19.11.2014 Aufrufe

Deutschland - Quick-Talk.com

Deutschland - Quick-Talk.com

Deutschland - Quick-Talk.com

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SAKIS MITROLIDIS / AFP<br />

Türkischer Posten an der EU-Grenze zu Griechenland: Vom Staat kaum etwas zu erwarten<br />

FLÜCHTLINGE<br />

Emotionaler<br />

Kurzschluss<br />

Zwei Monate nach der Katastrophe<br />

vor Lampedusa macht Europa<br />

weiter wie bisher: Die EU will nun<br />

abgelehnte Asylbewerber aus<br />

aller Welt in die Türkei schicken.<br />

BULGARIEN<br />

für aber Staaten wie Italien oder Bulgarien<br />

an der EU- Außengrenze.<br />

Zwei Monate später ist nun klar: Auch<br />

die Hoffnung ist gestorben. Das Wort<br />

Dublin taucht im Koalitionspapier von<br />

Union und SPD nicht einmal auf. Es gibt<br />

also keinen Vorstoß, daran etwas zu ändern.<br />

Und nun hat auch noch die EU einen<br />

Deal gemacht, der die Methode<br />

„Dublin“ auf die Spitze treibt – die Methode,<br />

das Asylproblem möglichst an die<br />

Ränder Europas zu verschieben.<br />

Dabei stellt Brüssel der Türkei in Aussicht,<br />

dass ihr alter Wunsch in Erfüllung<br />

gehen könnte: die visafreie Einreise für<br />

ihre Bürger nach Europa. Im Gegenzug<br />

erklärt sich die Türkei bereit, abgelehnte<br />

Asylbewerber zurückzunehmen, die auf<br />

einer Schleuser-Route über die Türkei in<br />

der EU gelandet sind. Mit dem Abkommen,<br />

das die EU in einer Woche unterzeichnen<br />

will, wird die Türkei, obwohl<br />

nicht EU-Mitglied, zu einer Art Außenposten<br />

des Dublin-Systems. Für die Türkei<br />

mag das ein guter Deal sein, für<br />

Flüchtlinge ist das dagegen eine schlechte<br />

Nachricht.<br />

„Das Rücknahmeabkommen ist eine<br />

Katastrophe“, sagt Piril Erçoban von der<br />

türkischen Flüchtlingsorganisation Mülteci-Der.<br />

„Niemand hier weiß, wohin mit<br />

Schwarzes<br />

Meer<br />

Istanbul<br />

TÜRKEI<br />

200 km<br />

den Flüchtlingen“, die<br />

Türkei sei schon jetzt<br />

völlig überfordert. Das<br />

liegt auch dar an, dass<br />

die Türkei, anders als<br />

<strong>Deutschland</strong>, über kein<br />

Asylsystem verfügt, das<br />

diesen Namen verdient.<br />

Zwar hat die Regierung<br />

die Genfer Flüchtlingskonvention<br />

unterzeichnet<br />

und sich damit ver-<br />

Was kann es schon Tröstliches geben<br />

an einem Tag, an dem mehr<br />

als 300 Menschen ertrinken? Als<br />

aber Anfang Oktober so viele Flüchtlinge<br />

im Meer vor Lampedusa starben, wurde<br />

zu mindest eine Hoffnung geboren: dass die<br />

Europäer ihre Asylpolitik in Frage stellen.<br />

Von einer „Schande“ sprach Papst Franziskus,<br />

von einer „Schande“ redete auch<br />

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz,<br />

und Bundespräsident Joachim Gauck<br />

fragte, ob „unser Engagement der Bedeutung<br />

unseres Landes entspricht“.<br />

Auch ein Dogma der europäischen<br />

Asylpolitik schien sich bei so viel Erschütterung<br />

erschüttern zu<br />

lassen: die Dublin-Verordnung.<br />

Jene Regelung,<br />

wonach ein Asylbewerber<br />

in das EU-Land zu-<br />

EU-Außengrenze<br />

rückgeschickt wird, in<br />

dem er zuerst den Boden<br />

der Gemeinschaft GRIECHENLAND<br />

betreten hat. Das nützt<br />

Ländern in der Mitte<br />

Europas, vor allem<br />

<strong>Deutschland</strong>, belastet da-<br />

Mittelmeer<br />

pflichtet, Menschen auf der Flucht Schutz<br />

zu bieten. Allerdings lässt die Türkei das<br />

grundsätzlich nur bei Flüchtlingen aus<br />

Europa gelten. Daran ändert auch ein<br />

neues Gesetz nichts, das leichte Verbesserungen<br />

für Flüchtlinge bringen soll.<br />

Eine Ausnahme von seinem harten<br />

Kurs macht das Land bei den rund<br />

600 000 Syrern, die seit Ausbruch des<br />

Bürgerkriegs über die Grenze geflohen<br />

sind. Für sie hat Ministerpräsident Recep<br />

Tayyip Erdogan eine Mindestversorgung<br />

angeordnet. Wer aber aus Asien oder<br />

Afrika stammt, etwa aus Iran, Afghani -<br />

stan oder Somalia, hat vom türkischen<br />

Staat kaum etwas zu erwarten.<br />

Die Menschen kommen trotzdem. Viele<br />

leben unter katastrophalen Bedingungen,<br />

finden keine reguläre Arbeit, sind<br />

auf sich selbst gestellt. Ohne Unterkunft,<br />

ohne Geld. Nur wenige ergattern einen<br />

Platz im Umsiedlungs-Programm des<br />

UNHCR. In diesem Jahr will das Uno-<br />

Hilfswerk gerade mal 6000 Flüchtlinge<br />

aus der Türkei ins Ausland vermitteln.<br />

Wem dieser Weg versperrt bleibt, der<br />

nimmt einen anderen: illegal in die EU.<br />

Häufig werden die Flüchtlinge aber bereits<br />

an der Grenze von den Griechen zurückgeschickt,<br />

bevor sie überhaupt um<br />

Asyl bitten können. Der Europäische<br />

Menschenrechtsgerichtshof hat diese sogenannten<br />

Pushbacks für rechtswidrig erklärt.<br />

Glaubt man Amnesty International,<br />

kommt es dennoch immer wieder dazu.<br />

Die Menschenrechtsaktivistin Erçoban<br />

fürchtet, dass die Zahl der Pushbacks<br />

mit dem Abkommen zwischen der EU<br />

und der Türkei noch wächst. Zwar muss<br />

die Türkei nur Flüchtlinge zurücknehmen,<br />

die über das Land in die EU gereist<br />

und später in einem ordentlichen Asyl -<br />

ver fahren durchgefallen sind. Doch „kein<br />

türkisches Gericht wird prüfen, ob so<br />

ein Verfahren in einem EU-Staat unfair<br />

oder gar nicht gelaufen ist“, prophezeit<br />

Erçoban.<br />

Das alles wird wohl kein Hindernis für<br />

das Abkommen sein. Da spielt es auch<br />

keine Rolle, dass die EU-Staaten keine<br />

Asylbewerber mehr nach Griechenland<br />

zurückschicken, weil dort das Asylsystem<br />

zusammengebrochen ist. Die Türkei hat<br />

kein geordnetes Asylsystem, das zusammenbrechen<br />

könnte.<br />

Verhandelt hat das Abkommen übrigens<br />

die EU-Innenkommissarin Cecilia<br />

Malmström. Kurz nach der Katastrophe<br />

von Lampedusa hatte sie noch gesagt, sie<br />

sei „entsetzt über die Tragödie“. Malmström<br />

forderte ein Umdenken in der europäischen<br />

Einwanderungspolitik. Aber<br />

was sich nach energischem Kurswechsel<br />

anhörte, war offenbar nur ein emotionaler<br />

Kurzschluss. Der dürfte inzwischen<br />

behoben sein: Europas Flüchtlingspolitik<br />

nach Lampedusa ist Europas Flüchtlingspolitik<br />

vor Lampedusa.<br />

JÜRGEN DAHLKAMP, MAXIMILIAN POPP<br />

DER SPIEGEL 50/2013 43

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!