind. Was bleibt, ist der Sozialismus<br />

in seiner sozialdemokratischen Ausprägung, dem sich auch die<br />

Bundeskanzlerin anverwandelt hat und der sich im Bundestag<br />

auf alle vier Parteien verteilt: Union, SPD, Linke und Grüne.<br />

Langsam gehen die Positionen aus,<br />

die in Streit geraten könnten.<br />

So ist es Merkel recht: Kleiner<br />

Streitraum, große Kontrollzone, das<br />

ist ihr politischer Ansatz. Sie ist die<br />

ideale Kanzlerin für den „grand co -<br />

alition state“, der allen die Ruhe lässt.<br />

Aber ist die Gesellschaft nicht trotzdem sehr lebendig und<br />

politisch engagiert? Auf lokaler Ebene trifft das durchaus zu.<br />

Die schwäbischen Wutbürger protestieren noch immer jeden<br />

Montag gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, ein Bürgerentscheid<br />

in München und Umgebung hat gerade Olympische<br />

Spiele dort verhindert, und es ist kaum noch möglich, eine<br />

Landebahn, ein Kraftwerk, eine Straße oder einen Strommasten<br />

zu bauen, ohne dass sich Bürger heftig wehren.<br />

Dieser Protest hat auch verständliche Seiten, aber insgesamt<br />

geht es hier ebenfalls um Schonung, Eigenschonung. Ein Teil<br />

der Bevölkerung will sich nicht die Lasten von Baustress, Finanzierung,<br />

Lärm oder Hässlichkeit aufbürden lassen. Es gibt<br />

eine Schonungssymbiose in diesem Land. Merkel kümmert<br />

sich auf der Bundesebene darum, dass nichts die Ruhe stört,<br />

die Wutbürgerbewegung tut dies im Lokalen.<br />

„Alte Männer sind gefährlich, denn ihnen ist die Zukunft<br />

egal“, hat der Schriftsteller George Bernhard Shaw geschrieben.<br />

Bei Frauen ist das nicht anders. <strong>Deutschland</strong> ist inzwischen<br />

die älteste Gesellschaft in der Europäischen Union. Dazu passt,<br />

dass die Bundesrepublik eine der niedrigsten Investitionsquoten<br />

in Europa hat. Investitionen sind Ausgaben für eine gute Zukunft.<br />

In der Wutbürgerbewegung, die sich meist gegen solche<br />

Investitionen wehrt, finden sich „ganz besonders Vorruheständler,<br />

Rentner und Pensionäre“, schreibt der Politologe Franz<br />

Walter in der empirischen Studie „Die neue Macht der Bürger“.<br />

Wut für Ruhe, das ist einer der Leitsätze dieser Bewegung.<br />

Wut für eine bessere Zukunft? Gibt es kaum. In den jüngeren<br />

Generationen verbreitet sich das Liebsein. Das hat damit zu<br />

tun, dass klassisch männliche Verhaltensweisen, also Aggressivität<br />

oder Dominanzstreben, zunehmend verpönt sind und bekämpft<br />

werden, schon auf den Schulhöfen. Was eher klassisch<br />

DER SPIEGEL 50/2013 127


weiblich konnotiert ist, also Zurückhaltung in Gruppen und<br />

Teamfähigkeit, hat an Wert gewonnen. Mit einem Satz: Testosteron<br />

gilt als Gift.<br />

Schaut man sich die Leitfiguren der Gesellschaft an, wird<br />

diese Entwicklung sichtbar. Vor zehn Jahren dominierten die<br />

Krokodile Gerhard Schröder und Joschka Fischer die Politik.<br />

In den favorisierten Sportarten der Deutschen, Fußball und<br />

Formel 1, herrschten die Wutathleten Michael Ballack und<br />

Oliver Kahn sowie Michael Schumacher. Ihre Nachfolger sind<br />

Angela Merkel, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und<br />

Sebastian Vettel, eine scheue Frau und drei Männer, die phänotypisch<br />

eher Jüngelchen sind. Testosteronbomben nerven,<br />

aber Aggressivität kann helfen, um große, schwierige Projekte<br />

durchzusetzen, zum Beispiel die Agenda 2010.<br />

Aber will die deutsche Gesellschaft noch einmal eine solche<br />

Anstrengung auf sich nehmen? Große, schwierige Politik?<br />

Stresst das nicht? Die Bürger sind mit anderen Dingen beschäftigt.<br />

Sie ökonomisieren sich mehr und mehr, nun verstärkt<br />

durch Internet und Smartphones, mit deren Hilfe jeder ständig<br />

konsumieren, die eigene Effizienz steigern und auf Facebook<br />

Eigen-PR betreiben kann. Der Mensch wird zum Betrieb. Und<br />

leider geht die Ökonomisierung mit<br />

einer Entpolitisierung einher.<br />

Ingolfur Blühdorn, Politologe an<br />

der University of Bath, hat dazu den<br />

schönen Gedanken von der „simulativen<br />

Politik“ herausgearbeitet. Der<br />

Bürger, der mit Kaufen und Selbstoptimierung<br />

ausgelastet ist, möchte<br />

nicht durch grundsätzliche Debatten<br />

belastet werden. Ihm genügen ein<br />

paar Rituale, also hin und wieder<br />

Wahlen und manchmal die <strong>Talk</strong>show<br />

von Günther Jauch, in der Politik für<br />

handliche 60 Minuten simuliert wird.<br />

Hier kommt das Wort Schein ins<br />

Spiel. Schein wird in der Regel produziert,<br />

um die Welt nicht ganz so<br />

ernst und bedrohlich wirken zu lassen,<br />

also in Unterhaltungsbetrieben.<br />

Ein großer und echter gesellschaft -<br />

licher Streit wie der um die Agenda<br />

2010 würde echt nur ablenken.<br />

Von der Großen Koalition ist ein solches Unterfangen<br />

kaum zu erwarten, und deshalb passt sie so gut zu diesem<br />

Land. Sie sucht den Konsens der vielen, und die<br />

Volksparteien müssen sich der wichtigsten Gruppe der Gesellschaft<br />

besonders verpflichtet fühlen, ansonsten wären sie keine.<br />

Das sind die Älteren, und die werden folgerichtig mit Sicherheitspolitik<br />

umsorgt.<br />

Die neue Regierung wird das bislang letzte Schockgesetz,<br />

die Rente mit 67, aufweichen, zudem wird die Mütterrente verbessert.<br />

Ein Essay des Rechtsphilosophen Uwe Volkmann über<br />

die Große Koalition in der „Frankfurter Allgemeinen“ war in<br />

der vergangenen Woche mit den Worten „Politik als Idyll“<br />

überschrieben. Niemand hat etwas zu befürchten, herrliche<br />

Zeiten für das Altersheim Seelenruh.<br />

Schaut man auf die Große Koalition von 2005 zurück, sieht<br />

man jedoch nicht nur idyllische Zustände. Sie hat in ihrem<br />

letzten Jahr gut funktioniert und eine ordentliche Krisenpolitik<br />

gemacht. Das bestätigt die These, dass Große Koalitionen in<br />

Ausnahmezeiten sinnvoll sind, sonst aber eher nicht. In den<br />

drei Jahren davor hatte die Regierung demonstriert, was die<br />

Nachteile solcher Bündnisse sind.<br />

Sie sind für die Gremien der Politik zu groß. Damit die Lage<br />

unter Kontrolle bleibt, schrumpft die Koalition der vielen in<br />

der Praxis auf die Dominanz der ganz wenigen. Die drei Parteiführer,<br />

Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer,<br />

128<br />

Kultur<br />

Große Runde der Koalitionsverhandlungen<br />

Eine Große Koalition ist noch<br />

keine Diktatur, sie ist eher<br />

eine Demokratieschleifmaschine.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

werden sich oft hinter verschlossenen Türen abstimmen und<br />

die Politik übermäßig zentralisieren. Alle anderen sind mehr<br />

oder weniger zur Scheinpolitik verdammt, auch das Parlament,<br />

theoretisch das wichtigste Gremium in der Demokratie.<br />

Das Idyll wirkt nicht friedlich. Eine Große Koalition ist<br />

im Prinzip eine wackelige Angelegenheit. Union und<br />

SPD verstehen sich immer noch als Antagonisten der<br />

Politik, sie paktieren nur aus Not mit dem Gegner. Beide Partner<br />

wollen dieses Bündnis überwinden, die SPD will unbedingt<br />

den nächsten Kanzler stellen. Deshalb wird permanent Wahlkampf<br />

geführt. Da die Minister in die Kabinettsdisziplin eingebunden<br />

sind, kommt die große Zeit der Politiker, die es nicht<br />

weit gebracht haben. Ein Hinterbänkler kann leicht zum Star<br />

für einen Tag werden, wenn er motzt und damit den Medien<br />

die begehrte Schlagzeile liefert: „Streit in der Koalition“.<br />

So ist also die Grundkonstellation: Die Hinterbank giftet,<br />

die Parteiführer suchen nach dem Kompromiss, der meist ein<br />

kleinstmöglicher ist und niemandem weh tut. Im Gegenteil,<br />

da die Große Koalition gegenüber den Parteianhängern ständig<br />

gerechtfertigt werden muss, verteilt man Geschenke.<br />

Die Opposition wird margina -<br />

lisiert. Linke und Grüne haben zusammen<br />

jämmerliche 17 Prozent der<br />

Stimmen hinter sich. Ihre Anliegen<br />

werden kaum durchdringen, sie können<br />

die Regierung nur schwach kontrollieren.<br />

Eine Opposition ist aber<br />

der edelste Teil der Demokratie, sie<br />

macht den Unterschied zur Diktatur<br />

aus. Widerspruch, und der Kopf<br />

bleibt dran, das ist die Freiheit des<br />

Demokraten. Der Widerspruch sollte<br />

aber auch gehört werden können<br />

MS-UNGER.DE<br />

und Bedeutung haben.<br />

Nun zum Wagnis. Ein Wagnis<br />

kommt selten vor in der Politik,<br />

verändert aber viel, wenn es<br />

gelingt. Willy Brandts Ostpolitik<br />

war ein Wagnis, Helmut Kohls<br />

Vereinigungspolitik, auch die Not -<br />

standsgesetz gebung der Großen<br />

Koalition von 1966. Aber all das<br />

richtete sich nicht gegen den deutschen<br />

Grundkonsens. Das hat nur Gerhard Schröder bei der<br />

Agenda 2010 gewagt, auch wenn er dabei Probleme der<br />

Renten- und Gesundheitsversicherung nicht konsequent angegangen<br />

ist.<br />

Beim Wagnis suchen die Politiker nicht nach dem breiten<br />

Konsens, sie suchen Streit. Sie wollen nicht schonen, sondern<br />

auch belasten, es soll Verlierer geben, damit am Ende die allermeisten<br />

gewinnen. Sie können auch die Kontrolle verlieren,<br />

und dann gehen Ämter flöten. So war es bei der Agenda 2010.<br />

Heute sind die meisten Experten der Ansicht, dass sie geholfen<br />

hat, <strong>Deutschland</strong> wieder zu einer wirtschaftlich erfolgreichen<br />

Nation zu machen.<br />

Demokratie insgesamt ist ein Wagnis. Sie traut den Bürgern<br />

zu, gesellschaftliche Spaltung auszuhalten, sie setzt auf die<br />

Dynamik des Streits, sie hofft auf zivilen Umgang in der Kampfzone<br />

und auf Versöhnlichkeit nach den Kämpfen. Eine Diktatur<br />

dagegen versucht, den gemeinsamen Willen einer Volksgemeinschaft<br />

zu konstruieren und in Politik zu verwandeln. Ähnlich<br />

macht das eine Große Koalition, die damit aber noch keine<br />

Diktatur ist, wie gesagt. Sie ist eher eine Demokratieschleifmaschine.<br />

Es gibt einen schönen Satz, der die Wörter Demokratie und<br />

Wagnis zusammenführt: Mehr Demokratie wagen. Für Mitglieder<br />

der SPD ist das ein ganz besonderer Satz, er stammt vom<br />

einstigen Vorsitzenden Willy Brandt.<br />


Kultur<br />

Wie die Werke des Wandersmannes<br />

Peter Handke handeln die<br />

Bücher des israelischen Schriftstellers<br />

David Grossman von der Kunst,<br />

beim Gehen den Boden zu berühren.<br />

Jede Fortbewegung auf zwei Beinen, jedes<br />

Spazieren, Voranschreiten und Hasten<br />

sei ein Versuch, sich zu befreien, sagt<br />

Grossman, der für viele seiner Bücher zu<br />

Fuß unterwegs war. „Wer geht, der löst<br />

sich aus der Erstarrung. Er flieht davor,<br />

eingefroren zu werden in seinem Zorn<br />

oder in seinem Schmerz. Er verschafft<br />

sich Abstand. Er versichert sich des eigenen<br />

Körpers. Er lebt.“<br />

Im Berliner Deutschen Theater kann<br />

man von Freitag dieser Woche an acht<br />

Schauspielerinnen und Schauspielern dabei<br />

zusehen, wie sie sich unter einem von<br />

Sternen erhellten Nachthimmel fortbewegen<br />

– auf einem Kiesweg, der immer im<br />

Kreis führt. Ein Kerl in schwarzem Anzug<br />

taumelt auf nackten Füßen vorneweg,<br />

hinter ihm stiefelt ein junges Mädchen,<br />

schlurft ein alter Mann, flaniert ein einträchtig<br />

ineinander verschlungenes Pärchen,<br />

folgen diverse andere. „Warum seid<br />

ihr Tote geworden?“, rufen die Wandersleute<br />

im Chor, während sie in die Finsternis<br />

hinausstarren. „Warum seid ihr in den<br />

Krieg gezogen? Und warum ins Wasser?<br />

Warum zur scharfen Klinge?“<br />

Das Stück, das hier gezeigt wird, heißt<br />

„Aus der Zeit fallen“ und ist ein wütendes,<br />

poetisches Kindertotenlied. Es sind<br />

lauter Väter und Mütter, die auf der Bühne,<br />

einzeln und im Chor, eine große Klage<br />

anstimmen. Ihre Töchter und Söhne<br />

130<br />

THEATER<br />

Herr Hiob und seine Jünger<br />

In Berlin verwandelt ein deutscher Regisseur das Buch „Aus der<br />

Zeit fallen“, in dem der israelische Autor David Grossman<br />

vom Tod seines Sohnes erzählt, in drei spektakuläre Geisterstunden.<br />

Schriftsteller Grossman<br />

wurden bei Unfällen im Auto oder beim<br />

Schwimmen getötet, durch Messerstiche<br />

oder von Panzergeschossen im Krieg.<br />

„Es geht darum zu begreifen, dass man<br />

über den Tod eines geliebten Menschen<br />

nicht hinwegkommen kann“, sagt David<br />

Grossman über den Erkenntnisweg der<br />

Figuren auf der Bühne. „Dafür kann man<br />

lernen, mit der Trauer zu leben. Von einer<br />

Krankheit kann man sich erholen.<br />

Von der Trauer nicht.“<br />

Grossman spricht leise für einen Mann,<br />

der sich stets in kraftvollen, klug formulierten<br />

Sätzen ausdrückt, seine hellbraune<br />

Hornbrille lässt sein blasses Gesicht noch<br />

ein bisschen bleicher aussehen. Er lächelt,<br />

als er im Frühstückssaal seines Berliner<br />

Hotels von seinem Probenbesuch im<br />

Deutschen Theater und seinen Gesprächen<br />

mit den Schauspielern, der Dramaturgin<br />

und dem Regisseur<br />

erzählt. „Ich habe sie davor<br />

gewarnt, zu vorsichtig umzugehen<br />

mit meinem Text.<br />

Glauben Sie mir: Demut gegenüber<br />

dem, was ich geschrieben<br />

habe, ist nicht gut.<br />

Zu viel Treue schadet nur.“<br />

Der Schriftsteller Grossman<br />

ist 59 Jahre alt und seit<br />

vielen Jahren im Nahen Osten<br />

eine literarische und<br />

poli tische Instanz, weil er<br />

ein unerschrockener Patriot<br />

ist, trotzdem für die Aussöhnung<br />

zwischen Israelis und<br />

Palästinensern kämpft und<br />

außerdem schöne, manchmal<br />

märchenhaft verschlungene Bücher<br />

schreibt. In <strong>Deutschland</strong> ist er erst durch<br />

den monumentalen, mehr als 700 Seiten<br />

langen Roman „Eine Frau flieht vor einer<br />

Nachricht“ richtig bekannt geworden.<br />

Das Buch ist 2008 im Original und 2009<br />

auf Deutsch erschienen, es erzählt von<br />

der Angst einer Mutter, deren Sohn sich<br />

freiwillig zum Kriegseinsatz im Westjordanland<br />

gemeldet hat, von ihren Männergefährten<br />

und ihren Wanderungen und<br />

Irrfahrten durchs Land, von der Gegenwart<br />

des Todes, die die Politik und den<br />

Alltag im Nahen Osten vergiftet.<br />

„Eine Frau flieht vor einer Nachricht“<br />

berichtet eindringlich, ergreifend, ungeheuer<br />

peinigend von der Erwartung einer<br />

Katastrophe; und wurde auf schreckliche<br />

ARNO DECLAIR<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Weise beglaubigt durch das, was dem Autor<br />

widerfuhr. Als David Grossman das<br />

Buch längst begonnen hatte, starb sein<br />

zweitgeborener Sohn während des israelischen<br />

Krieges gegen die im Libanon stationierten<br />

Hisbollah-Milizen in einem Gefecht.<br />

Uri Grossman, der am 12. August<br />

2006 getötet wurde, wurde 20 Jahre alt.<br />

„Ich habe festgestellt, dass mir das<br />

Schreiben hilft“, sagt Grossman über die<br />

Zeit, in der er damals seinen Roman zu<br />

Ende brachte. Als „Eine Frau flieht vor<br />

einer Nachricht“ fertig war, sei er viel gereist.<br />

Er hat das Buch, das ein großer Erfolg<br />

wurde, in aller Welt vorgestellt.<br />

Grossman ist der Sohn eines polnischen<br />

Juden, der 1936, kurz vor dem Massenmord<br />

der Deutschen, nach Palästina<br />

auswanderte. Nach <strong>Deutschland</strong>, ins<br />

Land der Judenmörder, reiste David<br />

Grossman 1988 zum ersten Mal. Er war<br />

bereits ein geachteter Schriftsteller, sein<br />

Roman „Das Lächeln des Lammes“ kam<br />

damals auf Deutsch heraus. „Für mich<br />

war es wichtig, nicht als niemand nach<br />

<strong>Deutschland</strong> zu kommen“, sagt er. „Ich<br />

wollte einen Namen haben. Die Nationalsozialisten<br />

haben den Juden ihre Individualität<br />

genommen, ihnen die Haare<br />

geschoren, sie ihrer Kleidung beraubt, sie<br />

haben ihnen Nummern gegeben, um alle<br />

ihre Eigenheiten auszulöschen.“<br />

In den Jahren seit seinem ersten<br />

<strong>Deutschland</strong>besuch haben die Deutschen<br />

Grossman vielfach ausgezeichnet, so 2010<br />

mit dem Friedenspreis des Deutschen<br />

Buchhandels. „Und sie haben mich überzeugt“,<br />

sagt Grossman, „dass in ihrem<br />

Land zumindest die klügeren Menschen<br />

sich wirklich ernsthaft bemühen, das Versagen<br />

ihrer Vorfahren zu begreifen.“<br />

Nach dem Tod seines Sohnes und dem<br />

vorläufigen Befreiungsschlag mit „Eine<br />

Frau flieht vor einer Nachricht“ brauchte<br />

Grossman lange, um sein nächstes Werk<br />

in Angriff zu nehmen. „Aus der Zeit fallen“<br />

ist das Zeugnis einer Verzweiflung,<br />

einer „Verbannung“, wie der Schriftsteller<br />

es ausdrückt. „Einsamkeit ohnegleichen<br />

verhängt die Trauer über den Lebenden“,<br />

heißt es am Anfang des Textes, der auch<br />

davon handelt, wie sehr die Trauer um<br />

ein gestorbenes Kind den Zusammenhalt<br />

zwischen dessen Eltern zerrüttet.<br />

Es ist ein lyrischer, an antike Dramen<br />

erinnernder Ton, den Grossman anschlägt<br />

in diesem Werk, das er ein „Oratorium“<br />

und ein „Requiem“ nennt. „Lyrik ist<br />

das, was dem Schweigen am nächsten<br />

kommt“, behauptet Grossman, und nach<br />

einem Zögern: Das sei ein Lieblingssatz<br />

seiner Frau.<br />

Der Held in „Aus der Zeit fallen“ hat<br />

keinen Namen. Er heißt „Der gehende<br />

Mann“. Zunächst ohne Gefährten macht<br />

er sich auf die Reise an den Ort, wo die<br />

Toten sind; dorthin, wo er den verlorenen<br />

Sohn wiederzutreffen hofft. Dessen Mutter,<br />

die Frau des Helden also, bleibt zu-


Schauspieler Bernd Moss, Barbara Heynen in „Aus der Zeit fallen“ im Deutschen Theater<br />

rück, gefangen in der Trauer, „ein entlebter<br />

Mensch“, wie sie sagt. „Fünf Jahre<br />

nach dem Tod meines Sohnes zog sein<br />

Vater aus, ihn zu treffen. Ich bin nicht<br />

mit ihm gegangen. Bis ans Ende der Welt<br />

wär ich mit ihm. Aber nicht nach dort.“<br />

Der „gehende Mann“ aber findet Gefährtinnen<br />

und Gefährten, ähnlich Versehrte,<br />

nach Trost Suchende. Sie tragen<br />

Fantasy-Namen wie „Zentaur“ oder<br />

„Herzog“ und sind wie der Held selbst<br />

Hiob-Gestalten voller „Wut über all das,<br />

was man dir geraubt“. Nach und nach finden<br />

die Gehenden Worte, um ihren Verlust<br />

zu beschreiben und ihn von immer<br />

neuen Seiten aus zu betrachten. Und sie<br />

kapieren, warum sie auf die anderen, bislang<br />

verschonten Menschen einen frivolen<br />

Reiz ausstrahlen: „Was ist erregender<br />

als die Hölle anderer? Schmerz hat man<br />

doch lieber aus zweiter Hand.“<br />

Und natürlich blickt der Schriftsteller<br />

Grossman hier mit großer Nüchternheit<br />

und Brutalität auch darauf, wie es ihm<br />

selbst und seinem Werk ergangen ist in<br />

den vergangenen Jahren.<br />

Im Deutschen Theater wird der Regisseur<br />

Andreas Kriegenburg, soweit man<br />

das nach Ansicht der Proben in der vergangenen<br />

Woche beurteilen kann, aus<br />

Grossmans Langgedicht eine grandiose<br />

dreieinhalbstündige Totenbeschwörung<br />

machen. Grossmans Prozession der Ruhelosen,<br />

in der sich viele Anspielungen<br />

auf das Alte Testament und auf klassische<br />

Märchen finden, spielt in einer Zwi -<br />

ARNO DECLAIR<br />

schenwelt. Sie ist halb Hölle und halb<br />

Höhle, wie in einer entfernten Galaxis.<br />

In der ist es so zappenduster, als hätte<br />

der deutsche Dichter Heiner Müller sie<br />

entworfen, der in seinem Geisterstück<br />

„Germania 3 – Gespenster am toten<br />

Mann“ einmal den schönen Satz formuliert:<br />

„Dunkel, Genossen, ist der Weltraum.<br />

Sehr dunkel.“<br />

Auf einer Drehbühne stehen Würfelgerüste,<br />

die mit Plastikfolie umwickelt oder<br />

zu Türmen gestapelt sind und sich im<br />

Bühnenbild von Olga Ventosa Quintana<br />

in Gefängniszellen verwandeln, in die<br />

meist Menschen und mal ein Esel gesperrt<br />

sind. Männer und Frauen umarmen sich<br />

oder schlagen aufeinander ein, während<br />

Musik von Johann Sebastian Bach oder<br />

von zeitgenössischen Klezmer-Minimalisten<br />

erklingt. Meist aber herrscht eine verschwörerische<br />

Solidarität zwischen den<br />

Bewohnern des nie genannten Landes, in<br />

dem „Aus der Zeit fallen“ spielt. „Wir<br />

wollen zum Licht erwachen“, fordert der<br />

Chor der Wandernden einmal.<br />

„Für mich ist das Berührende an diesem<br />

Text, dass er nicht vom Sterben handelt,<br />

sondern davon, wie man nach einem Verlust<br />

zurückfindet ins Leben“, sagt Kriegenburg,<br />

der Regisseur. Ein modernes,<br />

politisches Stück wolle er zeigen, „in dem<br />

der Wahnsinn, der uns umgibt, genau beschrieben<br />

wird“. Kriegenburg legt Wert<br />

darauf, Grossmans Anrufungspoem nicht<br />

an einen Ort in Europa oder einen konkreten<br />

Kriegsschauplatz verpflanzen zu<br />

wollen, „damit der Text seine Fremdheit<br />

behält. David Grossman beschreibt Trauer<br />

als einen menschlichen Grundzustand,<br />

nicht als ein Unglück“.<br />

Ähnliches gilt für den Krieg. Der<br />

Schriftsteller Grossman kämpft für den<br />

Frieden, aber er ist kein Pazifist. Israel<br />

ist für ihn „ein politisches und mensch -<br />

liches Wunder“, aber der Staat der Juden<br />

müsse jederzeit imstande sein, sich mit<br />

militärischen Mitteln gegen seine Feinde<br />

zu verteidigen. Grossman hielt sogar jenen<br />

Libanon-Krieg im Jahr 2006, in dem<br />

sein Sohn getötet wurde, zunächst für<br />

legitim: wegen der Raketenangriffe auf<br />

Israel, die dem Krieg vorangingen. Er<br />

sieht heute weniger Chancen auf Frieden<br />

als je zuvor. „In Israel ist so viel Hass am<br />

Werk, dass ich kaum Hoffnung habe.“<br />

In Grossmans Text lässt er einen der<br />

Trauernden sagen, dass er nicht in der<br />

Lage sei, „etwas zu verstehen, bis ich es<br />

aufschreibe. Ich meine, wirklich verstehen,<br />

ganz genau! Diese verfickte Sache,<br />

die mir und meinem Sohn da passiert ist,<br />

ich muss sie in eine Geschichte einbauen.<br />

Anders geht es nicht. Alles muss rein in<br />

den brodelnden Kessel!“<br />

Es gebe Schriftsteller, sagt David Grossman,<br />

deren politisches Engagement ihrer<br />

literarischen Arbeit in die Quere komme.<br />

„Ich mache mir darüber keine Gedanken.<br />

Ich habe keine Wahl.“ WOLFGANG HÖBEL<br />

DER SPIEGEL 50/2013 131


Kultur<br />

Crystal Meth im Umland<br />

POP-KRITIK: Der Berliner Rapper Grim104 erzählt auf seinem großartigen<br />

Debütalbum von der Sehnsucht nach dem großen Knall, der niemals kommt.<br />

Angenommen, du bist 1988 auf die<br />

Welt gekommen. Die Mauer fiel,<br />

da warst du ein Jahr alt. Rot-Grün<br />

kam an die Macht, da warst du zehn.<br />

Nach den Anschlägen des 11. September<br />

hast du zum ersten Mal gekifft. Als<br />

Gerhard Schröder die Agenda 2010<br />

erfand, wurdest du zum Zeitungsleser.<br />

Das Abitur fiel in die Zeit des ersten<br />

Kabinetts von Angela Merkel. Und als<br />

die Bankenrettungen für „alternativlos“<br />

erklärt wurden, bist du nach Berlin<br />

gezogen.<br />

Jung zu sein und dagegen,<br />

das gehörte einst zusammen.<br />

Wie fühlt es sich<br />

heute an? Geht das noch?<br />

Im Zeitalter des totalen<br />

Pragmatismus, nach dem<br />

Ende der Utopien?<br />

Ein Berliner Rapper<br />

namens Grim104 hat eine<br />

Platte darüber gemacht.<br />

Wie man sie wahrscheinlich<br />

nur einspielen kann,<br />

wenn man unbekannt ist<br />

und noch keine Erwar -<br />

tungs haltung die aufgeblasenen<br />

Antworten diktiert,<br />

die den großen Fragen<br />

sonst so gern folgen. Eigentlich<br />

heißt er Moritz<br />

Wilken und ist 25 Jahre alt,<br />

„Grim104“ ist sein erstes<br />

Soloalbum, ein großar tiges<br />

Debüt.<br />

Wilken zu treffen ist gar nicht so<br />

einfach. Tagsüber hat er keine Zeit, weil<br />

er in die Berufsschule muss. Aufge -<br />

wachsen ist er in Friesland, eigentlich<br />

wäre er nach der Schule lieber nach<br />

Hamburg ge gangen, aber seine Freundin<br />

wollte nach Berlin. Mit der Hauptstadt<br />

der Hipster hat er wenig zu tun. Er hat in<br />

einer Krankenhauswäscherei gearbeitet,<br />

wohnt im Bezirk Wedding, nun macht<br />

er eine Ausbildung.<br />

Er ist groß und blond, redet viel und<br />

schnell. Manchmal macht er plötzlich<br />

eine Pause und sagt dann: „Das soll sich<br />

jetzt nicht komisch anhören.“ Als würde<br />

er sich beim Interview selbst beobachten,<br />

als käme ihm das alles noch nicht ganz<br />

wirklich vor.<br />

Der deutsche HipHop hat eine eigenartige<br />

Geschichte, die viel mit dem Klassenkampf<br />

zwischen Jugendlichen aus der<br />

Mittelschicht und der Unterschicht zu tun<br />

132<br />

hat. Die Musik stand lange im Schatten<br />

der amerikanischen Originale, erst die<br />

migrantischen Gangsta-Rapper gaben ihr<br />

den eigenen Ton, um die Jahrtausendwende<br />

herum.<br />

Die Straßenrapper wie der Offenbacher<br />

Haftbefehl oder der Berliner Bushido sind<br />

meist Kinder der migrantischen Unterschicht<br />

und setzen auf Härte und Stärke.<br />

Sie feiern ihren sozialen Aufstieg, wollen<br />

das Drama ihres Lebens, ihres Triumphs<br />

erzählen. Die Bürgerkinder wie der Ber -<br />

liner Rapper Casper leuchten eher ihre<br />

Rap-Musiker Bolz, Wilken: Kein Geld, aber Angst<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Innenwelten aus und können auch mal<br />

Schwäche zeigen. Man könnte sagen: Die<br />

Straßenrapper sind wie Comicfiguren, die<br />

Bürgerkinder versuchen, echte Menschen<br />

zu sein, Charaktere mit Widersprüchen.<br />

Grim104 lässt sich weder der einen<br />

noch der anderen Seite zuschlagen. Er ist<br />

sensibel und doch zugleich angezogen<br />

von der Härte und der Dunkelheit. Er<br />

kommt vom Dorf und ist den Dorfproblemen<br />

immer noch verbunden, seine Beobachtungsgabe<br />

hat er in der Provinz gelernt,<br />

seine Sprache aber ist die Sprache<br />

der Stadt und ihrer Straßen.<br />

Mit seinem Partner Hendrik Bolz alias<br />

Testo bildet er das Rap-Duo Zugezogen<br />

Maskulin; ein Szenescherz, zum einen<br />

hieß eine der Pioniergruppen des Straßenraps<br />

Westberlin Maskulin, zum anderen<br />

hatten die beiden Angst davor, vor<br />

genau solchen Jungs als Nicht-Berliner<br />

dumm dazustehen. Also lieber gleich sagen,<br />

was sich nicht verbergen lässt. Zugezogen<br />

Maskulin sind ziemlich lustig,<br />

wenn man grobe Späße mag.<br />

Grim104 ist eher nicht so lustig.<br />

Die acht Songs sind minimalistisch,<br />

dunkel und langsam, klingen wie ein<br />

Anfall von Sehnsucht. Immer wieder<br />

schimmert der Wunsch nach der radikalen<br />

Geste durch, die Hoffnung nach dem<br />

großen Knall – gefolgt von der Enttäuschung<br />

darüber, dass er nicht kommt. Die<br />

großen Gefühle von Heranwachsenden<br />

also, Funkmeldungen aus einer Lebensphase,<br />

in der man nirgends<br />

hingehört, kein Geld hat<br />

und keine Verantwortung,<br />

aber eine Menge Angst.<br />

Es geht um Verschwörungstheorien<br />

und um die<br />

Aussicht, trotz Ausbildung<br />

in der Warteschleife ewig<br />

befristeter Jobs kreisen zu<br />

müssen. Ein Stück heißt<br />

nach dem französischen<br />

Linksradikalenmanifest „Der<br />

kommende Aufstand“. Ein<br />

anderes spielt am „2. Mai“,<br />

dann, wenn alle Steine geschmissen<br />

sind und sich<br />

nichts geändert hat. Einmal<br />

reimt sich „Terror, Schleyer,<br />

Landshut“ auf „Lena Meyer-Landrut“.<br />

Das Berliner Umland, die<br />

Gegend, wo sich das neue<br />

Berliner Bürgertum seine<br />

Wochenendhäuser kauft, wird in dem Song<br />

„Crystal Meth in Brandenburg“ zu einer<br />

Horrorfilmlandschaft. Die Wälder, in denen<br />

Städter Ruhe und Erholung suchen,<br />

sind nun das Hinterland, durch das die<br />

Drogen nach Berlin einsickern. Das alles<br />

ist hingetuscht mit der Sicherheit eines<br />

Künstlers, der jahrelang Comics vor sich<br />

hin gekritzelt hat. Kein Strich ist zu viel,<br />

es sind Songs wie ausgefeilte Storyboards.<br />

In keinem Genre des Pop lässt sich so<br />

gut „ich“ sagen wie im HipHop. Grim104<br />

versucht es mit dem Gegenteil, er sagt:<br />

„ich nicht“. Mehr ist wahrscheinlich<br />

gerade nicht drin, wenn man Mitte zwanzig<br />

und nicht einverstanden ist.<br />

TOBIAS RAPP<br />

MARC CANTARELLAS-CALVÓ<br />

Video: Rapper Grim104 über<br />

„Crystal Meth in Brandenburg“<br />

spiegel.de/app502013rap<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Szene<br />

Sport<br />

WM-Auslosung in Costa do Sauípe<br />

MARCUS BRANDT / DPA<br />

Losglück? Diesmal eher nicht. In einer<br />

der anspruchsvollsten Gruppen bei<br />

der Fußball-Weltmeisterschaft trifft die<br />

deutsche Nationalmannschaft in der<br />

Vorrunde auf Portugal, die USA und<br />

Ghana. Dennoch sieht Manager<br />

Oliver Bierhoff den<br />

Sprung ins Achtelfinale als<br />

Pflichtaufgabe an: „Es ist<br />

klar, dass wir da Favorit<br />

sind.“ Genauso wichtig wie<br />

die Beschäftigung mit den<br />

ambitionierten Gegnern<br />

wird für Joachim Löws Betreuerstab<br />

die Vorbereitung<br />

auf die extremen Klima -<br />

verhältnisse im Gastgeberland<br />

Brasilien, dem fünftgrößten<br />

Staat der Erde. Vor<br />

dieser Herausforderung stehen<br />

auch die afrikanischen<br />

Mannschaften, wie Kameruns<br />

Nationaltrainer Volker<br />

Finke betont. „Es ist ein<br />

weitverbreiteter Irrtum zu<br />

glauben, dass Afrikaner<br />

von Geburt an in tropischen<br />

und schwülheißen<br />

Klimazonen besser zurechtkommen“,<br />

sagt Finke.<br />

FUSSBALL-WM<br />

„Heikle Sache“<br />

1<br />

2<br />

3<br />

„Die afrikanischen Profis, die in Euro -<br />

pa spielen, haben keinen Adaptions -<br />

vorsprung mehr, sie haben sich längst<br />

an das europäische Klima angepasst.“<br />

In Kameruns Team etwa, das sich erst<br />

Manaus<br />

31 83<br />

Die deutschen<br />

Gruppengegner:<br />

Portugal in Salvador<br />

am 16. Juni, 13 Uhr *<br />

Ghana in Fortaleza<br />

am 21. Juni, 16 Uhr *<br />

USA in Recife<br />

am 26. Juni, 13 Uhr *<br />

Q Durchschnittliche Höchsttemperatur<br />

im Juni (°C)<br />

Q Luftfeuchtigkeit im Juni (%)<br />

A m azonas<br />

Längste Luftlinie<br />

zwischen zwei Städten:<br />

3215 Kilometer<br />

Das entspricht etwa<br />

der Entfernung zwischen<br />

Berlin und Bagdad.<br />

Cuiabá<br />

31 72<br />

*Ortszeit; Deutsche<br />

Sommerzeit:<br />

– 5 Stunden<br />

São Paulo<br />

22 82<br />

Spielorte<br />

der Fußballweltmeisterschaft<br />

Fortaleza 2 30 80<br />

Belo Horizonte<br />

19 82<br />

Brasília<br />

25 61<br />

25 71<br />

20 81<br />

Rio de Janeiro<br />

Curitiba<br />

Porto Alegre<br />

Salvador<br />

25 74<br />

Mitte November nach zwei Relega -<br />

tionsspielen für die WM qualifizierte<br />

und das in der Gruppe A auf Gast -<br />

geber Brasilien trifft, findet sich kein<br />

Spieler, der in einem Heimatverein<br />

sein Geld verdient. Genauso ist es bei<br />

Ghana, dem deutschen Gruppengegner.<br />

Zu dessen Team gehören Stars wie der<br />

für Schalke 04 spielende Kevin-Prince<br />

Boateng, der Bruder des deutschen Nationalverteidigers<br />

Jérôme, und Michael<br />

Natal<br />

28 84<br />

3<br />

600 km<br />

29 85<br />

Recife<br />

1 27 82<br />

Essien vom Premier-League-Club<br />

FC Chelsea. Für<br />

alle Mann schaften dürften<br />

nun die Tage nach der<br />

WM-Auslosung mitentscheidend<br />

für den Turnierverlauf<br />

sein: Es geht dar -<br />

um, das passende Quartier<br />

zu finden, stra tegisch gut<br />

gelegen, um die Flugdistanzen<br />

so gering wie möglich<br />

und die Klimaextreme<br />

so erträglich wie möglich<br />

zu halten. Eine „heikle Sache“<br />

sei die Entscheidung<br />

für den geeigneten Standort,<br />

sagt Finke. „Denn<br />

wenn dann während des<br />

Turniers irgendwas mit der<br />

Logistik nicht funktioniert,<br />

wenn die Spieler unzu -<br />

frieden sind, dann hast du<br />

als Trainer damit zu leben,<br />

dann trägst du das ganz<br />

allein aus.“<br />

135


Sport<br />

OLYMPIA<br />

Der Coverboy<br />

Der schwule Eissprinter Blake Skjellerup posiert nackt für<br />

Szenemagazine. Bei den Winterspielen in Sotschi<br />

will der Provokateur für die Rechte Homosexueller kämpfen.<br />

Wenn sich Blake Skjellerup bei<br />

Starbucks einen Kaffee holt, begleiten<br />

ihn neuerdings TV-Kameras.<br />

Der amerikanische Fernsehsender<br />

CNN dreht eine Dokumentation über<br />

den Shorttracker, der im Februar bei den<br />

Olympischen Winterspielen in Sotschi<br />

starten wird.<br />

Dabei ist Skjellerup kein Champion in<br />

seinem Sport. Bei den vergangenen Weltcup-Rennen<br />

waren seine besten Platzierungen<br />

die Ränge 26 und 29. Er sei „oft<br />

pleite“, sagt Skjellerup. Er wohnt bei seinem<br />

Cousin in Calgary, weil er sich keine<br />

eigene Wohnung leisten kann, und fährt<br />

jeden Morgen mit dem Bus zum Training.<br />

Trotzdem ist er zurzeit ein gefragter<br />

Sportler.<br />

Blake Skjellerup, 28, ist schwul und<br />

kämpft seit Jahren für die Rechte Homosexueller.<br />

Es gibt nicht viele Sportler, die<br />

sich so stark politisch engagieren wie er.<br />

Weil in Russland im Juni ein umstrittenes<br />

Anti-Homosexuellen-Gesetz verabschiedet<br />

wurde, wollen jetzt alle von ihm wissen,<br />

wie er mit dem Thema bei Olympia<br />

umgeht.<br />

Männer, die Männer lieben, und Frauen,<br />

die Frauen lieben: Mit dem Thema<br />

hat sich der Sport stets schwergetan. Lesbische<br />

und schwule Spitzenathleten bekannten<br />

sich früher allenfalls nach dem<br />

Ende ihrer Karriere zu ihrer Neigung.<br />

Doch die Krusten brechen langsam auf.<br />

Inzwischen wagen auch aktive Profis ein<br />

Outing, wie zuletzt der Boxer Orlando<br />

Cruz aus Puerto Rico, der britische Turmspringer<br />

Tom Daley. Nie zuvor jedoch<br />

hat sich ein schwuler Sportler derart exponiert<br />

und seine Sexualität so zelebriert<br />

wie Skjellerup.<br />

Im Sommer, kurz nachdem in Russland<br />

das Anti-Homosexuellen-Gesetz erlassen<br />

worden war, ließ er sich für das britische<br />

Schwulenmagazin „Gay Times“ ablichten.<br />

Das Heft hob den „Skaterboy“ auf<br />

sein Cover, es zeigt Skjellerup mit geöffnetem<br />

Mund und nackt – nur mit einem<br />

Schlittschuh vor dem Schritt.<br />

Seither ist der Neuseeländer eine Ikone<br />

der Schwulenbewegung, er gilt als der<br />

Athlet, der bei Olympia gegen Putin aufstehen<br />

wird.<br />

136<br />

Das russische Gesetz gegen Homosexualität<br />

ist zum großen Thema vor den<br />

Winterspielen geworden. Es verbietet<br />

„Propaganda unter Minderjährigen für<br />

nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“.<br />

Mit anderen Worten: Wer in Russland<br />

zeigt, dass er schwul ist, kann dafür bestraft<br />

werden.<br />

Athleten wie Skjellerup könnten den<br />

Mund halten, sich auf ihren Wettkampf<br />

konzentrieren und danach schnell wieder<br />

nach Hause fahren. Die lesbische Skispringerin<br />

Daniela Iraschko aus Österreich<br />

zum Beispiel, in Sotschi eine Favoritin<br />

auf die Goldmedaille, möchte sich<br />

lieber nicht zu den Verhältnissen in Russland<br />

äußern. Sie werde daran ohnehin<br />

nichts ändern können, sagt Iraschko.<br />

Skjellerup sieht das anders. Im November<br />

trat er beim Weltcup in Kolomna südöstlich<br />

von Moskau an. Aktivisten aus<br />

der lokalen Szene erzählten ihm, wie<br />

zwei Schwulenhasser vor einem Moskauer<br />

Homosexuellen-Club um sich geschossen<br />

hatten. Skjellerup war schockiert.<br />

Und er ist wütend. Er sagt: „Ich werde<br />

mich nicht verleugnen, nicht für irgendein<br />

falsches Gesetz und auch nicht für Olympia.“<br />

Er gehe in Sotschi nicht nur für sein<br />

Land an den Start, sondern „auch für alle<br />

HARRY ENGELS / GETTY IMAGES (R.)


Homosexuellen, für eine weltweite Gemeinschaft,<br />

die hart für ihre Rechte kämpfen<br />

muss“.<br />

Skjellerup stammt aus Christchurch, einer<br />

Stadt auf der Südinsel Neuseelands.<br />

Als Zehnjähriger begann er mit dem Eisschnelllaufen,<br />

mit 16 realisierte er, dass<br />

er wohl nicht auf Mädchen steht. Seine<br />

Mitschüler schikanierten ihn, beschimpften<br />

ihn als Schwuchtel. „Wenn sie mich<br />

verprügelt hätten, okay“, sagt Skjellerup,<br />

„aber die Sprüche waren die Hölle.“<br />

Abends im Bett habe er dafür gebetet,<br />

am nächsten Morgen als Hetero aufzuwachen.<br />

Er wollte, dass es aufhört, aber es<br />

hörte natürlich nicht auf.<br />

„Damals dachte ich, Schwulsein und<br />

die Olympischen Spiele, die beiden Dinge<br />

passen nicht zusammen“, sagt Skjellerup,<br />

„ich dachte, ein Schwuler kann kein Leistungssportler<br />

sein.“ Trotzdem trainierte<br />

er hart. Skjellerup wurde sechsmal neuseeländischer<br />

Shorttrack-Meister, startete<br />

im Weltcup, 2010 qualifizierte er sich erstmals<br />

für Olympia.<br />

Vor den Winterspielen in Vancouver<br />

klärte er seine Familie über seine Homosexualität<br />

auf. Sein damaliger Freund begleitete<br />

ihn zu den Wettkämpfen nach Kanada.<br />

Skjellerup belegte über 1000 Meter<br />

Platz 16. Nach Olympia outete er sich auch<br />

öffentlich, durch ein Interview in einem<br />

australischen Magazin. Inzwischen kennt<br />

fast jeder in seiner Heimat seine Geschichte.<br />

Skjellerup versteht sich als Aktivist. Er<br />

besuchte Highschools und erzählte den<br />

Schülern, wie er gemobbt wurde, von seiner<br />

Zerrissenheit, seinen Ängsten. Als Botschafter<br />

von „Athlete Ally“, einer Organisation,<br />

die Homophobie im Sport bekämpft,<br />

hält er Vorträge und beteiligt sich<br />

nun auch an einer Kampagne gegen das<br />

russische Anti-Homosexuellen-Gesetz.<br />

Shorttracker sind harte Kerle. Sie<br />

kämpfen bei den Rennen mit allen Tricks,<br />

manchmal auch mit den Ellenbogen. Die<br />

spektakulären Kurvenfahrten bei Tempo<br />

50 enden oft mit Massenstürzen.<br />

Skjellerup wird in Sotschi über 500 Meter<br />

starten. Er liebt die Sprintdistanz, man<br />

braucht eine gute Technik, Kraft, Mut.<br />

Aber seine Ambitionen als Sportler verschwinden<br />

hinter seinem politischen Auftrag,<br />

der immer größer wird.<br />

Vor eineinhalb Wochen trat er zum Tag<br />

der Menschenrechte als Gastdozent an<br />

der Universität in Calgary auf. Davor hatte<br />

sein Manager zu einem Pressetermin<br />

nach London eingeladen. Aus der ganzen<br />

Welt kamen Reporter und Fotografen,<br />

Skjellerup saß in einem Nebenraum eines<br />

Restaurants in der Nähe des Hyde Park.<br />

Niemand interessierte sich für seinen<br />

Sport, es ging nur um die Kampagne.<br />

Wie sein Protest in Sotschi aussehen<br />

werde, wurde er gefragt. Blake Skjellerup,<br />

gegelte Haare, gebleichte Zähne, lächelte.<br />

Ja, er habe einen Plan. Vor seinem<br />

Rennen werde er sich einen Pin in<br />

Regenbogenfarben anstecken, es ist das<br />

Symbol der Schwulen- und Lesbenbewegung.<br />

Über alles Weitere könne er nicht<br />

sprechen.<br />

Elf Schwulen- und Lesbenverbände unterstützen<br />

den Olympiaauftritt des Shorttrackers.<br />

Bei einer Spendenaktion für seine<br />

Mission Sotschi kamen 30000 Dollar<br />

zusammen. Die Erwartungen sind riesig.<br />

In der Schwulenszene wird Skjellerup<br />

mit Jesse Owens verglichen. Der farbige<br />

US-Leichtathlet gewann bei den Sommerspielen<br />

1936 in Berlin vor den Augen<br />

Adolf Hitlers vier Goldmedaillen. Nun<br />

soll Skjellerup aus Christchurch die russische<br />

Politik bloßstellen.<br />

In der Weltrangliste über 500 Meter<br />

liegt Skjellerup im Moment auf Platz 50,<br />

in dieser Form würde er in Sotschi wohl<br />

im Vorlauf ausscheiden, er müsste Olympia<br />

durch die Hintertür verlassen, die<br />

Kampagne würde untergehen.<br />

Er sagt, es sei höchste Zeit, mit der Vorbereitung<br />

zu beginnen. LUKAS EBERLE<br />

Shorttracker Skjellerup (l.)


Sport<br />

Bayern-Macher Hoeneß, Guardiola, Rummenigge<br />

FUSSBALL<br />

Jenseits von Toren<br />

Bei Pep Guardiola soll das Publikum<br />

immer ein Spektakel bekommen. Aber es muss lernen,<br />

richtig hinzuschauen. Von Jörg Kramer<br />

PIXATHLON<br />

Vergangene Woche war Pep Guardiola<br />

mit seiner Tochter im Zirkus.<br />

Der Bayern-Trainer fungierte als<br />

Stargast und Schirmherr einer Münchner<br />

Charity-Aufführung von Roncalli, alsbald<br />

griff er selbst ins Geschehen ein: Einem<br />

Jongleur warf er einen Ball zu.<br />

Keine große Aktion. Doch wenn man<br />

um sein Talent zur Perfektionierung von<br />

Showveranstaltungen weiß, kann man<br />

sich ausmalen, was in der Manege los<br />

138<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

wäre, ließe man ihm nur etwas mehr<br />

Spielraum. Guardiola käme womöglich<br />

auf die Idee, das Zirkuspferd ins Trapez<br />

zu setzen, den Clown zu longieren oder<br />

die Hochseilakrobaten ins Orchester einzuwechseln.<br />

Womöglich wäre am Ende<br />

alles noch bunter, auf eine Weise zumindest,<br />

über die man bisher noch nicht nachgedacht<br />

hat.<br />

Im deutschen Fußball ist der kreative<br />

Katalane gerade dabei, den Blick des Publikums<br />

auf das Spiel zu schulen. Und er<br />

hat längst das Verständnis von der Rolle<br />

eines Trainers verändert. Bei Bayern<br />

München sitzt er am Rand wie an einer<br />

Spielkonsole. Es ist ja nicht so, dass die<br />

Mannschaft auf seinen Fingerzeig hin<br />

bloß mal eben das System wechselt. Der<br />

Trainer ändert, indem er Figuren verschiebt<br />

oder Anweisungen gibt, mitunter<br />

das ganze Programm, schaltet um wie auf<br />

eine andere sportliche Disziplin.


Nie zuvor war ein Trainer so spielbestimmend.<br />

Vergangene Woche im DFB-<br />

Pokal, als das aggressive Pressing des FC<br />

Augsburg Probleme bereitete: Guardiola<br />

ließ Thiago und Javi Martínez die Positionen<br />

tauschen – und die Bayern hatten<br />

das Spiel im Griff. Oder kürzlich beim<br />

Rasenschach gegen Borussia Dortmund,<br />

als der Gegner seine typische Balleroberungswut<br />

auf tückische Weise zurückhielt:<br />

die ganz hohe Schule. Guardiola zieht<br />

den Kämpfer Martínez aus dem Mittelfeld,<br />

parkt ihn aber, den nächsten Zug<br />

mitdenkend, nur eine Weile in der Verteidigung.<br />

Später, als das Führungstor erzielt<br />

ist, braucht er ihn wieder als Stabilisator<br />

vor der Abwehr.<br />

Geht es um eine Machtdemonstration?<br />

Sind die emsigen Interventionen von der<br />

Seitenlinie ein Selbstzweck? Guardiola<br />

zielt auf den Beifall, und zwar für das<br />

Spiel. Wozu die ganze Akribie führen<br />

kann, wird wahrscheinlich an diesem<br />

Dienstag wieder zu beobachten sein – im<br />

Rückspiel gegen Manchester City in der<br />

Champions League, wenn eine etwa<br />

gleich stark besetzte Mannschaft die<br />

Münchner zur Höchstleistung zwingt.<br />

Vor zehn Wochen, beim Hinspiel in<br />

Manchester, kratzten Guardiolas Männer<br />

an der Perfektion. Es war der wohl<br />

schönste, künstlerisch wertvollste Fußballabend<br />

der Saison.<br />

Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz<br />

Rummenigge nannte das Spiel „eine Augenweide“.<br />

Die Münchner gewannen 3:1,<br />

aber das war es nicht. Selbst Präsident<br />

Uli Hoeneß, den normalerweise nur die<br />

Punkte und der Vorsprung in der Tabelle<br />

interessieren, schien ergriffen von der ästhetischen<br />

Dimension eines Fußballspiels.<br />

Er erteilte ein „summa cum laude“.<br />

Gemeint ist eine Qualität jenseits von<br />

Toren und Tabellen, wenn Pep Guardiola<br />

sagt, seine Mannschaft solle „gut“ spielen.<br />

„Für den einen ist es bedeutender zu gewinnen,<br />

für den anderen, dass seine<br />

Mannschaft gut spielt“, erklärte er neulich<br />

im ZDF. Es war die Frage aufgekommen,<br />

wie ein Trainer so missvergnügt wirken<br />

könne, dessen Mannschaft pausenlos<br />

neue Rekorde aufstellt. Dies sei noch<br />

nicht seine Mannschaft, hatte Guardiola<br />

bekannt, „ich fühle noch nicht das Spiel,<br />

wie ich es mag“.<br />

Es hat schon genügsamere Lehrer gegeben.<br />

Rund 40 Bundesligaspiele unbesiegt,<br />

zehn Siege in Folge in der Cham -<br />

pions League, das alles zählt nicht für den<br />

schmalen Mann im Maßanzug. „Wenn<br />

wir nicht die Fähigkeit behalten zu erkennen,<br />

dass wir noch nicht perfekt sind“,<br />

sagt er, dann werde man noch alles verspielen.<br />

Pep Guardiola ist davon überzeugt,<br />

dass ein Team nur dann dauerhaft<br />

Erfolg haben kann, wenn es gut spielt.<br />

Die Bestimmung „gut“ hat dabei durchaus<br />

eine ethische Konnotation. Guardiolas<br />

Elf soll anständig gewinnen, nicht die<br />

Punkte stehlen, indem sie sich vor dem<br />

Tor verschanzt und nur einmal einen Konter<br />

setzt. Auch nicht durch Betrug, also<br />

Schwalben, oder mit althergebrachter<br />

Bayern-München-Effizienz: durch einen<br />

wuchtigen Kopfball kurz vor Schluss.<br />

Guardiola-Mannschaften verdienen<br />

sich den Sieg. Mit hoher Laufintensität<br />

sollen sie immerfort Anspielstationen<br />

schaffen, die Voraussetzung für schnelles<br />

Passspiel. Damit dominieren sie, wenn alles<br />

klappt, ihren Gegner, entkräften ihn<br />

und rauben ihm den letzten Nerv. Guardiolas<br />

Lieblingstore fallen nicht, sie werden<br />

kreiert – mit Raffinesse, im Mittelfeld,<br />

stilvoll und irgendwie edel.<br />

Es gehe darum, eine gute Show hinzulegen,<br />

sagt der Meister. „Ich habe meine<br />

Spieler immer gebeten, alles zu geben,<br />

weil die Leute das merken.“ Er werde<br />

dulden, dass seine Spieler danebenschießen,<br />

„aber niemals, dass sie sich nicht anstrengen“.<br />

Ungeklärt bleibt vorerst, wie der Mann<br />

mit seinem Moral-Fußball eigentlich zum<br />

FC Bayern passt. Die Frage stellt sich<br />

nicht wegen der Affären der Bosse, Rummenigges<br />

Zollvergehen mit Rolex-Uhren<br />

oder Hoeneß’ Steuerangelegenheiten. Es<br />

„Ich habe meine Spieler<br />

immer gebeten,<br />

alles zu geben, weil die<br />

Leute das merken.“<br />

geht um das Spiel. Und das Spiel des Rekordmeisters<br />

fußt auf einer Tradition des<br />

zynischen Ergebnisfußballs. Bayern-Fans<br />

verabschieden sich nach dieser Tradition<br />

mit achselzuckender Ätsch-Haltung aus<br />

der Arena: So sind wir halt, mia san mia.<br />

Ein Trainer, der eine eigene Gesinnung<br />

pflegt, zu der auch noch Bescheidenheit<br />

gehört, will sich nur schwer ins Bayern-<br />

Weltbild fügen. Darin hatten Trainer<br />

zwar stets zu gewinnen, aber sonst nicht<br />

viel zu melden. Der Großteil des Ruhms<br />

war den Vereinsfunktionären vorbehalten,<br />

die dem Coach all die teuren Spieler<br />

beschafften, herausgekauft aus der Belegschaft<br />

der Konkurrenz.<br />

Guardiola bekam sogar das Ensemble<br />

eines Triple-Siegers zur Verfügung gestellt,<br />

ergänzt um die Stars Mario Götze<br />

und Thiago Alcántara. Und trotzdem erkennt<br />

jeder Fachmann, wer im Prozess<br />

der Verwandlung und Veredelung des<br />

Bayern-Stils die Hauptrolle spielt.<br />

Die Siege, die unterwegs eingefahren<br />

werden, sind jetzt nicht das Ziel, sondern<br />

der Weg – ein Mittel zum Zweck. Sie dienen<br />

Guardiola derzeit, da es im Zusammenspiel<br />

auch von Mannschaft und Trainer<br />

oft noch holpert, zur Ruhigstellung<br />

des Umfelds, Labsal für die Fans und auch<br />

für die Bosse.<br />

Die reden manchmal über ihn wie über<br />

einen Kauz, der schon irgendwann zur<br />

Vernunft kommt. „Pep ist noch in der Findungsphase“,<br />

so kommentierte Hoeneß<br />

die wechselnden Mannschaftsaufstellungen,<br />

als Philipp Lahm anfing, ab und zu<br />

im Mittelfeld aufzulaufen.<br />

Inzwischen ist die vermeintliche Probierphase<br />

ein Dauerzustand, personelle<br />

und taktische Umstellungen gehören da -<br />

zu wie Schienbeinschützer und Eckbälle.<br />

Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte Guar -<br />

diolas Bayern-Mannschaft ein elfköpfiges<br />

Ungeheuer, das jederzeit seine Form ändern<br />

könne, unberechenbar für Freund<br />

und Feind.<br />

Schwer zu sagen, ob die Bayern das so<br />

geplant hatten, als sie den pausierenden<br />

Erfolgscoach aus Barcelona als Nachfolger<br />

von Jupp Heynckes aussuchten. Oder<br />

ob er einfach nur auf dem Markt war.<br />

Jedenfalls verstehen sie ihn nicht.<br />

Sportvorstand Matthias Sammer springt<br />

dem Trainer fröhlich in den Nacken,<br />

wenn ein Tor fällt. Wenn Guardiola dann<br />

erschrickt, sieht man ihm an, dass er diese<br />

Art Nähe nicht schätzt.<br />

Als Sammer nach einem Heimsieg gegen<br />

Hannover 96 den mal wieder grüblerischen<br />

Coach in seinem Anspruchsdenken<br />

bestärken wollte, redete er am Thema<br />

vorbei. Sammer kritisierte, das Team<br />

spiele lethargisch, ohne Emotionen. Guar -<br />

diola beanstandet aber nicht die Einstellung,<br />

sondern die Ausführung.<br />

Die Frage ist auch, ob er zu diesem<br />

Fußballland passt. In <strong>Deutschland</strong> wird<br />

die Arbeit von Torjägern höher geschätzt<br />

als die Kreativität der Passgeber. Und die<br />

hiesige Fußballleidenschaft bemisst sich<br />

an der hohen Zahl von Menschen, die<br />

samstags die Bundesliga live bei Sky<br />

schauen, in Gemeinschaft, in Kneipen –<br />

und auf dem Kanal „Konferenz“. Dort<br />

sieht man nicht die Spiele, sondern die<br />

Tore. Man wird hin- und hergeschickt und<br />

über die Zwischenstände informiert – die<br />

könnte man genauso gut im Internet verfolgen<br />

oder im Videotext.<br />

Viele Leute sind nicht an der Spielentwicklung<br />

interessiert, an Ästhetik oder<br />

Strategie, sondern schlicht an jener Dramatik,<br />

die in der Frage liegt, wer wohl<br />

gewinnt. Als Leser würden sie in Büchern<br />

die Landschaftsbeschreibungen überspringen,<br />

um schneller an die Auflösung des<br />

Kriminalfalls oder Beziehungsdramas zu<br />

gelangen. In Spanien gibt es keine Live-<br />

Konferenz, schon wegen der unterschiedlichen<br />

Anstoßzeiten.<br />

Dass im Fußball eine Schönheit abseits<br />

von Toren und Torraumszenen existiert,<br />

bringt Guardiola den Leuten vielleicht<br />

bei. Seine Schüler wissen es schon.<br />

Der Nationalspieler Thomas Müller<br />

zum Beispiel hat begriffen, was sein Trainer<br />

will. Nach der Vorführung gegen Manchester<br />

stellte er fest: Dies sei „Fußball,<br />

der glücklich macht“.<br />

◆<br />

DER SPIEGEL 50/2013 139


Prisma<br />

Gläubige beim Gebet<br />

MOBILFUNK<br />

Gebetshelfer für Muslime<br />

ARTENSCHUTZ<br />

Haushunde gegen Raubkatzen<br />

Geparden holen sich ihre Beute gern in<br />

Rinderfarmen. Die Viehbauern greifen<br />

dann häufig zur Waffe und machen<br />

Jagd auf die bedrohten Wildtiere. Britische<br />

Ökologen von der University of<br />

Kent empfehlen jetzt eine sanftere Methode,<br />

um die Raubkatzen abzuwehren:<br />

Geparden<br />

ALEXANDROS MICHAILIDIS<br />

Eine SIM-Karte für strenggläubige<br />

Muslime hat der griechische Elektroingenieur<br />

Yiannis Hatzopoulos<br />

entwickelt. Mit Hilfe der Islamic SIM<br />

im Handy sollen Gläubige überall auf<br />

der Welt die Gebetsrichtung nach<br />

Mekka bestimmen können. Bezogen<br />

auf den jeweiligen Aufenthaltsort erfahren<br />

sie die richtigen Zeiten für<br />

ihre täglichen Gebete per SMS. Während<br />

der religiösen Pflichten wird<br />

das Telefon automatisch auf stumm<br />

geschaltet, so dass keine Anrufe stören<br />

können. Diverse Apps mit Sonderfunktionen<br />

für Muslime sind zwar<br />

bereits auf dem Markt. Doch sie<br />

funktionieren nur auf modernen<br />

Smartphones. Der Chip des Griechen<br />

ist dagegen für ältere Billighandys gedacht,<br />

wie sie in asiatischen und afrikanischen<br />

Ländern noch immer weit<br />

verbreitet sind.<br />

Herdenschutzhunde. Bei Feldstudien in<br />

Südafrika stellten sie fest, dass es bei<br />

über 90 Prozent der Farmen nicht mehr<br />

zu Verlusten durch Raubkatzen kam,<br />

wenn Hunde die Herden bewachten.<br />

Die Viehhalter sparten dadurch jährlich<br />

umgerechnet mehrere hundert Euro.<br />

ROBERT HENNO / REPORTERS / LAIF<br />

KOMMENTAR<br />

Verschaltet<br />

Von Rafaela von Bredow<br />

Eine neue Hirnwindung beim<br />

Mann entdeckt? Pinkelt er deswegen<br />

im Stehen? Ein Neuronenhäufchen<br />

im Sprachzentrum der Frau?<br />

Erklärt das, warum sie so viel<br />

quasselt? Kaum je ist Wissenschaft<br />

beliebter, als wenn es um den kleinen<br />

Unterschied zwischen Mann<br />

und Weib geht. Dürstend nach Bestätigung<br />

alltäglicher Marsmann-<br />

Venusfrau-Beobachtungen, klickt<br />

und kommentiert sich das Publikum<br />

zahlreich und lustvoll durch<br />

jeden Bericht, der neue Entdeckungen<br />

präsentiert. Es ist nur bitter,<br />

wenn die Leute mehr Mario<br />

Barth bekommen als Wissenschaft.<br />

So geschehen vorige Woche, als<br />

eine Studie der University of<br />

Pennsylvania die Runde machte:<br />

Die Forscher hatten festgestellt,<br />

dass viele Nervenbahnen im Kopf<br />

weiblicher Probanden beide Hirnhälften<br />

verschalten, während die<br />

Leitungen der Männer innerhalb<br />

der jeweiligen Hemisphäre enger<br />

vernetzt sind. So weit, so seriös.<br />

Wegen dieser kurzen Wege,<br />

schlussfolgerten die Wissenschaftler,<br />

könne der Mann Wahrnehmung<br />

und Bewegung besser koordinieren,<br />

während die Frau im<br />

Kopf „fest verdrahtet“ dafür sei,<br />

Logik (links) und Intuition (rechts)<br />

zugleich spielen zu lassen.<br />

Mit dem gleichen Wahrheitsgehalt<br />

könnte man behaupten: Je zotteliger<br />

das Haar, desto verdrehter die<br />

Denke. Es ist schlicht nicht bekannt,<br />

wie sich die Verschaltung<br />

der Neuronen auf Kognition und<br />

Verhalten auswirkt. Wahrscheinlich<br />

hat sie mehr mit der Hirn -<br />

größe als mit dem Geschlecht zu<br />

tun. Und: „Fest verdrahtet“ klingt,<br />

als hätte die Biologie Mann und<br />

Weib programmiert wie Ratten<br />

oder Nacktmulle. Tatsächlich aber<br />

sortiert und formiert sich das<br />

menschliche Gehirn immerfort<br />

neu. Keine Rede davon bei den<br />

Forschern aus Pennsylvania. Nicht<br />

sexy genug als Botschaft? Die Intuition,<br />

fabulierte eine der Wissenschaftlerinnen<br />

lieber weiter,<br />

helfe Frauen womöglich dabei,<br />

„gute Mütter“ zu sein. Wo war da<br />

bei ihr die Verschaltung mit links?<br />

140 DER SPIEGEL 50/2013


Wissenschaft · Technik<br />

CARSTEN REHDER / DPA<br />

Die Schönheit des Sturms Mit kräftigen Böen peitschte<br />

der Orkan „Xaver“ am Donnerstag voriger Woche meterhohe<br />

Nordseewellen gegen den Fähranleger im nordfriesischen<br />

Dagebüll. Am Tag darauf gaben die Sturmflut-Lagezentren in<br />

Schleswig-Holstein Entwarnung: Überall an der Küste hatten<br />

die Deiche den Wassermassen standgehalten. Auch in Hamburg<br />

gingen die schweren Sturmfluten glimpflich aus. Der<br />

Deutsche Wetterdienst wertete „Xaver“ als „recht kräftigen<br />

Orkan“, der sich aber „nicht mit den großen Stürmen des<br />

vergangenen Jahrhunderts vergleichen“ lasse.<br />

RAUCHEN<br />

E-Zigaretten verstärken die Sucht<br />

JOE RAEDLE / GETTY IMAGES<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Elektrische Zigaretten (E-Zigaretten)<br />

helfen Jugendlichen offenbar nicht,<br />

vom Rauchen loszukommen – im Gegenteil.<br />

Zu diesem Ergebnis gelangen<br />

Mediziner und Suchtforscher von der<br />

University of California in San Francisco,<br />

die die Rauchgewohnheiten von<br />

über 75000 koreanischen Jugendlichen<br />

untersucht haben. In E-Zigaretten wird<br />

kein Tabak verbrannt, sondern nikotinhaltige<br />

Flüssigkeit verdampft und in -<br />

haliert. Bei der Studie zeigte sich, dass<br />

viele der Jugendlichen die E-Zigaretten<br />

als Entwöhnungshilfen eingesetzt<br />

hatten, um sich von der Tabaksucht zu<br />

befreien. Doch der Erfolg war bescheiden:<br />

Rund 80 Prozent der Befragten<br />

qualmten auch weiterhin normale<br />

Zigaretten, in vielen Fällen stieg der<br />

Konsum sogar deutlich an. „E-Zigaretten<br />

könnten zu einem neuen Pfad in<br />

die Nikotinabhängigkeit werden“,<br />

heißt es in der Studie. Sie machten es<br />

den Heranwachsenden häufig noch<br />

schwerer, auf herkömm liche Zigaretten<br />

zu verzichten. In den USA hat sich<br />

die Zahl der jugendlichen E-Zigaretten-Raucher<br />

von 2011 auf 2012 mehr<br />

als verdoppelt.<br />

Jugendliche mit E-Zigarette<br />

141


Wissenschaft<br />

FISCHEREI<br />

Trawler an<br />

der Kette<br />

Scholle, Dorsch und Hering der Ostsee geht es wieder<br />

erstaunlich gut. Auch in der Nordsee erholen sich<br />

manche Bestände. Sanfte Fischerei soll den Raubbau in<br />

den Meeren nun europaweit stoppen.<br />

Fischtrawler auf der Nordsee<br />

142<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Als die Männer das Netz über dem<br />

Schiffsdeck öffnen, klatschen fette<br />

Dorsche in die Fischkörbe aus<br />

Plastik. Glitschige Schollen und Flundern,<br />

rau wie Sandpapier, schnappen nach Luft.<br />

Steinbutte, so groß wie zwei kräftige Fischerhände,<br />

winden sich zwischen silbrigen<br />

Heringen und platten Klieschen.<br />

Gleich obenauf liegt ein besonders großer<br />

Dorsch mit weit aufgerissenem Maul.<br />

„Sicher über sechs Kilo schwer“, schätzt<br />

Martina Bleil und blickt hinunter auf das<br />

Flossentier, „der ist topfit.“ Etwa acht<br />

Jahre alt sei das Weibchen, sagt die Fischereibiologin,<br />

„das hätte bald wieder<br />

abgelaicht“.<br />

Bleil arbeitet am Thünen-Institut für<br />

Ostseefischerei (Thünen-OF) in Rostock,<br />

einer dem Landwirtschaftsministerium<br />

unterstellten Bundeseinrichtung. Reiche<br />

Beute haben die Forscherin und ihre Kollegen<br />

an diesem klaren Novembertag in<br />

der Mecklenburger Bucht gemacht. „Wir<br />

sind in der Ostsee mit den Fischbeständen<br />

auf einem sehr guten Weg“, sagt Bleil.<br />

„Wer Schollen oder Heringe isst, muss<br />

kein schlechtes Gewissen mehr haben.“<br />

In den Meeren vor den deutschen Küsten<br />

geschieht Verblüffendes. Lange galten<br />

die meisten Arten als überfischt. Nun erholen<br />

sich einige Bestände erstaunlich<br />

schnell. Teilweise in der Nordsee, vor allem<br />

aber in der Ostsee beobachten Experten<br />

einen deutlichen Aufwärtstrend.<br />

„Wir gehen davon aus, dass die Ostsee<br />

das erste europäische Meer sein wird, das<br />

vollständig nachhaltig befischt werden<br />

kann“, sagt Christopher Zimmermann,<br />

Leiter des Thünen-OF in Rostock, „das<br />

wäre ein Riesenerfolg.“<br />

In diesem Jahr hat die EU zudem eine<br />

Reform der „Gemeinsamen Fischereipolitik“<br />

auf den Weg gebracht, die „den positiven<br />

Trend noch beschleunigen wird“,<br />

prophezeit Zimmermann. Tatsächlich<br />

könnten die neuen Regeln eine Zeitenwende<br />

einläuten.<br />

„Bislang hat die Ministerrunde in einer<br />

Nacht-und-Nebel-Sitzung irgendwelche<br />

Quoten für die Fischerei festgelegt“, berichtet<br />

die schleswig-holsteinische EU-<br />

Parlamentarierin Ulrike Rodust (SPD),<br />

die in Brüssel die Reform federführend<br />

durchgeboxt hat. Mit einem solchen<br />

„Kuhhandel“ zwischen den Mitgliedstaaten,<br />

der die Fischbestände unzureichend<br />

schütze, sei nun Schluss.<br />

Rodust erwartet, dass striktere Höchstfangmengen<br />

europaweit die Trendwende<br />

bringen werden. Im Januar tritt die Verordnung<br />

in Kraft:<br />

‣ Künftig sollen die Fischereiquoten ausschließlich<br />

nach wissenschaftlichen Kriterien<br />

festgelegt werden. Spätestens<br />

2020 sollen alle Bestände nur noch bis<br />

zum „höchstmöglichen nachhaltigen<br />

Ertrag“ befischt werden.<br />

‣ Unerwünschter Beifang soll angelandet<br />

und auf die Quote angerechnet werden.<br />

Je mehr Beifang die Fischer machen,<br />

desto weniger vermarktbaren Fisch<br />

können sie dann also fangen. Die Regelung<br />

schafft einen Anreiz, selektivere<br />

Fangmethoden zu verwenden.<br />

‣ Subventionen für den Neubau von<br />

Trawlern werden gestrichen. Stattdessen<br />

steht mehr Geld für die Kontrolle<br />

der Fischer und die Erforschung der<br />

Bestände bereit.<br />

‣ Für EU-Fischer gelten die neuen Regeln<br />

auch außerhalb Europas. Europäische<br />

Trawler können dann etwa nicht<br />

mehr einfach das Meeresgetier vor den<br />

Küsten Afrikas abräumen.<br />

‣ Die Details der Fischfang-Regulierung<br />

werden regional verhandelt. In der<br />

Irischen See könnten bald andere<br />

Vorschriften gelten als vor Spaniens<br />

Küsten.<br />

In der Ostsee ist schon annähernd geschafft,<br />

was auch in anderen europäischen<br />

Seegebieten gelingen soll. Möglich<br />

sei der Erfolg durch die Einigkeit der Ostseeanrainer<br />

geworden, das Meer nur noch<br />

nachhaltig zu befischen, berichtet Zimmermann.<br />

Das war nicht immer so: Noch bis 2007<br />

zogen polnische Fischer rund hundert<br />

Prozent mehr Dorsch als von Brüssel zugebilligt<br />

aus dem Wasser. Erst die neue<br />

Regierung unter Donald Tusk legte „die<br />

Trawler an die Kette“, berichtet Fischereiforscher<br />

Zimmermann. „Inzwischen<br />

halten sich auch die Polen an die Regeln.“<br />

Der Erfolg der Ostsee-Fischereipolitik<br />

ist unübersehbar. Dem Dorsch in der östlichen<br />

Ostsee beispielsweise, 2005 noch<br />

stark überfischt, gehe es inzwischen „sehr<br />

gut“, berichtet Zimmermann. Die Schollenbestände<br />

seien „in wunderbarem Zustand“.<br />

Der Hering der östlichen Ostsee<br />

produziere wieder kräftig Nachwuchs (siehe<br />

Grafik).<br />

Und auch in der Nordsee geht es einigen<br />

Fischarten wieder besser. Forscher<br />

des Thünen-Instituts für Seefischerei in<br />

Hamburg untersuchten unlängst 43 Fischbestände<br />

und bescheinigten 27 davon einen<br />

„guten ökologischen Zustand“. Das<br />

Bundeslandwirtschaftsministerium wiederum<br />

lobt, dass „mehr als die Hälfte der<br />

Fischbestände in Nordsee und Nordostatlantik“<br />

schon heute „nachhaltig bewirtschaftet“<br />

werde.<br />

Insbesondere Hering und Scholle entwickelten<br />

sich in der Nordsee gut, bestätigt<br />

Zimmermann. Selbst der Nordsee -<br />

kabeljau, jahrelang Sorgenkind der Biologen,<br />

zeige endlich erste Anzeichen von<br />

Erholung.<br />

Zimmermann ist einer der Manager<br />

des Fischwunders. Er sitzt für <strong>Deutschland</strong><br />

im Forscherverbund International<br />

Council for the Exploration of the Sea<br />

(ICES), der die Empfehlungen für die EU-<br />

Fangquoten ausarbeitet. Für die Ostsee<br />

werden die Daten der Bestandsanalyse<br />

durch Einsatz von Forschungsschiffen wie<br />

der „Clupea“ gewonnen.<br />

Fischereibiologin Martina Bleil fährt regelmäßig<br />

hinaus aufs Meer. Zusammen<br />

Seelachs<br />

Mehr Fisch<br />

Trend für die Bestände ausgewählter Arten in Nord- und Ostsee<br />

positiv<br />

negativ<br />

SCHWEDEN<br />

Dorsch<br />

Östliche<br />

Ostsee<br />

Hering<br />

Hering<br />

Hering<br />

PEER BROCKHÖFER / ACTION PRESS<br />

Scholle<br />

Nordsee<br />

Kabeljau<br />

Aal<br />

DÄNEMARK<br />

DEUTSCHLAND<br />

Dorsch<br />

Scholle<br />

Sprotte<br />

Westliche<br />

Ostsee<br />

Kliesche<br />

Aal<br />

Quelle: Thünen-Institut für Ostseefischerei<br />

POLEN<br />

DER SPIEGEL 50/2013 143


Wissenschaft<br />

mit ihren Helfern zieht sie dann ein standardisiertes<br />

Forschungsnetz vom Typ<br />

TV3/520 durch die Fluten. Im Wasser öffnet<br />

das Netz seinen etwa 20 Meter breiten<br />

und 2 Meter hohen Schlund. Bei nur 22<br />

Millimeter Maschenweite entkommt<br />

kaum ein schwimmendes Meerestier dem<br />

Fangapparat.<br />

An diesem Novembertag steuert „Clupea“-Kapitän<br />

Rolf Singer zwei Entnahmestellen<br />

an. Ist der Fang an Bord gezogen,<br />

schnappt sich Bleil einen Dorsch<br />

nach dem anderen und wuchtet ihn auf<br />

einen nahen Tisch. Dann nimmt sie Maß.<br />

„84 Zentimeter Länge“, ruft sie den Helfern<br />

zu. Geübt schneidet sie die Tiere am<br />

Bauch mit einer Schere auf. Bleils Plastikhandschuhe<br />

sind rot verschmiert. Fischblut<br />

tropft auf das grüngestrichene Arbeitsdeck.<br />

„Weiblich“, ruft sie. „Magen:<br />

65 Gramm, Leber: 170 Gramm“ – so geht<br />

es in einem fort.<br />

Die Datensammelei ist Grundlage für<br />

die Empfehlungen des ICES. Die Höchstfangmengen<br />

für viele Fischbestände haben<br />

die Experten in den vergangenen Jahren<br />

deutlich nach unten korrigiert. Während<br />

die Bestände früher oftmals radikal<br />

überfischt wurden, gilt spätestens ab Januar<br />

das strikte Nachhaltigkeitsprinzip.<br />

Der Fischfang soll dabei so reguliert<br />

werden, dass sich der Bestand langfristig<br />

stabilisieren oder sogar vergrößern kann.<br />

Den Fischern solle es ermöglicht werden,<br />

„mit minimalem Aufwand den maximalen<br />

Ertrag“ (Zimmermann) zu ernten –<br />

und zwar dauerhaft.<br />

Geht es den Beständen gut, lässt sich<br />

mehr fangen; auf diese Weise sollen auch<br />

die Fischer von der Reform profitieren.<br />

Der überfischte Kabeljau-Bestand der<br />

Nordsee etwa liefert seit über zehn Jahren<br />

einen Ertrag von maximal 40000 Tonnen<br />

jährlich. Wäre er in gutem Zustand,<br />

erläutert Zimmermann, könnte leicht<br />

mehr als dreimal so viel Fisch gefangen<br />

werden.<br />

Für eine Reform der EU-Fischereipolitik<br />

gibt es daher gute Gründe – zumal<br />

die Fangmengen vielerorts bislang weit<br />

über den wissenschaftlichen Empfehlungen<br />

lagen. Zudem ist knapp ein Viertel<br />

der von der EU-Flotte gefangenen Fische<br />

Beifang und geht direkt zurück ins Wasser.<br />

Die wenigsten von ihnen überleben.<br />

„Der Raubbau muss ein Ende haben“,<br />

sagt Rodust. Die Politikerin ist zuversichtlich,<br />

dass dies auch gelingen kann. Möglichst<br />

bis 2015, spätestens jedoch bis 2020<br />

sollen alle EU-Fischbestände auf die neue,<br />

sanfte Art befischt werden. Die EU könne<br />

weltweit Vorbild sein, sagt Rodust: „Wir<br />

sind für die Reform international sehr<br />

gelobt worden.“<br />

Ganz so positiv mag das allerdings<br />

nicht jeder Fischereiexperte sehen. „Die<br />

Reform soll von denselben Leuten umgesetzt<br />

werden, die für die massive Über -<br />

fischung der letzten Jahrzehnte verantwortlich<br />

waren“, kritisiert etwa Rainer<br />

Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum<br />

für Ozeanforschung in Kiel.<br />

Weil künftig bindend sein soll, was die<br />

Wissenschaft empfiehlt, fürchtet Froese,<br />

dass die Fischereilobby nun versuchen<br />

könnte, die Wissenschaftler unter Druck<br />

zu setzen. Die Quotenempfehlungen des<br />

ICES könnten dann doch wieder zu hoch<br />

ausfallen.<br />

Erst müssten sich die Bestände erholen,<br />

dann könne man über eine nachhaltige<br />

Bewirtschaftung nachdenken, fordert<br />

Froese. Denn nicht mit allen Fischbeständen<br />

geht es bergauf.<br />

„Aal und Lachs werden in der Ostsee<br />

weiterhin stark überfischt“, kritisiert der<br />

Biologe. Während es dem Dorsch der östlichen<br />

Ostsee bessergehe, stehe das Tier<br />

westlich von Bornholm weiterhin unter<br />

zu starkem Druck. In der Nordsee wiederum<br />

hätten sich die Bestände von Kabeljau<br />

und Seelachs noch längst nicht erholt.<br />

Aal und Dornhai seien sogar „akut<br />

bedroht“.<br />

Und auch gegen die Subventionen wendet<br />

sich der Forscher: „Sie sind zwar neu<br />

geregelt, aber nicht verringert worden.“<br />

Zuschüsse für Schiffstreibstoff zum Beispiel<br />

erlaubten weiterhin den Einsatz massiven,<br />

schwer zu schleppenden Grundgeschirrs,<br />

das den Meeresboden aufreißt<br />

und umpflügt und auf diese Weise wichtigen<br />

Lebensraum für die Fischbrut zerstört.<br />

„Wir sind im Augenblick noch in der<br />

Hölle und marschieren auf das Tor zum<br />

Paradies zu“, konstatiert Froese. „Die<br />

Frage ist, ob wir auf der Schwelle stehen<br />

bleiben oder durchgehen.“<br />

Experte Zimmermann dagegen will lieber<br />

Optimismus verbreiten. „Die Nörgelei“,<br />

erklärt er, „führt in der Regel nur<br />

dazu, dass die Leute sagen: ,O Gott, Fisch<br />

lieber gar nicht mehr‘, und stattdessen<br />

Pute aus Intensivhaltung essen.“ Viele<br />

Meeresfische könnten wieder „mit gutem<br />

Gewissen und Genuss verzehrt werden“,<br />

so Zimmermann.<br />

In der Ostsee spricht der Biologe bei<br />

einzelnen Beständen sogar schon von<br />

„Unternutzung“. Der Dorschbestand im<br />

Osten zum Beispiel sei so stark angewachsen,<br />

dass die Tiere „anfangen, sich gegenseitig<br />

zu fressen und sich die Nahrung abzujagen“.<br />

Inzwischen sei jeder fünfte Dorsch im<br />

Bornholm-Becken so mager, dass er nicht<br />

mehr filetiert werden könne. „Dreikantfeilen“<br />

nennen die Fischer derlei Exemplare,<br />

weil sie so knochig sind. Verkaufen<br />

lassen sich die Tiere nicht mehr. Zimmermann:<br />

„Die wandern in die Fischmehlproduktion.“<br />

PHILIP BETHGE<br />

Video: Welchen Fisch darf<br />

man wieder essen?<br />

spiegel.de/app502013fisch<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

144<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Wissenschaft<br />

Jodversorgung weltweit, 2013<br />

starker<br />

Mangel<br />

geringer<br />

Mangel<br />

ausreichende<br />

Versorgung<br />

Jodüberschuss<br />

keine Daten<br />

146<br />

ERNÄHRUNG<br />

Würze für den Geist<br />

Die Werbekampagne pries ein wahres<br />

Wundermittel an. Das von<br />

„hohen medizinischen Autoritäten“<br />

empfohlene Produkt, so versprachen<br />

es Anzeigen in großen Tageszeitungen,<br />

werde zu „größeren und schwereren Kindern“<br />

sowie zu einer „überlegenen Entwicklung“<br />

führen.<br />

Die Kampagne war in den zwanziger<br />

Jahren ein voller Erfolg. Seither würzen<br />

Millionen Amerikaner ihre Speisen mit<br />

jodiertem Speisesalz. Bereits zehn Jahre<br />

nach Beginn der Kampagne gab es kaum<br />

noch Anzeichen für einen deutlichen Jodmangel.<br />

Nur noch wenige US-Bürger hatten<br />

auffallend große Kröpfe, die als sichtbarste<br />

Zeichen für eine Unterversorgung<br />

der Schilddrüse mit dem wichtigen Spuren -<br />

element gelten.<br />

Wie sich nun herausstellt, hatte das Jodsalz<br />

noch eine andere, verblüffende Nebenwirkung:<br />

Die Amerikaner sind intelligenter<br />

geworden.<br />

Bei einem Viertel der Bevölkerung in<br />

Jodmangelgebieten habe die Jodierung<br />

„den Intelligenzquotienten um rund 15<br />

Punkte erhöht“, schreiben Ökonomen<br />

um James Feyrer vom renommierten<br />

Dartmouth College in einer neuen Studie.<br />

Vor allem im pazifischen Nordwesten und<br />

an den Großen Seen im Nordosten der<br />

USA, von der Natur mit wenig Jod im<br />

Grundwasser bedacht, half das Spurenelement<br />

der Geisteskraft auf die Sprünge.<br />

Im Durchschnitt, so die Autoren, sei der<br />

IQ der Amerikaner wegen des Verzehrs<br />

von Jodsalz um über drei Punkte nach<br />

oben geschnellt.<br />

Quelle: ICCIDD<br />

Eine verblüffende Studie zeigt: Dank Jodsalz stieg der<br />

Intelligenzquotient der Amerikaner.<br />

Viele Deutsche hingegen leiden unter Jodmangel.<br />

Insbesondere in der Schwangerschaft<br />

fördert Jod die geistige Entwicklung der<br />

Kinder. Der Körper benötigt das Element<br />

unter anderem zum Aufbau des Gehirns<br />

und peripherer Nerven. Die Schilddrüse<br />

benötigt Jod zur Herstellung von Hormonen,<br />

die ihrerseits viele Stoffwechselvorgänge<br />

steuern. Bekommen Schwangere zu<br />

wenig Jod, tun sich ihre Kinder oft schwerer<br />

in der Schule; im schlimmsten Fall kommen<br />

sie sogar geistig behindert zur Welt.<br />

Rund 50 Millionen Menschen leben mit<br />

Hirnschäden als Folge von Jodmangel,<br />

US-amerikanische Werbung für Jodsalz, 1967<br />

IQ-Sprung um drei Punkte<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

schätzt die Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO. Allein 240 Millionen Schulkinder<br />

gelten noch immer als unterversorgt.<br />

Speisesalz mit Jod zu versetzen empfiehlt<br />

die WHO daher als eine der wichtigsten<br />

und günstigsten Entwicklungshilfemaßnahmen.<br />

Wie stark die Jodgabe offenbar die Intelligenz<br />

fördert, hat Feyrer mit zwei Kollegen<br />

durch Auswertung von fast zwei<br />

Millionen Rekrutenakten aus dem Zweiten<br />

Weltkrieg herausgefunden. Viele US-<br />

Soldaten, die in den Schlachten in Europa<br />

und im Pazifik kämpften, kamen zwischen<br />

1920 und 1927 zur Welt.<br />

Genau in jener Zeit, ab 1924, eroberte<br />

das Jodsalz den US-Markt. Auf die dama -<br />

ligen Geburtenjahrgänge, so vermutete<br />

der Wissenschaftler, müsste die Jodkampagne<br />

einen großen Einfluss gehabt haben.<br />

1941, als die USA in den Krieg eintraten,<br />

erschienen die ersten Jodjahrgänge zur<br />

Musterung. Alle diese jungen Männer absolvierten<br />

einen Intelligenztest, der dar -<br />

über entschied, welchen Job sie in der<br />

US-Armee bekamen. Nur wer überdurchschnittlich<br />

punktete, konnte Kampfpilot<br />

werden – die Luftwaffe wollte die intelligentesten<br />

Rekruten haben.<br />

Diese Auslese machten sich die Ökonomen<br />

bei ihrer Auswertung zunutze.<br />

Und tatsächlich kamen die nach 1924<br />

geborenen Männer aus den ehemaligen<br />

Jodmangelgebieten auffallend häufiger<br />

zur Luftwaffe als die etwas älteren. „Das<br />

war der erste Karrieresprung aufgrund<br />

von Jodsalz“, sagt Feyrer.<br />

Aber es gab auch Opfer. Das Jodsalz<br />

führte zum Tod von rund 10 000 vor<br />

allem älteren Amerikanern, deren Organismus<br />

sich an den Jodmangel angepasst<br />

hatte. Bei ihnen war die Schilddrüse vergrößert,<br />

um den Jodmangel zu kompensieren.<br />

Die plötzliche Überversorgung<br />

vergiftete sie.<br />

Chinesische Forscher hatten schon vor<br />

einigen Jahren behauptet, eine IQ-Steigerung<br />

bei Kindern durch Jodsalz gefunden<br />

zu haben. „Den Chinesen hat man<br />

das nicht so richtig geglaubt“, sagt Roland<br />

Gärtner vom Klinikum der Universität<br />

München. Der Endokrinologe hofft, dass<br />

die neue US-Studie auch in <strong>Deutschland</strong><br />

zu einem Umdenken führt.<br />

Denn Jodmangel wird in vielen Indu -<br />

strieländern erneut zum Problem. „Wir<br />

gehen wieder einem Jodmangel entgegen,<br />

der nicht sein müsste“, warnt Helmut<br />

Schatz von der Deutschen Gesellschaft<br />

für Endokrinologie (DGE).<br />

Jede dritte Schwangere in <strong>Deutschland</strong><br />

habe zumindest einen leichten Jodmangel,<br />

sagt Katharina Schwarz, Schilddrüsen -<br />

expertin vom Lukaskrankenhaus in Neuss.<br />

Der Grund für die schlechter werdende<br />

Versorgung: Seit einigen Jahren liegt natur -<br />

belassenes Salz im Trend, jodärmeres<br />

Meersalz wird als natürlicher und gesünder<br />

angepriesen. Zudem verwendet auch


die Lebensmittelindustrie überwiegend<br />

nichtjodiertes Salz. Wenn es bei dieser<br />

Entwicklung bleibt, dürfte die WHO<br />

<strong>Deutschland</strong> deshalb bald wieder als Jodmangelgebiet<br />

klassifizieren, auf einer Stufe<br />

mit Burundi und Haiti – ein peinlicher<br />

Rückfall.<br />

Bis in die achtziger Jahre verwendeten<br />

gerade mal fünf Prozent der Haushalte<br />

Jodsalz. Erst 2007 bescheinigten Experten<br />

<strong>Deutschland</strong> eine ausreichende Versorgung.<br />

Grundlage war seinerzeit eine Studie,<br />

die bei Kindern und Jugendlichen einen<br />

Mittelwert von 117 Mikrogramm Jod<br />

pro Liter Urin gemessen hatte – immer<br />

noch knapp an der Grenze zum Mangel,<br />

der laut WHO unterhalb von 100 Mikrogramm<br />

beginnt.<br />

Noch unveröffentlichte Daten des Berliner<br />

Robert Koch-Instituts (RKI) deuten<br />

darauf hin, dass der Wert zumindest bei<br />

Erwachsenen mittlerweile wieder deutlich<br />

darunter liegt. „Wir haben Hinweise,<br />

dass er sich verschlechtert hat“, erklärt<br />

RKI-Experte Michael Thamm. Nach Auswertung<br />

von über 4000 Proben wäre er<br />

„überrascht, wenn am Ende noch ein<br />

anderer Befund herauskäme“.<br />

Erschwert wird die Aufklärung der<br />

Mediziner durch den wachsenden Widerstand<br />

von Jodgegnern. Als Handlanger<br />

der Salzindustrie wird Thamm in Internetforen<br />

verunglimpft. Ein Anrufer beschimpfte<br />

ihn, Jod sei ein Gift, das der<br />

Staat über das Salz loswerden wolle.<br />

„Die Gegner der Jodprophylaxe bilden<br />

zwar nur eine kleine Gruppe, aber sie sind<br />

gut vernetzt und organisiert“, klagt<br />

Thamm. „Die Jodgegner sind noch schlim -<br />

mer als die Impfgegner“, sagt auch Endokrinologe<br />

Gärtner. „Sie stellen ihre Inter -<br />

essen über das Wohl der Allgemeinheit.“<br />

Die Sektierer kritisieren die Jodierung<br />

von Speisesalz als „Zwangsmedikation“<br />

der Bevölkerung, für die es keine medizinische<br />

und rechtliche Grundlage gebe.<br />

Alzheimer, Diabetes, Depression, Impotenz,<br />

Krebs, Tuberkulose – für rund 90<br />

Krankheitsbilder und Wehwehchen macht<br />

etwa die Autorin Dagmar Braunschweig-<br />

Pauli das Jodsalz verantwortlich. Sie<br />

spricht von rund 40 Millionen Jodgeschädigten<br />

in <strong>Deutschland</strong>, was Kosten von<br />

197 Milliarden Euro im Gesundheitssystem<br />

verursache.<br />

Die Jodkritik sei „in keiner Weise begründet“<br />

und „nur emotional nachvollziehbar“,<br />

ärgert sich Gärtner. Mediziner<br />

gehen zwar davon aus, dass eine Überdosis<br />

Jod, etwa durch zu viel Seefisch, den<br />

Stoffwechsel entgleisen lassen kann. „Im<br />

Einzelfall kann zu viel Jod negative Folgen<br />

haben“, sagt Markus Luster, Direktor<br />

der Marburger Universitätsklinik für Nuklearmedizin.<br />

Die positiven Effekte würden<br />

aber eindeutig überwiegen, betont<br />

Luster: „Millionen Menschen, Schwangere,<br />

Kinder, Erwachsene profitieren von<br />

der Jodierung.“ CHRISTOPH BEHRENS<br />

DER SPIEGEL 50/2013 147


JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL<br />

Künstliche Befruchtung einer Eizelle<br />

Wissenschaft<br />

MEDIZIN<br />

Die Fruchtbarkeitsreserve<br />

Frauen lassen ihre Eizellen einfrieren, um noch in späteren<br />

Jahren Kinder auf die Welt bringen zu können.<br />

Ist es tatsächlich möglich, die biologische Uhr zurückzudrehen?<br />

Die Frau wünscht sich ein Kind. Sie<br />

sagt, das sei ein Wunsch, um den<br />

sie sich nicht herumdrücken könne.<br />

Die Marketingleiterin aus München<br />

ist bereits 38 und will nicht den Nächstbesten<br />

nehmen. Deshalb hat sie einen<br />

Weg gesucht, sich um den Nächstbesten<br />

herumzudrücken.<br />

Vor einem Jahr ließ Sarah Voß* einige<br />

ihrer Eizellen einfrieren. Elf Stück lagern<br />

seither tiefgefroren im Flüssiggastank einer<br />

Kinderwunschpraxis, konstant gekühlt<br />

bei minus 196 Grad. Von diesen elf<br />

Eizellen könnten vielleicht drei bis vier<br />

befruchtet werden, woraus ein oder zwei<br />

Kinder heranwachsen könnten. Das ist<br />

die Hoffnung. Die statistische Chance,<br />

dass es so kommt, liegt bei etwa 25 Prozent.<br />

Das ist nicht viel.<br />

Die Statistik, sagt Voß, habe sie bei<br />

ihrer Entscheidung aber nicht wirklich<br />

interessiert. Sie habe ihre Entscheidung<br />

vor allem aus Wut getroffen. Aus Wut<br />

dar über, hilflos zusehen zu müssen, wie<br />

ihre biologische Uhr abläuft. Sie hätte<br />

noch mehr Eizellen einfrieren lassen können,<br />

die Statistik weiter verbessern.<br />

Doch bei 7000 Euro war Schluss. Sie ist<br />

gesund, beruflich erfolgreich, sie sieht<br />

gut aus. Wenig spricht dagegen, dass sie<br />

demnächst auf natürlichem Weg ein Kind<br />

bekommt.<br />

Hat die Medizin nun eine Methode gefunden,<br />

die Wut von Frauen wie Sarah<br />

Voß zu besänftigen? Oder nimmt sie ihnen<br />

auf dem Weg, ein Kind zu bekommen,<br />

nur eine Stange Geld ab? Lässt sich<br />

die Fruchtbarkeit durch das „Social Freezing“<br />

wirklich verlängern?<br />

Entwickelt wurde das Verfahren ursprünglich,<br />

um krebskranken Frauen, die<br />

vor einer Chemotherapie stehen, zu ermöglichen,<br />

anschließend noch Kinder zu<br />

bekommen. Die Eizellen könnten durch<br />

die Krebstherapie geschädigt werden.<br />

Eizellen, die man einer Frau in einer<br />

kleinen Operation entnimmt, werden dabei<br />

durch schnelle Kühlung konserviert.<br />

Dadurch können sie auch nach Jahren<br />

aufgetaut, befruchtet und der Frau in die<br />

Gebärmutter eingesetzt werden.<br />

Der Kreis der Experten ist klein. Die<br />

Mediziner streiten darüber, wie sie mit<br />

dem Social Freezing umgehen sollen.<br />

Jörg Puchta, 53, ist der Arzt, der Sarah<br />

Voß’ Eizellen konserviert hat. Zusammen<br />

mit Kollegen betreibt er das Kinderwunsch<br />

Zentrum an der Oper in München.<br />

Puchta sagt: „Mit Hilfe des Social<br />

Freezing sind Frauen in der Lage, ihre<br />

Fruchtbarkeit zu bewahren. Es wird ihnen<br />

der Druck genommen, den die biolo -<br />

gische Uhr auf sie ausübt.“ Seinen Pa -<br />

tientinnen rät er, bis zum 40. Geburtstag<br />

Eizellen eingefroren zu haben.<br />

Michael von Wolff, 47, ist Reproduk -<br />

tionsmediziner an der Uni-Klinik in Bern.<br />

* Name von der Redaktion geändert.<br />

148<br />

DER SPIEGEL 50/2013


Er hat vor sieben Jahren<br />

das Netzwerk „FertiProtekt“<br />

gegründet, dessen<br />

Mitglieder daran arbeiten,<br />

Frauen vor einer Chemotherapie<br />

zu helfen. Wolff<br />

sagt: „Social Freezing<br />

ist Lifestyle-Medizin. Für<br />

Frauen, die älter sind als<br />

35, ist das Einfrieren von Eizellen<br />

wenig sinnvoll.“<br />

Aber das Social Freezing wirft<br />

nicht nur medizinische Fragen auf.<br />

Es wird damit möglich, eine Frau<br />

weit jenseits der Wechseljahre zur<br />

Mutter zu machen. Mit Hormonen<br />

unterstützt, kann damit eine 50-<br />

oder 60-Jährige Kinder bekommen.<br />

In Italien, Spanien, Rumänien gibt<br />

es Mütter, die bei der Geburt ihres<br />

ersten Kindes auf die 70 zugingen.<br />

Rechtlich zulässig wäre dies auch<br />

hier. Fremde Eizellenspenden sind<br />

in <strong>Deutschland</strong> verboten, aber die<br />

eigenen Eizellen darf eine Frau verwenden.<br />

Wäre es der nächste Schritt auf<br />

dem Weg zur Gleichstellung der<br />

Frau? Nicht mehr an das biologische<br />

Alter gebunden zu sein?<br />

Schließlich können auch Männer<br />

noch in späten Jahren Vater werden.<br />

Oder hilft das Social Freezing<br />

zu weit über die natürlichen Grenzen<br />

hinweg?<br />

Auf dem Schreibtisch von Jörg<br />

Puchta in München stehen zwei<br />

Champagner flaschen. Daraufgeklebt<br />

sind Fotos von Zwillingen.<br />

„Zum Spaß vereinbare ich mit<br />

meinen Patienten: Für jedes<br />

Kind, das mit meiner Hilfe auf<br />

die Welt kommt, kriege ich eine<br />

Flasche“, sagt Puchta. Der Mediziner<br />

ist groß, gut gebräunt,<br />

trägt Weiß. Er sagt: „Mit Champagner<br />

kenne ich mich mittlerweile<br />

gut aus.“<br />

Jörg Puchta ist wahrscheinlich<br />

derjenige Arzt in <strong>Deutschland</strong>,<br />

der am offensivsten für<br />

das Einfrieren von Eizellen<br />

Baby<br />

rund<br />

500 000<br />

Eizellen<br />

wirbt. In einem Radiowerbespot, den seine<br />

Praxis geschaltet hat, sagt eine Frau:<br />

„Karriere oder Kinder – beides geht bei<br />

meinem Job nicht!“ Darauf antwortet ein<br />

Mann: „Du, ich hab da was gelesen von<br />

Social Freezing. Da friert man sozusagen<br />

deine Fruchtbarkeit ein. So dass du später<br />

noch unseren Sohn auf die Welt bringen<br />

kannst.“<br />

In einer Broschüre, die das Zentrum<br />

herausgibt, steht: „Legen Sie Ihre Familienplanung<br />

auf Eis: Sie erobern sich Zeit<br />

und Leichtigkeit zurück.“ Es klingt, als<br />

würde man sich bei einem Yogastudio anmelden.<br />

Anders als bei einer künstlichen Befruchtung<br />

(IVF) gibt es für das Social Freezing<br />

keinen medizinischen Grund. Zur<br />

IVF entschließen sich Frauen, die erfolglos<br />

versucht haben, schwanger zu werden.<br />

Ihre Kinderlosigkeit ist als Krankheit anerkannt,<br />

teilweise erstatten die Kranken -<br />

kassen die Behandlung. Zum Eizell-Einfrieren<br />

hingegen entschließen sich Frauen,<br />

die noch gar nicht versucht haben, auf<br />

natürliche Weise schwanger zu werden.<br />

Die Behandlung müssen sie selbst zahlen.<br />

Das Münchner Kinderwunschzentrum<br />

beziffert die Kosten auf 2000 Euro pro Zyklus,<br />

dazu kommen noch Medikamente<br />

von 500 bis 1000 Euro. Die Lagerung der<br />

Eizellen kostet 240 Euro pro Jahr. Später<br />

kommen dann die Kosten für eine IVF-<br />

Behandlung von mindestens 2000 Euro<br />

hinzu. Es wird teurer, je mehr Zyklen man<br />

braucht, um ausreichend Eizellen zu gewinnen.<br />

Puchta rät seinen Patientinnen,<br />

mindestens 20 Eizellen einzufrieren.<br />

Machen Sie Geld mit der Angst der<br />

Frauen, Herr Puchta?<br />

Der Arzt lehnt sich in seinem Sessel<br />

zurück. Er sagt, der Reproduktionsmedizin<br />

werfe man zu reflexhaft Geschäftemacherei<br />

vor. „Ich sehe hier viele Schicksale.<br />

Und wir können helfen.“ Als Frau<br />

könne man heute eine Versicherung gegen<br />

Kinderlosigkeit abschließen – eine<br />

Art Fruchtbarkeitsversicherung.<br />

Seit 2008 hat Puchta Eizellen von fast<br />

250 Patientinnen eingefroren. Zwölf von<br />

ihnen haben mittlerweile einen Teil davon<br />

befruchten lassen. Sieben sind gerade<br />

schwanger. Puchta geht davon aus, dass<br />

etwa 10 bis 15 Prozent seiner Patientinnen<br />

auf diese Fruchtbarkeitsreserve zurückgreifen<br />

müssten. Alle anderen bekämen<br />

höchstwahrscheinlich auf natürlichem<br />

Weg ein Kind.<br />

Statt von Angst spricht der Gynäkologe<br />

lieber von Sicherheit. Er wisse, was es<br />

für eine Frau bedeute, wenn sie erst mit<br />

42 Jahren den Mann zum Kinderkriegen<br />

finde und es dann auf natürliche Weise<br />

nicht mehr klappe. „Vermutlich würde sie<br />

über kurz oder lang eine IVF-Behandlung<br />

in Erwägung ziehen“, sagt Puchta.<br />

Doch unterlägen ihre – 42 Jahre alten –<br />

Eizellen dann den Hemmnissen dieses Alters:<br />

einem höheren Fehlbildungsrisiko,<br />

häufigeren Fehlgeburten. Bei einer Eizelle,<br />

die im Alter von 30 Jahren eingefroren<br />

wurde, sei diese Gefahr entsprechend geringer.<br />

Puchta sagt: „Das ist doch eine<br />

pragmatische, eine kluge Kalkulation.“<br />

Ob die Erfolgsraten einer künstlichen<br />

Befruchtung durch das Eizell-Einfrieren<br />

wirklich steigen, kann derzeit niemand<br />

wissen. Langzeitstudien fehlen, die Methode<br />

ist noch zu neu. Die wenigsten Ärzte<br />

haben Erfahrung mit dem langen Lagern<br />

von Eizellen.<br />

Doch das Einfrieren von Eizellen<br />

macht Schwangerschaften in einem Alter<br />

weit jenseits der natürlichen Fruchtbarkeitsgrenze<br />

möglich. Selbst nach ihren<br />

Wechseljahren kann eine Frau hormonell<br />

noch so stimuliert werden, dass sie befruchtete<br />

Eizellen austragen kann.<br />

Jörg Puchta würde diese Eizellen einer<br />

Frau auch noch spät einsetzen. Wie spät?<br />

Bis zum Alter von 55? 60? Er sagt: „So<br />

lange die Frau möchte. Und solange es<br />

medizinisch vertretbar ist. Ich richte nicht<br />

darüber, wie alt eine Mutter sein darf.“<br />

Im Inselspital in Bern in der Schweiz<br />

nimmt Michael von Wolff in seinem<br />

Sprechzimmer Platz. An der Wand hängt<br />

beruhigende Kunst, an einer Stehlampe<br />

baumelt ein Storch aus Holz. Wolff leitet<br />

die Abteilung für Reproduktionsmedizin.<br />

Ihn ärgert es, wenn Kollegen wie Puchta<br />

mit der Angst der Frauen Geschäfte<br />

machen. „Vielleicht klingt das jetzt unmodern“,<br />

sagt Wolff, „aber mir ist nicht<br />

Countdown für den Nachwuchs<br />

Schon bei der Geburt tragen Mädchen den gesamten Vorrat an<br />

Eizellen in sich. Im Laufe des Lebens verkümmert dieser allmählich.<br />

Von der Pubertät bis zur Menopause gelangen<br />

maximal 500 Zellen zum Eisprung.<br />

Eintritt in<br />

die Pubertät<br />

rund<br />

20 000 Eizellen<br />

ab 35 Jahren:<br />

signifikant erhöhtes<br />

Risiko von Fehlgeburten<br />

Geburt 10 Jahre 20 30 40 50<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Menopause<br />

rund<br />

1000<br />

Eizellen<br />

Gynäkologe Puchta<br />

„Mit Champagner kenne ich mich aus“<br />

149<br />

JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL


Wissenschaft<br />

Reproduktionsmediziner Wolff<br />

Einfrieren nur bedingt sinnvoll<br />

wohl dabei, wenn auf diese Art für<br />

eine medizinische Leistung geworben<br />

wird.“<br />

Aus seiner Zeit in <strong>Deutschland</strong><br />

kennt Wolff die Sätze, die Kinderwunsch-Ärzte<br />

sagen, um Patienten<br />

zu überzeugen. Einer lautet: „Ich<br />

kann Ihnen nicht garantieren, dass<br />

es funktioniert, aber Sie haben alles<br />

dafür getan. Dann müssen Sie sich<br />

hinterher keine Vorwürfe mehr machen.“<br />

Keine Vorwürfe.<br />

Friert Wolff die Zellen einer Frau<br />

ein, die Krebs hat, dann sei das ein<br />

Notfall. Auch für das Social Freezing<br />

habe er Verständnis, aber die meisten<br />

Frauen, die sich dafür interessierten<br />

und das nötige Geld hätten, seien<br />

schon weit über 35 Jahre alt – aus<br />

seiner Sicht zu alt für das Einfrieren<br />

von Eizellen. Er befürchtet, dass viele<br />

der Frauen, die sich mit dem Social<br />

Freezing absichern möchten, das<br />

zu sehr ungünstigen Konditionen<br />

tun.<br />

Seine Begründung: Vor allem von der<br />

Zahl der zur Verfügung stehenden Eizellen<br />

hängt es ab, ob später eine künstliche<br />

Befruchtung gelingt. Doch die Chance,<br />

genügend Eizellen zu gewinnen, nehme<br />

nach dem 35. Lebensjahr stark ab.<br />

Wolff rechnet vor: „Man geht davon<br />

aus, dass ein Hormonzyklus 10 bis 15 Eizellen<br />

ergibt. Doch je älter eine Frau<br />

ist, desto weniger sind es pro Behandlungszyklus.“<br />

Wolle man eine sinnvolle<br />

Anzahl an Eizellen gewinnen, dauere<br />

das wahrscheinlich ein halbes Jahr und<br />

koste mindestens 10 000 Euro. „Solche<br />

Details werden in einem Radiospot verschwiegen.“<br />

Ohnehin funktioniere die Natur stets<br />

besser als das Labor, sagt Wolff. Eine aus<br />

dem Eierstock entnommene, im Reagenzglas<br />

befruchtete Eizelle werde nie das gleiche<br />

Potential besitzen wie eine, die sich<br />

natürlich entwickelt hat.<br />

Wer unbedingt eine Fruchtbarkeitsversicherung<br />

abschließen wolle, der müsse<br />

das als junge Frau tun, am besten zwischen<br />

Mitte zwanzig und Anfang dreißig.<br />

Doch gerade bei Frauen, die sich so früh<br />

mit dem Thema auseinandersetzten, vermutet<br />

der Reproduktionsmediziner, werde<br />

ein Kinderwunsch nicht lange aufgeschoben.<br />

Folglich geht Wolff davon aus, dass die<br />

meisten der Frauen gar nicht auf ihre Eizell-Reserve<br />

zurückgreifen müssen. „Und<br />

um was“, fragt er, „wenn nicht vor allem<br />

ums Geldverdienen, geht es dann?“<br />

Der Mediziner ist auch dagegen, Frauen<br />

jenseits der Wechseljahre oder gar<br />

über 50 ihre konservierten Eizellen einzusetzen.<br />

Nicht, weil er einer älteren Frau<br />

HELMUT WACHTER / 13PHOTO / DER SPIEGEL<br />

keine Mutterschaft zutraue, „sondern<br />

weil ich befürchte, dass die Komplika -<br />

tionen bei einer späten Schwangerschaft<br />

zunehmen“.<br />

Die Medizin hat wenig Erfahrungen<br />

mit Schwangerschaften über fünfzig. Dafür<br />

treten sie viel zu selten auf. Vor einigen<br />

Jahren brachte die italienische Sängerin<br />

Gianna Nannini, damals 54, ihr erstes<br />

Kind auf die Welt. Sie verschwieg, wie<br />

genau es dazu kam.<br />

Claudia Wiesemann glaubt nicht daran,<br />

dass Social Freezing sich massenhaft<br />

durchsetzen wird, dazu sei die Methode<br />

zu teuer und zu aufwendig. Dennoch ist<br />

die Professorin für Medizinethik in Göttingen,<br />

Mitglied im Deutschen Ethikrat,<br />

dagegen, späte Mütter zu verdammen.<br />

Der Trend, dass Frauen erst in fortgeschritteneren<br />

Jahren ihre Kinder bekommen,<br />

sei nicht mehr umkehrbar.<br />

„Das zu dramatisieren, halte ich für<br />

falsch“, sagt Wiesemann. Eine späte<br />

Mutterschaft habe sogar Vorteile für das<br />

Kind.<br />

„Unser soziales Leben ist von großer<br />

Bedeutung für unsere Gesundheit. Wir<br />

wissen sehr gut: Armut und Stress machen<br />

krank“, sagt Wiesemann. Frauen,<br />

die eine gesicherte Lebenssituation haben,<br />

bevor sie ihre Kinder bekommen,<br />

sollten daher gefördert und nicht kritisiert<br />

werden. „Es ist eine altmodische Vorstellung,<br />

dass sich nur eine junge Frau gut<br />

um ein Kind kümmern kann.“<br />

Die Münchnerin Sarah Voß macht sich<br />

gleichwohl Gedanken darüber, wann sie<br />

selbst sich zu alt fühlen würde, auf ihren<br />

Vorrat an Eizellen zurückzugreifen. „Für<br />

mich persönlich liegt die Grenze dort“,<br />

sagt sie, „wo auch die Natur einen Schnitt<br />

macht.“ Mit den Wechseljahren wäre<br />

Schluss. „Schließlich“, sagt Voß, „will ich<br />

keine alte Mutter werden.“<br />

KERSTIN KULLMANN


BESTATTUNGSTECHNIK<br />

Finsteres<br />

Gewerbe<br />

Schon mehr als jeder zweite<br />

Verstorbene wird verbrannt. Der<br />

Trend zur Einäscherung<br />

führt zu einem Konkurrenzkampf<br />

der Krematorien.<br />

Einst war Frankfurt am Main Zentrum<br />

einer sonderbaren Bewegung.<br />

Im 19. Jahrhundert stritten Bürger<br />

der Stadt für das Recht, ihre Toten verbrennen<br />

zu dürfen. Erst nach jahrzehntelangem<br />

Kampf trotzte der Verein für<br />

Feuerbestattung dem Königreich Preußen<br />

die Genehmigung dazu ab: 1912 wurde<br />

das Krematorium Frankfurt eröffnet.<br />

Vor wenigen Wochen entschied sich<br />

der Frankfurter Magistrat zu einem recht<br />

unsentimentalen Umgang mit dem historischen<br />

Erbe. Aufgrund vermehrter technischer<br />

Probleme, teilte die zuständige<br />

Verwaltung den Bestattern der Stadt mit,<br />

werde der Betrieb des städtischen Krematoriums<br />

zum Jahresende eingestellt.<br />

Frankfurter müssen den Leichnam ihrer<br />

verstorbenen Angehörigen deshalb<br />

künftig zur Kremation in benachbarte<br />

Städte schaffen lassen. Die fünftgrößte<br />

Stadt <strong>Deutschland</strong>s steht somit ohne kommunale<br />

Einrichtung zur Einäscherung<br />

von Toten da.<br />

Dabei wünscht inzwischen die Mehrheit<br />

der Deutschen, nach dem Ableben<br />

verbrannt zu werden. Von etwa 860000<br />

Verstorbenen pro Jahr werden bereits<br />

mehr als die Hälfte der Leichname einer<br />

Feuerbestattung zugeführt.<br />

In der DDR war diese Form der Beisetzung<br />

immer schon beliebt. Im Westen<br />

dagegen verweigerte die katholische Kirche<br />

der Feuerbestattung lange Zeit ihren<br />

Segen. Erst 1996 gestattete der Bayerische<br />

Verfassungsgerichtshof den privaten Betrieb<br />

von Krematorien – ein wegweisender<br />

Beschluss, der die Branche tiefgreifend<br />

verändern sollte.<br />

Die Feuerbestattung sei „ein Markt der<br />

besonderen Gesetzmäßigkeiten“, sagt Oliver<br />

Wirthmann, Geschäftsführer des Kuratoriums<br />

Deutsche Bestattungskultur.<br />

Das Geschäft mit der Einäscherung gilt<br />

als einträglich; den Nachteil dieses Geschäftszweigs<br />

umreißt Wirthmann so:<br />

„Bedarf kann nicht geweckt werden.“<br />

Die Abwicklung des Frankfurter Krematoriums<br />

wirft ein Schlaglicht auf ein<br />

Metier, dessen Akteure wie andere Unternehmer<br />

auch Geld verdienen wollen,<br />

darüber aus Pietätsgründen aber zumeist<br />

lieber schweigen. Rund 160 Krematorien<br />

STEPHAN ELLERINGMANN / LAIF<br />

Feuerbestattung im Krematorium<br />

gibt es derzeit in <strong>Deutschland</strong>. Jede dritte<br />

Einäscherungshalle befindet sich bereits<br />

in Privatbesitz – und die kommerziell geführten<br />

Häuser treiben die kommunalen<br />

Einrichtungen vor sich her.<br />

Wiederholt schimpfen Bestatter über<br />

den mangelnden Willen zur modernen<br />

Dienstleistung. Etliche Häuser agierten<br />

noch immer im Geist einer wilhelmi -<br />

nischen Behörde, lautet eine häufige<br />

Kritik.<br />

Auch vergehen zwischen der Einlie -<br />

ferung des Sargs ins Krematorium und<br />

dem Erhalt der Urne samt der Asche<br />

des Verstorbenen mitunter mehrere<br />

Wochen. Angehörige beklagen, dass sie<br />

nicht ausreichend Ge legenheit erhielten,<br />

sich von den Heimgegangenen zu ver -<br />

abschieden.<br />

Vom finsteren Gewerbe der Einäscherung<br />

will sich die private Konkurrenz<br />

durch konsequente Kundenorientierung<br />

abheben. Wenn öffentliche Feuerbestatter<br />

mithalten wollen, müssen sie massiv<br />

in ihre teils bröselnden Gewölbe investieren<br />

– wie die Hamburger Krematorium<br />

GmbH, die im Stadtteil Ohlsdorf ein Bestattungsforum<br />

mit „Feierhallen und Gastronomie“<br />

geschaffen hat. Laut Eigenwerbung<br />

stellen die Hamburger Einäscherer<br />

„behaglich eingerichtete kleine Familienräume“<br />

bereit, „in die sich der engste Familienkreis<br />

zurückziehen kann“.<br />

Doch selbst wenn der Wille und das<br />

nötige Geld zur Veränderung vorhanden<br />

wären: Mitunter scheitert die bauliche<br />

Modernisierung an den örtlichen Beschränkungen.<br />

In einige der alten Steinkästen<br />

passen die modernen und wegen<br />

ihrer Effizienz geschätzten Etagenöfen<br />

gar nicht hinein. Gleichwohl sind die öffentlichen<br />

Häuser mancherorts vertrauenswürdiger<br />

als die private Konkurrenz.<br />

Silke Brodbeck, die als Amtsärztin Leichenschauen<br />

im Krematorium Frankfurt<br />

vornahm, beklagt ein unappetitliches<br />

„Geschäft mit dem Tod“.<br />

Ihre Kritik zielt auf eine halbseidene<br />

Praxis, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt<br />

ist: Betreiber privater Krematorien<br />

stehen im Verdacht, Bestatter durch die<br />

Zahlung einer Provision in ihre Anlagen<br />

zu locken.<br />

Diese bei Insidern als „Leichengeld“<br />

bekannte Vergütung beträgt nach Einschätzung<br />

von Alexander Helbach, Sprecher<br />

der Verbraucherinitiative Bestattungskultur<br />

„Aeternitas“, bis zu 80 Euro<br />

pro Leichnam. Bezahlen müssen diesen<br />

geheimen Zuschlag am Ende die Angehörigen<br />

– ohne davon je zu erfahren.<br />

Dem Bundesverband Deutscher Bestatter<br />

gilt dieses Handgeld als zumindest unmoralisch,<br />

wenn nicht gar als widerrechtlich.<br />

„So etwas darf nicht sein, wenn keine<br />

echte Vermittlungsleistung erfolgt“,<br />

kritisiert Wirthmann.<br />

Derweil tragen die Leichengelder weiter<br />

dazu bei, dass die privaten Einäscherer<br />

öffentlichen Häusern wie in Frankfurt<br />

das Wasser abgraben.<br />

In der Mainmetropole dümpelt der Betrieb<br />

in einem betagten Gebäude seinem<br />

Ende entgegen. Zuletzt funktionierte nur<br />

noch einer von ehemals vier Kremationsöfen.<br />

FRANK THADEUSZ<br />

DER SPIEGEL 50/2013 151


Trends<br />

Medien<br />

PRESSEFREIHEIT<br />

China straft<br />

US-Medien ab<br />

Trotz der prominenten Fürsprache ihres<br />

Vizepräsidenten Joe Biden droht 23<br />

amerikanischen Journalisten in China<br />

die Ausweisung. Keinem seiner Kollegen,<br />

so ein Korrespondent der „New<br />

York Times“, sei es bis Freitag voriger<br />

Woche gelungen, die Verlängerung seines<br />

Visums zu beantragen. Dasselbe<br />

gelte für die China-Büros des Wirtschaftsdiensts<br />

Bloomberg, das Außenministerium<br />

habe angeordnet, keine<br />

Anträge mehr anzunehmen. Die meisten<br />

anderen Korrespondenten, auch die<br />

des SPIEGEL, konnten dagegen ihre<br />

Pässe einreichen. Da ausländische Journalisten<br />

in China jedes Jahr eine neue<br />

Aufenthaltsbewilligung beantragen<br />

müssen, die Bearbeitung drei Wochen<br />

dauert und die aktuellen Visa in den<br />

kommenden Tagen enden, könnte es<br />

darauf hinauslaufen, dass „Times“ und<br />

Bloomberg ihre Büros zum Jahresende<br />

schließen müssen. Die Maßnahme steht<br />

Bloomberg-Reporter Rishaad Salamat<br />

offenbar in Zusammenhang mit der kritischen,<br />

preisgekrönten Berichterstattung<br />

der beiden US-Medien über Korruption<br />

in den Familien chinesischer<br />

Politiker, darunter die des ehemaligen<br />

Premierministers Wen Jiabao und die<br />

des im März angetretenen Staatspräsidenten<br />

Xi Jinping. Als US-Vizepräsident<br />

Biden während seines Peking-Besuchs<br />

vorige Woche Xi auf die Behandlung<br />

der Korrespondenten ansprach und mit<br />

Konsequenzen drohte, reagierte dieser<br />

Teilnehmern zufolge „ungerührt“. Die<br />

Websites der „New York Times“ und<br />

Bloombergs sind in China bereits seit<br />

über einem Jahr gesperrt. Sollte die Regierung<br />

ihre Haltung nicht ändern,<br />

könnte das diplomatische Folgen haben:<br />

Chinas Medien sind mit Hunderten<br />

von Korrespondenten in den USA<br />

vertreten; der Staatssender CCTV betreibt<br />

sogar ein eigenes Studio in Washington.<br />

Kritiker fordern bereits, im<br />

Gegenzug die Visa der chinesischen<br />

Korrespondenten auslaufen zu lassen.<br />

XINHUA / IMAGO<br />

BEITRAGSDEBATTE<br />

Mehreinnahmen<br />

ins Programm<br />

Der Miteigner des Nachrichtenkanals<br />

N24, Berater der Wochen -<br />

zeitung „Die Zeit“ und ehemalige<br />

Chefredakteur des SPIEGEL, Stefan<br />

Aust, 67, wird Herausgeber der<br />

„Welt“. Die Personalie soll Anfang<br />

dieser Woche verkündet werden.<br />

Springer und Aust wollten den Vor -<br />

gang aber weder bestätigen noch<br />

dementieren. Seit 2010 ist der Journalist<br />

Thomas Schmid, 68, Her -<br />

ausgeber der „Welt“-Gruppe, deren<br />

Chefredakteur er zuvor war.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

Szene aus ZDF-Film „Unsere Mütter, unsere Väter“<br />

KARRIEREN<br />

Aust wird Herausgeber<br />

Aust<br />

Die prognostizierten Mehreinnahmen<br />

der öffentlichen-rechtlichen Sender<br />

durch den neuen Rundfunkbeitrag<br />

(SPIEGEL 46/2013) sorgen für erste Verteilungskämpfe.<br />

Die Ministerpräsidenten<br />

Stanislaw Tillich (CDU) und Malu<br />

Dreyer (SPD) haben eine Senkung des<br />

Beitrags von 50 Cent bis einem Euro<br />

pro Monat vorgeschlagen. Dagegen verlangten<br />

nun die Vertreter der selbständigen<br />

TV-Produzenten, das Geld lieber<br />

„in das Programm zu investieren“. So<br />

könne die „konkret drohende Verarmung<br />

des audiovisuellen Schaffens in<br />

<strong>Deutschland</strong>“ verhindert werden, heißt<br />

es in einer Erklärung der Produzentenallianz,<br />

des Lobbyverbands der Branche.<br />

„In der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit<br />

und die Begeisterung des<br />

Publikums“ könnten deutsche Produzenten<br />

„gegen die in den letzten Jahren<br />

hochgelobten amerikanischen, englischen<br />

oder auch dänischen Serien<br />

kaum noch bestehen.“ Während diese<br />

Produktionen „mit realistischen Budgets“<br />

ausgestattet seien, würden in<br />

<strong>Deutschland</strong> selbst beim „Tatort“ die<br />

Preise fallen. „Schauspieler, Kreative<br />

und andere Filmschaffende“ lebten am<br />

Rand prekärer finanzieller Verhältnisse.<br />

Man solle die Mehreinnahmen als<br />

Chance verstehen, die Qualität des Programms<br />

bei ARD und ZDF zu steigern<br />

und „an frühere Qualitätsstandards der<br />

Produktionen anzuknüpfen“.<br />

153<br />

DAVID SLAMA / ZDF<br />

ARANKA SZABO / PICTURE ALLIANCE / DPA


Medien<br />

SPIEGEL-GESPRÄCH<br />

„Tragöde aus Versehen“<br />

Matthias Brandt ist auch deshalb ein so großer Schauspieler, weil er einen Blick für<br />

Skurriles hat. Er ist verliebt ins Scheitern, sein größter Held aber ist Günter Netzer.<br />

Brandt, Jahrgang 1961, ist der jüngste<br />

Sohn von Willy Brandt. Bekannt ist er<br />

als Kommissar Hanns von Meuffels in der<br />

Reihe „Polizeiruf 110“. 2003 spielte er in<br />

„Schatten der Macht“ den DDR-Spion<br />

Günter Guillaume.<br />

SPIEGEL: Sie sind ein merkwürdiger Star,<br />

Herr Brandt. Als Kommissar im „Polizeiruf<br />

110“ locken Sie acht Millionen Menschen<br />

vor den Bildschirm, vom Grimme-<br />

Preis bis zum Bambi haben Sie alle großen<br />

Auszeichnungen erhalten. Trotzdem<br />

werden Sie auf der Straße manchmal<br />

nicht erkannt.<br />

Brandt: Lange Zeit wussten die Leute nur,<br />

sie kennen mich irgendwoher. Aber sie<br />

waren sich nicht sicher, ob sie mich schon<br />

mal im Fernsehen gesehen haben oder<br />

ob ich letzten Monat ihre Geschirrspülmaschine<br />

repariert habe. Durch den „Polizeiruf“<br />

hat sich das ein wenig geändert.<br />

SPIEGEL: Werden Sie direkt nach einer<br />

Ausstrahlung öfter angesprochen?<br />

Brandt: Nach dem Sonntagskrimi hält die<br />

Aufmerksamkeit bis ungefähr mittwochs<br />

an. Am Donnerstag lässt sie wieder nach,<br />

und am Sonntag sind schon die nächsten<br />

dran. Im Übrigen mache ich nicht so ein<br />

Bohei um mich und meine Arbeit.<br />

Manchmal werde ich gefragt, warum man<br />

privat so wenig von mir wisse. Das kann<br />

ich nicht nachvollziehen. Ich veröffent -<br />

liche zwar nicht, wo ich mit dem Hund<br />

spazieren gehe, aber natürlich erzähle ich<br />

bei allem, was ich in meinen Filmen mache,<br />

wahnsinnig viel von mir selbst.<br />

SPIEGEL: Über den Kommissar Hanns von<br />

Meuffels, den Sie im Münchner „Polizeiruf“<br />

spielen, weiß man aber auch nicht<br />

gerade viel.<br />

Brandt: Sie schauen ihm doch zu und sehen,<br />

was er erlebt. In der Realität lernen<br />

Sie einen Menschen ja auch nicht dadurch<br />

kennen, dass er Ihnen als Erstes seinen<br />

Lebenslauf aufsagt. Ich habe gerade meinen<br />

siebten Meuffels abgedreht, und ich<br />

mag die Folgen alle. Aber ich weiß, dass<br />

es Leute gibt, denen das, was wir da am<br />

Sonntagabend veranstalten, zu viel ist.<br />

SPIEGEL: Wem denn?<br />

Das Gespräch führten die Redakteure Markus Brauck<br />

und Alexander Kühn.<br />

154<br />

Brandt: Meinem Nachbarn zum Beispiel.<br />

Der hat sehr klare Vorstellungen davon,<br />

was am heiligen Sonntagabend sein darf<br />

und was nicht. Sein wesentlicher Beschwerdepunkt<br />

ist, dass ihm meine „Polizeirufe“<br />

zu unruhig sind. Er meint, das sei<br />

alles zu verwirrend. Es soll schon gruselig<br />

zugehen, aber in erster Linie ruhig. Ruhe<br />

ist den Leuten wichtig, das höre ich öfters.<br />

SPIEGEL: Bei einem Krimi?<br />

Brandt: Ja, beim Sonntagskrimi wollen sie<br />

entspannen, bevor die Woche anfängt.<br />

Bekannte und Bekanntes treffen. Und<br />

dann so was! Die schnellen Schnitte und<br />

die Handkamera, er nennt das Wackelei,<br />

werden oft kritisiert: ob die nicht gelernt<br />

hätten, eine Kamera zu bedienen und so.<br />

Es gibt ein starkes Bedürfnis danach, dass<br />

die Dinge immer gleich sind. Und, ganz<br />

wichtig: so wie früher.<br />

SPIEGEL: Was entgegnen Sie Ihrem Nachbarn<br />

auf seine Kritik?<br />

Brandt: Ich unterhalte mich freundlich mit<br />

ihm, er ist ja sehr nett. Letztlich erkläre<br />

ich ihm aber, dass ich kein Wunschkonzert<br />

veranstalte, wo man sich die Musik<br />

bestellt, die man hören möchte. Ich bin<br />

ja keine Jukebox. Ich mache das so, wie<br />

ich es gut finde, akzeptiere aber auch,<br />

wenn jemand das nicht mag. So verstehe<br />

ich die Verabredung, und mein Nachbar<br />

und ich leben gut damit.<br />

SPIEGEL: Verfolgen Sie auch, wie in Internetforen<br />

über Ihre Arbeit diskutiert wird?<br />

Brandt: Nein, da bin ich altmodisch. Ich<br />

kann mich doch nicht ernsthaft mit jemandem<br />

auseinandersetzen, der sich<br />

Pupsi2000 nennt. Wenngleich es auch in<br />

der echten Welt zu denkwürdigen Begegnungen<br />

kommt. So wie mit dem Herrn,<br />

der im Restaurant ein Autogramm von<br />

mir wollte. Ich sagte: Entschuldigung,<br />

jetzt esse ich gerade, vielleicht später?<br />

Da wurde er böse, ging weg und sagte:<br />

Und für so was zahle ich Gebühren!<br />

SPIEGEL: Sie stechen hervor durch Ihre<br />

minimalistische Spielweise. Haben Sie<br />

Angst vor Übertreibungen?<br />

Brandt: Nennen wir es lieber Skepsis dem<br />

Pathos gegenüber. Die ist in meiner Persönlichkeit<br />

begründet. Ich bin halt nicht<br />

so ergriffen von mir selbst und unterspiele<br />

lieber, auch im Leben. Mein Blick auf die<br />

Dinge ist kleinteilig, ich baue Details<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

zusammen, daraus ergibt sich dann ein<br />

Ganzes. Die Art, wie jemand spielt, hat<br />

ja damit zu tun, wie er auf die Welt blickt.<br />

Wenn draußen ein Porsche vorbeifährt,<br />

bewundern Sie womöglich das tolle Auto.<br />

Ich frage mich eher, warum der Mann am<br />

Steuer so traurig schaut, und nehme später,<br />

wenn er aussteigt, vielleicht noch<br />

wahr, dass sein Hosenlatz aufsteht. Und<br />

baue dann daraus eine Geschichte. Mich<br />

haben schon immer Nischen interessiert.<br />

Und Merkwürdigkeiten.<br />

SPIEGEL: Im Leben oder als Schauspieler?<br />

Brandt: Sowohl als auch. Ich laufe Gefahr,<br />

Wesentliches zu vernachlässigen, weil ich<br />

mich in bizarren Details verliere. Was<br />

mich besonders interessiert, ist das Scheitern.<br />

Ich bin wahrscheinlich der leibhaftige<br />

Gegenentwurf zum Fußballtrainer Jürgen<br />

Klopp. Der hat gesagt, er sei ins Gewinnen<br />

verliebt. Ich bin verliebt ins Verlieren.<br />

Oder zumindest darin, davon zu erzählen.<br />

SPIEGEL: Scheitern ist aber erst im Nachhinein<br />

komisch.<br />

Brandt: Ich finde, wir haben ein gestörtes<br />

Verhältnis zum Scheitern. Es ist ein zu<br />

Unrecht vernachlässigter wesentlicher<br />

Teil des Lebens, oder? Mich rührt es total<br />

an, wenn Menschen etwas versuchen und<br />

es nicht glückt.<br />

SPIEGEL: Was war Ihr schönstes Scheitern?<br />

Brandt: Ein krachendes Misslingen war<br />

eine Inszenierung am Theater, dessen Namen<br />

ich nicht nenne, für die der Regisseur,<br />

dessen Namen ich nicht nenne, die Bühne<br />

komplett mit Schmierseife bedecken ließ,<br />

damit wir Schauspieler uns Abend für<br />

Abend vor ein paar hundert zahlenden<br />

Zuschauern beim Brüllen klassischer Verse<br />

auf die Fresse legten. Dekonstruktion<br />

und so weiter, Sie verstehen? Das fand<br />

ich so doof, dass ich bemüht war, mich<br />

coram publico unsichtbar zu machen. Lustig:<br />

Man steht auf der Bühne und demon -<br />

striert: Eigentlich bin ich gar nicht da.<br />

SPIEGEL: Sind Sie ein Verlierertyp?<br />

Brandt: Im Schauspielerberuf habe ich<br />

mich zumindest lange so empfunden. Ich<br />

habe ja, bevor ich meinen ersten Film<br />

drehte, die klassische Ochsentour durchs<br />

deutsche Stadttheater gemacht: Oldenburg,<br />

Wiesbaden, Mannheim, Frankfurt<br />

und so weiter. Irgendwann wollte ich da<br />

weg, ich fühlte mich deplatziert.


DIETER MAYR / DER SPIEGEL<br />

SPIEGEL: Haben Sie sich gefragt, warum<br />

keiner merkt, wie gut Sie sind?<br />

Brandt: Nein, ich hatte nie diese beleidigte<br />

Attitüde: Ihr verkennt mich, ihr Arschgeigen!<br />

Ich habe die Fehler eher bei mir<br />

gesucht und hatte meinen Ausdruck noch<br />

nicht gefunden. Ein Musiker braucht auch<br />

seine Zeit, bis er sein Instrument kennt.<br />

Genauso ist das mit der Schauspielerei.<br />

SPIEGEL: Sie waren schon Anfang vierzig,<br />

als Sie im Fernsehen ein Begriff wurden.<br />

Brandt: Mancher braucht eben etwas länger,<br />

bis er mit sich identisch ist. Ihre Frage<br />

unterstellt allerdings, eine halbwegs prominente<br />

Position im deutschen Fernsehen<br />

sei der Gipfel schauspielerischer Erfüllung.<br />

Das würde ich dann doch in Frage<br />

stellen. Das Hadern mit mir selbst, diese<br />

Unzufriedenheit trage ich allerdings bis<br />

heute mit mir herum. Mein Gott, ich höre<br />

mich so pessimistisch an! Dabei meine<br />

ich das gar nicht negativ. Oder nicht<br />

mehr. Irgendwann habe ich kapiert, dass<br />

der Zweifel ein zwingender Baustein meiner<br />

Arbeit ist. Früher hat der Zweifel<br />

mich gelähmt. Heute treibt er mich an.<br />

SPIEGEL: Haben Sie mal überlegt, die<br />

Schauspielerei hinzuschmeißen und ein<br />

Café aufzumachen?<br />

Brandt: Den Gedanken, in die Gastronomie<br />

zu wechseln, gab es auch. Bestimmt<br />

zehnmal in meiner Laufbahn. Am liebsten<br />

wäre mir einer von diesen Strandkiosks<br />

in Südfrankreich, vor denen immer<br />

so gebräunte ältere Herren mit Kapitänsmütze<br />

und Goldkettchen sitzen. Ich<br />

wäre dann einer von denen, toll.<br />

SPIEGEL: Was war Ihre größte Krise?<br />

Brandt: Ich hatte mit Mitte dreißig eine<br />

sehr unglückliche Phase, da wurde ich immer<br />

verschlossener, hatte immer weniger<br />

Zugang zu mir selbst. Es war schlicht und<br />

ergreifend eine Depression, Leben doof,<br />

Arbeit doof, man kennt das ja. Das führte<br />

zu einem Punkt, wo ich dachte, das tu ich<br />

mir jetzt nicht mehr an. Aber im Innern<br />

wusste ich, es ist noch nicht zu Ende, ich<br />

muss da durch, ich habe noch etwas zu<br />

erzählen. Als ich nichts mehr erwartet<br />

habe, wurde es besser. Der profanere<br />

Grund war, dass mir nichts einfiel, was<br />

ich stattdessen hätte tun können.<br />

SPIEGEL: Gibt es diese Sehnsucht nach einem<br />

Berufswechsel immer noch?<br />

Brandt: Nein, weil ich weiß, dass sich der<br />

realistische Wunsch zu einem unrealis -<br />

tischen gewandelt hat.<br />

SPIEGEL: Von wegen: Wer nimmt mich<br />

denn noch in meinem Alter?<br />

Brandt: Na ja, die Optionen verringern<br />

sich, das bedeutet Älterwerden ja wohl<br />

im Wesentlichen. Das Positive daran ist,<br />

dass man weiß: Das, was ich jetzt mache,<br />

ist und bleibt es. Außerdem ist dieser<br />

Beruf ganz gut für mich, weil er darauf<br />

beruht, Dinge halb zu können oder halb<br />

zu wissen. Ich muss ja immer so tun als<br />

ob. Unter uns: Es ist eine totale Hochstapler-Geschichte.<br />

Aber solange das<br />

155


nicht weiter auffällt, sehe ich kein<br />

großes Problem.<br />

SPIEGEL: Im jüngsten „Polizeiruf“ sagt<br />

der Kommissar und Adelssprössling<br />

Meuffels: „Ich kenne meinen Vater<br />

vor allem aus dem Fernsehen.“ Ist<br />

das noch Meuffels oder schon Brandt?<br />

Brandt: Es ist Meuffels. Aber der ist<br />

natürlich immer auch ein bisschen<br />

Matthias Brandt. Ich bin schließlich<br />

mein eigenes Material, alles, was ich<br />

habe. Leander Haußmann hat den<br />

Satz mit dem Vater ins Drehbuch<br />

geschrieben und mich gefragt, ob das<br />

okay sei. Weil ja klar ist, was da bei<br />

den Zuschauern mitschwingt. Ich fand<br />

es eine schöne und spielerische Art,<br />

mit meiner Herkunft umzugehen.<br />

SPIEGEL: Ist der Umstand, dass Sie<br />

Willy Brandts Sohn sind, privat oder<br />

öffentlich?<br />

Brandt: Darauf habe ich keinen<br />

Einfluss mehr. Es ist ein wichtiger<br />

Teil meiner Biografie, den ich nicht<br />

verleugnen kann und möchte. Trotzdem<br />

ist es mir eine Zeitlang total<br />

auf den Zeiger gegangen, ausschließlich<br />

darüber definiert zu werden.<br />

SPIEGEL: Den Gedenksendungen zum<br />

100. Geburtstag Ihres Vaters haben<br />

Sie sich konsequent verweigert.<br />

Brandt: Ich fand, dass ich zu diesen<br />

Sendungen, so wie sie geplant<br />

waren, nichts Wesentliches hätte<br />

beitragen können. Ich hätte dort bei<br />

einem anderen Thema nicht mitgemacht,<br />

warum dann bei diesem? Ich<br />

muss auch sagen, dass ich mich als<br />

Zuschauer und Leser ein wenig dar -<br />

über wundere, wie lust- und inspirationslos<br />

dieses Brandt-Gedenken<br />

sich, mit einigen Ausnahmen, dahinschleppt.<br />

Es ist doch keiner zwangsverpflichtet,<br />

sich zu erinnern. Wenn<br />

einem dazu nichts einfällt, kann<br />

man es doch auch bleibenlassen.<br />

SPIEGEL: Ist in Ihrer Kindheit im Kanzlerbungalow<br />

schon Ihr Blick fürs Skurrile<br />

entstanden?<br />

Brandt: Im Kanzlerbungalow bin ich als<br />

Kind nur zweimal gewesen, der war für<br />

alte Menschen konzipiert, eine Familie<br />

mit Kindern konnte dort nicht wohnen.<br />

Aber ich weiß natürlich, was Sie meinen:<br />

Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich<br />

glaube schon – nein, inzwischen bin ich<br />

mir sogar sicher: Ich hatte im Hinblick<br />

auf meinen späteren Beruf sehr viel<br />

Anschauungsmaterial, weil ich gewisser -<br />

maßen in eine höfische Situation hineingeboren<br />

wurde. Und ich habe mir vieles<br />

angeschaut. Die ersten zehn Jahre meines<br />

Lebens habe ich nur beobachtet. Das ist<br />

mein Hauptfundus, bis heute.<br />

SPIEGEL: Hat es Ihnen imponiert, Staatsgäste<br />

aus aller Welt zu sehen?<br />

Brandt: Als Kind sind die einem wurscht.<br />

Kinder sind auch in der Regel keine<br />

Sozialdemokraten und demzufolge nicht<br />

156<br />

Vater und Sohn Brandt 1964, Fußballer Netzer 1971<br />

„Sich selbst einzuwechseln ist auch eine Option“<br />

an sozialdemokratischen Berühmtheiten<br />

interessiert. Meine Helden waren andere.<br />

Über allen Günter Netzer. Wichtiger war,<br />

wie viel ich damals über Hierarchie und<br />

Macht gelernt habe. Das prägt mich bis<br />

heute. Allem Zeremoniellen wohnt ja etwas<br />

Skurriles inne. Nehmen Sie nur das<br />

englische Königshaus, das ich wahnsinnig<br />

interessant finde. Dort herrschen strenge<br />

Regeln, und es gibt lauter Protagonisten,<br />

die, bis auf Mami, permanent an diesen<br />

Regeln scheitern und darüber dann oft<br />

noch richtig gute Witze machen.<br />

SPIEGEL: Wer ist Ihr Lieblings-Windsor?<br />

Brandt: Prince Philip, weil er einen phantastischen<br />

Humor hat.<br />

SPIEGEL: Er ist oft ziemlich peinlich, finden<br />

Sie nicht?<br />

Brandt: Ich glaube, dass das gezielte Geschmacklosigkeiten<br />

sind, um zu testen, was<br />

passiert. Der Mann weiß genau, was er<br />

sagt! Einmal hat er den nigerianischen<br />

Staatspräsidenten bei einem Dinner, zu<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

dem dieser in seiner Landestracht erschienen<br />

war, begrüßt mit: „Na, schon<br />

bettfertig gemacht?“ Das kann man<br />

als rassistische Äußerung betrachten.<br />

Zumindest als sehr unhöflich. Ich<br />

finde es einfach nur irre lustig. Eigentlich<br />

möchte ich das Gespräch hier<br />

unterbrechen und mit Ihnen die britische<br />

Hymne singen. Auch für Prinz<br />

Charles habe ich von jeher viel übrig.<br />

Ich war stets auf seiner Seite.<br />

SPIEGEL: Weil er ein Verlierer ist, der<br />

womöglich nie König werden wird?<br />

Brandt: So sehe ich ihn gar nicht. Ich<br />

glaube, es gibt bei ihm eine große<br />

Würde in der Lächerlichkeit, und<br />

davor habe ich allergrößte Hochachtung.<br />

Stellen Sie sich vor, der ganze<br />

Planet bekommt ein Telefonpro -<br />

tokoll von Ihnen zu lesen, in dem<br />

steht, dass Sie ein Tampon sein<br />

möchten! Sich da nicht zu entleiben,<br />

sondern das Ding weiter durchzuziehen<br />

– das hat Größe.<br />

SPIEGEL: War Ihr Faible für die Mon -<br />

archie ein Grund, warum Sie vor<br />

einigen Jahren die Hauptrolle im<br />

Kinderfilm „Des Kaisers neue Kleider“<br />

gespielt haben?<br />

Brandt: Es war immer mein Lieblingsmärchen.<br />

Der Vorgang, dass da einer<br />

steht und nackt ist und alle tun so,<br />

als wäre nichts, mit dem haben wir<br />

doch oft zu tun. Wissen Sie, so anstrengend<br />

meine Kindheit manchmal<br />

war – was ich als positiv empfinde<br />

ist, dass ich total unbeeindruckt von<br />

sogenannten Autoritäten bin.<br />

SPIEGEL: Weil Sie den Hierarchen zeigen,<br />

dass Sie sie nicht ernst nehmen?<br />

Brandt: Nein, weil manche Dinge bei<br />

mir nicht funktionieren würden und<br />

deshalb von vornherein unterlassen<br />

werden. Ich reagiere nicht auf Druck<br />

oder Ultimaten oder irgendwas in<br />

der Art. Ich könnte mich auch nie<br />

in diese behördenartigen Apparate hin -<br />

einbegeben. Ich bekomme das ja nur<br />

peripher mit bei meinem Arbeitgeber …<br />

SPIEGEL: … der ARD.<br />

Brandt: Von der Struktur her entspricht so<br />

ein deutscher Fernsehsender wahrscheinlich<br />

der Administration von Belgien. Und<br />

je größer der Apparat ist, desto weniger<br />

Entscheidungen werden dort getroffen.<br />

Das scheint das Prinzip zu sein. In dem<br />

Moment, wo etwas entschieden wird,<br />

bringt das den Apparat erst mal zum Erliegen:<br />

Schocklähmung. Das Schmiermittel<br />

der Institutionen ist die Unbestimmtheit.<br />

SPIEGEL: So, wie Sie das sagen, klingt das<br />

nach absurdem Theater.<br />

Brandt: Ja, aber ich kann mir einfach nicht<br />

vorstellen, was dort den ganzen Tag geschieht.<br />

Für alles Administrative fehlt mir<br />

die Phantasie.<br />

SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, Sie fühlten<br />

sich vom deutschen Fernsehen unterfordert.<br />

ULLSTEIN BILD<br />

HORSTMÜLLER


Medien<br />

Brandt: Das habe ich gesagt? Was für ein<br />

blöder Satz. Ich verstehe den Gedanken,<br />

aber es klingt doch sehr hochmütig.<br />

SPIEGEL: Hoffen Sie darauf, dass Sie jemand<br />

aus den Niederungen des Fernsehens<br />

herauszieht, so wie es der bis dato<br />

kaum beachtete Christoph Waltz es durch<br />

Quentin Tarantino erfahren hat?<br />

Brandt: Niederungen? Entschuldigen Sie<br />

mal, wie reden Sie denn über meine<br />

Arbeit? Nein, tue ich nicht, dann hätte<br />

ich ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.<br />

Auf so etwas kannst du doch nicht<br />

warten.<br />

SPIEGEL: Bei Ihrem Hang zum Skurrilen –<br />

warum sind Sie eigentlich kein Komiker<br />

geworden?<br />

Brandt: Kommt vielleicht noch. Ich bin<br />

ja, wie Sie richtig festgestellt haben, ein<br />

Spätzünder. Die Biografie des Schau -<br />

spielers Theo Lingen heißt: „Komiker aus<br />

Versehen“. Wahrscheinlich bin ich ein<br />

Tragöde aus Versehen. Stan Laurel und<br />

Oliver Hardy, Jack Lemmon, Peter Sellers<br />

– alle meine frühesten Helden waren<br />

Komödianten.<br />

SPIEGEL: Aber keinen anderen verehrten<br />

Sie so sehr wie Günter Netzer.<br />

Brandt: Das größte Idol, das ich je hatte<br />

und habe. Schwarzer Ferrari, schwarze<br />

Klamotten, die Disco „Lovers’ Lane“ in<br />

Mönchengladbach und dann noch ab und<br />

zu einen Traumpass spielen. Und: Der<br />

Mann hat sich, als es gar nicht mehr anders<br />

ging, selbst eingewechselt, 1973 im<br />

Pokalfinale in Düsseldorf. Das habe ich<br />

mir fürs Leben gemerkt: Sich selbst einzuwechseln<br />

ist auch eine Option.<br />

SPIEGEL: Haben Sie ihn später mal kennen -<br />

gelernt?<br />

Brandt: Wir saßen mal im selben Lokal.<br />

Meine Frau wunderte sich, warum ich<br />

plötzlich so klemmig war. Ich wollte ihn<br />

nicht ansprechen. Ich konnte meine kindliche<br />

Befangenheit nicht überwinden. Ich<br />

bin selbst mit einem Idol aufgewachsen<br />

und weiß, wie viel Leute in jemanden<br />

hineinprojizieren, den sie verehren. Aber<br />

dann sprach Netzer plötzlich mich an,<br />

um mir zu sagen, dass er meine Arbeit<br />

schätzt! Damit konnte ich überhaupt<br />

nicht umgehen. Ich habe nicht verstanden,<br />

warum er plötzlich meinen Text sagt,<br />

ein Schauspieleralptraum!<br />

SPIEGEL: Stimmt es eigentlich, dass Sie auf<br />

einem Auge blind sind?<br />

Brandt: Nein, das nicht, aber ich sehe<br />

auf dem linken Auge sehr schlecht. Die<br />

Sehfähigkeit beträgt zehn Prozent, von<br />

Geburt an. Der Augenarzt hat mir erklärt,<br />

dass das Hirn das kompensiert,<br />

wenn man es schon als Kind hat.<br />

SPIEGEL: Hat das Einfluss auf Ihre Arbeit<br />

als Schauspieler?<br />

Brandt: Nein, aber auf mein Tennisspiel.<br />

Weil ich kein räumliches Sehen habe,<br />

haue ich immer am Ball vorbei.<br />

SPIEGEL: Herr Brandt, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

PRESSE<br />

Wer war<br />

Mister X?<br />

Wegen einer zweifelhaften Aussage<br />

ermittelte die Münchner<br />

Staatsanwaltschaft gegen einen<br />

Journalisten und<br />

zwei leitende Kriminalbeamte.<br />

Reporter Bendixen<br />

MARTIN BINDER / BR<br />

Vom Restaurant im siebten Stock<br />

des Hotels Bayerischer Hof in<br />

München haben Besucher einen<br />

wunderbaren Blick über die Stadt, bei<br />

gutem Wetter bis zu den Alpen. Doch<br />

die beiden Journalisten, die sich im<br />

Oktober vergangenen Jahres dort trafen,<br />

interessierten sich kaum für die schöne<br />

Aussicht. Stattdessen, so behauptet ein<br />

Informant der Münchner Staatsanwaltschaft,<br />

hätten sie über die Vorbereitung<br />

einer Straftat gesprochen:<br />

Es sei darum gegangen, Beamte<br />

zu bestechen, um an<br />

brisante Dokumente zu<br />

kommen.<br />

Zwar waren die Vorwürfe<br />

gegen Oliver Bendixen,<br />

Reporter beim Bayerischen<br />

Rundfunk, nicht mit belegbaren<br />

Fakten begründet.<br />

Doch das hielt die Ermittler<br />

nicht davon ab, Maßnahmen<br />

einzuleiten, als ginge<br />

es um ein Schwerverbrechen.<br />

Telefone wurden abgehört,<br />

Familienangehörige<br />

überwacht, Beschattungen<br />

angeordnet.<br />

So vehement agierten die Staatsanwälte,<br />

dass ihre Aktion nun Politiker und Berufsverbände<br />

gleichermaßen aufbringt.<br />

Über eine „diffuse Einstellung“ zum Journalismus<br />

klagt Michael Busch, Vorsitzender<br />

des Bayerischen Journalisten-Verbands.<br />

Und die bayerische SPD will wissen,<br />

wer dieser Informant ist, dem die<br />

Justiz so viel Glauben schenkte.<br />

Es war der 14. September 2012, als der<br />

ominöse Zeuge bei der Staatsanwaltschaft<br />

München I auftauchte und zunächst<br />

einmal Vertraulichkeit verlangte.<br />

Die wird üblicherweise gewährt, wenn<br />

Lebensgefahr oder „unzumutbare Nachteile“<br />

drohen. Warum sie in diesem Fall<br />

vereinbart wurde, will die Behörde nicht<br />

verraten.<br />

Er wisse von einem Kontaktmann, behauptete<br />

der Informant, dass Bendixen,<br />

der über „exzellente Kontakte zum Po -<br />

lizeiapparat“ verfüge, „einhundertvierzig<br />

Akten/Leitzordner aus dem Fall<br />

Hypo Alpe Adria ./. BayernLB auf Datenträger<br />

gegen Entgelt“ besorgen könne.<br />

30 000 Euro verlangten die beiden Chefs<br />

der LKA-Abteilung Ermittlungen/Ope -<br />

rative Spezialeinheiten dafür. Der „Vollzug<br />

dieses Geschäftes stehe in Bälde<br />

bevor“.<br />

Die Staatsanwaltschaft witterte den<br />

großen Fall. Schnell beantragte sie die<br />

erforderlichen Beschlüsse und ersuchte<br />

das Bundeskriminalamt (BKA) um Ermitt -<br />

lungen. Sämtliche Telefonanschlüsse der<br />

drei Betroffenen seien zu überwachen,<br />

„höchste Eile“ sei geboten.<br />

Doch die Bundesbehörde reagierte ungewohnt<br />

zurückhaltend. „Das BKA wird<br />

mit diesem Informanten nicht zusammenarbeiten“,<br />

heißt es in einem Schreiben.<br />

„Bei der gegenwärtigen Verdachtslage“<br />

werde das Amt „keine aktiven verdeckten<br />

Ermittlungshandlungen gegenüber<br />

Journalisten“ vornehmen.<br />

Die Staatsanwaltschaft München focht<br />

das nicht an. Sie ließ die Telefone der<br />

Polizisten und ihrer Angehörigen abhören,<br />

beantragte die Observation der Verdächtigen.<br />

So hörten die Ermittler mit,<br />

wie am Abend nach dem Treffen im Bayerischen<br />

Hof der Journalist<br />

Bendixen mit dem Kriminalbeamten<br />

W. telefonierte.<br />

Der Inhalt: belangloses Geplänkel<br />

über 8 Minuten<br />

und 19 Sekunden.<br />

W.: „Wie geht’s dir<br />

sonst?“<br />

Bendixen: „Du, ganz,<br />

ganz ordentlich. Wir gehen<br />

nächste Woche mal Kaffee<br />

trinken, wir zwei, oder?“<br />

W.: „Des machen wir.“<br />

Im vergangenen Sommer<br />

wurden die Ermittlungen<br />

ohne jedes Ergebnis<br />

eingestellt. Die „Kontaktperson“,<br />

von der der ominöse<br />

Informant gesprochen hatte, war<br />

anhand von Bendixens Terminkalen -<br />

der schnell enttarnt: Es war sein Gesprächspartner<br />

aus dem Bayerischen<br />

Hof: der frühere „Focus“-Journalist Wilhelm<br />

Dietl, der das Magazin vor Jahren<br />

verlassen musste, weil er allzu eng mit<br />

dem Bundesnachrichtendienst zusammengearbeitet<br />

hatte. Es sei aber nie um<br />

die Akten gegangen, und er habe auch<br />

niemandem von dem Gespräch erzählt,<br />

behauptet Dietl. Damit bleibt die Fra -<br />

ge offen, von wem der geheimnisvolle<br />

Informant sein Wissen gehabt haben<br />

will.<br />

Mit einer Anfrage an die Staatsregierung<br />

verlangt die bayerische SPD nun<br />

Aufklärung, warum die Staatsanwaltschaft<br />

ihrem Mister X so viel Glauben<br />

schenkte. „Notfalls“, sagt SPD-Landtagsfraktionsvorsitzender<br />

Markus Rinderspacher,<br />

werden wir das „von einem Untersuchungsausschuss<br />

klären lassen“.<br />

ANDREAS ULRICH<br />

DER SPIEGEL 50/2013 157


Impressum<br />

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22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543-9011<br />

ROM Fiona Ehlers, Walter Mayr, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel.<br />

(003906) 6797522, Fax 6797768<br />

SAN FRANCISCO Thomas Schulz, P.O. Box 330119, San Francisco, CA<br />

94133, Tel. (001212) 2217583<br />

TEL AVIV Julia Amalia Heyer, P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 61083,<br />

Tel. (009723) 6810998, Fax 6810999<br />

WARSCHAU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau,<br />

Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365<br />

WASHINGTON Marc Hujer, Holger Stark, 1202 National Press Building,<br />

Washington, D.C. 20045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194<br />

DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel<br />

Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita<br />

Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker,<br />

Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Johannes<br />

Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich,<br />

Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,<br />

Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch,<br />

Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-<br />

Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac,<br />

Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Michael Lindner,<br />

Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-Buchhorn,<br />

Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia<br />

Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche,<br />

Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos, Axel<br />

Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko<br />

Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-<br />

Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert,<br />

Ulla Siegenthaler, Jil Sörensen, Rainer Staudhammer, Tuisko Steinhoff,<br />

Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert,<br />

Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner, Holger<br />

Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller<br />

LESER-SERVICE Catherine Stockinger<br />

NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Washington<br />

Post, New York Times, Reuters, sid<br />

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DER SPIEGEL 50/2013<br />

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SONNTAG, 15. 12., 23.00 – 23.45 UHR | RTL<br />

SPIEGEL TV MAGAZIN<br />

Augen auf beim Geschenkekauf – Hochsaison<br />

der Taschendiebe; Wachstumsmarkt<br />

und sozialer Trend – Veganes<br />

Vegane Hardcore-Band<br />

Leben; Großmeister des flachen Witzes –<br />

Unterwegs mit Fips Asmussen.<br />

MONTAG, 9. 12., 21.05 – 21.55 UHR | SKY<br />

SPIEGEL GESCHICHTE<br />

Überleben in Amsterdam –<br />

Vom Untergrund ins Parlament<br />

Der ehemalige Amsterdamer<br />

Bürgermeister Ed van Thijn hat lange<br />

über seine Kriegserfahrungen ge -<br />

schwiegen. Zwei Jahre lang lebt der<br />

jüdische Junge im Untergrund, dann<br />

finden ihn die deutschen Besatzer<br />

und bringen ihn ins Lager Wester -<br />

bork. Doch die Eisenbahner streiken.<br />

Die Deportationen in die Konzen -<br />

trationslager sind für kurze Zeit<br />

eingestellt. Van Thijn überlebt. Als<br />

Politiker beteiligt er sich später am<br />

Aufbau eines demokratischen<br />

Europa.<br />

SONNTAG, 15. 12., 15.30 – 16.05 UHR | 3SAT<br />

HITEC<br />

Schnelles Internet für alle –<br />

(K)ein Grundrecht?<br />

Surfen, streamen, chatten – schnelles<br />

Internet ist für viele Deutsche selbstverständlich.<br />

Doch nicht für alle.<br />

Während in den Ballungsräumen<br />

Übertragungsraten von 50 Mbit/s zur<br />

Verfügung stehen, bleibt für Bewohner<br />

in ländlichen Regionen schnelles<br />

Internet oft ein Traum. Im brandenburgischen<br />

Blumberg in der Nähe von<br />

Berlin beispielsweise sind viele in<br />

ihrer beruflichen Existenz bedroht:<br />

Ihre Internetverbindung ist so langsam,<br />

dass sie oft nicht einmal Mails<br />

mit Anhängen verschicken können.<br />

160<br />

GESTORBEN<br />

Chris Howland, 85. Wenn Deutsche sich<br />

in den sechziger Jahren einen Engländer<br />

vorstellten, hatten viele den Entertainer<br />

vor Augen, der sogar<br />

das Zertrümmern eines<br />

Sparschweins besang<br />

(„Hämmerchen<br />

Polka“) und als Erster<br />

im deutschen Fern -<br />

sehen eine versteck -<br />

te Kamera einsetzte.<br />

Howland, der mit der<br />

britischen Armee nach<br />

Hamburg gekommen<br />

war, moderierte zunächst<br />

beim Soldatensender BFN. 1952<br />

ging er zum Nordwestdeutschen Rundfunk.<br />

Weil er noch kein Deutsch konnte,<br />

schrieb er seine Texte auf Englisch, ließ<br />

sie übersetzen und las sie ab. Aus einem<br />

alten deutschen Vornamen und einer<br />

westfälischen Brotsorte setzte er seinen<br />

Spitznamen Heinrich Pumpernickel zusammen.<br />

Engagiert war er als „Schallplatten-Jockey“,<br />

und weil man Jockeys<br />

mit Pferden verbindet, spielte er in seiner<br />

Radiosendung gelegentlich das Geräusch<br />

galoppierender Hufe ein. Ab 1961 machte<br />

Howland auch im Fernsehen Karriere.<br />

Seine Show „Musik aus Studio B“ war<br />

für die damalige Jugend so prägend wie<br />

für spätere Generationen MTV. Bis zuletzt<br />

hatte er bei WDR 4 seine eigene Radiosendung.<br />

Chris Howland starb in der Nacht<br />

zum 30. November in Rösrath bei Köln.<br />

Paul Walker, 40. Er wirkte wie ein kalifornischer<br />

Sonnyboy, kannte aber auch<br />

die wolkenverhangenen Tage ziemlich<br />

gut. Schon als Teenager stand Walker vor<br />

der Kamera, zunächst vor allem in Fernsehserien.<br />

Der Durchbruch gelang ihm<br />

2001 mit dem Film „The Fast and the Furious“,<br />

in dem der Action-Star einen verdeckten<br />

Ermittler spielt. Dieser lässt sich<br />

in eine Gang von jungen Männern und<br />

Frauen einschleusen, die geheime Autorennen<br />

veranstalten,<br />

findet aber selbst immer<br />

mehr Gefallen<br />

an der halsbrecherischen<br />

Raserei. Sechs<br />

Filme dieser Reihe<br />

wurden bislang gedreht,<br />

der siebte war<br />

gerade in Arbeit, als<br />

Paul Walker am 30.<br />

November im kalifornischen<br />

Valencia in einem<br />

Sportwagen tödlich verunglückte,<br />

als Beifahrer seines Freundes und Geschäftspartners<br />

Roger Rodas. Der Mythos<br />

des Stars, der jung, schön und auf der<br />

Überholspur ums Leben kam, ähnlich wie<br />

einst James Dean, war sofort in der Welt.<br />

PETER BISCHOFF / GETTY IMAGES<br />

HAHN LIONEL / ABACA<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

André Schiffrin, 78. Er setzte sich für Autoren<br />

und Werke ein, von denen er überzeugt<br />

war – nicht für solche, die ihm<br />

Marktlogik und Konsensdenken vorgaben.<br />

Als kleiner Junge mit seinen jüdischen<br />

Eltern aus Paris in die USA geflohen,<br />

übernahm er 1963 die Leitung des von<br />

seinem Vater mitbegründeten New Yorker<br />

Verlags Pantheon Books. In dieser<br />

Position machte er viele Größen der Geistesgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts erstmals<br />

einem englischsprachigen Publikum<br />

zugänglich: Foucault, Sartre, Beauvoir,<br />

Duras, Bourdieu. Er pflegte seine geistige<br />

Beziehung zum alten Kontinent, besaß<br />

aber auch verlegerischen Instinkt und<br />

Mut. Schiffrin war es, der als Erster dem<br />

später berühmt gewordenen „Maus“-Comic<br />

von Art Spiegelman eine Chance gab.<br />

In Büchern wie „Verlage ohne Verleger“<br />

(2000) oder „Words and Money“ (2010)<br />

warnte Schiffrin vor den Gefahren von<br />

Großverlagen für Schriftsteller. André<br />

Schiffrin starb am 1. Dezember in Paris.<br />

Peter Graf, 75. Kri -<br />

tikern galt der Ver -<br />

sicherungskaufmann<br />

und Gebrauchtwagen -<br />

händler aus Mannheim<br />

als Prototyp des<br />

ehrgeizigen Vaters,<br />

als cholerischer Schlei -<br />

fer, der sein Kind<br />

abschottete. Freunde<br />

und Familienmitglieder<br />

dagegen lobten den umsichtigen Aufbau<br />

der Karriere seiner Tochter Stefanie:<br />

Graf formte sie zu einer der besten Tennisspielerinnen<br />

der Geschichte. Als ihr<br />

Manager jedoch war er unbestritten überfordert.<br />

Er war ein Raffke, der sich Antritts-<br />

und Preisgelder oft bar auszahlen<br />

ließ. 1997 verurteilte ihn ein Gericht wegen<br />

Steuerhinterziehung in Höhe von<br />

12,3 Millionen D-Mark zu drei Jahren und<br />

neun Monaten Haft. Im April 1998 kam<br />

er vorzeitig frei und arbeitete wieder als<br />

Tennistrainer. Über das Verhältnis zu seiner<br />

Tochter sagte Graf: „Wir haben unser<br />

Seelenheil gefunden.“ Peter Graf starb<br />

am 30. November in Mannheim an Krebs.<br />

ROLF HAID / DPA<br />

Axel Hecht, 69. Sein Magazin, die Kunstzeitschrift<br />

„Art“, beschrieb er einmal so:<br />

„Wir sind das Gegenteil von Bayreuth.“<br />

Zur Begründung führte Hecht – Mit -<br />

initiator, Chefredakteur, später Herausgeber<br />

– an: „Wir zwingen unsere Leser<br />

nicht auf die Knie vor der Kunst.“ Der<br />

Germanist, der sich als Autodidakt in die<br />

bildende Kunst vertieft hatte und Kulturressortleiter<br />

beim „Stern“ war, erkannte<br />

die Marktlücke für ein Kunstmagazin.<br />

„Art“, 1979 erstmals erschienen, wurde<br />

das größte Europas. Axel Hecht starb am<br />

26. November in Hamburg.


Personalien<br />

Fahnenträger<br />

Der Dalai Lama, 78, fühlt sich von Mao Zedong ermächtigt, die tibetische Flagge<br />

zu zeigen. Das sagte der spirituelle Führer der Tibeter während eines Treffens<br />

mit japanischen Parlamentariern in Tokio. Die Botschaft richtete sich wohl eher<br />

an die Adresse der chinesischen Besatzungsmacht in Tibet. Seine Heiligkeit<br />

berichtete, Mao habe ihn 1954 bei einem Treffen gefragt, ob Tibet eine eigene<br />

Flagge habe, was er bejaht habe. Der chinesische Revolutionär habe geantwortet:<br />

„Gut, dann müssen Sie die neben der Nationalflagge hissen.“ Die Tibet-Flagge<br />

ist heute ein Symbol für den Freiheitskampf und wird als solche von den Chinesen<br />

abgelehnt. Der Dalai Lama gilt der Führung in Peking als „Spalter“ und<br />

„Wolf in Mönchs kutte“. In den vergangenen Wochen ist es wiederholt zu Gewalt<br />

von chinesischen Soldaten gegen Tibeter gekommen, die sich weigerten, die chinesische<br />

Flagge zu hissen.<br />

KEITH TSUJI / GETTY IMAGES<br />

Alte Liebe rostet nicht<br />

Er stammte aus <strong>Deutschland</strong> und war<br />

groß und durstig. Vor 30 Jahren waren<br />

sie unzertrennlich, er war quasi die<br />

erste Liebe der US-Schauspielerin<br />

Brooke Shields, heute 48. Die Rede ist<br />

von einem kastanienbraunen Mercedes<br />

SEC, Baujahr 1983, ihrem ersten<br />

eigenen Auto, mit dem sie in ihrer<br />

Heimat New Jersey zur Schule fuhr.<br />

Nachdem Shields nach Los Angeles<br />

gezogen war, hatte ihre Mutter den<br />

Wagen verkauft und Shields ihn wohl<br />

bald vergessen – bis eine Passantin in<br />

New York der Schauspielerin vor ein<br />

paar Wochen ein Foto zeigte. Darauf<br />

war ein alter Mercedes mit „Zu verkaufen“-Schild<br />

zu sehen, ergänzt um<br />

den Hinweis: „Das Auto gehörte früher<br />

Brooke Shields.“ Es war tatsächlich<br />

ihr Auto, wie sie an einem „I Love<br />

Gstaad“-Aufkleber erkannte. Über<br />

einen Mittelsmann kaufte die frühere<br />

Besitzerin den Wagen zurück, für<br />

5500 Dollar. Der Mercedes sei noch<br />

gut in Schuss, berichtete jetzt der<br />

„New Yorker“.<br />

GREGORIO T. BINUYA/EVERETT COLLE / ACTION PRESS<br />

162<br />

FAMEFLYNET / AGENCY PEOPLE IMAGE<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

BRYAN BEDDER / GETTY IMAGES<br />

Mäkelndes Model<br />

Das „New York“-Magazin hat sie gerade<br />

als „größten Popstar der Welt“ identifiziert.<br />

Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt,<br />

um an der Sängerin Taylor Swift, 23, her -<br />

umzumäkeln, wie das Victoria’s-Secret-<br />

Model Jessica Hart, 27, jetzt erfahren<br />

musste. Hart hatte die Frage, ob Swift<br />

wohl das Zeug für die Präsentation der<br />

Luxusdessous von Victoria’s Secret (VS)<br />

habe, verneint. Das Model war am Rande<br />

einer Modenschau angesprochen worden.<br />

Swift hatte dort einen Gesangsauftritt.<br />

Hart attestierte der Sängerin „mangelndes<br />

Selbstbewusstsein“ und „fehlende<br />

Erfahrung“, Eigenschaften, die für die<br />

fachgerechte Präsentation dieser Wäsche<br />

unerlässlich seien. Im Klartext: Die Musikerin<br />

hat nach Ansicht des Models so viel<br />

Sex-Appeal wie eine Gehwegplatte. Harts<br />

Offenheit hatte Folgen: Das VS-Management<br />

drohte öffentlich, sie zu feuern.


Happy Bunny<br />

Zusammen werden sie kommendes Jahr 100 Jahre alt: Supermodel Kate Moss, 39,<br />

und das Männermagazin „Playboy“. Die Britin feiert diesen Anlass im Häschenkostüm;<br />

sie ist, erstmals überhaupt im „Playboy“, auf dem Cover der Jubiläumsausgabe<br />

im Januar zu sehen und im Inneren des Hefts auch nackt zu bewundern.<br />

Von Feministinnen wird Moss kritisiert: Sie habe sich 25 Jahre lang selbstbewusst<br />

im Modezirkus behauptet, der Auftritt im „Playboy“ aber sei eine Enttäuschung.<br />

DER SPIEGEL 50/2013<br />

COURTESY MERT ALAS AND MARCUS PIGGOTT FOR PLAYBOY<br />

Peer Steinbrück, 66, letzter Kanzlerkandidat<br />

der SPD, hat keinen offiziellen<br />

Rückzugsort im Willy-Brandt-Haus<br />

mehr. Sein Büro in der fünften Etage<br />

der Parteizentrale wurde bereits an<br />

den ehemaligen thüringischen Wirtschaftsminister<br />

Matthias Machnig vergeben.<br />

Machnig, Manager der SPD-<br />

Bundestagswahlkampagnen 1998 und<br />

2002, soll den Europawahlkampf für<br />

EU-Parlamentspräsident Martin<br />

Schulz leiten. Den Posten in Thüringen<br />

hatte Machnig wegen einer Finanzaffäre<br />

aufgeben müssen. Eine<br />

Stärkung für lange Abende dürfte er<br />

bereits in einem der Schränke gefunden<br />

haben: Steinbrück hatte im Wahlkampf<br />

dort für Gäste einige Flaschen<br />

Wein deponiert und liegenlassen.<br />

Frank-Jürgen Weise, 62, Chef der Bundesagentur<br />

für Arbeit, will ab Januar<br />

eine TV-Imagekampagne für die<br />

Agentur beginnen. Das kündigt er in<br />

einer Weihnachtsbotschaft an seine<br />

gut 100000 Mitarbeiter an. Er schreibt,<br />

die Bundesagentur habe 2013 ihren<br />

Beitrag zu einem stabilen Arbeitsmarkt<br />

geleistet. „Vor allem haben wir<br />

viel gelernt und die Konsequenzen<br />

daraus gezogen“, so der Behördenchef.<br />

Der Bundesrechnungshof hatte<br />

der Agentur vorgeworfen, Bilanzen<br />

wegen überzogener und teilweise falscher<br />

Zielvorgaben zu schönen. Statt<br />

sich um die Menschen zu kümmern,<br />

seien die Agenturen vor allem damit<br />

beschäftigt, Vorgaben von Controllern<br />

zu erfüllen – teils mit Manipulationen,<br />

um im Wettbewerb gut auszusehen.<br />

Ab Februar 2014 will Weise seine Controller<br />

mit einem „so noch nie da gewesenen<br />

Programm intensiv schulen“.<br />

Anders Behring Breivik, 34, norwegischer<br />

Massenmörder, ist mit seinem<br />

Politologiestudium an der Osloer Universität<br />

vorerst gescheitert. Trotz internationaler<br />

Proteste hatte die Uni<br />

den Häftling des Hochsicherheitsgefängnisses<br />

Ila im September zum Fernstudium<br />

zugelassen. Nun teilte die<br />

Hochschule mit, dass der Rechtsextremist<br />

nicht an den drei obligatorischen<br />

Semesterabschlussprüfungen teilnehmen<br />

werde. „Schon vor einem Monat<br />

hat Breivik sich von den Prüfungen in<br />

Internationaler Politik und Politischer<br />

Theorie abgemeldet, und nun hat er<br />

auch den Test im Fach Öffentliche<br />

Politik und Verwaltung abgesagt“,<br />

zitierte die Osloer Tageszeitung „Verdens<br />

Gang“ den Institutsleiter. Ob der<br />

zu 21 Jahren Haft mit anschließender<br />

Sicherheitsverwahrung verurteilte<br />

Breivik damit seine Universitätslaufbahn<br />

endgültig beendet hat, ist unklar.<br />

163


Hohlspiegel<br />

Aus der „Mitteldeutschen Zeitung“: „An<br />

der Poststraße/Ecke Kurze Gasse hätten<br />

sich ihr zwei unbekannte männliche Männer<br />

von der Seite genähert und ihr dabei<br />

die Tasche samt Inhalt aus der Hand entrissen.“<br />

Aus dem „Tagesspiegel“<br />

Aus der „Emder Zeitung“: „Zwar könne<br />

nicht zwischen dem Laub von privaten<br />

und öffentlichen Bäumen unterschieden<br />

werden, aber dennoch müsse auf diesen<br />

Unterschied geachtet werden.“<br />

Aus einer Anzeige im „Konstanzer Anzeiger“<br />

Aus den „Nordbayerischen Nachrichten“:<br />

„Statt der bisher geschätzten Mehraus -<br />

gaben von 50 Millionen Euro soll der Bundeshaushalt<br />

nur um einen einstelligen Milliardenbetrag<br />

zusätzlich belastet werden.“<br />

Rückspiegel<br />

Zitate<br />

Die „Süddeutsche Zeitung“ zum Plan des<br />

SPIEGEL-Verlags, den Erscheinungstag<br />

des Nachrichten-Magazins zu ändern:<br />

Von Januar 2015 an soll das Blatt wieder<br />

samstags erscheinen. Diese Nachricht teilte<br />

der neue Chefredakteur Wolfgang<br />

Büchner am Montag den Ressortleitern<br />

von SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE in<br />

einer Konferenz mit. Für den Wechsel<br />

auf den Samstag gab es Applaus. Marktforscher<br />

wollen herausgefunden haben,<br />

dass der Samstag als Lesetag so beliebt<br />

ist, dass manche Abonnenten das Magazin<br />

fast eine Woche lang liegen lassen.<br />

Das „Handelsblatt“ über das „SPIEGEL-<br />

Gespräch – live an der Uni“ mit Siemens-<br />

Chef Joe Kaeser:<br />

Vor allem das Desaster beim Berliner Flughafen<br />

sieht Kaeser erstaunlich gelassen.<br />

„Das ist kein Problem, den braucht keiner<br />

im Augenblick.“ Wenn der Flughafen in<br />

fünf bis zehn Jahren eröffnet werde, reiche<br />

das auch noch. Hier sei „natürliche<br />

Gelassenheit“ gefragt. Weniger entspannt<br />

zeigte sich Kaeser bei der SPIEGEL-<br />

Veranstaltung ob der hausgemachten Probleme.<br />

Bei der Anbindung der Offshore-<br />

Windparks an das Stromnetz habe Siemens<br />

die falschen Partner gesucht. „Wir<br />

haben uns selbst überschätzt und bis zuletzt<br />

die Schuld bei anderen gesucht.“<br />

Noch kritischer sieht er die verspätete<br />

Auslieferung der neuen ICEs an die Bahn,<br />

eine „Megapeinlichkeit“. Das Ganze sei<br />

„ein bisschen wie das ,Warten auf Godot‘.<br />

Das Gute ist: Die Züge kommen“.<br />

Die „tageszeitung“ in einer Glosse über<br />

Rituale im politischen Berlin:<br />

Aus der „Heilbronner Stimme“<br />

Aus dem „Weser-Kurier“: „Die Sprecherin<br />

des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung<br />

sagte, der Komet sei<br />

ausschließlich morgens, kurz nach Sonnenuntergang,<br />

zu sehen.“<br />

Aus einer Werbung des Lebensmittel-<br />

Discounters Cool<br />

Aus der „Bild am Sonntag“: „Briefe von<br />

gefälschten Anwälten oder Notaren versprechen<br />

hohe Geldgewinne – gegen<br />

Bearbeitungsgebühr.“<br />

164<br />

Berlin hat seine eigene Presslufthammersprache<br />

mit immenser Lautstärke ent -<br />

wickelt, weil alle Ohropax im politischen<br />

Gehör haben. Brüllt also jemand „Standort<br />

<strong>Deutschland</strong> in Gefahr“ und hält sich<br />

dabei eine Pistole an die Schläfe, nimmt<br />

das politisch trainierte Gehirn etwas anderes<br />

wahr. Es hört: „Die Branche ist gerade<br />

über die unsicheren Rahmenbedingungen<br />

beunruhigt“ und sieht Sorgenfalten<br />

auf der Stirn … Nun ist es tatsächlich<br />

so, dass sich diese Art der Dauerempörung<br />

abnutzt und eben vor sich hinplätschert<br />

… Wenn wir jetzt schon das Ende<br />

der Geschichte erreicht hätten, würde es<br />

eben ewig so weitergehen. Bis sich die<br />

Sonne in 4,5 Milliarden Jahren aufbläht,<br />

die Erde in Gluthitze taucht und damit<br />

den Standort <strong>Deutschland</strong> ernsthaft gefährdet.<br />

Falls es den SPIEGEL bis dahin<br />

noch gibt, dann bekommt er die Story sicherlich<br />

exklusiv, und die „taz“ fragt empört,<br />

was an einer Apokalypse denn bitte<br />

noch links sein soll.<br />

DER SPIEGEL 50/2013

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