Sieben fette Jahre - Fokolar-Bewegung
Sieben fette Jahre - Fokolar-Bewegung
Sieben fette Jahre - Fokolar-Bewegung
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1<br />
Christian Hennecke<br />
<strong>Sieben</strong> <strong>fette</strong> <strong>Jahre</strong><br />
Gemeinde und Pfarrer<br />
im Umbruch<br />
Aschendorff Verlag Münster
2<br />
© 2003 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster<br />
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,<br />
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von<br />
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bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche<br />
des § 54, Abs. 2, UrhG, werden durch die Verwertungsgesellschaft<br />
Wort wahrgenommen.<br />
Gesamtherstellung: Aschendorff Medien GmbH & Co. KG, Druckhaus<br />
Münster, 2003<br />
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier<br />
ISBN 3-402-03430-1<br />
8
3<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort ................................................................................ 05<br />
Die Anfänge ...<br />
Auftakt: Was will Gottt in Achim? ..................................... 07<br />
„Wir akzeptieren auch zölibatäre Priester ...“ .................... 12<br />
Kann ich alleine glücklich Priester sein? ............................ 17<br />
Von enttäuschten und<br />
zu enttäuschenden Erwartungen .................................. 22<br />
Die Auferstehung Roms und<br />
die Suche nach den Suchenden ..................................... 27<br />
Fledermauspastoral oder<br />
die Kunst der Wahrnehmung ........................................ 34<br />
Das Pastoralteam –<br />
Lernen, gemeinsam hinzuhören ................................... 40<br />
Sakramentenpastoral neu bedenken<br />
Taufen machen ratlos .......................................................... 45<br />
Pastapastoral ........................................................................ 50<br />
Erstkommunion:<br />
The same procedure as every year? ............................... 53<br />
Kommunion und Erstbeichte .............................................. 59<br />
Die Sinnfinder ...................................................................... 63<br />
Neue Wege und Gestalten des Glaubens<br />
Ein Glaubenskreis zieht Kreise ............................................ 70<br />
Die „Magie“ von Silvia ........................................................ 75<br />
Seele ohne Alter – der Weg von Veronika .......................... 79<br />
Am Ende nur zu dritt:<br />
die erste Romfahrt mit Jugendlichen ............................ 83<br />
Anja, Dominik und die Gruppe .......................................... 88<br />
Zwischen S. Egidio und S. Antimo...................................... 93<br />
Gibt es heute zu wenig Berufungen? .................................. 98
4<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Bibelkreise – Versuche der Gemeinschaftsbildung .......... 103<br />
Eine große Chance für alle:<br />
das Gemeindewochenende .......................................... 108<br />
Stationen einer Gemeindeentwicklung<br />
Was habe ich mit einem Kindergarten zu tun? ............... 114<br />
Warum das CaWiA scheitern musste ................................ 120<br />
Der Himmel ist blau .......................................................... 125<br />
Eine Werkstatt für die Liturgie .......................................... 129<br />
Ostern in Achim ................................................................ 134<br />
Machtspiele oder: „Der Fisch stinkt vom Kopf“ .............. 138<br />
Der Familiengarten ............................................................ 142<br />
Ehrenamtliche? Freiwillige? Charismen! .......................... 148<br />
Ökumenische Herausforderungen .................................... 153<br />
Welche Spiritualität für welche Struktur?<br />
Erfahrungen im „Sabbatjahr“ ...................................... 157<br />
45 Minuten Eucharistie?<br />
Der Versuch des Gemeindesonntags ........................... 163<br />
Gemeinden und charismatische <strong>Bewegung</strong>en –<br />
Zwischen Sektierertum und Katholizität .................... 168<br />
Nachdenken über die Zukunft<br />
Gott wird seine Kirche erneuern –<br />
Eine Schlussreflexion ................................................... 174<br />
Erneuerung des Gottesvolkes auf göttliche Art –<br />
Ein alttestamentlicher Epilog ...................................... 195<br />
Literaturverzeichnis ........................................................... 200
I<br />
Vorwort<br />
n diesem Buch reflektiert Christian Hennecke über sieben<br />
<strong>Jahre</strong> seelsorglicher Tätigkeit als Priester in der norddeutschen<br />
Diaspora. Der Leser darf dem jungen Pfarrer der Gemeinde<br />
St. Matthias in Achim bei Bremen über die Schulter<br />
gucken: Ehe er sich versieht, wird er in einen spannenden<br />
Prozess von Gemeindeentwicklung hineingenommen. Auch<br />
in der Gemeinde St. Matthias ist der Rückgang des volkskirchlichen<br />
Gemeindelebens mehr als evident. Die dadurch<br />
gegebenen Belastungen, die nicht ausbleibenden Enttäuschungen<br />
und eine immer stärker werdende Verunsicherung<br />
der Gemeindemitglieder werden nicht verschwiegen.<br />
Dem Leser begegnet aber auch eine Gemeinde mit neuer<br />
Zukunftsperspektive. Es ist überraschend zu sehen, wie ehrenamtliche<br />
Kräfte sich in unterschiedlichen Bereichen einsetzen.<br />
Es gibt neue Zuversicht zu erleben, dass Jugendliche<br />
eine tiefe Sehnsucht nach Glauben und religiöser Gemeinschaft<br />
in sich tragen.<br />
Was ein hauptamtliches Seelsorgeteam vermag, wenn es<br />
genügend Zeit zur Reflexion und sogar zu Klausurwochen<br />
einplant, springt in diesem Buch unmittelbar ins Auge. Es ist<br />
faszinierend zu sehen, wie mutig, manchmal vielleicht auch<br />
waghalsig oder eben unbekümmert neue Wege in der Sakramentenpastoral<br />
und in der Gottesdienstgestaltung gesucht<br />
und gegangen werden.<br />
Bemerkenswert ist auch, dass sich mit Pfarrer Christian<br />
Hennecke nicht ein Macher oder Manager von Gemeindearbeit<br />
vorstellt, sondern zwischen den Zeilen wird erkennbar,<br />
wie jemand sich führen lässt durch das Gespräch mit seinen<br />
unmittelbaren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und auch<br />
durch ein intensives Hören auf Gott. Wer so intensiv der<br />
Gnade Gottes vertraut, kann diese auch tatsächlich erfahren.<br />
Der Autor markiert seine persönliche Beziehung zur <strong>Fokolar</strong>bewegung<br />
deutlich und nimmt sie zugleich zurück. So ermöglicht<br />
er es dem Leser zu verstehen, dass in den neueren<br />
geistlichen <strong>Bewegung</strong>en ein wichtiges Potenzial für die Ge-<br />
5
6<br />
Vorwort<br />
meindeernerung liegt. „<strong>Sieben</strong> <strong>fette</strong> <strong>Jahre</strong>“ – kein Rezeptbuch,<br />
sondern das Tagebuch eines Weges in eine neue Richtung.<br />
Der manchmal forsche Ton und auch die Zuspitzung<br />
mancher Fragen sind unverzichtbar, weil es darum geht, der<br />
Kirche neue Wege zum Menschen zu öffnen.<br />
Über oder unter dieses Buch könnte man schreiben: Die<br />
Zeit des Umbruchs kann eine Zeit der Gnade sein. Diese Gnade<br />
führt zu einer Gelassenheit, die den Blick frei macht für<br />
neue Perspektiven.<br />
Münster, den 1. Dezember 2002<br />
Dr. Wilfried Hagemann<br />
Regens des Priesterseminars
7<br />
Die Anfänge ...<br />
I<br />
Auftakt: Was will Gott in Achim?<br />
ch sitze schweißgebadet im juliheißen Rom und arbeite gerade<br />
an der Schlussversion meiner Dissertation, als der Anruf<br />
kommt: „Herr Kaplan Hennecke, wir möchten Sie fragen,<br />
ob Sie bereit wären, die Pfarrei in Achim zu übernehmen! Wir<br />
sind in großer Not. Könnten Sie sich das vorstellen?“ „Möchte<br />
das der Bischof oder ist es nur so eine Überlegung?“ „Nein,<br />
der Bischof möchte das auch.“ „Wenn der Bischof das möchte,<br />
werde ich nach Achim gehen!“ Ein erleichtertes und fast<br />
ungläubiges „Danke“ dringt durch den Hörer. Für die nächsten<br />
<strong>Jahre</strong> – heute weiß ich, dass es sieben sind – habe ich<br />
mein „Ja“ gegeben.<br />
Was ist Achim für eine Pfarrei? Warum ist es so schwierig,<br />
für diese Pfarrei einen Nachfolger zu finden? Das erfahre ich<br />
einen Monat später, am 18. August: Nach einer Jugendfreizeit<br />
mit italienischen Jugendlichen im süddeutschen Raum<br />
kommt es zu einem Gespräch mit dem Personalreferenten<br />
des Bistums. Mein Vorgänger, ein sehr geschätzter und begabter<br />
Priester, hat vor einem Jahr die Gemeindereferentin<br />
geheiratet. Seitdem ist die Pfarrei nicht neubesetzt worden,<br />
sondern hat einige Vertretungspriester gehabt. Alle Bemühungen<br />
um einen Nachfolger scheiterten. Wieso? Vielleicht<br />
ist die Situation in Achim noch sehr gespannt, vielleicht liegt<br />
Achim zu sehr im diözesanen Abseits? Auf meine Bitte hin<br />
erhalte ich alles zur Einsicht, was im Anschluss an das spektakuläre<br />
Ende der Dienstzeit meines Vorgängers geschrieben<br />
wurde. Ein Aufschrei, eine Wut, Zorn, Rückzug, ja Kirchenaustritte,<br />
Briefe an den Papst. Ich merke, wie sehr tief der
8<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Schmerz und die Wunde in dieser mir noch völlig unbekannten<br />
Pfarrei sitzen muss. „Aber sie ist sehr lebendig“, weiß der<br />
Personalreferent zu berichten: „Viele junge Familien sind<br />
hier zugezogen. Wissen Sie, das ist der Speckgürtel von Bremen,<br />
Zuzugsgebiet.“<br />
Anfang Oktober kehre ich nach Deutschland zurück. Die<br />
Doktorarbeit ist abgegeben. Ich begegne in diesen Tagen zum<br />
ersten Mal der Achimer Wirklichkeit, als ich meine Buchkisten<br />
dort ablade. Freundlicher Empfang wird mir bereitet,<br />
aber ich spüre auch, wie sehr viel Schmerz und Trauer in den<br />
Sekretärinnen zu spüren ist. Und ich begegne in diesen Tagen<br />
dem Bischof. „Herr Pfarrer“, so sagt er zu mir, „ich denke,<br />
dass es eine schwierige Situation ist, in die Sie da kommen.<br />
Aber Sie gehören einer geistlichen Gemeinschaft an, dem<br />
<strong>Fokolar</strong>, wo sie Heimat und Kraft finden können. Ich denke,<br />
Sie können es schaffen.“ Wir sprechen über Achim. „Achim<br />
ist eine interessante Pfarrei. Sie liegt am Rand von Bremen.<br />
Die Verhältnisse, die Sie in Achim vorfinden werden, werden<br />
wir demnächst in der Breite der Diözese haben. Der Einfluss<br />
des nachchristlichen Bremens macht sich hier sehr bemerkbar.<br />
Ich denke, dass Sie Wege versuchen sollten, in dieser Situation<br />
den christlichen Glauben neu zu prägen. Ich habe<br />
einen Verdacht, dass die Menschen dort denken, sie könnten<br />
alles allein schaffen – eben ein „hanseatisches Denken“: Wir<br />
packen es an, wir brauchen dazu gar nicht die göttliche Gnade<br />
... Sie haben einen geistlichen Ansatz. Ich denke, Sie können<br />
dort mit Ihrer Spiritualität eine neue Perspektive einbringen.“<br />
Die Tage vergehen schnell bis zu meiner Einführung. Am<br />
Donnerstag davor ziehe ich in Achim ein. Ein Einzug mit<br />
Symbolkraft. Da ich erst Anfang Oktober aus Italien zurückkehre,<br />
habe ich ja keine Chance, mich um Möbel zu kümmern.<br />
Ich ziehe in ein fast leeres Haus ein. Und wenn nicht<br />
meine Mitbrüder aus dem <strong>Fokolar</strong> mitgedacht hätten, gäbe es<br />
in diesem Haus nicht einmal ein Bett ... Das gibt es leider<br />
auch jetzt nicht, denn die Möbelfirma hat sich verspätet.<br />
Aber der Lattenrost und auch die Matratze sind da. Ein An-
Auftakt: Was will Gott in Achim?<br />
9<br />
fang mit nichts, das scheint mir symbolisch zu sein. Und da<br />
es auch keine Küche gibt, die diesen Namen verdient, gehe<br />
ich auf einen Streifzug in die mir unbekannte Stadt. Bei „Eddis<br />
Imbiss“ bekomme ich einen Döner und ziehe langsam<br />
durch die Fußgängerzone dieser kleinen Stadt. Einige Jugendliche<br />
sitzen um das neuerbaute Rathaus. Sonst ist die Stadt<br />
am Abend menschenleer.<br />
„Was willst Du, Gott, von mir? Was willst Du hier in<br />
Achim? Wie wirst Du mich führen? Was werde ich hier tun?“<br />
Diese Fragen gehen durch meinen Kopf. Ich habe kein Pastoralkonzept<br />
in der Tasche. Wenn ich mich selbst frage, dann<br />
muss ich zugeben, dass ich mir nie darüber Gedanken gemacht<br />
habe, was ich wohl als Pfarrer tun würde. Als Kaplan<br />
hatte ich ja nicht die Gesamtverantwortung und in den letzten<br />
<strong>Jahre</strong>n habe ich wohl eine Jugendgruppe begleitet. Es ist<br />
eine völlig neue Erfahrung, die da auf mich zukommt.<br />
Geprägt bin ich natürlich durch meine fast zwanzigjährige<br />
Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der <strong>Fokolar</strong>e. Diese Prägung<br />
ist sehr tief. Als Jugendlicher war ich unzufrieden mit<br />
der Pfarrei, in der ich lebte. Mir war das alles zu wenig: das<br />
Wort Gottes – ja, aber wo wurde es umgesetzt? Das Pfarrleben<br />
sagte mir oft nichts: Fußball spielen und Feste feiern<br />
konnte ich auch anderswo. Aus der Unzufriedenheit wurde<br />
eine diffuse Suche, und gefunden wurde ich durch die Gemeinschaft<br />
der <strong>Fokolar</strong>e. Gar nicht einmal deswegen, weil<br />
ich mich so sehr nach Gemeinschaft sehnte, sondern vielmehr,<br />
weil ich den Eindruck hatte, dass mir hier Gott so tief<br />
begegnete wie noch nie zuvor. Das hat mein Leben geprägt.<br />
Wenn ich ehrlich bin: Meine Doktorarbeit hatte nur ein<br />
Ziel. Dass ich selbst verstehe und theologisch ins Wort fassen<br />
kann, was diese prägende Grunderfahrung des Auferstandenen<br />
in der Mitte der Seinen – „Wo zwei oder drei in meinem<br />
Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen (Mt<br />
18,20)“ – bedeutet und welche Konsequenzen sie hat. Die<br />
Perspektive meine Denkens hatte mir mein Bischof ja vorgegeben,<br />
als er mir ein Thema der Doktorarbeit ans Herz legte:<br />
„Wie können heute Werte vermittelt werden?“ Das ist eben
10<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
keine methodisch-pädagogische Frage, sondern eine Frage an<br />
die Gemeinschafts- und Sozialgestalt des Christentums. Können<br />
nicht christliche Werte nur in einem christlichen Lebensraum<br />
– eben der gelebten Kirche – weitergegeben werden?<br />
Ist nicht die erfahrbare Gegenwart des Auferstandenen,<br />
die Freude und Kraft schenkt, aber auch das Verstehen des<br />
Wortes Gottes und die Energie, es zu leben, Voraussetzung<br />
für eine Einsicht und eine Praxis christlicher Werte? Und ist<br />
nicht das Fehlen eines solchen geistlichen und existenziellen<br />
Verständnisses unseres Kircheseins einer der Gründe für das<br />
Dahinschwinden und Verdunsten der christlichen Glaubensund<br />
Lebenspraxis? Und weiter: Können nicht die großen<br />
Geistesgaben unserer Zeit, wie wir sie in den Erneuerungsbewegungen<br />
finden, Hinweise auf neue Formen der Nachfolge<br />
und des Kircheseins geben?<br />
Meine Dissertation setzt sich auch mit Dietrich Bonhoeffer<br />
intensiv auseinander. Ich habe ihn noch in meinem<br />
Grundstudium in Rom entdeckt, und schon damals hatte<br />
mich sein Kirchenverständnis fasziniert. Es ist eine Ekklesiologie,<br />
die auf eine Christuserfahrung gründet. „Christus als<br />
Gemeinde existierend“, das ist das theologische Schlüsselwort<br />
des jungen Bonhoeffer. Später, in den faszinierenden<br />
Ansätzen der Ethik und dann ganz provokativ in den Briefen<br />
aus der Gefangenschaft zeichnet er das Bild einer Kirche, die<br />
sich völlig umgestalten muss. Die damaligen kritischen Anfragen<br />
an eine bürgerlich-angepasste und dem Nazismus oft<br />
hörige Kirche gelten – unter veränderten Vorzeichen – noch<br />
heute. Bonhoeffer schreibt im Mai 1944 an sein Patenkind:<br />
„In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas<br />
ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen<br />
zu können. Das ist unsere eigenen Schuld. Unsere Kirche,<br />
die in diesen <strong>Jahre</strong>n nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als<br />
wäre sie ein Selbstzweck, sie ist unfähig, Träger des versöhnenden<br />
und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein.<br />
Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen,<br />
und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen:<br />
im Beten und im Tun des Gerechten ... Bis Du groß bist, wird sich
Auftakt: Was will Gott in Achim?<br />
11<br />
die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung<br />
ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer<br />
organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine<br />
Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.“<br />
Eine besondere Erfahrung verspüre ich in mir, die neu für<br />
mich ist: Ich beschreibe sie in mir als Herzerweiterung. Als<br />
ich Kaplan war, da habe ich immer etwas vorgehabt, viele<br />
Ideen und Projekte. Aber jetzt ist das sehr anders. Ich spüre<br />
vielmehr, wie mein Herz sich weiten will auf die gesamte<br />
Pfarrei, auf alle Menschen, die hier leben. Ich bin nicht mehr<br />
nur für eine Gruppe oder für die Kerngemeinde da, sondern<br />
für alle. Ob das eine „Gnade“ ist? Ob Gott mein Herz erweitert,<br />
damit ich wirklich alle in den Blick meines Herzens einschließen<br />
soll? Ich kann diese merkwürdige Erfahrung nicht<br />
anders deuten, aber sie gibt mir zu denken: Ist Pfarrerwerden<br />
auch ein geistlicher Weg, Gottes Handeln an mir? Bereitet Er<br />
mich darauf vor? Und was wird daraus wachsen?<br />
Am 15. Oktober 1995 werde ich in der vollen St. Matthias<br />
Kirche eingeführt. Wirklich – eine lebendige Gemeinde, mit<br />
Kinderschola, Jugendchor und bravourösen Organisten. Das<br />
Evangelium erzählt die Geschichte von der Heilung der zehn<br />
Aussätzigen. Mir kommt das Evangelium sehr nahe, aber anders<br />
als vielleicht von vielen erwartet. In der Predigt frage ich<br />
mich und alle: „Die Heilung der Aussätzigen ist eine Geschichte<br />
aus der Vergangenheit. Die Frage, die sich uns heute<br />
stellt, ist doch die: Wo und wie erfahren wir heute Jesus als<br />
den, der heilt? Wie ist er uns heute gegenwärtig? Denn die<br />
Gegenwart Jesu in unserer Mitte gibt uns zuallererst Identität,<br />
macht uns zur Gemeinde Jesu Christi ... Und Er in unserer<br />
Mitte wird uns zeigen und sagen, welchen Weg er heute<br />
mit uns gehen will. Was will Gott in Achim? Was will er mit<br />
uns heute? Welche Wege will er mit uns gehen? Ich weiß es<br />
nicht. Aber wenn er unter uns gegenwärtig ist, dann werden<br />
wir es gemeinsam erkennen.“<br />
Der Empfang ist herzlich, wenn auch nicht ohne den<br />
Schmerz der Vergangenheit. Jetzt beginnt meine Zeit und<br />
mein Suchen in Achim. Was will Gott in Achim und wie wer-
12<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
de ich Seine Hinweise erkennen? Denn eins ist mir eigentlich<br />
klar: Nicht mein Tun und meine Pläne sind das wichtige.<br />
Gott ist doch der Hirte Seines Volkes und Er ist es, der es<br />
führt. Er wird es auch erneuern. An mir ist es, zu erkennen<br />
und zu verstehen, was und wie Er es hier tun will.<br />
Das Abenteuer beginnt.<br />
M<br />
„Wir akzeptieren auch zölibatäre Priester ...“<br />
it diesen Worten begrüßt mich in der ersten Begegnung<br />
ein Mitglied des Pfarrgemeinderats. Mir stockt der<br />
Atem. Das ist eine harte und sicherlich so nicht beabsichtigte<br />
Aussage, und sie richtet sich nicht gegen mich persönlich,<br />
das spüre ich sehr. Ich spüre Schmerz, tiefe Verletztheit und<br />
den Zorn, der mit dem unerwarteten Abschied meines Vorgängers<br />
immer noch verbunden ist.<br />
Immer noch: In den sieben <strong>Jahre</strong>n meines Tuns in Achim<br />
habe ich oft Gelegenheit, über diese Frage intensiv nachzudenken.<br />
Die Wunde ist noch offen, bis heute.<br />
Und ich frage mich: Mein Vorgänger, wie hat er gelebt,<br />
was hat er gemacht? Im Hinhören und Nachfragen erschließt<br />
sich vor meinen Augen ein Bild, das zweifellos nur bruchstückhaft<br />
ist. Mein Vorgänger ist ein begabter und engagierter<br />
Priester, der sich rückhaltlos für seine Gemeinde einsetzt.<br />
Er ist überall dabei, motiviert, spricht an und fordert Engagement<br />
heraus. Die großen Feste, die Gruppen, die Katechese,<br />
alles wird unter Aufbietung aller Kräfte am Leben gehalten.<br />
Kranke, Geburtstagskinder und alte Menschen finden immer<br />
einen Pfarrer, der sie – wenn auch nur für einen kleinen Augenblick<br />
– besucht. In den Gruppenabenden der Gemeinde<br />
ist er präsent, er ist der unermüdliche Animator der Kindergottesdienste.<br />
„Alles hat er selbst gemacht“, sagen mir die Sekretärinnen,<br />
„wir haben nur ausgeführt, was er uns gesagt<br />
hat.“ „Und wie hat er gelebt?“ Er war oft unterwegs, hatte
„Wir akzeptieren auch zölibatäre Priester ...“<br />
13<br />
keine Zeit zum Essen ... „Ich habe, als ich bei ihm Praktikant<br />
war, ihn genötigt zum Mittagessen, das ich selbst gekocht<br />
habe“, erzählt mir ein Kaplan.<br />
„Wir waren es, die dafür gesorgt haben, dass er eine Gemeindereferentin<br />
bekam“, sagt mir ein Kirchenvorsteher, „er<br />
hat es doch allein nicht mehr geschafft. Er hat sich zuerst<br />
dagegen gewehrt, aber dann hat er schließlich doch zugestimmt.“<br />
„Die Amelandfreizeit für Kinder war sein Projekt, da<br />
hat er sich immer in Familie gefühlt“, berichtet mir eine Jugendliche,<br />
„und dort hat er in einzelnen Gesprächen auch<br />
mal rausgelassen, wie einsam er sich fühlte. Wir haben das<br />
nicht so ernst genommen. Erst als er dann ging, gingen uns<br />
Lichter auf.“<br />
Dieser Weggang war ein filmreifer Showdown mit Wiederholung:<br />
In einer Vorabendmesse Ende August 1994 –<br />
noch in den Ferien, viele sind gar nicht da – verliest der Pfarrer<br />
einen Brief, in dem er der Gemeinde mitteilt, dass er sein<br />
Amt niederlegen muss, weil er mit seiner Gemeindereferentin<br />
einen gemeinsamen Weg gehen will. Unfassbares Entsetzen<br />
ergreift die Menschen, die am Abend in der Kirche sind.<br />
Tränen, Schmerz, Umarmungen. Über Nacht wird die Jugendband<br />
der Gemeinde zusammengerufen, so dass die letzte<br />
Messe am Sonntag um 10 Uhr zu einem echten Abschiedsgottesdienst<br />
wird. Auch hier Schmerz und viele Tränen. Der<br />
beliebte Pfarrer wird von Hildesheim dazu gezwungen, sein<br />
Amt niederzulegen – so fühlen viele Gemeindemitglieder es.<br />
Viele Christen und Christinnen sind erschüttert und ziehen<br />
sich zurück, Unterschriftenlisten kreisen, Briefe an den Papst<br />
und an den Vorsitzenden der Bischofskonferenz werden geschrieben.<br />
Am nächsten Wochenende soll Firmung sein –<br />
und sie findet in diesem gespannten Klima auch statt, aber<br />
wie!<br />
Im Frühjahr 1997, drei <strong>Jahre</strong> später also, möchte einer der<br />
Firmanden in einem besonders von ihnen gestalteten Wortgottesdienst<br />
dieses Thema aufgreifen. Diskussionsrunden in<br />
der Kirche sind vorgesehen. Er sagt: „Ich verstehe nicht, warum<br />
in unserer Kirche der Zölibat für Priester sein muss.“ Eine
14<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
lebhafte Diskussion beginnt, und mir bricht der Schweiß aus.<br />
Unter Applaus der Gemeinde sagt ein Vater: „Ich möchte<br />
euch sagen, dass unser Pfarrer vor kurzem Vater geworden<br />
ist.“<br />
Die Wunde ist also groß und gibt mir zu denken: Ein Pfarrer,<br />
vor allem dann, wenn er als ein „guter Pfarrer“ empfunden<br />
wird, hat für die Menschen eine besondere Bedeutung.<br />
Er prägt seine Gemeinde intensiv. Und es entstehen Vertrauensverhältnisse<br />
und eine Orientierung im Christsein, die viel<br />
tiefer reicht als das Bewusstsein es fassen mag. Wenn dann<br />
dieses Gefüge auseinander gerissen wird, aus welchem Grund<br />
auch immer, entsteht ein schmerzlicher Riss auch in der eigenen<br />
Glaubensgeschichte mit Gott. Und mir scheint, dass er<br />
in diesem Fall noch intensiver ist: Der Pfarrer hat in einer tiefen<br />
Verbundenheit und Vertrautheit mit „seiner“ Pfarrei gelebt.<br />
Es war ein Verhältnis, aus dem er und auch alle anderen<br />
Kraft schöpften, eine gegenseitige Verbundenheit, die beide<br />
Teile brauchten.<br />
Darf das so sein?, habe ich mich gefragt. Und damit verneine<br />
ich für mich eine solche suggestive Frage. Natürlich<br />
kenne ich jene etwas hintergründige Tradition, nach der der<br />
Pfarrer mit seiner Gemeinde verheiratet ist. Aber das kann ja<br />
nicht ein gegenseitiges „Brauchen“ meinen, das auch in vielen<br />
Ehen zur Katastrophe führt. Weil der Priester zölibatär<br />
lebt – leben muss, sagen die Achimer – hat er als Heimat also<br />
nur die Gemeinde. „Die Gemeinde ist der Ort meines Lebens,<br />
hier finde ich Menschen, die mich aufnehmen, hier ist die<br />
Quelle meiner Berufung.“ So hat es mein Vorgänger wahrscheinlich<br />
empfunden, und die Rechnung ging lange <strong>Jahre</strong><br />
auf. Die Hingabe wurde mit Hingabe beantwortet und von<br />
außen betrachtet – und „von außen“ kommt auch der Blick<br />
der Visitatoren – blühte die Gemeinde auf. Je mehr mein<br />
Vorgänger tat, desto mehr Applaus war ihm gewiss – und<br />
welcher junge Priester, wenn er sich denn einigermaßen klug<br />
anstellt, wird nicht vom Applaus verwöhnt? So wurde auch<br />
die Gemeinde geprägt: Gut ist, wenn wir viel leisten und<br />
unser Pfarrleben läuft, auch wenn man dann total erschöpft
„Wir akzeptieren auch zölibatäre Priester ...“<br />
15<br />
ist. Diese Haltung kennzeichnet wie ein „Wasserzeichen“ die<br />
Achimer Gemeinde – vielleicht ist es das, was mein Bischof<br />
mit „hanseatischem Geist“ bezeichnete und erahnte?<br />
Die Rede ist dann immer wieder auf den verordneten<br />
Pflichtzölibat gekommen, und immer dann habe ich einen<br />
Widerspruch gewagt: Unsere Kirche kennt keinen Pflichtzölibat,<br />
sie könnte ihn auch gar nicht verlangen. Es ist doch<br />
anders: Sie sucht – und das ist ihr gutes Recht – unter denen,<br />
die die Berufung zur Ehelosigkeit haben, jene aus, die sie zum<br />
priesterlichen Dienst bestellt und weiht. Das ist ein großer<br />
Unterschied. Niemals könnte die Kirche jemanden zwingen,<br />
ehelos zu leben, der diese Berufung nicht verspürt. Der Zölibat<br />
ist die freiwillige Antwort auf einen göttlichen Ruf, den<br />
nicht jeder verspürt. Ich würde diesen Zölibat auch leben,<br />
wenn ich nicht Priester wäre – eben weil ich zu deutlich gespürt<br />
habe und immer wieder spüre, dass Gott mir diesen<br />
Weg für mein Leben zeigt.<br />
Das ist überraschend für viele meiner Gesprächspartner.<br />
Man wird als Priester heute zur Kenntnis nehmen müssen,<br />
dass die frei gewählte Ehelosigkeit nicht mehr von vielen<br />
Christen mitgetragen wird. Woran das liegen mag? Mir fallen<br />
viele Gründe ein. Auch in unserer Kirche, auch in meiner<br />
Ausbildung habe ich nicht immer diese Klarheit erfahren.<br />
Werden die Kandidaten für den priesterlichen Dienst wirklich<br />
hinreichend gefragt und geprüft auf ihre Berufung zur<br />
Ehelosigkeit hin? Gibt es eine Kultur des Zölibats innerhalb<br />
der Seminare? Wurde nicht in der Vergangenheit – mindestens<br />
noch in den 80er <strong>Jahre</strong>n meiner Ausbildung – der Zölibat<br />
manchmal „in Kauf genommen“, um das geistliche Amt<br />
ausüben zu können?<br />
Dass es in den Gemeinden kein Verständnis für diese Lebensform<br />
gibt, hängt vielfach – so würde ich einmal provokativ<br />
formulieren – mit einem erschreckenden Fehlen einer<br />
persönlichen und lebensprägenden Erfahrung mit Gott zusammen.<br />
Dann wird der Zölibat zu einer erzwungenen Ehelosigkeit.<br />
Und es kommt nicht in den Blick, was eigentlich<br />
gemeint ist: Angesichts der Erfahrung der ungeahnten Bezie-
16<br />
„Wir akzeptieren auch zölibatäre Priester ...“<br />
hungsfülle mit Gott und den Menschen, in die Gott einen<br />
Menschen hineinführt und -zieht, ist ein Leben ausschließlich<br />
für diese Fülle – „um des Reiches Gottes willen“ – denkbar<br />
und attraktiv. Für mich ist der Zölibat ein Ausdruck einer<br />
solchen dichten Gottesnähe: Dort, wo ich Gott als Liebe erfahre<br />
und erkenne, und je mehr er mir diese Erfahrung<br />
schenkt, da entsteht wie von selbst die Frage, wie ich für ihn<br />
leben kann. So wird auch die Entscheidung zur „Ehelosigkeit<br />
um der göttlichen Fülle willen“ wahrscheinlicher. Und das<br />
heißt umgekehrt: In vielen Gemeinden und unter vielen<br />
Christen ist diese Nähe und Dichte der Gotteserfahrung unbekannt.<br />
Das Risiko eines „ekklesialen Atheismus“ (P. Zulehner)<br />
habe ich auch in Achim erfahren.<br />
Aber auch umgekehrt habe ich erfahren: Junge Menschen,<br />
Männer und Frauen, Verheiratete und Unverheiratete<br />
haben, je mehr sie auf die Spur des lebendigen und liebenden<br />
Gottes kommen, immer mehr in ihrem Herzen gespürt,<br />
dass sie ganz Gott gehören wollen. Bei Verheirateten hat dies<br />
mitunter zu Konflikten geführt. Nicht selten entstand die<br />
Frage, was passiert wäre, hätten sie Gott früher kennen gelernt<br />
– „ob ich dann wohl verheiratet wäre?“ Und bei einer<br />
doch nicht kleinen Anzahl von Jugendlichen entstand die<br />
Frage, ob nicht ihr Weg auch der des Priesters sein könnte.<br />
In mir ist in diesen <strong>Jahre</strong>n deutlich geworden, dass die<br />
Frage nach dem so verstandenen Zölibat letztlich die Frage<br />
nach der Erfahrung mit dem lebendigen Gott Jesu Christi ist.<br />
Ist angesichts einer solchen Liebe überhaupt anderes denkbar<br />
– die restlose Hingabe meiner Liebe an seine Liebe? Ist nicht<br />
auch eine solche Begegnung mit Gott und eine Entscheidung<br />
für ihn die beste Voraussetzung für jede Lebensentscheidung,<br />
ob nun in der Ehe und Familie, wie auch im Dienst in der<br />
Kirche? Denn die Erfüllung meiner Sehnsucht nach Liebe ist<br />
nur in Seiner Liebe zu finden. Oder nicht?
DIE ANFÄNGE ...<br />
17<br />
D<br />
Kann ich alleine glücklich Priester sein?<br />
iese grundsätzliche und wichtige Frage habe ich mir von<br />
Anfang an gestellt. Und in den ersten Wochen meines<br />
Daseins im Pfarrhaus habe ich mich immer wieder bang gefragt,<br />
ob ich alleine glücklich sein werde.<br />
Alles hat ja eine Vorgeschichte. Meine Neuentdeckung<br />
des Evangeliums hat immer mit der Erfahrung von Gemeinschaft<br />
zu tun. Als ich 1979 zum ersten Mal – durch zufällige<br />
Umstände – zu einem Treffen der <strong>Fokolar</strong>e kam, war ich am<br />
Abend dieses Tages tief bewegt. Ich, der schüchterne ja fast<br />
verklemmte Jugendliche, hatte den ganzen Tag mit Menschen,<br />
die mir völlig fremd waren, gesprochen. Das war damals<br />
für mich ein Wunder – aus meiner eigenen Kraft war das<br />
bestimmt nicht gewachsen. Und schon damals hatte ich jene<br />
eigenartige und für mich heute so spezifische Art der Gegenwart<br />
des Auferstandenen verspürt: Ich hatte eine Freiheit gespürt,<br />
die mir bisher unbekannt war, eine echte Freude und<br />
einen Schwung, auf andere zuzugehen. Irgendwie war in allen<br />
diesen Begegnungen Gott dabei gewesen, das wusste ich<br />
intuitiv. Und als ich damals nach Hause fuhr, war mir klar:<br />
Das hatte ich gesucht, das wollte ich leben. Was es nun genau<br />
war und dass es mit dem Charisma des <strong>Fokolar</strong>s so tief<br />
zusammenhängt, das wusste ich nicht, und das war mir auch<br />
egal. Wichtig war mir, immer wieder neu dieser Erfahrung<br />
der Gegenwart des Auferstandenen in der Mitte seiner Jünger<br />
teilhaftig werden zu können. Und diese Erfahrung hatte mich<br />
in meinem Leben von da an geführt. Ich hatte begonnen, das<br />
Evangelium zu lesen und zu leben, ich begann, die Stimme<br />
Gottes in meinem Inneren zu verspüren, ich merkte, wie dieser<br />
Weg mich menschlich befreit und ich spürte auch – ziemlich<br />
heftig und ziemlich plötzlich und ziemlich umwälzend<br />
– meine radikale Berufung, ihm zu folgen, die mich dann<br />
spontan auf den Weg des Priesters brachte. An meinen Studienorten<br />
in Münster und Rom waren nicht die Seminarprogramme<br />
und das Studium die prägenden Eindrücke, sondern<br />
die Gemeinschaft mit Menschen, die auf diesem Weg mit mir
18<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
gingen. Und ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als eines<br />
Tages mein Leben in einer wirklich geistlich geprägten<br />
Wohngemeinschaft zu teilen. Und als mein Bischof mir dies<br />
1986 ermöglichte, begann eine neue Phase in meinem Leben.<br />
Ich erfuhr, welch große Herausforderung ein gemeinsames<br />
Leben im Geist des Evangeliums ist. Das fordert dich heraus,<br />
ganz für dich persönlich Christus zu wählen, und zwar genau<br />
in seiner Verlassenheit am Kreuz: „O si scappa, o si muore, ma<br />
se si muore, si vive – Entweder man haut ab, oder man stirbt, aber<br />
wenn man stirbt, dann lebt man.“ Das hatte uns Chiara Lubich,<br />
als sie seinerzeit unsere Gemeinschaft in Grottaferrata besuchte,<br />
lachend und doch ernst gesagt. Ich werde es nie vergessen.<br />
Alle Herausforderungen, die mir dabei begegneten, waren<br />
erkennbar Seine Herausforderungen, den Weg von Tod und<br />
Auferstehung mitzugehen. Unvergesslich. Und unvergesslich<br />
waren für mich auch eineinhalb <strong>Jahre</strong> gemeinsamen Lebens<br />
mit Pfarrer Bernd Galluschke in Hannover-Roderbruch. Immer<br />
tiefer verstand ich – weil es uns einfach vor Augen stand<br />
und erlebbar war, dass ein gemeinsames Leben im Licht des<br />
Evangeliums in sich eine Zeugniskraft birgt, die ein Einzelner<br />
so nicht haben kann. Oft geschieht es doch, dass ein begabter<br />
Priester sehr wohl viel Ausstrahlungskraft hat, aber die<br />
Menschen dies auf ihn zurückführen. In einer geistlichen Gemeinschaft<br />
ist dies nicht so. Aber leider ist diese Erfahrung in<br />
unserer Kirche noch nicht sehr geläufig.<br />
Die Zeit meiner Dissertation in Rom durfte ich im damaligen<br />
Studienhaus meiner Priestergemeinschaft verleben.<br />
Und gerade hier hat mich diese Erfahrung der Gegenwart<br />
Gottes unter uns so sehr geprägt. Die Wirklichkeit gemeinsamen<br />
Lebens ist ja gewissermaßen ein Lebensraum, der uns<br />
allen Licht schenkte – eine Lebensform, die in allem, was<br />
man tut, studiert und lebt, Seine Spur erkennbar werden<br />
lässt. Vielleicht ist die Zeit in der „Villa Betlemme“, zusammen<br />
mit einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Brüder, die<br />
wichtigste Zeit meines Leben gewesen. Ich durfte erfahren,<br />
was die Schrift immer wieder in vielen Anläufen zu beschrei-
Kann ich alleine glücklich Priester sein?<br />
19<br />
ben versucht: Der Auferstandene ist Licht – und in diesem<br />
Licht entsteht ein Verstehen der Schrift, der Theologie. Der<br />
Auferstandene geht mit den Jüngern, und er schenkt ihrem<br />
Zeugnis Kraft. Das Licht des Auferstandenen, seine Zeugniskraft,<br />
seine Weisheit haben jedenfalls mich und alle dort,<br />
aber auch die Pfarrgemeinschaft, die sich um uns bildete, so<br />
intensiv geprägt, wie es in Worten kaum sagbar ist. Meine<br />
Dissertation, aber auch die Dissertationen meiner Brüder aus<br />
dieser Zeit, spiegelten diese Erfahrung.<br />
Von dort aus nach Achim – das ist schon ein immenser<br />
Sprung. Und vielleicht wird dadurch auch meine Ausgangsfrage<br />
verständlich. Auch wenn ich mich jede Woche mit<br />
meinen Brüdern in Münster oder Hannover traf – es ist doch<br />
etwas anderes, oder? Werde ich glücklich sein?<br />
Ich war in jenen ersten Tagen in Achim sehr erstaunt.<br />
Denn ich war glücklich. Ich spürte dasselbe Licht, dieselbe<br />
Freiheit, dieselbe Freude, dieselbe Wachheit und dieselbe Liebe,<br />
die mir als die Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen<br />
bekannt waren. Ich spürte diese Erfahrung in mir. Sie<br />
begleitete mich immer. Und ich verstand nicht ganz, warum<br />
dies so war. Auch alleine also lässt sich die Erfahrung des Auferstandenen<br />
machen, in derselben Intensität wie in der<br />
Erfahrung des Miteinanders unter Brüdern. Wie kann das<br />
sein?<br />
In meinen Meditationen stieß ich auf einen Text von<br />
Chiara Lubich, der mich fortan begleitete. Chiara spricht davon,<br />
dass du den Heiligen Geist und seine Früchte erfahren<br />
und erleben kannst, wenn du auch den Schmerz nicht ausschließt<br />
aus deinem Leben, sondern darin den Gekreuzigten<br />
entdeckst, der sich entäußert hat, um auch den Tod zu umfangen<br />
(Phil 2,5–11). Und so kannst du die Erfahrung machen,<br />
dass die Frucht des Geistes in dir selbst lebendig ist.<br />
Diese Erfahrung war jetzt lebendig in mir.<br />
Aber ich wusste auch – und weiß es in diesen <strong>Jahre</strong>n immer<br />
mehr –, dass es eine echte Herausforderung ist, in diesem<br />
Licht zu bleiben. Und deswegen war und ist für mich die tägliche<br />
Meditation am Morgen (wann anders klappt es nicht),
20<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
die Feier der Eucharistie, die Zeit des Gebets unabdingbar<br />
wichtig geworden. Denn ich kann ohne diese innere Freiheit<br />
und Freude, die der Heilige Geist schenkt, einfach nicht leben.<br />
Ich merke es sofort, wenn mein Leben licht- und freudlos<br />
wird, und das ist auf Dauer unerträglich.<br />
In diesen sieben <strong>Jahre</strong>n habe ich aber auch – wie in dieser<br />
Intensität nie vorher – erfahren, wie sehr mich die Gegenwart<br />
des auferstandenen Christus unter uns trägt. Nein, es sind<br />
nicht die besonderen Meditationen, es ist nicht die Zeit, die<br />
wir miteinander verbringen: Aber offensichtlich bricht seine<br />
Gegenwart immer wieder ein in unsere Begegnungen. Und<br />
das schenkt mir eine Kraft, die mich ganz persönlich führt<br />
und trägt, auch durch die Woche hindurch. Ich glaube, dass<br />
ich auch die dunklen Momente, die Versuchungen und die<br />
Herausforderungen ohne diese Seine so spezielle Gegenwart<br />
nicht hätte durchleben können. Mir ist aufgefallen, dass unsere<br />
Treffen keineswegs immer so brillant und leuchtend<br />
waren, dass aber immer diese Kraft seines Lichtes und Lebens<br />
in mir nachwirkte. Ich bin dafür total dankbar, denn die Erfahrung,<br />
in Achim glücklich zu sein, hing nicht mit Erfolgen<br />
oder Misserfolgen zusammen, sondern mit dieser Erfahrung,<br />
ohne die mein Leben nichts ist.<br />
Natürlich war ich oft allein. Mein Glück bestand nicht<br />
darin, mir in Achim eine heile Welt oder eine Musterpfarrei<br />
nach meinem Bild und Gleichnis zu schaffen; mein Glück<br />
besteht auch nicht darin, mit vielen Menschen eine gemeinsame<br />
Erfahrung Gottes teilen zu dürfen und mit ihnen tief<br />
verbunden zu sein – mein Glück ist diese reale und spürbare<br />
Gegenwart Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen.<br />
Momente der Einsamkeit entstehen für mich, so habe ich in<br />
diesen <strong>Jahre</strong>n erfahren, nicht dann, wenn ich alleine bin –<br />
dieses Alleinsein brauche ich zutiefst –, sondern dann, wenn<br />
ich mich nicht mehr verbunden weiß in dieser Gemeinschaft<br />
des Geistes.<br />
Trotzdem stellt sich die Frage noch aus einer anderen Perspektive.<br />
Im Verlauf der letzten <strong>Jahre</strong> nimmt die Anzahl der<br />
Priester spürbar ab, und auch die Pfarreien sind immer weni-
Kann ich alleine glücklich Priester sein?<br />
21<br />
ger Lebensräume des Glaubens. Die Frage nach dem gemeinsamen<br />
Leben von Priestern in einem gemeinsamen Geist ist<br />
längst zu einer Überlebensfrage des Glaubens geworden. Wie<br />
soll ein Priester eine Kirche neu wachsen und entstehen lassen<br />
– denn die Zeit der Verwaltung und Bestandswahrung<br />
von Pfarreien ist doch wohl vorbei –, wenn er selbst nicht in<br />
Gemeinschaft lebt und mithin nicht über die Erfahrung von<br />
Gemeinschaft verfügt und so zum Zeugen der Gemeinschaft<br />
wird.<br />
Das ist eine grundsätzliche Frage. Denn das Wachsen einer<br />
neuen Sozialgestalt von Kirche hängt auch wesentlich<br />
davon ab, ob Bischöfe mit ihren Priestern solche Erfahrungen<br />
machen dürfen. Die Not scheint mir hier auf allen Ebenen<br />
der Kirche sehr groß zu sein. Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände,<br />
Priesterräte und diözesane Gremien tragen zwar<br />
in ihren Strukturen das Antlitz einer Kirche, die auf eine geschwisterliche<br />
Gemeinschaft zielt. Es ist aber wohl kein großes<br />
Geheimnis, wenn man sagt, dass die entsprechende Praxis<br />
der Gemeinschaft recht selten erfahren wird. Zu stark sind<br />
wir – mindestens in unserer Kultur – geprägt von einem einseitigen<br />
Individualismus. Zu sehr spielt noch die Frage eine<br />
Rolle, wer gewinnt und sich durchsetzt. Wir haben noch zu<br />
wenig Erfahrung mit gelebter Gemeinschaft.<br />
Es ist keine Frage: Natürlich kann ich alleine glücklich<br />
Priester sein. Aber: Es braucht um der Glaubwürdigkeit unserer<br />
Kirche willen mehr Orte und Räume, in denen Glauben<br />
gemeinschaftlich gelebt werden kann. Dieses Zeugnis gelungener<br />
Gemeinschaft und gelungener Individualität lässt Kirche<br />
entstehen, in der der Auferstandene selbst sich bezeugt.<br />
Für mich sind in diesem Zusammenhang die Worte des Papstes<br />
in seinem Schreiben ,Novo Millenio Ineunte‘ ein uneingelöstes<br />
und doch dringendes Desiderat auf allen Ebenen<br />
unseres kirchlichen Lebens:<br />
„Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen,<br />
darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden<br />
Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan<br />
Gottes treu sein und auch den tief greifenden Erwartungen
22<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
der Welt entsprechen wollen. Was bedeutet das konkret?<br />
Auch hier könnte die Rede sofort praktisch werden, doch es<br />
wäre falsch, einem solchen Anstoß nachzugeben. Vor der Planung<br />
konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft<br />
zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip<br />
herausstellt, wo man den Menschen und Christen<br />
formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute<br />
und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die<br />
Familien und die Gemeinden aufbaut ... Machen wir uns keine<br />
Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren<br />
Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden<br />
zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft<br />
als Möglichkeiten, dass diese sich ausdrücken<br />
und wachsen kann.“ (43)<br />
E<br />
Von enttäuschten und zu enttäuschenden<br />
Erwartungen<br />
rst <strong>Jahre</strong> später habe ich die erste Zeit, die ich in Achim<br />
verbracht habe, richtig verstehen können. Ich wurde<br />
freundlich empfangen. ... und dann geschah fast „nichts“.<br />
Ich hatte den Eindruck, dass die Gruppen in der Pfarrei alle<br />
sehr selbstständig waren und mich gar nicht brauchten. Zuweilen<br />
wurde ich eingeladen, damit alle mich kennen lernen<br />
konnten, aber das füllte natürlich meine Tage nicht aus.<br />
Menschen kamen nicht auf mich zu, um mich um seelsorgerlichen<br />
Rat zu bitten. Wenn all dies auf der einen Seite sehr<br />
merkwürdig für mich war, so gab es mir auf der anderen Seite<br />
sehr viel Freiraum zur eigenen Suche nach dem, was „Gott<br />
in Achim wollte“.<br />
Erst später begriff ich mehr: Die Erfahrung mit meinem<br />
Vorgänger war sehr prägend gewesen. Und hier war es immer<br />
er gewesen, der das Alltagsleben der Pfarrei in Gang hielt und<br />
belebte. Er sprach Leute an für bestimmte Aktivitäten, er setz-
Von enttäuschten und zu enttäuschenden Erwartungen<br />
23<br />
te Arbeitsgruppen ein, er besuchte regelmäßig alle Gruppen<br />
in der Pfarrei. All dies wusste ich natürlich nicht, und niemand<br />
sagte es mir, weil alle dachten, dass diese Art der Pastoral<br />
universal sei.<br />
So habe ich – ohne es zu wollen oder auch nur im geringsten<br />
zu ahnen – vielfältige Erwartungen enttäuscht. Und ich<br />
glaube, dass ich deswegen bei einem Teil der pfarrlichen<br />
Kerngemeinde auch nie „landen“ konnte. Die Differenz zu<br />
den bekannten Zielen und Arbeitsweisen war einfach zu<br />
groß.<br />
Aber wenn ich ehrlich bin: Ich glaube, ich hätte diese Erwartungen<br />
auch enttäuscht, wenn ich um sie gewusst hätte.<br />
Denn diese Erwartungen konservieren ein Bild der Pfarrei<br />
und in ihr das des Pfarrers, das ich so nicht mehr mittragen<br />
mag. Ich habe den Eindruck, dass viele Pfarreien – und auch<br />
Achim gehört dazu – sich in einem schwierigen Umbruchprozess<br />
befinden, der sehr viel Schmerz auslöst und noch mehr<br />
„Murren“. Hintergrund ist eine für normativ gehaltene Erfahrung<br />
der Vergangenheit, die heute mit dem Wort „Gemeinde“<br />
beschrieben wird: Es gibt „die Jugend“, die „Kinder“,<br />
die „Messdiener“, die „Frauen“ und die „Männer“ mit<br />
ihren Gruppen und Aktivitäten und seit den siebziger <strong>Jahre</strong>n<br />
die „Familienkreise“. Hinzu kommt ein Ensemble von Aktivitäten,<br />
deren Sinn nicht weiter hinterfragt wird, wie zum<br />
Beispiel die alljährlich wiederkehrenden Feiern. „Alle“ – auch<br />
wenn diese „alle“ immer weniger werden – müssen dabei<br />
sein, und wenn dies nicht so ist, wird gemurrt und gerätselt.<br />
Und auch der Pfarrer spielt in diesem „System“ eine wichtige<br />
Rolle: Er ist der unermüdliche Animator und der, der die Ehrenamtlichen<br />
belobigt und ermutigt, damit sie, wenn möglich,<br />
ihn in „seiner“ Arbeit weiter unterstützen.<br />
Es gab eine Zeit, in der dies alles funktionierte. Wir nennen<br />
dieses Ensemble von Veranstaltungen, Feiern und Riten,<br />
diese Art der Beteiligung „aller“, diese „Selbstverständlichkeit“<br />
eines pfarrlichen Lebens „Volkskirche“. Dieses Gefüge<br />
hatte bis weit in die 80er <strong>Jahre</strong> in Achim eine normative Kraft<br />
und wurde – durch den intensiven Einsatz immer weniger
24<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
und immer älterer Gemeindeglieder – am Laufen gehalten. In<br />
Achim sind zwar höchstens 7% der Bevölkerung katholisch.<br />
Aber die katholischen Zusiedler im Achimer Pfarrgebiet stammen<br />
fast ausschließlich aus Gebieten, in denen volkskirchliche<br />
Verhältnisse bei aller Gebrochenheit noch anzutreffen<br />
sind und weiterhin prägend wirken. Und auch die niedersächsische<br />
Diaspora gestaltet sich seit den 50er <strong>Jahre</strong>n als<br />
schlesisch geprägtes Miniaturmodell der milieugeprägten<br />
Volkskirche.<br />
Aber dieses Modell funktioniert eben heute immer weniger:<br />
Auch eine Verdoppelung der Anstrengungen, die zu einem<br />
raschen Ausbrennen vieler Ehrenamtlicher (was für ein<br />
schreckliches Wort!) führt, oder eine Veränderung der Methoden<br />
(von den Tischmüttern bis hin zur Teestube) hat keine<br />
tendenzielle Veränderung der Grundsituation bewirkt:<br />
Dass nämlich unsere Pfarrei eine Kinder- und Altenpfarrei ist.<br />
Eine intensive Kinderarbeit, erfolgreiche Kindermessen und<br />
hervorragende Amelandfreizeiten konnten nicht verhindern,<br />
dass die „Jugend“ fehlte. Die Glaubensvermittlung auf einer<br />
gewohnten Laufbahn durch die Generationen hat schon lange<br />
nicht mehr funktioniert, und höchstens die Magie der<br />
Zahlen konnte dies noch verdecken: Was sagt es über die<br />
Qualität unserer Pfarrei aus, wenn auf ihrem Gebiet vornehmlich<br />
junge Familien siedeln und von daher die Zahl der<br />
Kinder und Jugendlichen hoch ist? Zahlen können wenig<br />
aussagen über echte Glaubenssubstanz.<br />
Die Zahl der Mitfeiernden am Gottesdienst nimmt in<br />
Achim kontinuierlich ab – sie liegt um 7% –, manche Gruppen<br />
vergreisen und verschwinden, die Integration der jungen<br />
Menschen und Familien in dieses Gefüge der Pfarrei gelingt<br />
meist nicht mehr. Was sich „Gemeinde“ nennt, riskiert eine<br />
immer kleinere Gruppe von Menschen zu sein, die sich nach<br />
dem Modell eines Vereins organisiert und von ihrem Vereinsvorsitzenden<br />
– das bin ich – Animation und Aufbruch erwartet.<br />
Aber auch nicht zu sehr: Denn normativ ist das, was gewesen<br />
ist und sich im kollektiven Gedächtnis tief eingegra-
Von enttäuschten und zu enttäuschenden Erwartungen<br />
25<br />
ben hat: Die Pfarrei als verbindliche Pfarr-Familie, an der<br />
„alle“ teilhaben; die Pfarrei als ein Lebensort, der alle gesellschaftlichen<br />
Ereignisse wie die umliegende Gesellschaft feiert,<br />
gewissermaßen eine parallele Vereinswelt mit einem<br />
kirchlichen Weinfest, Weihnachtsfeiern, Jugendfeten, Gruppenaktivitäten<br />
und Basaren, die es im kommunalen Achim<br />
im Übrigen – wahrscheinlich oft perfekter organisiert – zu<br />
Hauf gibt.<br />
Und gleichzeitig fällt mir auf, dass gerade diejenigen, die<br />
Verbindlichkeit massiv einfordern und sehr massiv murren,<br />
selbst darin nachgelassen haben. Keineswegs finden sich dieselben<br />
Menschen am Sonntag ein, die Eucharistie zu feiern.<br />
Eine stärker werdende Beliebigkeit schwächt aber dieselbe<br />
Verbindlichkeit, die von den jeweils Anwesenden bei den jeweils<br />
Fehlenden eingefordert wird.<br />
Ein rascher Blick auf kirchensoziologische Gegebenheiten<br />
kann hingegen belegen, dass dies keine Sondersituation ist,<br />
sondern einen fundamentalen Gestaltwandel unserer Kirche<br />
einleitet, dessen Ende nicht abzusehen, dessen Fortschreiten<br />
aber sehr schmerzlich ist.<br />
Zwei Dinge folgen für mich daraus: Zum einen kann ich<br />
von Anfang an nicht einstimmen in die fast ideologische<br />
Rede von der Gemeinde. Ich bin sehr erschüttert darüber,<br />
dass bei vielen Reformforderungen, die in der Kirche eingefordert<br />
werden, die funktionierende „Gemeindekirche“ als<br />
selbstverständliche Gegebenheit vorausgesetzt wird. Und ich<br />
habe den Eindruck, dass hier so etwas vorliegt wie eine „Gehaltenheit“<br />
der Augen: Ein unvoreingenommener Blick auf<br />
die Wirklichkeit der Gemeinde lässt auch erkennen, dass hier<br />
nicht etwa eine Aufbruchstimmung herrscht, sondern eine<br />
manchmal fast sektiererisch anmutendende Fixierung auf einen<br />
für heilig erachteten „Status quo“, den es in Wirklichkeit<br />
nicht mehr gibt. Diese rückwärts gewandte und oft realitätsferne<br />
Perspektive erinnert mich ein bisschen an die Endzeit<br />
der DDR. Ideologien gelingt es, auch die Fakten zu verdrängen.<br />
Der Schmerz wird groß sein, wenn die Mauer in unserer<br />
Kirche fällt.
26<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Zum anderen: Für mich als Pfarrer heißt das auch: Ich<br />
kann nicht so tun, als ob ich dies alles nicht sehe ... und einfach<br />
weitermachen. Die ordentliche Verwaltung der Pfarrei<br />
und der Pastoral, so habe ich es von Anfang an gespürt, will<br />
ersetzt werden durch eine andere – missionarische – Perspektive.<br />
Gerade Zeiten der Krise haben eine wichtige Funktion.<br />
Zum einen laden sie mich dazu ein, dass ich tiefer auf die eigene<br />
Identität des Christseins schauen lerne und radikaler<br />
lebe, zum anderen wird mir neu wichtig, dass Gott uns auch<br />
heute führt, dass er es ist, der seine Kirche schon erneuert.<br />
Daraus erwächst die Notwendigkeit, eine Kunst des Verlierens<br />
zu entwickeln: Es kann nicht darum gehen, mit aufwändiger<br />
pastoraler Gerätemedizin Sterbendes mit Gewalt am Leben<br />
zu erhalten – es braucht den Mut zu einer Art pastoraler<br />
Sterbehilfe. Und aus der Bereitschaft zu verlieren erwächst<br />
eine andere Haltung, die zu erlernen ist: eine Kunst der<br />
Wahrnehmung, die entdeckt, was Gott im Kleinen und Verborgenen<br />
heute schon tut, und es braucht den Mut, die Geschichte<br />
Gottes mit der heutige Kirche zu entziffern und zu<br />
schreiben.<br />
Dazu muss man viele Erwartungen enttäuschen. Das<br />
macht manchmal einsam und manchmal stehst du mitten in<br />
der Schusslinie. Allerdings: Sicherheiten, auch die, dass du<br />
Recht hast, gibt es nicht. Auch für mich als Pfarrer bleibt die<br />
Herausforderung, auf die innere Stimme zu hören und die<br />
Geister zu unterscheiden – und dazu zu stehen, wenn ich<br />
mich verhört habe.<br />
Ich denke für mich allerdings, dass mein Mut zum Loslassen<br />
und Enttäuschen auf dem Hintergrund meiner geistlichen<br />
Grunderfahrungen möglich war. Ohne hier theologisch<br />
tief gehend begründen zu können, würde ich aber dennoch<br />
zu behaupten wagen: Charismen – Gaben des Geistes – sind<br />
in der Kirchengeschichte immer auch Hinweise des Geistes<br />
für eine Neugestaltung des christlichen Lebens in der Kirche<br />
gewesen und werden es auch immer sein. Das Charisma eines<br />
Franziskus war nicht nur ein mächtiger spiritueller Impuls,<br />
sondern auch ein Gestaltungsimpuls für die Kirche: In
Von enttäuschten und zu enttäuschenden Erwartungen<br />
27<br />
der franziskanischen <strong>Bewegung</strong> zeigte sich auch eine neue<br />
Gestalt der Kirche, wie auch immer sich dies dann historisch<br />
durchsetzte. In der Erfahrung mit dem Charisma einer der<br />
neuen geistlichen <strong>Bewegung</strong>en wurde mir, ohne dass ich etwas<br />
dafür kann, auch ein Modell von Kirche zu Eigen, das Zukunftsrelevanz<br />
hat. Und dieses Modell ist eben nicht ein<br />
Modell, das zu erlesen ist und seinen Ursprung in der theoretischen<br />
Nachdenklichkeit hat, sondern ist vor allem eine Erfahrung,<br />
die ich gemeinsam mit anderen erleben und erfahren<br />
durfte. Und diese Neuerfahrung des Kircheseins ließ mich<br />
zum einen verstehen und innerlich begreifen, was die Menschen<br />
in der Zeit der ersten Christen so an der Frohen Botschaft<br />
fasziniert hat. Und andererseits scheint mir diese Erfahrung<br />
auch einen „prophetischen Vorsprung“ zu haben:<br />
Sie zeigt an, wie Kirche in Zukunft sein und leben wird.<br />
Von daher verstehe ich auch, warum bei manchem Gemeindemitglied<br />
so viel Angst vor dem Verlust bewährter Gemeindekultur<br />
erlebbar ist. Es liegt einfach daran, dass viele<br />
noch kein neues Ziel, keine echte Perspektive erleben. Solche<br />
Vorauserfahrungen einer neuen Art Kirche zu sein könnten<br />
frei machen für eine Kunst des Loslassens. Besitzstandswahrung<br />
ist ohne Perspektive auf eine Zukunft eine natürliche<br />
Reaktion. Umgekehrt: Der Mut zum Loslassen wird umso größer,<br />
je tiefer ich ergriffen und durchdrungen bin von realen<br />
Erfahrungen einer neuen Weise, Kirche zu sein.<br />
E<br />
Die Auferstehung Roms und die Suche<br />
nach den Suchenden<br />
s ist November. Mein Weg in Achim scheint mir in diesen<br />
ersten Wochen vergleichbar mit dem eines Pfadfinders,<br />
der auf der Suche ist. Ich beginne mit Taufgesprächen, fange<br />
Trauergespräche an, und ich feiere Eucharistie. An den ersten<br />
Wochenenden empfinde ich große Kälte in der Kirche. Eine
28<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Gemeinschaft derer, die mitfeiern, kann ich nicht empfinden.<br />
Die Kirche ist nicht leer und nicht voll. Die Menschen<br />
sind vielleicht neugierig, aber sehr distanziert. Kein Echo auf<br />
meine Predigten. Und manchmal denke ich: Jetzt feiere ich<br />
alleine Eucharistie. Und natürlich die schon beschriebene<br />
Erfahrung: Die Menschen kommen nicht auf mich zu, weil<br />
sie – was ich nicht weiß – darauf warten, dass ich jetzt alles<br />
in die Hand nehme. Und da ich dies nicht tue, bleibt ein irritierendes<br />
Vakuum.<br />
Und ich habe viel Zeit. Schon immer bin ich selbst auf die<br />
Suche nach dem Einzelnen gegangen, und diese viele freie<br />
Zeit ermutigt mich dazu. Ich beginne, aufmerksam in den<br />
Begegnungen zu sein, die mir geschenkt werden. Denn diese<br />
Begegnungen, die es ja am Anfang in einer großen Fülle gibt,<br />
sind für mich alle ganz neu. Und ich bin ja auf der Suche. Auf<br />
der Suche nach denjenigen, in denen ich Gottes Gegenwart<br />
spüre. Mein Gedanke ist der: Wenn hier in Achim Gott mir<br />
und uns etwas zeigen will, dann ist es gewiss jene neue Art<br />
des Kircheseins, von der unser Bischof und die Hildesheimer<br />
Synode seit über zehn <strong>Jahre</strong>n sprechen.<br />
Was in der Synode von Hildesheim 1989/90 erfahren und<br />
erkannt wurde, das versuchte sie in die Diözese weiterzugeben<br />
– aber es ist bisher in seiner Tragweite so noch nicht<br />
wahrgenommen und aufgenommen worden:<br />
„So bleibt am Ende unserer Synode die Frage, wie wir selbst zu<br />
Menschen werden, in denen die von der Synode vorgelegen Gedanken<br />
zur Erneuerung aufgehen. Wir haben in unseren Gruppen gemeinsam<br />
die Heiligen Schriften gelesen und miteinander gebetet.<br />
Dadurch wurde uns Licht und Kraft geschenkt, die uns bewegenden<br />
Fragen aus dem Glauben zu bedenken und so nach Antworten<br />
zu suchen. Wir laden unsere Schwestern und Brüder im ganzen<br />
Bistum ein, sich selbst in Gemeinschaft mit anderen auf Gottes<br />
Wort in der Heiligen Schrift einzulassen und ihr Leben mehr<br />
und mehr daran zu orientieren ... Wir sind ... der Meinung, dass<br />
eine Erneuerung der Kirche nur möglich ist, wenn wir über die<br />
Gemeinschaft hinaus, die uns im Gottesdienst, in Verbänden und<br />
Gemeinschaften geschenkt ist, Gemeinschaften christlichen Le-
Die Suche nach den Suchenden<br />
29<br />
bens suchen. Auf eine neue Art Kirche zu werden, beginnt mit dem<br />
Versuch, auf eine neue Art Christ zu sein. Vielleicht wird uns dann<br />
miteinander die Erfahrung der Emmausjünger geschenkt: Als Jesus<br />
ihnen den Sinn der Schrift erschlossen hatte und sie Ihn beim<br />
Brotbrechen erkannten, kehrten sie mit einer neuen Hoffnung nach<br />
Jerusalem zurück und wurden zu Zeugen Seiner Auferstehung ...“<br />
Aus meinen Studien zur Konzilsgeschichte des II. Vatikanums<br />
weiß ich nun auch, dass solche Rezeptionsprozesse nicht<br />
„von oben nach unten“ funktionieren, sondern meistens<br />
durch Charismen und charismatische Gestalten – wie Ignatius<br />
von Loyola oder Vinzenz von Paul – fast zeitgleich vorangebracht<br />
wurden. Und solche Prozesse brauchten immer ihre<br />
Zeit.<br />
Es gilt also Ausschau zu halten und hinzuschauen: auf die<br />
Menschen, die auf der Suche nach Gott sind. Und das sind<br />
keineswegs immer die, die schon im Gottesdienst in Achim<br />
mitfeiern – jeder und jede kann es sein, die in sich die Sehnsucht<br />
nach einem anderen Leben spürt und dieser Sehnsucht<br />
nachgehen will.<br />
Von daher ergibt sich für mich eine erste Priorität: Alles,<br />
was an Strukturen und Gemeinschaften in der Pfarrei existiert,<br />
möchte ich besuchen und somit würdigen. Aber es<br />
kommt mir nicht unbedingt darauf an, dass alles bestehen<br />
bleibt, sondern ich möchte in den verschiedenen Gruppen<br />
und Gemeinschaften diejenigen finden, die sich mit mir auf<br />
die Suche nach der lebensspendenden Kraft des Evangeliums<br />
machen möchten.<br />
Notabene: Es geht nicht darum, öffentliche Gemeindeabende<br />
zu Themen des Glaubens zu veranstalten – eine Neuauflage<br />
spiritueller Erwachsenenbildung, die bestimmt ihr<br />
Publikum finden würde. Es geht vielmehr darum, Menschen<br />
zu finden, mit denen das Abenteuer des Evangeliums beginnen<br />
kann, Menschen, die sich auf etwas, auf Christus in ihrem<br />
Herzen, einlassen können und mit denen deswegen Gemeinschaft,<br />
Weggemeinschaft entstehen kann. Zu diesen<br />
Menschen muss Gott mich führen, ich kenne sie vorweg<br />
nicht.
30<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Meine Frage ist es: Wie kann ich solche Menschen wahrnehmen<br />
und erkennen? Und wenn ich sie gefunden habe:<br />
Wie können wir gemeinsam auf dem Weg sein?<br />
In diesen ersten Novembertagen wird mir deutlich, dass<br />
ich Gott im anderen Menschen nur dann angemessen entdecken<br />
kann, wenn er in mir selbst zutiefst lebt. Also geht es<br />
zuerst darum, dass ich auf meinem Weg mit ihm verwurzelt<br />
bin. In diesem Glück und in dieser Freude, die ich in den ersten<br />
Wochen in Achim erfahre, werden mir dann erste Begegnungen<br />
geschenkt, die mich zutiefst berühren.<br />
Ich komme nach Ottersberg, einem kleinen Außenposten<br />
unserer Pfarrei, um dort am Mittwoch die Abendmesse zu<br />
feiern. Vor mir steht, im Eingang der kleinen evangelischen<br />
Kirche, eine ältere Frau, die zu mir sagt: „Wissen Sie, Herr<br />
Pfarrer, wir sind hier sehr wenig, aber schon das Evangelium<br />
sagt: ,Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,<br />
da bin ich mitten unter ihnen‘.“ Ich bin völlig überrascht,<br />
denn diese Worte des Evangeliums gehören ja zur Mitte meiner<br />
Spiritualität. Und so antworte ich: „Wissen Sie, das sind<br />
für mich nicht nur Worte, das ist für mich Wirklichkeit.“ „Für<br />
mich auch“, höre ich überrascht. „Dann werde ich sie besuchen“,<br />
sage ich. „Herzlich gern“ ist die Antwort. Und dann<br />
der Besuch. Ich kann gar nicht beschreiben, was uns in diesen<br />
zwei Stunden widerfährt: ein Austausch zwischen zwei<br />
Menschen, die sich zwar noch gar nicht kennen, aber der<br />
doch so intensiv ist und so tief unseren Glauben berührt,<br />
dass wir beide tief erfüllt werden, von einer Atmosphäre, von<br />
Seinem Geist. Wie ist das nur möglich? Klar wird mir, dass<br />
diese Frau von über 60 <strong>Jahre</strong>n mir gezeigt ist, und dass mir<br />
hier ein erstes Zeichen für den Weg, den ich ahne, geschenkt<br />
ist.<br />
Im November ist auch das zehnjährige Jubiläum des Kindergartens,<br />
und natürlich bin ich auch dabei, bei den Vorführungen<br />
der Kinder, bei der opulenten Kaffeetafel. Ich sitze an<br />
einem Tisch mit vielen mir unbekannten Menschen, und<br />
eine junge Frau, die mit ihren zwei Kindern da ist, spricht<br />
mich an. Sie spricht mich nicht nur an, sie erzählt mir – an
Die Suche nach den Suchenden<br />
31<br />
diesem Tisch – von ihrem Leben, das nicht sehr leicht gewesen<br />
ist bis hierher. Auch in dieser Begegnung spüre ich: In<br />
dieser jungen Mutter lebt etwas von der Sehnsucht nach<br />
Gott. Ich beginne zu erahnen, dass diese Sehnsucht in vielen<br />
lebt, aber nicht gewusst und gekannt ist. Sollte es meine Aufgabe<br />
sein, mit diesen Menschen den ihnen eigenen Weg gemeinsam<br />
zu erkunden? Auch diese Frau besuche ich von nun<br />
an öfter. Immer wieder stehe ich verwundert davor, dass mir<br />
Menschen gezeigt werden, in denen Gottes Sehnsucht nach<br />
dem Menschen und die menschliche Sehnsucht nach Gott so<br />
deutlich ist – die aber selbst nichts davon wissen.<br />
Am Ende des Kindergartenfestes treffe ich auf zwei Kirchenvorsteher,<br />
einen Mann und eine Frau. Es entspinnt sich<br />
ein Gespräch, das mich zugleich erschüttert und froh macht.<br />
Sie erzählen mir von ihren Wegen des Glaubens, und ich erspüre<br />
in mir einen großen Schmerz: Wie kann es sein, dass<br />
diese Menschen einen christlichen Glauben entwickelt haben,<br />
in dem Christus so wenig gegenwärtig zu sein scheint.<br />
Ja, es ist ein Gottglaube, aber es fehlt ihm ein lebendiger Bezug<br />
zum Evangelium und zum lebendigen Christus. Am Ende<br />
dieses Gespräches gehe ich alleine in die Kirche. Ich schaue<br />
nach vorne und sehe das große Kreuz, sehe den Gekreuzigten:<br />
„Jetzt weiß ich, warum ich da bin. Weil Du hier bist, Du<br />
am Kreuz, Du, der Nicht-Erkannte, Du. Für Dich bin ich<br />
hier.“ Zum ersten Mal spüre ich zutiefst jene Situation, die<br />
mir immer deutlicher werden wird. Christlicher Glaube,<br />
Nachfolge, Gemeinschaft in Seinem Namen – all dies sind<br />
Worte, deren Wirklichkeit kaum noch bekannt ist. Aber wie<br />
können wir ohne diese Erfahrungen Christen sein?<br />
Eine Woche später besuche ich einen der beiden Kirchenvorsteher.<br />
In dem tiefen Gespräch wird mir deutlich, dass vor<br />
mir ein Mensch sitzt, in dessen Herz Gott lebt und der Gott<br />
sucht. Und auch hier beginnt eine neue Geschichte, ein gemeinsamer<br />
Weg.<br />
Ich bin überrascht und überreich beschenkt von diesen<br />
und von vielen anderen Begegnungen in dieser ersten Zeit.<br />
Ich verstehe in diesen Erfahrungen immer mehr Jesus, der
32<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Menschen sucht, findet und in seine Nachfolge ruft. Und das<br />
betrifft immer Einzelne. Der Einzelne ist es, der gerufen wird,<br />
der begleitet werden will, der sich auf den Weg macht. Die<br />
Gemeinschaft in seinem Namen kommt dann dazu. Kann es<br />
so sein? Heißt das dann für mich, dass ich vor allem Zeit und<br />
Aufmerksamkeit auf die vielen Einzelnen in unserer Pfarrei<br />
richten soll, um sie wahrzunehmen und ihnen nachzugehen,<br />
um schließlich mit ihnen zu teilen? Klar, die Gruppen und<br />
Gemeinschaften, die schon bestehen, sind alle wichtig, aber<br />
wichtiger wird mir schon in dieser ersten Zeit, mit Einzelnen<br />
auf dem Weg zu sein. Und das bleibt die ganzen sieben <strong>Jahre</strong><br />
so.<br />
Trotzdem bleibt in mir die Frage: Täusche ich mich nicht<br />
dabei? Ist das denn alles richtig so? Mit dieser Frage im Herzen<br />
stoße ich auf einen Text von Chiara Lubich. Als ich ihn<br />
zum ersten Mal wahrnehme, erfüllt und berührt er mich so<br />
tief, dass ohne diesen Text, ohne diese Beschreibung einer<br />
erlebten Wirklichkeit, mein Tun in Achim nicht zu erklären<br />
ist. Ich habe den Eindruck, dass die mystische Erfahrung<br />
Chiara Lubichs und meine Erfahrungen sich wenigstens ein<br />
bisschen gegenseitig spiegeln:<br />
Die Auferstehung Roms<br />
... Ich gehe durch Rom und will diese Stadt nicht anschauen. Ich<br />
schaue auf die Welt, die in mir ist, und halte mich fest an dem,<br />
was Sein und Wert hat. Ich mache mich eins mit der Dreifaltigkeit,<br />
die in meiner Seele ruht, sie mit ewigem Licht erleuchtet und<br />
mit dem ganzen Himmel erfüllt ... Und ich werde vom Feuer erfasst,<br />
das mein ganzes mir von Gott geschenktes Menschsein erfüllt<br />
und mich zu einem anderen Christus macht, zu einem anderen<br />
Gott-Menschen durch Teilhabe. So vereint sich das Menschliche<br />
mit dem Göttlichen. Mein Blick ist nicht mehr erloschen.<br />
Durch die Pupille, die offen ist, durchlässig für das Licht der Seele<br />
(wenn ich Gott in mir leben lasse) schaue ich auf die Welt und auf<br />
die Dinge. Aber nicht mehr ich bin es, die schaut, sondern es ist<br />
Christus, der in mir schaut. Und heute wie damals sieht er Blinde,<br />
denen er das Augenlicht, Stumme, denen er die Sprache, und
Die Auferstehung Roms<br />
33<br />
Lahme, denen er die Beweglichkeit geben will: Sie sind blind, weil<br />
sie nicht fähig sind, die Gegenwart Gottes in sich und draußen<br />
wahrzunehmen; sie sind stumm, weil sie das Wort Gottes nicht<br />
hören, das er in ihnen spricht, und sein Wort den anderen, denen<br />
sie einen Zugang zur Wahrheit eröffnen könnten, nicht weitergeben,<br />
lahm und unbeweglich, weil sie den göttlichen Willen nicht<br />
erkennen, der sie im Innersten ihres Herzens zur ewigen <strong>Bewegung</strong><br />
drängt – zur ewigen Liebe, dorthin, wo man selbst Feuer fängt,<br />
wenn man andere ansteckt.<br />
Wenn ich also die Augen öffne für das, was draußen ist, sehe<br />
ich die Menschheit mit den Augen Gottes, der alles glaubt, weil er<br />
Liebe ist.<br />
Ich sehe und entdecke das gleiche Licht, das in mir ist, auch<br />
in den anderen; ich finde meine eigentliche Wirklichkeit – Christus<br />
–, mein wahres Ich in den anderen (möglicherweise zugedeckt<br />
oder verborgen). Sobald ich mich so selbst erkannt und entdeckt<br />
habe, vereine ich mich mit mir, erwecke mich neu zur Liebe, die<br />
Leben ist im Mitmenschen. Ich erwecke so Jesus wieder zum Leben,<br />
ein anderer Christus, ein anderer Gott-Mensch, Offenbarung<br />
der Güte des Vaters auf dieser Erde, Offenbarung Gottes, der die<br />
Menschen anschaut.<br />
So setze ich Christus, der in mir lebt, in den Mitmenschen fort,<br />
und bilde eine lebendige, vollständige Zelle des Leibes Christi, ein<br />
Feuerherd Gottes, der brennt, um dieses Feuer und damit das Licht<br />
weiterzugeben.<br />
Gott lässt zwei Menschen eins werden, indem er selbst als der<br />
Dritte hinzukommt, als ihre Beziehung: Jesus unter uns.<br />
So kreist die Liebe, und ihrer Natur entsprechend, durch das<br />
Gesetz der Gemeinschaftlichkeit, das ihr innewohnt, zieht sie –<br />
wie in einem Feuerstrom – in diesen Kreislauf alles andere mit ein,<br />
was die beiden an geistigen und materiellen Gütern besitzen. Das<br />
ist nach außen hin das konkrete Zeugnis der echten, einenden Liebe:<br />
der Liebe der Dreifaltigkeit.<br />
So lebt wirklich der ganze Christus in uns beiden zusammen,<br />
in jedem Einzelnen von uns und unter uns. Er, der Gott-Mensch,<br />
ist dann gegenwärtig in den vielfältigsten Ausdrucksformen der<br />
menschlichen Wirklichkeit, die so alle, ganz durchdrungen vom
34<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
Göttlichen, dem letzten Ziel dienen: Gott und Seinem Reich: Gott,<br />
der – als Herrscher über alles – wie ein Vater seinen Kindern alles<br />
Gute zukommen lässt, ohne Unterschiede zu machen.<br />
Und ich denke, wenn ich Gott in mir leben lasse, und es so<br />
ermögliche, dass es Gott selbst ist, der sich in den Schwestern und<br />
Brüdern liebt, würde er sich selbst in Vielen entdecken. Viele Augen<br />
würden sein Licht widerstrahlen – sichtbares Zeichen dafür,<br />
dass er dort lebt. Und das Feuer, die alles zerstörende Kraft, würde<br />
sich im Dienst der ewigen Liebe schnell über ganz Rom ausbreiten<br />
und die Christen zu neuem Leben erwecken. Es würde aus diesem<br />
Zeitalter der kalten Gottlosigkeit ein Zeitalter des Feuers machen,<br />
eine Epoche Gottes.<br />
Aber es braucht den Mut, nicht auf andere Mittel zu bauen,<br />
um damit ein wenig Christentum als Echo vergangenen Ruhms<br />
hervorzurufen, oder diese Mittel zumindest unterzuordnen.<br />
Es geht darum, Gott wieder Leben zu geben in uns, sein Leben<br />
in uns lebendig zu erhalten und ihn auf die anderen überfließen<br />
zu lassen, wie einen Lebensstrom, um die Toten zum Leben zu erwecken.<br />
Und wir müssen ihn unter uns lebendig halten, indem wir<br />
einander lieben ... Das bewirkt eine revolutionäre Veränderung in<br />
allem: in der Politik und in der Kunst, in der Schule und in der<br />
Religion, im privaten Leben und in der Freizeit. In allem ...“<br />
(1949)<br />
N<br />
Fledermauspastoral oder<br />
Die Kunst der Wahrnehmung<br />
ach Weihnachten hat der Bischof oft etwas mehr Zeit ...“<br />
wird mir im Sekretariat des Bischofs gesagt. Und so bekomme<br />
ich einen Termin beim Bischof zwischen den <strong>Jahre</strong>n.<br />
Das Gespräch beginnt mit einer Frage über die vergangene<br />
intensive Zeit. „Herr Pfarrer Hennecke, wie war es Weihnachten?<br />
Wie viele Menschen sind zur Kirche gekommen?“ Ich<br />
weiß von einer Untersuchung, die dem Bistum Hildesheim
Fledermauspastoral oder Die Kunst der Wahrnehmung<br />
35<br />
bescheinigt, am unteren Ende der Gottesdienstbesucherzahlen<br />
(sind es wirklich reale Zahlen?) in Deutschland zu sein.<br />
Das Bistum Hildesheim liegt bei 13,9%. „Herr Bischof“, antworte<br />
ich, „in Achim können Sie mit der Hälfte rechnen. Ich<br />
denke, in Achim sind es etwa 7% – zu Weihnachten vielleicht<br />
20% ...“ „So wenig ...“, entfährt es meinem Bischof. „Aber“,<br />
wende ich ein, „ich denke, dass in Achim niemand mehr zur<br />
Kirche geht, weil ,man‘ zur Kirche geht. Alle, die zur Kirche<br />
gehen, gehen zur Kirche, weil sie sich entschieden haben.“<br />
Der Bischof schaut mich erstaunt und nachdenklich an. Wir<br />
verlassen das Thema und kommen zum eigentlichen Anlass<br />
meines Besuches ...<br />
Wahrnehmen und deuten: Das scheint mir die Kunst zu<br />
sein. Erst im Laufe meiner Zeit in Achim verstehe ich, dass<br />
jede dieser Wahrnehmungen und Deutungen ein bestimmtes<br />
Kirchenbild voraussetzt. Und ich merke dabei auch, wie sehr<br />
ich selbst in Mustern einer traditionellen Praxis der Volkskirchlichkeit<br />
verhaftet bin, deren ich mir selbst gar nicht bewusst<br />
war, und die auch meine Erkenntnisse im Studium, die<br />
in einer ganz anderen Richtung liegen, nicht berührt haben.<br />
Je länger ich in Achim bin, desto mehr erkenne ich, dass hier<br />
eine der Hauptherausforderungen kirchlicher Erneuerung<br />
liegt. Denn wenn es so ist, dass Gott seine Kirche erneuern<br />
will und es auch tut, dann braucht es einer Wahrnehmung,<br />
die nicht rückwärts gewandt ist und die so Gottes Handeln<br />
nicht eingrenzt auf das, was er bisher „schon immer“ getan<br />
hat.<br />
Meine Predigt im ersten Jahr zum Thema Sakramentenpastoral<br />
wird mir im Laufe der Zeit zu einem Beispiel, für das<br />
ich mich ein bisschen schäme, ein bisschen aber auch selbst<br />
auslache.<br />
„Eines Tages“ so setze ich ein, „sitzen drei Oberministranten<br />
zusammen und klagen sich ihr Leid. In der Kirche befinden<br />
sich so viele Fledermäuse, die keiner wegbekommen<br />
kann. ,Ich habe alles versucht‘, sagt der eine, ,ich bin nach<br />
München gefahren und habe unsere Fledermäuse dort ausgesetzt.<br />
Doch als ich zurückkam – husch, da waren sie wieder
36<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
alle da‘. ,Das ist doch noch gar nichts‘, sagt der Zweite. ,Ich<br />
bin mit den Fledermäusen nach New York gefahren und habe<br />
sie dort gelassen. Und als ich nach Hause kam, waren sie<br />
schon vor mir da.‘ Der Dritte sitzt lächelnd in der Ecke. ,Ich<br />
habe das Problem gelöst. Ich habe sie getauft und dann zur<br />
Erstkommunion geführt. Und dann kam die Firmung. Und<br />
dann habe ich sie nie wieder gesehen‘“ – so habe ich gepredigt,<br />
und das Ziel meiner Predigt war es, auf notwendige Veränderungen<br />
in der Sakramentenpastoral hinzuweisen.<br />
Aber auch hinter dieser Predigt stecken die Reste volkskirchlicher<br />
Erfassungspastoral, ganz ähnlich jenem Murren,<br />
das immer noch in manchen Mitgläubigen der Pfarrgemeinde<br />
zu hören ist, wenn sie – richtig beobachtend – sagen: „Am<br />
Wochenende nach der Erstkommunion sind alle Kinder<br />
schon wieder weg.“ Diese Beobachtung ist ja richtig, aber sie<br />
setzt einen volkskirchlichen Rahmen voraus: ein kleines Dorf<br />
oder eine kleine Diasporagemeinde, in der sich alle kennen<br />
und in der es unmöglich ist, auszuscheren ohne soziale Sanktionen.<br />
Natürlich kamen deswegen alle Kinder und ihre Familien<br />
nach der Erstkommunion mindestens bis zur Fronleichnamsprozession<br />
zur Kirche, und war das nicht schön:<br />
die Blaskapelle, der Weihrauch, die weißen Kleider?<br />
Und wo sind denn die Jugendlichen nach der Firmung?<br />
Die bezeichnende Rede vom feierlichen Kirchenaustritt setzt<br />
ja auch voraus, dass die Pfarrei derart anziehend und attraktiv<br />
ist, derart authentisch das Christentum bezeugt, dass sich<br />
die Jugendlichen natürlich bewusst für eine Zugehörigkeit<br />
entscheiden müssten ... Dass das eine wie das andere nicht<br />
so ist, wissen doch alle.<br />
Die volkskirchlich orientierte Erfassungspastoral hat etwas<br />
Mythisches: Sie blickt voller Sehnsucht zurück auf angeblich<br />
goldene Zeiten, in der die Weitergabe des Glaubens<br />
noch selbstverständlich war – und übersieht dabei ein doppeltes:<br />
zum einen war damals die Weitergabe des Glaubens,<br />
wie schon angedeutet, soziale Selbstverständlichkeit: Wer<br />
nicht Kinder taufte, sie zur Kommunion schickte oder sie zur<br />
Firmung bewegte (was bei 12-Jährigen besser geht als bei
Fledermauspastoral oder Die Kunst der Wahrnehmung<br />
37<br />
16-Jährigen), der machte sich zum Außenseiter: „Ich gehe<br />
nicht zur Kirche, damit meine Nachbarn es sehen“, sagte mir<br />
noch neulich jemand, der noch nicht bemerkt hatte, dass in<br />
Achim und anderswo solche Nachbarn gar nicht existieren.<br />
Zum anderen ist der Glaube und die Gemeinschaft des Glaubens<br />
selbst für die, die sie für andere einfordern, nicht mehr<br />
so wichtig: Gerade die Generation der 30- bis 60-Jährigen hat<br />
sich kritisch distanziert von dem, was unterschwellig immer<br />
noch als normal gilt. Es hat etwas Schizoides und auch dramatisch<br />
Trauriges: Keiner möchte in die Zwänge eines katholischen<br />
Milieus zurückkehren, und dennoch bleibt dieses das<br />
normative Urbild.<br />
Und ich war auch nicht viel besser: Mit meiner Fledermauspredigt<br />
repräsentiere ich jenen Pfarrertyp, der die Vollzahl<br />
seiner Kinder und Jugendlichen als Ideal betrachtet und<br />
sich über die bösen Eltern ärgert.<br />
Als ich diese Selbsterkenntnis endlich hatte – und das hat<br />
auch in Achim ein paar <strong>Jahre</strong> gedauert – da habe ich mich<br />
eingeladen, doch noch einmal genauer hinzusehen und auf<br />
die Spuren jener Erneuerung zu achten. Denn erst rechte<br />
Wahrnehmung und rechte Deutung machen den Weg frei zu<br />
einer entsprechenden Pastoral, die Gottes erfolgreiches Handeln<br />
an dieser Welt ernst nimmt.<br />
Zum Beispiel eben die Kirchenbesucher: Allein schon das<br />
Reden von Kirchenbesuchern offenbart sich als problematisch.<br />
Als würde auch ohne sie eine Liturgie gefeiert, der sie<br />
nun zuschauen. Kein Wunder, dass mit einem solchen unterschwelligen<br />
Liturgieverständnis attraktive Kindermessen und<br />
Jugendmessen, Symbolpredigten und andere Spezialitäten<br />
zum Maßstab der Feier werden, in der doch – so lehrt uns das<br />
Konzil – keiner Besucher ist, sondern alle mitfeiern.<br />
Die Anzahl der Kirchenbesucher geht kontinuierlich zurück.<br />
Das scheint nicht an den Priestern und an der Gestaltung<br />
der Liturgie zu liegen, wenn dies – wie Michael Ebertz<br />
zu belegen weiß – seit 1965 kontinuierlich so ist. Richtig zu<br />
fragen wäre nicht nach der Anzahl der Besucher, sondern<br />
nach der Qualität der Feier und der Mitfeiernden: „Wo zwei
38<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
oder drei in meinem Namen versammelt sind ...“ Auch dies<br />
ist kein Plädoyer für eine Elitekirche, sondern eine Frage nach<br />
dem Profil der christlichen Identität.<br />
Wieso lassen sich – siehe die Fledermäuse – Kinder und<br />
ihre Familien nicht mehr integrieren im Zusammenhang mit<br />
der Erstkommunion? Wo liegt das Problem? Auch hier wird<br />
deutlich, dass sich nicht nur eine Komponente im System geändert<br />
hat, sondern der gesamte Zusammenhang unseres Kircheseins<br />
im Wandel ist. Diese Erfahrung lässt sich leicht belegen:<br />
Seitdem es Kommunionvorbereitung gibt, ist der Methodenwechsel<br />
zum System geworden – bei gleich bleibenden Ergebnissen:<br />
Welche Methode auch immer, ob ganzheitlicher<br />
Weg nach Franz Kett oder Familienkatechese nach Albert Biesinger<br />
– all dies ändert nicht wesentlich etwas daran, dass<br />
zwar viele Eltern bei der Erstkommunion ihrer Kinder sich<br />
selbst an ihr schönes Fest erinnern wollen und dass für Kinder<br />
der Glaube etwas unsagbar Wichtiges und Attraktives ist,<br />
dass aber die Eltern sich und ihre Kinder keineswegs mit der<br />
Erstkommunion eingliedern wollen in die Gemeinschaft der<br />
Kirche. Und umgekehrt lässt dies die Gottesdienstgemeinde<br />
oft auch nicht zu. Nicht umsonst ließ sie es sich in Achim zur<br />
Gewohnheit werden, der Feier der Erstkommunion fernzubleiben:<br />
„Da sind zu viele Fremde.“ Das heißt doch auch: Zwischen<br />
dem murrenden Klagen und dem wirklichen Wunsch,<br />
in Ruhe gelassen zu werden, liegen auch in der Gemeinde<br />
Welten. „Ihr wollt doch gar nicht im Ernst, dass alle diese Familien<br />
in unsere Kirche kommen“, hielt ich meinen Mitbrüdern<br />
im Dekanat nach der alljährlichen rituellen Klage über<br />
das Fehlen der Kommunionkinder vor, „denn dann müsstet<br />
ihr ja in den nächsten zwei <strong>Jahre</strong>n eine größere Kirche bauen<br />
...“ Diesen Gedanken konnte keiner nachvollziehen.<br />
Zahlen drücken also an sich wenig aus. Solange sich alles<br />
in einem traditionellen volkskirchlichen Rahmen abspielt,<br />
haben solche Zahlen noch eine gewisse Aussagekraft darüber,<br />
ob ein Milieu noch intakt ist. Dieses so genannte katholische<br />
Milieu ist aber nicht mehr der Normalfall. Und sobald es sich<br />
auflöst, und in Achim ist dies durchaus schon seit <strong>Jahre</strong>n der
Fledermauspastoral oder Die Kunst der Wahrnehmung<br />
39<br />
Fall, stellt sich die Geschichte des langsamen Abbruchs auch<br />
als langsamer Aufbruch dar:<br />
Die Zahl der Kirchenbesucher nimmt beständig ab, durch<br />
alle Generationen übrigens: Dass die alten Menschen frommer<br />
wären, ist ein Mythos. Aber die Zahl derjenigen, die auf<br />
der Suche sind, die Durst haben nach dem lebendigen Wort<br />
Gottes, nach einem Weg christlicher Existenz, nimmt beständig<br />
zu. Bei aller Gefangenheit in Sozialmilieus – und auch<br />
Achim bildet als typische Kleinstadt ein solches Milieu aus –<br />
ist immer wieder zu spüren, dass es eine größere Sehnsucht<br />
nach Gott gibt.<br />
Die Zahl der Menschen, die auch wochentags bewusst<br />
nach der Eucharistie suchen, nimmt in Achim in den vergangenen<br />
<strong>Jahre</strong>n zu. Das wurde mir deutlich daran, dass selbst<br />
Jugendliche die Fahrt nach Bremen in Kauf nehmen, wenn<br />
in Achim keine Eucharistiefeier stattfinden konnte.<br />
Die jungen Menschen und viele junge Erwachsene, die<br />
sich in der relativ abgeschlossenen Klubgemeinde der Gegenwart<br />
nicht wiederfinden, sind aber – so empfinde ich es – alles<br />
andere als gleichgültig: Ihre Sehnsucht nach authentischen<br />
Zeugen und Vorbildern ist nicht zu übersehen. Ihre<br />
Kraft zum Bekenntnis vor Nichtglaubenden – und das ist die<br />
Mehrheit der Menschen, denen sie begegnen – ist für mein<br />
Empfinden höher einzuschätzen als die ihrer Eltern. Ihr Bedürfnis<br />
nach Spiritualität und Formen christlicher Frömmigkeit<br />
wird in keiner Weise durch die routinierte Feier der Liturgie<br />
gestillt.<br />
Diejenigen, die am Samstagabend oder am Sonntagmorgen<br />
zur Kirche gehen, sind in ihrer Schule, an ihrem Arbeitsplatz<br />
und inzwischen auch in ihren Familien Außenseiter.<br />
Umso höher ist es einzuschätzen, wenn Menschen sich heute<br />
auf den Weg zur Kirche machen.<br />
So kann ich zusammenfassend sagen: Diese <strong>Jahre</strong> in<br />
Achim haben mich verändert. Die Kunst loszulassen und die<br />
Kunst unvoreingenommen wahrzunehmen sind zwei wichtige<br />
Ziele meines Handelns als Pfarrer geworden. Und ich bin<br />
erst am Anfang.
40<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
A<br />
Das Pastoralteam –<br />
Lernen, gemeinsam hinzuhören<br />
benteuer und Abenteurer pur. Wir kommen am Abend in<br />
Berlin an. Ich weiß, wo wir unterkommen. Es ist das<br />
Pfarrhaus in der Hasenheide in Kreuzberg, das ich von einem<br />
meiner früheren Besuche her kenne. Aber – als wir klingeln,<br />
öffnet uns ein asiatisches Gesicht. Jemand, der kein Deutsch<br />
kann. Habe ich mich vertan? Nein, nach langem Suchen finden<br />
wir endlich den Hausmeister für dieses Pfarrhaus, erhalten<br />
den Schlüssel und werden eingelassen. Es hat alles seine<br />
Richtigkeit: In der Wohnung – ein echtes Berliner Mietshaus<br />
mit drei Hinterhöfen, das Pfarrhaus ist die erste große Wohnung<br />
– lebt zurzeit noch ein mongolisches Paar. Die Pfarrei<br />
hat es aufgenommen, weil sie zu einer schweren Operation<br />
der Frau nach Berlin kommen mussten.<br />
Wer sind wir? Die Sekretärin, die Rendantin, die Küsterin,<br />
der Diakon und ich. Als ich nach Achim kam, bin ich diesen<br />
meinen Mitarbeitern alsbald begegnet. Mein Mitbruder, der<br />
hauptberufliche Diakon, war nach Achim gesandt worden,<br />
um wenigstens in der Zeit der außerordentlichen Vertretungen<br />
nach dem Weggang meines Vorgängers für einen halbwegs<br />
ordentlichen Ablauf der pastoralen Geschäfte zu sorgen.<br />
Die Küsterin hat die besondere Aufgabe gehabt, die vielen<br />
Vertretungspriester zu begleiten und einzunorden. Und die<br />
Sekretärin und die Rendantin: Beide haben schon seit langer<br />
Zeit in der Pfarrei ihr Zuhause, kennen sie in- und auswendig.<br />
Sie beide haben in der Zeit der Vakanz allen Ärger und<br />
alle Ansprüche auffangen dürfen. Und das hat viel Nervenkraft<br />
und überhaupt alle Kraft gekostet.<br />
Als ich nach Achim komme, wird es für mich von ganz<br />
besonderer Wichtigkeit, dass wir uns regelmäßig zu einer<br />
Dienstbesprechung treffen. Und dabei geht es – in der Anfangszeit<br />
– auch darum, sich einfach kennen zu lernen und<br />
etwas von der Geschichte der Pfarrei zu verstehen. Mit Thomas,<br />
dem Diakon, verbindet mich von Anfang an auch etwas<br />
Anderes. Er ist auf der Suche nach seiner Identität als Diakon
Das Pastoralteam – Lernen, gemeinsam hinzuhören<br />
41<br />
– „ich will kein halber Priester sein, sondern wirklich ein Diakon“<br />
– und er sucht, gemeinsam mit mir, nach einer Pastoral,<br />
die auch zukunftsträchtig ist. Das ist vielleicht die Schönheit<br />
dieser ersten Monate gemeinsam mit meinen Mitarbeitern:<br />
dass wir gemeinsam nachdenken lernen, gemeinsam<br />
suchen lernen. Für mich, für alle ist das eine ganz neue Erfahrung<br />
– denn war bisher nicht alles klar und logisch?<br />
Und in dieser intensiven Zeit des Kennenlernens und<br />
Nachdenkens wird mir dieses erste Team auch noch aus einem<br />
anderen Grund wichtig: Bilden wir nicht so eine Art<br />
Gemeinschaft, an der die Pfarrei ablesen könnte, wie Gemeinschaft<br />
geht? Ist es nicht wichtig, dass wir alle – eben<br />
auch die Dienste wie die der Sekretärin und die der Küsterin<br />
– in dem Suchprozess nach einer Pastoral der Zukunft beteiligt<br />
sind?<br />
Dennoch merken wir bald: Auch wenn wir uns jede Woche<br />
zwei Stunden Zeit nehmen, dann reicht – angesichts der<br />
Dynamik des alltäglichen Lebens, die zweifelsohne zunimmt<br />
– auch diese Zeit nicht mehr, um wirklich ins Denken zu<br />
kommen. Und so entsteht eine andere Idee: Warum gehen<br />
wir nicht ein paar Tage zusammen auf die Reise, reflektieren<br />
das Jahr, das hinter uns liegt und planen für das neue Jahr.<br />
So können wir miteinander wachsen und miteinander planen<br />
...<br />
Gemacht und getan: Das ist der Grund, weswegen wir uns<br />
im Haus in der Hasenheide für drei Tage wiederfinden. Wir<br />
beten miteinander, feiern die Messe, bereiten das Frühstück,<br />
kaufen ein, essen miteinander, sehen uns Berlin an – immerhin<br />
haben wir in Thomas einen exzellenten einheimischen<br />
Führer – und denken nach. Diese Erfahrung einer Auszeit ist<br />
unheimlich stimulierend, und sie lässt uns weit mehr werden<br />
als nur ein Team. Wirklich, wir sind auch eine kleine Gemeinschaft,<br />
die das Leben der Pfarrei beseelen will.<br />
Nach einem weiteren Jahr kommt in Hildegard Kaup eine<br />
Gemeindereferentin hinzu. Die Treffen am Dienstag werden<br />
langsam unbefriedigend, weil wir gar nicht mehr zur gemeinsamen<br />
Entwicklung von Gedanken kommen. Auch wenn wir
42<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
nun mit einem kleinen Psalmenlob und einem Bibelgespräch<br />
beginnen – es reicht nicht mehr, um gemeinsam Konzepte zu<br />
entwickeln.<br />
Umso wichtiger bleiben die Tage, die wir uns nehmen: in<br />
Goslar, in Frankfurt, in Solingen und noch einmal in Berlin –<br />
und schließlich zum Ende in einem kleinen Haus an der<br />
Nordsee. Diese Tage sind immer sehr wichtig, auch wenn wir<br />
weiterhin auf der Suche nach der rechten Formel sind: Wer<br />
gehört eigentlich zum Pastoralteam außer den Genannten?<br />
Die Sozialarbeiterin des Caritasverbandes, die Leiterin des<br />
Kindergartens oder die Vorsitzende des Pfarrgemeinderates?<br />
Wir probieren alles aus und machen die positive Erfahrung,<br />
dass die Tage des gemeinsamen Lebens und Denkens eine<br />
Vertrautheit schaffen, von der wir während der manchmal<br />
hektischen Arbeitsperiode zehren. Und noch mehr. Es kann<br />
ja gar nicht ausbleiben, dass es auch zu Missverständnissen<br />
und zu Verwerfungen kommt ...<br />
Wir sitzen in Frankfurt am ersten Abend zusammen. Und<br />
wir tauschen uns offen über das vergangene Jahr aus. Alles<br />
kann gesagt werden. Es ist hart für mich, von den Verletzungen<br />
des vergangenen <strong>Jahre</strong>s zu erfahren, aber der Austausch<br />
ist ehrlich, und er schafft eine neue Basis, um weiterzugehen.<br />
Es ist ein großes Geschenk, eine solche „Kläranlage“ zu haben.<br />
Denn mir wird im Laufe der <strong>Jahre</strong> als Pfarrer immer deutlicher,<br />
wie „unselbstverständlich“ eine freundliche und fast<br />
freundschaftliche Zusammenarbeit ist. Ich höre es von Mitbrüdern,<br />
aber vor allen auch von Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen.<br />
Die „Communio“, die Gemeinschaft<br />
und die Kooperation, erweist sich schon hier als eine der<br />
größten und meist nicht bewältigten Herausforderungen.<br />
Für mich – und meinen Leitungsstil, den ich im Lauf der<br />
<strong>Jahre</strong> erst entwickeln und entdecken muss – gilt das noch<br />
mehr: Leiten heißt für mich auch, dass die Mitarbeiter mit<br />
sehr viel Eigenständigkeit arbeiten, dass sie ihre Gaben am<br />
besten einzubringen wissen, wenn sie sich getragen und frei<br />
wissen. Es heißt auch, jenen Freiraum zu eröffnen, in dem
Das Pastoralteam – Lernen, gemeinsam hinzuhören<br />
43<br />
jemand sein persönliches Charisma in den Dienst stellen<br />
kann. Und das scheint mir mindestens genauso wichtig zu<br />
sein, wie die Erarbeitung eines gemeinsamen Pastoralplanes.<br />
Trägt es nicht mehr zum Aufbau des Leibes Christi bei, dass<br />
jeder seine ihm eigene Gabe zum Wohl des ganzen Leibes<br />
beiträgt?<br />
Und ich habe sehr begabte pastorale Mitarbeiter mit einer<br />
Fülle von Charismen: die Gemeindereferentin, der Diakon,<br />
die Leiterin des Kindergartens und später auch eine Sozialarbeiterin<br />
des Caritasverbandes und zuletzt auch ein Diakonatsanwärter.<br />
Ja, wir sind sehr verschieden, und wir haben<br />
sehr unterschiedliche geistliche Ansätze und Perspektiven,<br />
wir haben sehr unterschiedliche Arbeitsstile – aber das Vertrauen,<br />
das gewachsen ist, macht es möglich, dass jeder und<br />
jede von uns sehr eigenständig und eigenverantwortlich arbeitet,<br />
und dies mit einem sehr hohen Maß an Loyalität und<br />
Verlässlichkeit.<br />
Dennoch sind wir immer auf der Suche gewesen, noch<br />
intensiver gemeinsam nachdenken zu können. Und daraus<br />
ist eine originelle Idee entstanden. Einmal im Monat fällt die<br />
wöchentliche Dienstbesprechung mit den Mitarbeitern in<br />
Büro und Sakristei aus – sie ist inzwischen ein pfarrliches<br />
Update der Aktivitäten und Termine. Wir verbringen einmal<br />
im Monat einen ganzen Tag in einer nahe gelegenen Bildungsstätte,<br />
um dort unser pastorales Tun, unsere persönlichen<br />
Erfahrungen und unsere Ideen reflektieren zu können.<br />
Einen ganzen Tag nehmen wir uns dafür Zeit. Wir beginnen<br />
mit einem ausführlichen Bibelgespräch, dem sich ein Austausch<br />
anschließt. Vor dem Mittagessen gelingt es uns zumeist,<br />
ein zentrales pastorales Thema zu reflektieren. Nach<br />
dem Mittagessen und einer kurzen Pause arbeiten wir dann<br />
weitere Themen ab. Und fahren dann nach Hause.<br />
Was für ein ungeheurer Reichtum sind diese Tage für uns<br />
gewesen. Die Möglichkeit, mit Ruhe intensiv Themen zu bedenken<br />
und Projekte zu erarbeiten, hätten wir sonst nicht<br />
gehabt. Und ich möchte nicht unterschätzen, was wir uns an<br />
persönlichen Erfahrungen weiterschenken konnten. Schließ-
44<br />
DIE ANFÄNGE ...<br />
lich ist auch das gemeinsame Teilen der Schrift ein wichtiger<br />
Aspekt, der uns in tiefere Gemeinschaft geführt hat.<br />
Ich bin unheimlich dankbar für diese <strong>Jahre</strong> dichter Gemeinschaft,<br />
die aus dem Glauben wächst. Ich bin unheimlich<br />
dankbar für die Zeit einer Zusammenarbeit, die ich so noch<br />
nicht erlebt habe – und dies mit all den Schwierigkeiten unter<br />
uns, die sich ergeben haben, die mich aber nicht verwundern.<br />
Denn die Nähe zueinander profiliert auch eine Verschiedenheit,<br />
die nicht immer leicht zu ertragen ist.<br />
Man könnte einwenden: Habt ihr nicht viel zu viel Zeit<br />
investiert für diese Gemeinschaft? „Agere sequitur esse“, so<br />
fomuliert die scholastische Philopsophie, „das Handeln folgt<br />
dem Sein“: Erst wenn wir zusammen einen gemeinsamen<br />
Weg erkennen, dann können wir auch sinnvoll handeln, gemeinsam<br />
und jeder und jede an seinem Ort. Gerade wenn<br />
wir in Zeiten des Umbruchs leben, in denen eine neue Gestalt<br />
der Kirche sich abzeichnet, sollten wir uns Zeit nehmen, genau<br />
hinzusehen und gemeinsam hinzuhören, was der Geist<br />
uns sagt.