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egann die Zeit der Schonung. Die bundesdeutsche Politik<br />

sorgte dafür, dass es möglichst vielen Bürgern möglichst gut<br />

geht, vor allem über Umverteilung. Alle waren schon Verlierer<br />

gewesen, lebten in zertrümmerten Städten und, zum Teil, mit<br />

zertrümmerten Seelen. Die Politik wollte nicht Verlierer produzieren,<br />

und außerdem gab es einen Nachbarn, der sich auch<br />

schon als großer Kümmerer aufführte, die DDR.<br />

Eine andere Folge war, dass politischer Streit in Verruf geriet.<br />

Die Kämpfe der Parteien in der Weimarer Republik hatten den<br />

Aufstieg des Nationalsozialismus möglich gemacht. Auch demokratische<br />

Politiker hatten sich unversöhnlich gegenüber -<br />

gestanden. Die SPD ließ 1930 eine Regierung platzen, weil sie<br />

nicht zu einem Kompromiss bei der Arbeitslosenversorgung<br />

bereit war. Drei Jahre später war Hitler an der Macht.<br />

Den Deutschen fehlt daher das Urvertrauen in die guten<br />

Kräfte des Streits, wie es Amerikaner oder Briten haben. Ihre<br />

Demokratien sind alt, man hat oft gekämpft, man hat sich oft<br />

versöhnt, ohne dass es zu Katastrophen kam. Der Streit gilt<br />

dort als dynamischer Kern des politischen Systems.<br />

In der Bundesrepublik dagegen entwickelte sich ein System,<br />

das den Konsens anhimmelt, das die Kampfzone verengt. Schon<br />

17 Jahre nach der Staatsgründung gab es die erste Große<br />

Koalition, und die FDP war danach das Scharnier in der Mitte<br />

zwischen den Volksparteien. Bis 1998 blieb nach jeder Wahl<br />

mindestens eine Regierungspartei in der Regierung. Harte<br />

Wechsel gab es nicht, und über den Bundesrat wirkten ohnehin<br />

starke Einigungszwänge auf die Politik. Es gab Kämpfe, aber<br />

es gab auch einen Grundkonsens der Volksparteien: Größere<br />

soziale Einschnitte sind tabu. Die FDP trug das murrend mit.<br />

Doch zu Beginn des neuen Jahrtausends erlebte die Nation<br />

einen neuen Schock. Es war bei weitem nicht so schlimm wie<br />

1945, aber es war ein Schock für die<br />

Geschonten. Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder und seine rot-grüne<br />

Koalition verabschiedeten sich vom<br />

Grundkonsens. Die Agenda 2010<br />

beschnitt erstmals drastisch die soziale<br />

Sicherung, sie stürzte Politik<br />

und Gesellschaft in heftige Kämpfe und spaltete die SPD. Die<br />

Schonzeit war vorbei.<br />

Angela Merkel erlebte ihren persönlichen Schock am<br />

18. September 2005. Sie hatte sich vor dem Wahlkampf als neo -<br />

liberale Politikerin feiern lassen, hatte im Wahlkampf angekündigt,<br />

den Deutschen eine höhere Mehrwertsteuer zumuten<br />

zu wollen, und war damit beinahe baden gegangen. Als Favoritin<br />

konnte sie sich nur knapp in ihre erste Kanzlerschaft<br />

retten, an der Spitze einer Großen Koalition.<br />

Das war die Lage nach der Wahl 2005: Die schockierte Nation<br />

hatte einen neuerlichen Schock erlebt und wurde von einer<br />

geschockten Kanzlerin geführt. Es begann eine zweite Schonzeit,<br />

die, in der wir immer noch leben.<br />

Merkel hatte nun Angst vor den reformmüden Deutschen,<br />

und ihr Konzept hieß: Alles ist Sicherheits -<br />

politik. Die wieder schonungsbedürftigen Deutschen<br />

sollen sich sicher fühlen können, sozial, aber auch ansonsten.<br />

Nach der Rente mit 67, die Franz Müntefering noch mit<br />

schröderscher Verve durchgesetzt hatte, gab es fast nur noch<br />

Wohltaten, vor allem für Familien und Alte. Als 2008 die<br />

Finanzkrise ausbrach, wurde diese Sicherheitspolitik weiter<br />

forciert. Spargarantie, Abwrackprämie und erweiterte Kurzarbeiterregel<br />

schonten die Nerven der Bürger und halfen durch<br />

die Krise.<br />

Dieses Schonprogramm wurde sogar in der schwarz-gelben<br />

Koalition fortgesetzt, Betreuungsgeld, Atomausstieg, Abzug<br />

aus Afghanistan. Für das zentrale Thema, die Euro-Politik,<br />

schmiedete Merkel eine Riesenkoalition mit Union, FDP, SPD<br />

und Grünen. Eine hörbare Opposition gab es in dieser Frage<br />

praktisch nicht mehr. Die Kampfzone war nur noch ein Fleck.<br />

Kleiner Streitraum, große<br />

Kontrollzone: Das ist der<br />

politische Ansatz der Kanzlerin.<br />

Merkels ganze Art zielt darauf ab, den Streitraum klein zu<br />

halten. Leise Sohlen und Samthandschuhe, das ist ihre Grundausstattung<br />

für die Politik. Sie provoziert niemanden, sie hält<br />

sich bedeckt, sie kontrolliert streng ihre Worte und Gesten<br />

und will so möglichst auch die politische Debatte unter Kontrolle<br />

halten. Warum sie so ist? Eine mögliche Erklärung: In<br />

der DDR stand politischer Dissens unter Strafe. Merkel hat<br />

nicht die offene Aussprache gelernt, sondern Selbstkontrolle.<br />

Dazu kommt Ehrgeiz, den sie in der Bundesrepublik als Machtwillen<br />

auslebt. Da ist sie fast die Letzte.<br />

Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier winkten ab,<br />

als es um die Kanzlerkandidatur der SPD ging. Im entscheidenden<br />

Gespräch mit Parteichef Sigmar Gabriel fragte<br />

Peer Steinbrück verzagt, ob sie nicht doch noch einmal Steinmeier<br />

fragen sollten. Im Wahlkampf hatte er dann Beißhemmungen<br />

gegen Merkel, wie so viele andere Männer in der<br />

Politik. Es gibt keine starken, entschlossenen Gegner für sie.<br />

In der Großen Koalition hat Merkel nun wieder die Kontrolle<br />

über zwei Volksparteien.<br />

Es liegt nicht nur an ihr, aber es passt ins Bild, dass während<br />

ihrer Kanzlerschaft zwei von drei Grundströmungen demokratischer<br />

Politik verblasst sind. Das ist der Konservatismus, der<br />

in der Union keinen prominenten Anführer mehr hat. Und<br />

das ist der Liberalismus nach Art der FDP, der sich in der<br />

schwarz-gelben Koalition unmöglich und überflüssig gemacht<br />

hat. Wohl nicht zufällig sind dies die beiden Richtungen, die<br />

nicht für Sanftheit bekannt sind. Was bleibt, ist der Sozialismus<br />

in seiner sozialdemokratischen Ausprägung, dem sich auch die<br />

Bundeskanzlerin anverwandelt hat und der sich im Bundestag<br />

auf alle vier Parteien verteilt: Union, SPD, Linke und Grüne.<br />

Langsam gehen die Positionen aus,<br />

die in Streit geraten könnten.<br />

So ist es Merkel recht: Kleiner<br />

Streitraum, große Kontrollzone, das<br />

ist ihr politischer Ansatz. Sie ist die<br />

ideale Kanzlerin für den „grand co -<br />

alition state“, der allen die Ruhe lässt.<br />

Aber ist die Gesellschaft nicht trotzdem sehr lebendig und<br />

politisch engagiert? Auf lokaler Ebene trifft das durchaus zu.<br />

Die schwäbischen Wutbürger protestieren noch immer jeden<br />

Montag gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, ein Bürgerentscheid<br />

in München und Umgebung hat gerade Olympische<br />

Spiele dort verhindert, und es ist kaum noch möglich, eine<br />

Landebahn, ein Kraftwerk, eine Straße oder einen Strommasten<br />

zu bauen, ohne dass sich Bürger heftig wehren.<br />

Dieser Protest hat auch verständliche Seiten, aber insgesamt<br />

geht es hier ebenfalls um Schonung, Eigenschonung. Ein Teil<br />

der Bevölkerung will sich nicht die Lasten von Baustress, Finanzierung,<br />

Lärm oder Hässlichkeit aufbürden lassen. Es gibt<br />

eine Schonungssymbiose in diesem Land. Merkel kümmert<br />

sich auf der Bundesebene darum, dass nichts die Ruhe stört,<br />

die Wutbürgerbewegung tut dies im Lokalen.<br />

„Alte Männer sind gefährlich, denn ihnen ist die Zukunft<br />

egal“, hat der Schriftsteller George Bernhard Shaw geschrieben.<br />

Bei Frauen ist das nicht anders. <strong>Deutschland</strong> ist inzwischen<br />

die älteste Gesellschaft in der Europäischen Union. Dazu passt,<br />

dass die Bundesrepublik eine der niedrigsten Investitionsquoten<br />

in Europa hat. Investitionen sind Ausgaben für eine gute Zukunft.<br />

In der Wutbürgerbewegung, die sich meist gegen solche<br />

Investitionen wehrt, finden sich „ganz besonders Vorruheständler,<br />

Rentner und Pensionäre“, schreibt der Politologe Franz<br />

Walter in der empirischen Studie „Die neue Macht der Bürger“.<br />

Wut für Ruhe, das ist einer der Leitsätze dieser Bewegung.<br />

Wut für eine bessere Zukunft? Gibt es kaum. In den jüngeren<br />

Generationen verbreitet sich das Liebsein. Das hat damit zu<br />

tun, dass klassisch männliche Verhaltensweisen, also Aggressivität<br />

oder Dominanzstreben, zunehmend verpönt sind und bekämpft<br />

werden, schon auf den Schulhöfen. Was eher klassisch<br />

DER SPIEGEL 50/2013 127

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