GRUNDPRAKTIKUM H1 - Lehrstuhl Metallische Werkstoffe
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<strong>GRUNDPRAKTIKUM</strong> <strong>H1</strong><br />
U R - UND U MFORMEN: G IESSEN UND B LECHUMFORMUNG<br />
1 GIESSEN<br />
1.1 EINLEITUNG<br />
1.1.1 DEFINITION<br />
Gießen gehört zu den Urformverfahren, d.h. ein fester Körper wird aus formlosem Stoff durch<br />
Schaffen eines Zusammenhalts gefertigt. Das Gießen selbst ist das Urformen aus dem<br />
flüssigen, breiigen oder pastenförmigen Zustand. Der Vorteil des Gießens besteht darin,<br />
dass sich - von Einzelteilen bis zu Großserien - Werkstücke nahezu jeden Gewichts und<br />
nahezu jeder Form relativ kostengünstig herstellen lassen.<br />
1.1.2 EINTEILUNG DER G IEßVERFAHREN NACH A RT UND F ORMEN DER<br />
M ODELLE<br />
verlorene Formen<br />
Dauermodelle verlorene Modelle<br />
Handformen<br />
Maschinenformen<br />
Maskenformen<br />
Vakuumformen<br />
1.2 BEGRIFFE ZUM G IESSEN<br />
Feingießen<br />
Vollformgießen<br />
Dauerformen<br />
ohne Modelle<br />
Druckgießen<br />
Kokillengießen<br />
Schleudergießen<br />
Stranggießen<br />
Modell … ist eine Abbildung des Werkstückes mit Aufmaß. Verlorene Modelle werden<br />
nach dem Einformen zerstört; Dauermodelle werden nach dem Einformen<br />
herausgenommen.<br />
Form … bildet den Hohlraum zur Aufnahme der Schmelze. Verlorene Formen<br />
werden zum Entformen des Gussstücks zerstört; Dauerformen bleiben für<br />
weitere Gießvorgänge erhalten. Material: toniger Sand mit Zusätzen bzw. aus<br />
keramischen Stoffen (z.B. Schamotte).<br />
Formstoff … muss folgenden Eigenschaften genügen:<br />
- Festigkeit und Maßhaltigkeit<br />
- Hohe Abbildungsgenauigkeit<br />
- Feuerbeständigkeit<br />
- Geringe Wärmeleitfähigkeit<br />
- Keine Wechselwirkungen mit der Schmelze<br />
- Problemlose Wiederverwendbarkeit.<br />
Kerne … sind das Abbild der Hohlräume des Gussstücks.
VERSUCH: GIESSEN Seite 2<br />
1.3 GIESSVERFAHREN<br />
1.3.1 KONVENTIONELLE V ERFAHREN<br />
1.3.1.1 SANDGUSS<br />
Das klassische Sandgießverfahren ist eine Technik<br />
mit verlorenen Formen und Dauermodellen. Für die<br />
Gussformen wird entweder tongebundener<br />
Formsand oder chemisch gebundener Quarzsand<br />
verwendet. Große Einzelstücke (Abb. 1.1), die<br />
Stückgewichte bis zu 800 kg und mehr haben<br />
können, und kleinere Serien lassen sich nach dem<br />
Handformverfahren herstellen. Zunehmende<br />
Bedeutung haben die maschinellen<br />
Sandformverfahren. Hier erfolgen die<br />
Sandverdichtung und die Trennung des Modells von<br />
der Sandform maschinell. Eine hohe Sandverdichtung<br />
ermöglicht sehr genaue Formen mit guter<br />
Oberflächenbeschaffenheit.<br />
1.3.1.2 KOKILLENGUSS<br />
Die Vorteile des Kokillengießverfahrens (Abb. 1.2)<br />
sind die Wiederverwendbarkeit der Form und die<br />
gute Oberflächenbeschaffenheit bei<br />
uneingeschränkter Anwendbarkeit von Sandkernen.<br />
Während früher fast ausschließlich Gusseisen als<br />
Kokillenwerkstoff verwendet wurde, findet heute in<br />
zunehmendem Maße Warmarbeitsstahl Anwendung.<br />
Ein weiterer Vorteil ist das im Vergleich zum<br />
Sandguss feinere Gefüge und die damit verbundene<br />
höhere Festigkeit und Dehnung. Diese<br />
Eigenschaften sind eine Folge der höheren<br />
Erstarrungsgeschwindigkeit gegenüber Sandguss.<br />
Die große Menge der Kokillengussstücke hat in der<br />
Regel ein Gewicht von ca. 0,05 kg bis ca. 40 kg.<br />
1.3.1.3 STRANGGUSS<br />
Mithilfe der Stranggussverfahren (Abb. 1.3) werden<br />
vielerlei Profile als auch Wanddicken hergestellt.<br />
Eine wichtige Entwicklungslinie ist die des Gießens<br />
immer dünnerer Bleche. Das bedeutet, dass<br />
aufwendige Walzverfahren durch das Gießen<br />
eingespart werden können, wodurch nicht nur eine<br />
schnellere Realisierung endabmessungsnaher Halbzeuge<br />
ermöglicht, sondern auch die Produktivität<br />
erhöht wird. Strangguss ist in wirtschaftlichen<br />
Längen, theoretisch unbegrenzt, herstellbar und<br />
besonders für die Serien- und Automatenfertigung<br />
geeignet.<br />
Abb. 1.1: Gestellwand aus<br />
Sandguss.<br />
Abb. 1.2: Kokillenguss.<br />
Abb. 1.3: Schematische Darstellung<br />
des Stranggießprozesses.
VERSUCH: GIESSEN Seite 3<br />
1.3.2 INNOVATIVE VERFAHREN<br />
1.3.2.1 DRUCKGIESSEN (PRESSGIESSEN)<br />
Der beträchtliche Kostendruck in der Kfz-Industrie<br />
fordert auch die Forschung und Entwicklung heraus,<br />
neue innovative Lösungen zu suchen, um insbesondere<br />
die Produktionskosten der Systemkomponenten<br />
zu reduzieren. Für die Produktion von Stahlschmiedebauteilen<br />
im Fahrwerksbereich, sowie die<br />
Herstellung von Stahlzahnrädern mittels mechanischer<br />
Bearbeitung, stellt das Pressgießen<br />
(Squeeze Casting) von ADI- (Austempered Ductile<br />
Iron) <strong>Werkstoffe</strong>n mit gekoppelter Wärmebehandlung<br />
(Abb. 1.4) eine Alternative dar. Die daraus folgende<br />
gießtechnische Herstellung von "near-net-shape"<br />
Bauteilen mit hoher Zugfestigkeit und Duktilität des<br />
preiswerten Gusseisenwerkstoffs gegenüber Stahl<br />
bietet darüber hinaus einige weitere werkstoffspezifische<br />
Vorteile durch den eingelagerten Graphit<br />
wie: höhere Dämpfung (Geräuschemissionen),<br />
geringeres Bauteilgewicht (niedrigere Dichte) und<br />
bessere mechanische Bearbeitbarkeit.<br />
1.3.2.2 THIXOGIESSEN<br />
Derzeitige Forderungen der Industrie an die<br />
Leichtbautechnik bedingen neben der Erforschung<br />
neuer Werkstoffklassen auch die Entwicklung<br />
entsprechender, innovativer Herstellungsverfahren.<br />
Das Thixogießen ist ein mit dem Druckgießen<br />
verwandtes Formgebungsverfahren, bei dem die<br />
Verarbeitung des Metalls im teilflüssigen Zustand<br />
erfolgt (Abb. 1.5). Neben den sehr guten mechanischen<br />
Kennwerten sind thixogegossene Bauteile im<br />
Gegensatz zu herkömmlichen Druckgussbauteilen<br />
durch die Eigenschaften Schweißbarkeit, Druckdichtigkeit<br />
und Wärmebehandelbarkeit charakterisiert.<br />
Ein Ziel des Verfahrens ist die Substitution<br />
hochwertiger Schmiedebauteile durch Gussteile aus<br />
Aluminiumwerkstoffen.<br />
1.3.2.3 GERICHTETE ERSTARRUNG<br />
Die Forderung nach ständiger Verbesserung der<br />
Gasturbinenwirkungsgrade führte zu intensivem<br />
Einsatz gegossener einkristalliner Turbinenschaufeln<br />
aus neu entwickelten Superlegierungen. Einkristalline<br />
Flugzeugturbinenschaufeln sind Stand der<br />
Technik. Wegen ihrer überlegenen mechanischen<br />
Eigenschaften werden einkristalline Turbinenschaufeln<br />
zunehmend auch in Industriegasturbinen<br />
Abb. 1.4: ZTU-Diagramm des<br />
Pressgieß-Verfahrens mit gekoppelter<br />
Wärmebehandlung.<br />
Abb. 1.5: Teilschritte des Thixogieß-<br />
prozesses: Vormaterialherstellung-<br />
Wiedererwärmung-Formgebung.<br />
Abb. 1.6: Herstellung einer<br />
Turbinenschaufel durch gerichtete<br />
Erstarrung.
VERSUCH: GIESSEN Seite 4<br />
eingesetzt. Die überragenden Hochtemperatureigenschaften einkristalliner Mikrostruktur,<br />
welche die hohen Herstellungskosten rechtfertigen, basieren auf der Vermeidung<br />
struktureller Inhomogenitäten während der einkristallinen Erstarrung in einem künstlich<br />
aufgebauten Temperaturfeld mit einem gerichteten Temperaturgradienten.<br />
1.3.2.4 FEINGUSS VON SPEZIELLEN<br />
LEGIERUNGEN<br />
Um den Wirkungsgrad moderner Gasturbinen zur<br />
Energiewandlung bei gleichzeitig abnehmender<br />
Umweltbelastung zu verbessern, sind höhere Materialbeanspruchungen<br />
unumgänglich. Diese gestiegenen<br />
Anforderungen werden heutzutage durch den<br />
Einsatz gerichtet bzw. einkristallin erstarrter Ni-<br />
Basis-Superlegierungen erfüllt. Verglichen mit<br />
diesen <strong>Werkstoffe</strong>n liefern einige der<br />
intermetallischen Phasen vielversprechende<br />
Vorteile. Aus dem geordneten Gitteraufbau ergeben<br />
sich für diese <strong>Werkstoffe</strong> besondere Eigenschaften<br />
in Form hoher Festigkeit im Bereich der<br />
Einsatztemperatur, großem Widerstand gegen<br />
Kriechen sowie guter Oxidationsbeständigkeit. Die<br />
intermetallische Phase NiAI hat eine deutlich<br />
verbesserte thermische Leitfähigkeit, einen niedrigen<br />
thermischen Ausdehnungskoeffizienten und eine<br />
deutlich verbesserte Korrosionsbeständigkeit. Somit<br />
stellen NiAI-Legierungen bei erhöhten<br />
Einsatztemperaturen (oberhalb 600-800°C) einen interessanten Alternativwerkstoff zu den<br />
konventionellen Superlegierungen und anderen Hochleistungswerkstoffen dar. Aus der<br />
Gruppe der intermetallischen Phasen bieten sich speziell die Titanaluminide (γ-TiAI) wegen<br />
ihrer geringen Dichte an.<br />
Bestrebungen nach Gewichtsreduzierung, vor allem im Bereich Transport und Verkehr,<br />
münden in die Forderung nach hochfesten Leichtbauwerkstoffen. Hier zeigen Legierungen<br />
auf Aluminium-Lithium-Basis ein großes Potential, besonders für Anwendungen im<br />
Flugzeugbau. Gegenüber konventionellem Aluminium zeigt dieser Legierungstyp bei<br />
geringer Dichte bessere mechanische Eigenschaften, wie höhere Steifigkeit, Zugfestigkeit,<br />
und Härte. Diese guten Eigenschaften entfalten sich erst nach einer Wärmebehandlung<br />
(vorwiegend Aushärtung) in vollem Umfang. Die Problematik in der Herstellung von AI-Li-<br />
Gussstücken liegt insbesondere in der hohen Reaktivität des Lithiums.<br />
Magnesium gehört zu den Leichtmetallen und stellt<br />
von diesen den leichtesten Konstruktionswerkstoff<br />
dar. Aus der hexagonalen Gitterstruktur des Magnesiums<br />
resultiert eine geringe Duktilität, was die<br />
Kaltumformung schwer möglich macht. Somit ist das<br />
Gießen der wichtigste Formgebungsprozess für<br />
Magnesium (Abb. 1.8). Aus der Gruppe der Gießverfahren<br />
bietet sich insbesondere der Feingießprozess<br />
als Herstellungsverfahren für Mg-Gussteile an. Der<br />
Feinguss ermöglicht eine endabmessungsnahe<br />
Fertigung und bietet im Vergleich zum Druckguss<br />
eine deutlich größere Gestaltungsfreiheit. Die hohe<br />
Reaktivität des flüssigen Magnesiums stellt besondere<br />
Anforderungen sowohl an den Schmelz- und<br />
Abb. 1.7: Festigkeit unterschiedlicher<br />
Legierungen in Abhängigkeit von<br />
der Temperatur.<br />
Abb. 1.8: Potentielle Einsatzgebiete<br />
für Magnesium-Gussteile.
VERSUCH: GIESSEN Seite 5<br />
Gießprozess als auch an die zu verwendenden keramische Formstoffe.<br />
1.3.2.5 FEINGUSS VON METALL-MATRIX-VERBUNDWERKSTOFFEN<br />
Metall-Matrix-Verbundwerkstoffe mit keramischen Langfasern stellen in Anwendungsgebieten<br />
mit höchsten Anforderungen an mechanische und physikalische Eigenschaften in<br />
Kombination mit niedrigem Bauteilgewicht eine Alternative zu konventionellen Leichtmetalllegierungen<br />
dar. Durch eine selektive Verstärkung der am stärksten belasteten Bauteilbereiche<br />
besteht die Möglichkeit einer Kostenreduktion durch Materialeinsparung und einer<br />
anwendungsgerechten Bauteilauslegung.<br />
1.3.2.6 GIESSEN VON WERKSTOFFEN MIT GRADIENTENGEFÜGE<br />
Aufgrund steigender Komplexität moderner Maschinen<br />
und Anlagen kommt es zu immer höheren<br />
Anforderungen an einzelne Bauteile. Hier sind<br />
mehrere, teilweise sogar gegensätzliche Anforderungen<br />
innerhalb eines Werkstücks gefordert, wie<br />
z.B. bei Walzen, Schneidwerkzeugen, Bremsscheiben<br />
mit sehr harten, verschleißfesten Rand-<br />
bzw. Oberflächenbereichen und zähfestem, druckbeanspruchbarem<br />
Innenbereich. Da dies meist von<br />
einem Werkstoff nicht erfüllt werden kann, kommen<br />
hier Verbundwerkstoffe zum Einsatz. Oft stellen<br />
unterschiedliche physikalische Eigenschaften der<br />
verwendeten Werkstoffpaarungen bei konventionellen<br />
Verbunden im Einsatzbereich (z.B. erhöhte<br />
Temperatur) ein Problem dar, das zur Schwächung<br />
oder auch Zerstörung des Gefügeverbundes führen<br />
kann. Durch eine gezielt eingesetzte Gradierung der<br />
<strong>Werkstoffe</strong> innerhalb eines Bauteils, durch Vergießen<br />
von zwei unterschiedlichen Schmelzen, kann<br />
das Werkstoffprofil dem Anforderungsprofil<br />
angepasst und somit optimiert werden (Abb. 1.9).<br />
1.3.2.7 GIESSEN VON GITTERNETZSTRUKTUREN UND<br />
METALLISCHEN SCHÄUMEN<br />
<strong>Metallische</strong> "Schäume" (Abb. 1.10) weisen ein<br />
enormes Anwendungspotential auf. Besonderes<br />
Interesse gilt den offenporigen Strukturen, die mit<br />
Gasen, Flüssigkeiten oder festen Stoffen durchström-<br />
oder infiltrierbar sind. Die regelmäßigen, dreidimensionalen<br />
Gitternetzstrukturen mit ihren besonderen,<br />
strukturspezifischen physikalischen, chemischen<br />
und mechanischen Eigenschaften definieren<br />
einen innovativen Funktionswerkstoff. Elementare<br />
Strukturparameter sind Volumenanteil und Porosität.<br />
Die extrem hohen Verhältnisse von Oberflächen zu<br />
Volumina prädestinieren offenporige Gitternetzstrukturen<br />
für Komponenten in Wärmetauschern,<br />
Leichtbaukonstruktionen, Crash-Absorbern, als<br />
Katalysator-Oberflächen und Filter.<br />
Abb. 1.9: Gradientengefüge: eine<br />
geringe Si-Konzentration im<br />
Plattenbereich im Vergleich zum<br />
Trapezbereich des Zahnes eines<br />
Zahnrads aus einer AI-Si-<br />
Legierung.<br />
Abb. 1.10: Offenporige metallische<br />
Gitternetzstruktur.
VERSUCH: GIESSEN Seite 6<br />
1.4 THEORETISCHER HINTERGRUND<br />
1.4.1 FEST-FLÜSSIG-<br />
PHASENÜBERGANG<br />
Der fest-flüssig-Phasenübergang (Erstarrung) liegt<br />
jedem Gießprozess zugrunde und lässt sich thermodynamisch<br />
beschreiben. Die Grenzen des Existenzbereiches<br />
eines Aggregatzustandes (fest oder<br />
flüssig) findet man, indem man die thermodynamischen<br />
Potentiale der verschiedenen Phasen<br />
betrachtet. Wählt man Temperatur und Druck als<br />
Zustandsvariablen, so stellt diejenige Phase mit der<br />
niedrigsten freien Enthalpie G den Gleichgewichtszustand<br />
dar (Abb. 1.11). Bei der Gleichgewichtsschmelztemperatur<br />
Tm, die vom Druck p0 abhängt,<br />
fällt die Kurve für die flüssige unter diejenige für den<br />
festen Zustand. Am Schmelzpunkt koexistieren<br />
beide Phasen im thermodynamischen Gleichgewicht.<br />
KEIMBILDUNG (HOMOGEN /HETEROGEN)<br />
Zu Beginn des Erstarrungsphänomens steht die<br />
Keimbildung. Man unterscheidet die homogene und<br />
die heterogene Keimbildung. Die homogene Keimbildung<br />
stellt eine spontane Bildung von Clustern der<br />
stabilen Phase in der Ausgangsphase dar<br />
(Abb. 1.12). Bei der homogenen Keimbildung sind<br />
ausschließlich Keim und Schmelze aber keine<br />
fremden Phasen beteiligt. Die Keimbildung dieser Art<br />
wird jedoch in der Praxis kaum erreicht, da in der<br />
Regel Fremdphasen der festen Phase am<br />
Keimbildungsprozess beteiligt sind. Durch Schmelze,<br />
Kokillenwände oder Oxide, mit denen sich eine<br />
Schmelze in Kontakt befindet, wird die Bildung von<br />
Keimen katalysiert. Man spricht dann von heterogener<br />
Keimbildung. Abb. 1.13 zeigt ein Beispiel der<br />
heterogenen Keimbildung, in dem ein Cluster in<br />
Form einer Kugelkalotte auf einer Fremdphase,<br />
welche auch die Behälterwand sein kann, wächst.<br />
1.4.2 KRISTALLWACHSTUM / ERSTARRUNGSMORPHOLOGIEN<br />
Der einer Keimbildung folgende Prozess ist das Wachstum. Die Wachstumskinetik wird<br />
dabei in erster Linie von zwei Parametern bestimmt: Erstarrungsgeschwindigkeit v und<br />
Temperaturgradient an der Erstarrungsfront G. Für die Charakterisierung der Erstarrungsbedingungen<br />
wird häufig die Abkühlgeschwindigkeit verwendet, welche sich als Produkt der<br />
Erstarrungsgeschwindigkeit und des Temperaturgradienten darstellen lässt:<br />
∂T<br />
= G ⋅ v<br />
∂t<br />
Abb. 1.11: Die freie Enthalpie G als<br />
Funktion der Temperatur für die flüssige<br />
(L) und die feste (S) Phase bei<br />
konstantem Druck. Der Schnittpunkt<br />
markiert die Schmelztemperatur Tm(p0).<br />
Abb. 1.12: Homogene Keimbildung<br />
der festen Phase in einer<br />
Schmelze.<br />
Abb. 1.12: Heterogene Keimbildung<br />
auf einer Fremdphase.
VERSUCH: GIESSEN Seite 7<br />
Abhängig von diesem Parameter ändert sich auch die Erstarrungsmorphologie, d.h. die<br />
Erscheinungsform der festen Phase. Sie kann in vier<br />
unterschiedlichen Formen auftreten (Abb. 1.14):<br />
planare Front, Zellen, gerichtete Dendriten,<br />
gleichachsige Dendriten (Globulas).<br />
Durch die unterschiedlichen Erstarrungsbedingungen<br />
bilden sich Bereiche unterschiedlicher<br />
Morphologien (Strukturbereiche) in einem Barren<br />
aus (Abb. 1.15). An der kalten Kokillenwand wird der<br />
Schmelze schnell Wärme entzogen, so dass eine<br />
beträchtliche Unterkühlung eintritt, welche die<br />
Bildung zahlreicher Keime bewirkt. Daher entsteht<br />
an der Kokillenwand eine Schicht sehr kleiner<br />
gleichachsiger globulitischer Kristalle. Bei ihrem<br />
Wachstum verhalten sich die Kristalle bezüglich ihrer<br />
Wachstumsrate anisotrop. Im weiteren Verlauf der<br />
Erstarrung werden solche Kristalle bevorzugt, deren<br />
Gitter zufällig so orientiert ist, dass sie mit der<br />
Richtung des Temperaturgradienten, d.h. der Richtung<br />
des größten Wärmegefälles, zusammenfällt.<br />
Diese Kristalle überwachsen die nicht so günstig<br />
zum Temperaturgradienten orientierten Nachbarkristalle.<br />
So ergibt sich der Vorgang der Kornselektion.<br />
Durch diesen Vorgang wird der zweite<br />
Strukturbereich, der Bereich der Stengelkristalle,<br />
ausgebildet.<br />
Abb. 1.14: Erstarrungsmorphologien<br />
und ihre Abhängigkeit vom Temperaturgradienten<br />
G und der Er-<br />
starrungsgeschwindigkeit v<br />
Abb. 1.15: Ausbildung der Strukturbereiche eines Barrens.<br />
Weiter nach innen macht sich die einseitig gerichtete Wärmeabfuhr nicht mehr so stark<br />
bemerkbar. Es entstehen regellos orientierte gleichachsige Kristalle aus Keimen, deren<br />
Bildung durch die vor den Stengelkristallen her zur Mitte hin gedrängten Verunreinigungen<br />
gefördert wird. Daher bildet sich der zentrale Strukturbereich der globulitischen Kristalle.
VERSUCH: GIESSEN Seite 8<br />
1.5 GIESSBARKEIT<br />
Fließfähigkeit … ist ein Maß, wie weit das Metall in einer Form fließen kann,<br />
bis der Metallfluss durch die fortschreitende Erstarrung stockt.<br />
Formfüllungsvermögen … ist die Fähigkeit des Gießmaterials, die Konturen der Form<br />
wiederzugeben.<br />
Die Fließfähigkeit und das Formfüllungsvermögen können mit einer Gießspirale ermittelt<br />
werden.<br />
1.6 EINIGE TYPISCHE GUSSFEHLER<br />
1.6.1 LUNKER<br />
Die meisten Metalle weisen eine sprunghafte Volumenverringerung während des Erstarrens<br />
auf. Für Aluminium beträgt diese Verringerung 6%, für Eisen und Kupfer 4%. Indem die<br />
Kristalle von der Wand der Kokille nach innen wachsen und dabei ihr Volumen verringern,<br />
sinkt der Flüssigkeitsspiegel der Restschmelze stetig ab. So entsteht im Kopf des Blocks ein<br />
Schwindungshohlraum, der Blocklunker.<br />
Die gleiche Ursache, Volumenverringerung, führt zu Mikrolunkern, wenn mehrere Kristalle so<br />
zusammenstoßen, dass die zwischen ihnen eingeschlossene Flüssigkeit keine Verbindung<br />
zur Restschmelze hat.<br />
1.6.2 GASBLASEN<br />
Bei der Erstarrung nimmt das Lösungsvermögen eines Metalls für Gase sprunghaft ab. Dies<br />
kann zur Bildung von Gasbläschen an der fest-flüssigen Grenze führen. Ein Teil der<br />
Gasbläschen kann zwischen den wachsenden Kristallen festgehalten werden.<br />
1.6.3 SEIGERUNGEN<br />
Bei schneller Abkühlung können die naturgemäß entstehenden Konzentrationsunterschiede<br />
in den einzelnen Erstarrungsbereichen nicht mehr durch Diffusion ausgeglichen werden. Es<br />
entstehen damit Zonen unterschiedlicher Zusammensetzung im Werkstoff. Solche<br />
Schwankungen werden auf Kornmaßstab Mikro- und auf Werkstücksmaßstab<br />
Makroseigerungen (Blockseigerungen) genannt.<br />
1.6.4 EINSCHLÜSSE<br />
Beim Gießen kann Schlacke aus dem Ofen mitgerissen werden (Schlackeeinschlüsse).<br />
Unter Einwirkung von Sauerstoff während des Gießprozesses kann es außerdem zur<br />
Bildung von Oxidhäuten kommen, die dann im Werkstück eingegossen werden.<br />
1.6.5 RISSE<br />
Aufgrund konstruktiver Fehler können Spannungsrisse im Werkstück auftreten.
VERSUCH: GIESSEN Seite 9<br />
1.7 AUFGABENSTELLUNG<br />
1.7.1 STRANGGUSS<br />
1. Wiegen Sie ca. 500 g Zinn in den Schmelztiegel der Stanggießanlage ein.<br />
2. Gießen Sie einen Strang mit folgenden Gießparametern:<br />
Tiegeltemperatur: 350 °C<br />
Kokillentemperatur: 50 °C<br />
3. Diskutieren Sie das Makrogefüge durch Ätzen mit Salzsäure.<br />
4. Diskutieren Sie das Mikrogefüge anhand der vorgefertigten Schliffe.<br />
Hinweise zum Protokoll:<br />
- Beschreiben Sie das angewandte Verfahren (Prinzip, Vor-/Nachteile, Einsatzgebiete…)!<br />
- Notieren Sie alle Versuchsparameter und begründen Sie deren Wahl!<br />
- Welche Möglichkeiten hat man, das Gefüge zu beeinflussen?<br />
1.7.2 F ORMGUSS<br />
1. Erschmelzen Sie ca. 250 g Zinn in einem Tiegel im Umluftofen bei 350 °C.<br />
2. Gießen Sie einen Formkörper in eine Kokille (Gießspirale) von Raumtemperatur.<br />
3. Vergleichen Sie Ihr Ergebnis mit den vorbereiteten Gussstücken. Bestimmen Sie<br />
qualitativ den Einfluss von Gießtemperatur und Kokillentemperatur auf das<br />
Formfüllungsvermögen von Zinn und verschiedenen Zinnlegierungen.<br />
4. Diskutieren Sie das Mikrogefüge verschiedener Legierungen anhand der<br />
vorgefertigten Schliffe.<br />
Hinweise zum Protokoll:<br />
- Notieren Sie alle Versuchsparameter!<br />
- Beschreiben Sie das Gießverhalten (Oberflächenbeschaffenheit, Fließfähigkeit,<br />
-<br />
Formfüllungsvermögen, Gießfehler etc.) von Zinn und verschiedenen Zinnlegierungen<br />
und bestimmen Sie qualitativ den Einfluss von Gießtemperatur und Kokillentemperatur!<br />
Worin unterscheiden sich die verschiedenen Erstarrungsgefüge? Wie lassen sie sich<br />
beeinflussen?<br />
- Worauf ist bei der Gestaltung einer Gießform zu achten?<br />
1.8 F RAGEN ZUR VORBEREITUNG<br />
Welche Möglichkeiten eröffnen Urformverfahren gegenüber anderen Fertigungsverfahren?<br />
Welche Gießverfahren kennen Sie? Wann werden diese jeweils eingesetzt?<br />
Welche Vorteile/Nachteile besitzt der Kokillenguss gegenüber dem Sandguss?
VERSUCH: GIESSEN Seite 10<br />
Welche technologischen Eigenschaften sollte eine Legierung besitzen, damit sie als<br />
Gusswerkstoff geeignet ist?<br />
Nennen Sie <strong>Werkstoffe</strong>igenschaften, die eine positive Wirkung auf die Gießbarkeit haben!<br />
Welche Gussfehler kennen Sie und wie können diese vermieden werden?<br />
Was kann mit einer Gießspirale ermittelt werden und wie?<br />
Welche Einflussgrößen spielen bei der Erstarrung eine große Rolle?<br />
Welche Erstarrungsmorphologien kennen Sie? Beschreiben Sie deren Entstehung!<br />
Wie kann ein feinkörniges Gefüge eingestellt werden?<br />
Was versteht man unter dem Zinnschrei bzw. unter der Zinnpest?<br />
1.9 LITERATUR<br />
[1] W. König, F. Klocke: “Fertigungsverfahren”, Band 4 (Massivumformung), VDI Verlag<br />
1996<br />
[2] P.R. Sahm, I. Egry: "Schmelze, Erstarrung, Grenzflächen", Braunschweig;<br />
Wiesbaden: Vieweg, 1999<br />
[3] W. Kurz, D.J. Fisher: "Fundamentals of Solidification", Trans Tech Publications Ltd,<br />
1998
<strong>GRUNDPRAKTIKUM</strong> <strong>H1</strong><br />
U R - UND U MFORMEN: G IESSEN UND B LECHUMFORMUNG<br />
2 BLECHUMFORMUNG<br />
2.1 GRUNDLAGEN DER U MFORMTECHNIK<br />
2.1.1 PRODUKTIONSTECHNISCHE G RUNDLAGEN<br />
Die Fertigungstechnik unterscheidet generell zwischen Urformen und Umformen. Die<br />
zentrale Definition der Umformtechnik lautet:<br />
"Überführen eines Körpers in eine andere Form unter Beibehaltung von Masse und<br />
Stoffzusammenhang"<br />
Eine Verfahrensunterteilung erfolgt nach DIN 8582-Fertigungsverfahren Umformen, gemäß<br />
den „Wirksamen Spannungen in der Umformzone":<br />
Druck -<br />
umformen<br />
Walzen<br />
Freiformen<br />
Gesenkformen<br />
Eindrücken<br />
Durchdrücken<br />
Zug-Druckumformen<br />
Tiefziehen<br />
Kragenziehen<br />
Drücken<br />
Knickbauchen<br />
Umformen<br />
Zug-<br />
umformen<br />
Durchziehen Längen<br />
Weiten<br />
Tiefen<br />
Abb. 2.1 : Einteilung der Umformverfahren<br />
Biegeumformen<br />
Biegen mit<br />
geradlinieger<br />
Werkzeugbewegung<br />
Biegen mit<br />
drehender<br />
Werkzeugbewegung<br />
Schubumformen<br />
Verschieben<br />
Verdrehen<br />
(DIN 8582)<br />
Die Untergruppen der Norm werden jeweils noch weiter unterteilt z.B. nach der<br />
Werkzeuggeometrie. Weitere Unterscheidungskriterien für Umformverfahren sind:<br />
- die Art der Krafteinleitung:<br />
Bei unmittelbarer oder direkter Krafteinleitung entspricht die Krafteinleitungszone der<br />
Umformzone. (z.B. Stauchen) im Gegensatz zu mittelbarer oder indirekter Krafteinleitung<br />
(z.B. Durchziehen – Abbildung 2.1)<br />
- die geometrische Beschaffenheit der Halbzeuge:<br />
Drahtumformung 1-dimensional<br />
Blechumformung 2-dimensional, flächig<br />
Massivumformung 3-dimensional<br />
- der Einfluss auf die Festigkeitseigenschaften der Bauteile, nach:<br />
Keiner Festigkeitsänderung<br />
Vorübergehende Festigkeitsänderung<br />
Bleibende Festigkeitsänderung<br />
- die Temperatur während der Verformung:<br />
Kaltformgebung: Das Werkstück wird vor der Umformung nicht erwärmt ( T = RT )<br />
Warmformgebung: Das Werkstück wird vor der Umformung erwärmt ( T > RT )<br />
Weitere Unterteilung: Umformung oberhalb oder unterhalb der<br />
Rekristallisationstemperatur.
VERSUCH: BLECHUMFORMUNG Seite 12<br />
Abb. 2.2: allgemeines System zur Betrachtung von Umformvorgängen<br />
In Abbildung 2.2 sind beispielhaft die grundlegende Begriffe bei Umformvorgängen<br />
dargestellt. Soll solch ein Umformvorgang industriell realisiert werden muss neben den<br />
metallkundliche und produktionstechnische Fragen auch die Plastizitätstheorie mit<br />
einbezogen werden.<br />
2.2 UMFORMVERFAHREN: T IEFZIEHEN<br />
Tiefziehen zählt zu den Verfahren der Zug-Druckumformung, da im Gegensatz zum reinen<br />
Tiefen oder Streckziehen am Werkstück auch örtlich Zug- und Druckspannungen vorliegen<br />
(z.B. Flansch am Näpfchen). In der Praxis bestehen viele Prozesse, insbesondere bei der<br />
Herstellung von komplexen Geometrien wie Karosserieteilen aus einer<br />
Verfahrenskombination. Generell wird jedoch jeweils aus einem Blechzuschnitt ein ohlkörper<br />
geformt. Zu beachten ist, dass in der Praxis aufgrund der vorherrschenden Geometrievielfalt<br />
keine generelle Vorhersage über die Tiefzieheignung mit Hilfe eines einzigen Prüfverfahrens<br />
möglich ist. Daher werden im Versuch die prinzipiellen Vorgänge am Beispiel des<br />
Näpfchenziehens aus ebenen Blechronden demonstriert.<br />
2.2.1 VERFAHRENSPRINZIP<br />
Ein Tiefziehwerkzeug besteht immer aus einer Matrize (hier dem Ziehring) und einem<br />
Stempel, in der Regel findet zusätzlich ein Niederhalter Verwendung (Abb.2.3). Durch die<br />
Stempelbewegung wird die Ronde durch die Öffnung des Ziehrings gezogen, wodurch sich<br />
die Geometrie der Werkzeughälften auf das Ziehteil abbildet. Je nach Verfahrensart löst sich<br />
das fertige Ziehteil durch die elastische Auffederung vom Stempel oder benötigt einen<br />
separaten Auswerfer. Letzterer Fall tritt dann ein, wenn z.B. kein vollständiger Durchzug<br />
durch das Werkzeug erfolgt.<br />
Die eigentliche Hauptumformarbeit findet im Flansch, d.h. am Eingang des Ziehrings statt.<br />
Der Werkstoff durchläuft hier eine zweifache Biegung. Dabei treten in diesem Bereich radiale<br />
Zugspannungen und tangentiale Druckspannungen auf. Überschreiten letztere die<br />
Knicksteifigkeit des Blechs, kommt es zur Faltenbildung am Flansch. Die vom Niederhalter<br />
ausgeübte axiale Druckspannung wirkt dem entgegen. Sie darf aufgrund des mit dem<br />
Einsatz des Niederhalters erhöhten Reibverlustes einen Maximalwert nicht überschreiten,<br />
um ein Reißen des Blechs zu verhindern.
VERSUCH: BLECHUMFORMUNG Seite 13<br />
Abb. 2.3: Prinzipschema des Tiefziehens<br />
In der Napfwand herrschen Zugspannungen in axialer Richtung vor (siehe Abb. 2.4). Die<br />
Formänderung der Zugwand verläuft entsprechend den Spannungsrichtungen. Aufgrund der<br />
Volumenkonstanz bedeutet dies eine Verringerung der Wandstärke des Näpfchens. Der<br />
Boden hingegen behält, da hier keine Umformung stattfindet, seine ursprüngliche<br />
Wandstärke bei.<br />
Die eigentliche Kraftübertragung erfolgt am Übergang Boden zu Wand (Zarge). Hier treten<br />
dementsprechend nur radiale Zugspannungen auf. Damit begrenzt sich die maximale<br />
Ziehkraft auf die Zugfestigkeit des Materials.<br />
Tiefziehverhältnis und Grenzziehverhältnis<br />
Das Tiefziehverhältnis errechnet sich für Näpfchen aus dem Quotienten<br />
Rondendurchmesser d0 und dem Stempeldurchmesser dS.<br />
β =<br />
Da mit größer werdendem Ziehverhältnis die maximale Ziehkraft steigt, ergibt sich für einen<br />
einzelnen Zug ein Grenzziehverhältnis, oberhalb dem Versagen durch Bodenreißer eintritt.<br />
Diese Grenze liegt für die meisten Metalle bei β≈2,0 im Erstzug, bei β≈1,6 im Weiterzug.<br />
Größere Umformtiefen können daher nur über mehrere Züge mit eventuell<br />
zwischengeschalteten Entfestigungsglühungen erreicht werden. Das Gesamtziehverhältnis<br />
ergibt sich durch Multiplikation der Einzelschritte:<br />
womit<br />
β<br />
ges<br />
1<br />
2<br />
n<br />
d 0<br />
d S<br />
= β ⋅ β ⋅...<br />
β =<br />
β<br />
ges<br />
d<br />
=<br />
d<br />
0 ≤<br />
n<br />
d 0 d1<br />
d n−1<br />
d<br />
Abb. 2.4: Umformung beim Ziehen;<br />
Werkstoff durchläuft zweifache Biegung<br />
Dieser Wert hat sich in der Praxis als oberes Limit herausgestellt.<br />
Eine Abschätzung, ob ein Umformvorgang bereits im kritischen Bereich der Formänderung<br />
liegt, ist anhand des Grenzformänderungsschaubildes möglich.<br />
1<br />
6,<br />
5<br />
⋅<br />
d<br />
2<br />
⋅...<br />
d<br />
n
VERSUCH: BLECHUMFORMUNG Seite 14<br />
Abb. 2.5: Grenzformänderungsschaubild in Abhängigkeit von den Umformgraden<br />
Die im Schaubild angegebenen Umformgrade ergeben sich aus der Deformation eines<br />
Ringrasters (nach Erichsen), dass vor dem Ziehen auf ein Probeblech aufgebracht wurde.<br />
Die Deformation der Ringe variiert dabei lokal auf der Probe.<br />
Grundlegende Aspekte der Werkzeugauslegung<br />
Die vorhergehenden Abschnitte beschrieben den Werkstofffluss und die dabei auftretenden<br />
Spannungszustände. Unter Einbeziehung der Verfahrensgrenzen, die der Werkstoff durch<br />
die Materialeigenschaften setzt, ergeben sich einige grundlegende Randbedingungen für die<br />
Gestaltung von Umformwerkzeugen (vgl. Abb.2.3).<br />
Aufgrund der Spannungsverhältnisse im Ziehspalt liegt nahe dem Boden die dünnste<br />
Wandstärke vor. Diese nimmt zum Flansch hin auf einen Wert zu, der die ursprüngliche<br />
Blechdicke überschreiten kann. Daher muß der Ziehspalt breiter als die Blechdicke sein.<br />
Der Stempel bildet aufgrund des Formschlusses zum Werkstück exakt seine Oberfläche ab.<br />
Daneben stellt er das kraftübertragende Element dar. Daraus resultiert zum einen<br />
hinsichtlich der Tribologie und der Vermeidung von Abbildungsfehlern eine sehr gute<br />
Maßtoleranz und Oberflächengüte. Zum zweiten muß die Stempelkante einen Radius<br />
aufweisen, um das mögliche Grenzziehverhältnis nicht durch die Schneidwirkung einer<br />
scharfen Kante zu reduzieren.<br />
Beim Ziehen komplexer, nicht-rotationssymmetrischer Geometrien (z.B. Vierecke) führt ein<br />
gleichmäßiger Werkstofffluß in die Matrize zu Ziehfehlern, da in die Ecken mehr Material<br />
einfließen muß als in gerade Teile. In der Praxis wird der Werkstofffluß hier durch den<br />
Einbau von Bremswülsten zwischen Unterstempel und Niederhalter realisiert.<br />
Die Notwendigkeit des Einsatzes eines Niederhalters zur Vermeidung von Falten am Flansch<br />
ist abhängig vom Verhältnis Ausgangsdurchmesser d0 der Ronde zu Ausgangsblechstärke<br />
s0. Ein Niederhalter ist erforderlich, wenn<br />
d 0<br />
> 25 − 40<br />
s0<br />
Wählt man die Niederhaltekraft so hoch, dass kein Nachfließen des Werkstoffs möglich ist,<br />
so spricht man vom Streckziehen.<br />
Tribologie<br />
Anders als beim Walzen stellen sich ortsabhängig verschiedene Anforderungen an die<br />
Reibung im Gesenk. Gutes Gleiten im Bereich des Flansches, der Ziehringrundung und an<br />
den Wänden vermeidet Ziehfehler durch z. B. Kaltverschweißung und setzt den
VERSUCH: BLECHUMFORMUNG Seite 15<br />
Ziehkraftbedarf herab. Im Bereich der Kraftübertragung am Stempel dagegen fördert erhöhte<br />
Reibung die Kraftübertragung und setz die am Radius auftretenden Zugspannungen herab.<br />
Das in der Praxis eingesetzte Spektrum von Schmierstoffen reicht von flüssigen Medien<br />
(Suspensionen, Öle) über Festschmierstoffe (Graphit) bis zu metallischen Überzügen oder<br />
Reaktionsschichten (Phosphatierung) und Polymerfolien (Teflon).<br />
2.2.2 TIEFUNGSVERSUCH NACH E RICHSEN<br />
Der Erichsen-Tiefungsversuch dient der Beurteilung der Umformbarkeit von Blechen und<br />
Bändern ist nach DIN 50 101 genormt [4].<br />
Abb. 2.6: Aufbau Erichsonveruch nach DIN 50 101<br />
Der Umformvorgang bei diesem Versuch erfasst im Wesentlichen die Dehnungsfähigkeit des<br />
Blechwerkstoffs, direkt vergleichbar mit einem Streckzieh- und Ausbeulvorgang, bei dem die<br />
Randzonen festgehalten werden und somit nicht oder nur wenig an der Umformung<br />
teilnehmen können. Im Versuch ermittelt man die Eindringtiefe eines Stempels in mm sowie<br />
die Kraft im Augenblick des Einreißens. Damit sind diese Tiefungswerte ein Maß für die<br />
Umformbarkeit eines Bleches durch Streckziehen und geben Hinweise auf den<br />
Verfestigungsexponenten n.<br />
2.3 AUFGABENSTELLUNG<br />
Beurteilung der Tiefzieheigenschaften von Blechwerkstoffen<br />
• Führen Sie den „Tiefungsversuch nach Erichsen (DIN 50101)“ an verschiedenen<br />
Blechwerkstoffen durch:<br />
- Aluminium<br />
- E-Kupfer<br />
- Messing<br />
- austenitischer CrNi-Stahl<br />
- Tiefziehstahl<br />
• Bestimmen Sie dabei jeweils den entsprechenden Tiefungsweg sowie die erforderliche<br />
Maximalkraft.<br />
• Nehmen Sie ein Kraft-Tiefungsweg-Diagramm für jeden Tiefungsversuch und<br />
Blechwerkstoff auf. Diskutieren Sie ausführlich die Unterschiede der aufgenommenen<br />
Kurven.
VERSUCH: BLECHUMFORMUNG Seite 16<br />
• Beschreiben Sie die auftretenden Veränderungen der Probenoberfläche und die<br />
Ausbildung des Risses. Diskutieren Sie anhand dieser Beobachtungen die<br />
Tiefzieheignung der betreffenden Blechwerkstoffe.( Radialer Riß – faseriger Gefüge,<br />
schlecht geeignet; Ringförmiger Riß – gut geeignet; Glatte Oberfläche feines Korn, gut<br />
geeignet; Rauhe Oberfläche, Orangenhaut – grobes Korn – schlecht geeignet)<br />
2.4 FRAGEN ZUR U MFORMUNG<br />
Wie grenzen sich per Definition Umformtechnik und spanende Formgebungsverfahren<br />
voneinander ab?<br />
Erläutern Sie die Funktionsweise des Niederhalters beim Tiefziehen.<br />
Woraus resultiert die Notwendigkeit des schrittweisen Umformens bei großen<br />
Ziehverhältnissen?<br />
Grenzen Sie das Tiefziehen vom Streckziehen ab.<br />
2.5 LITERATUR ZUR V ORBEREITUNG<br />
[1] E. Macherauch: Praktikum in Werkstoffkunde; Vieweg, Braunschweig, 1992<br />
[2] K. Lange: Umformtechnik Bd. 1 Grundlagen; Springer; Berlin; 1984<br />
[3] K. Lange: Umformtechnik Bd. 3 Massivumformung; Springer; Berlin; 1988<br />
[4] K. Lange: Umformtechnik Bd. 3 Blechbearbeitung; Springer; Berlin; 1990<br />
[5] Umformende Fertigungsverfahren, Fachhochschule Heilbronn Dr. A. Birkert<br />
http://www.mbstud.fh-heilbronn.de/download.php?id=877202,70,2