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Schauspieler Bernd Moss, Barbara Heynen in „Aus der Zeit fallen“ im Deutschen Theater<br />

rück, gefangen in der Trauer, „ein entlebter<br />

Mensch“, wie sie sagt. „Fünf Jahre<br />

nach dem Tod meines Sohnes zog sein<br />

Vater aus, ihn zu treffen. Ich bin nicht<br />

mit ihm gegangen. Bis ans Ende der Welt<br />

wär ich mit ihm. Aber nicht nach dort.“<br />

Der „gehende Mann“ aber findet Gefährtinnen<br />

und Gefährten, ähnlich Versehrte,<br />

nach Trost Suchende. Sie tragen<br />

Fantasy-Namen wie „Zentaur“ oder<br />

„Herzog“ und sind wie der Held selbst<br />

Hiob-Gestalten voller „Wut über all das,<br />

was man dir geraubt“. Nach und nach finden<br />

die Gehenden Worte, um ihren Verlust<br />

zu beschreiben und ihn von immer<br />

neuen Seiten aus zu betrachten. Und sie<br />

kapieren, warum sie auf die anderen, bislang<br />

verschonten Menschen einen frivolen<br />

Reiz ausstrahlen: „Was ist erregender<br />

als die Hölle anderer? Schmerz hat man<br />

doch lieber aus zweiter Hand.“<br />

Und natürlich blickt der Schriftsteller<br />

Grossman hier mit großer Nüchternheit<br />

und Brutalität auch darauf, wie es ihm<br />

selbst und seinem Werk ergangen ist in<br />

den vergangenen Jahren.<br />

Im Deutschen Theater wird der Regisseur<br />

Andreas Kriegenburg, soweit man<br />

das nach Ansicht der Proben in der vergangenen<br />

Woche beurteilen kann, aus<br />

Grossmans Langgedicht eine grandiose<br />

dreieinhalbstündige Totenbeschwörung<br />

machen. Grossmans Prozession der Ruhelosen,<br />

in der sich viele Anspielungen<br />

auf das Alte Testament und auf klassische<br />

Märchen finden, spielt in einer Zwi -<br />

ARNO DECLAIR<br />

schenwelt. Sie ist halb Hölle und halb<br />

Höhle, wie in einer entfernten Galaxis.<br />

In der ist es so zappenduster, als hätte<br />

der deutsche Dichter Heiner Müller sie<br />

entworfen, der in seinem Geisterstück<br />

„Germania 3 – Gespenster am toten<br />

Mann“ einmal den schönen Satz formuliert:<br />

„Dunkel, Genossen, ist der Weltraum.<br />

Sehr dunkel.“<br />

Auf einer Drehbühne stehen Würfelgerüste,<br />

die mit Plastikfolie umwickelt oder<br />

zu Türmen gestapelt sind und sich im<br />

Bühnenbild von Olga Ventosa Quintana<br />

in Gefängniszellen verwandeln, in die<br />

meist Menschen und mal ein Esel gesperrt<br />

sind. Männer und Frauen umarmen sich<br />

oder schlagen aufeinander ein, während<br />

Musik von Johann Sebastian Bach oder<br />

von zeitgenössischen Klezmer-Minimalisten<br />

erklingt. Meist aber herrscht eine verschwörerische<br />

Solidarität zwischen den<br />

Bewohnern des nie genannten Landes, in<br />

dem „Aus der Zeit fallen“ spielt. „Wir<br />

wollen zum Licht erwachen“, fordert der<br />

Chor der Wandernden einmal.<br />

„Für mich ist das Berührende an diesem<br />

Text, dass er nicht vom Sterben handelt,<br />

sondern davon, wie man nach einem Verlust<br />

zurückfindet ins Leben“, sagt Kriegenburg,<br />

der Regisseur. Ein modernes,<br />

politisches Stück wolle er zeigen, „in dem<br />

der Wahnsinn, der uns umgibt, genau beschrieben<br />

wird“. Kriegenburg legt Wert<br />

darauf, Grossmans Anrufungspoem nicht<br />

an einen Ort in Europa oder einen konkreten<br />

Kriegsschauplatz verpflanzen zu<br />

wollen, „damit der Text seine Fremdheit<br />

behält. David Grossman beschreibt Trauer<br />

als einen menschlichen Grundzustand,<br />

nicht als ein Unglück“.<br />

Ähnliches gilt für den Krieg. Der<br />

Schriftsteller Grossman kämpft für den<br />

Frieden, aber er ist kein Pazifist. Israel<br />

ist für ihn „ein politisches und mensch -<br />

liches Wunder“, aber der Staat der Juden<br />

müsse jederzeit imstande sein, sich mit<br />

militärischen Mitteln gegen seine Feinde<br />

zu verteidigen. Grossman hielt sogar jenen<br />

Libanon-Krieg im Jahr 2006, in dem<br />

sein Sohn getötet wurde, zunächst für<br />

legitim: wegen der Raketenangriffe auf<br />

Israel, die dem Krieg vorangingen. Er<br />

sieht heute weniger Chancen auf Frieden<br />

als je zuvor. „In Israel ist so viel Hass am<br />

Werk, dass ich kaum Hoffnung habe.“<br />

In Grossmans Text lässt er einen der<br />

Trauernden sagen, dass er nicht in der<br />

Lage sei, „etwas zu verstehen, bis ich es<br />

aufschreibe. Ich meine, wirklich verstehen,<br />

ganz genau! Diese verfickte Sache,<br />

die mir und meinem Sohn da passiert ist,<br />

ich muss sie in eine Geschichte einbauen.<br />

Anders geht es nicht. Alles muss rein in<br />

den brodelnden Kessel!“<br />

Es gebe Schriftsteller, sagt David Grossman,<br />

deren politisches Engagement ihrer<br />

literarischen Arbeit in die Quere komme.<br />

„Ich mache mir darüber keine Gedanken.<br />

Ich habe keine Wahl.“ WOLFGANG HÖBEL<br />

DER SPIEGEL 50/2013 131

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