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Workshop zur Fremdunterbringung von Anja Zehnpfund

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<strong>Workshop</strong> "<strong>Fremdunterbringung</strong>"<br />

Warum ist es wichtig, sich mit der Geschichte zu beschäftigen?<br />

Ich möchte kurz auf die Geschichte der Fürsorge, der <strong>Fremdunterbringung</strong> und den<br />

entsprechenden Gesetzen und die dahinter stehenden Haltungen eingehen, bevor es um<br />

zentrale Fragen rund um das Thema <strong>Fremdunterbringung</strong> geht.<br />

Nicht zuletzt, um Vorbehalte v.a. <strong>von</strong> potentiell Betroffenen gegenüber<br />

<strong>Fremdunterbringung</strong> und Jugendamt, zu verstehen, ist es wichtig, sich mit der Geschichte<br />

zu beschäftigen. Ebenso ist es wichtig auf Traditionslinien, Kontinuitäten und Brüche zu<br />

schauen, um strukturelle Missstände, aber auch positive Entwicklungen zu erkennen und<br />

einordnen zu können.<br />

Zudem muss man sich bewusst machen, dass viele derjenigen, die nun Eltern oder<br />

Großeltern sind, selber im Heim oder bei Pflegeeltern aufgewachsen sind und diese<br />

Erfahrung sich auf ihr Leben und somit das Leben ihrer Kinder auswirkt. (Welcher Art auch<br />

immer die Erfahrung ist).<br />

Geschichte <strong>Fremdunterbringung</strong><br />

Öffentliche Fürsorge/Jugendhilfe kann nur auf dem Hintergrund des jeweiligen<br />

gesellschaftlich-politischen Klimas verstanden werden:<br />

Vor und während der Weimarer Republik<br />

Aus der Armenfürsorge entwickelten sich in der Weimarer Republik<br />

Fürsorgeerziehungsheime, in denen bis zu mehrere hundert "Zöglinge" unter<br />

strafvollzugsähnlichen Bedingungen getrennt nach Geschlechtern lebten.<br />

Neben elternlosen Kindern wurden in die Fürsorge eingewiesen, sondern auch Kinder und<br />

Jugendliche, die selber oder deren Familie als "verwahrlost betitelt wurden, was u.a.<br />

bedeutete:<br />

- straffällig gewordene Kinder und Jugendliche<br />

- „sozial Auffällige“: z.B. „Herumlungern“, Schule schwänzen, Arbeit verweigern, ...<br />

- „problematische“ Familienkonstellation; (unehelich geboren; alleinerziehende Mutter;<br />

Eltern mit hohem Alkoholkonsum; psychisch auffällig,...)<br />

- für Mädchen: „sexuell verwahrlost“<br />

Aber die Gründe waren oftmals recht willkürlich. Da Verwahrlosung in Gesetzen nie<br />

eindeutig definiert wurde, öffnete dieser unbestimmte Begriff auch Unterstellungen und<br />

Verleumdungen Tür und Tor. Geringfügige Anzeichen für unerwünschtes und störendes<br />

Verhalten reichten aus, um in die Fürsorgeerziehung überwiesen zu werden.<br />

Auch Kinder in familiären Pflegestellen waren nicht vor Ausbeutung und Misshandlung<br />

geschützt. Oftmals wurden <strong>von</strong> Pflegeeltern Ziehkinder aufgenommen, da billige<br />

Arbeitskräfte und auch das Kostgeld gebraucht wurden.<br />

1


Erste Kontrollen der Pflegestellen existierten erst ab 1870 – seitdem werden Pflegeeltern<br />

polizeilich überprüft und auch untergebrachte Kinder stehen unter staatlicher<br />

Vormundschaft. Dies jedoch stellte nicht wirklich einen Schutz der Kinder dar, da sich die<br />

Vormünder höchst selten mit den Kindern trafen und den Kindern gar nicht klar gemacht<br />

wurde, was für eine Funktion ihr Vormund hat.<br />

1878 wurde das „Preußische Zwangserziehungsgesetz“ verabschiedet: Erstmals konnten<br />

gegen den Willen der Eltern straffällig gewordene Kinder und Jugendliche in Zwangs- bzw.<br />

Anstaltserziehung eingewiesen werden.<br />

Das erste Jugendamt <strong>zur</strong> Kontrolle der fremduntergebrachten Kinder entstand 1910 in<br />

Hamburg. Auch die „Zieh- und Kostkinder“ in Pflegefamilien wurden <strong>von</strong> diesen<br />

Institutionen überwacht. Die Verbreitung dieser Kontrollfunktion durch die Jugendämter<br />

sowie deren genaue Aufgaben regelte das „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ <strong>von</strong> 1924, das<br />

bis 1961 - mit wenigen Änderungen - in Kraft blieb. Tatsächlich richtete sich der § 1 des<br />

Gesetzes grundsätzlich am Kindeswohl aus. Jedoch wurde <strong>von</strong> Anfang an eher der § 62<br />

bemüht, der die "Verhütung und Beseitigung <strong>von</strong> Verwahrlosung" dienen sollte.<br />

„Verwahrlosung“ wurde auch schon 1924 gleichgesetzt mit der Unfähigkeit, sich der<br />

Gemeinschaft einordnen zu wollen oder zu können.<br />

Auch wenn es ab dem Zeitalter der Aufklärung (um 1800) vereinzelt fortschrittliche<br />

Konzepte und Umsetzungen gab, ist doch der Zeitgeist und die generelle Praxis der<br />

Fürsorge sehr repressiv, an dem „Gemeinwohl“ und nicht dem Kindeswohl ausgerichtet<br />

und ungenügend ausgestattet gewesen.<br />

Nationalsozialismus<br />

Die Ausgrenzung unangepasster Kinder und Jugendlicher spitzte sich in der NS-Zeit weiter<br />

zu. Alle Menschen, die sich in die nationalsozialistische Gemeinschaft nicht einfügen<br />

wollten oder konnten, wurden auf unterschiedlichste Weise verfolgt oder ermordet.<br />

Der Begriff „asozial“ und „verwahrlost“ wurde sehr weit ausgelegt und traf zu auf:<br />

- alleinerziehende Mütter<br />

- hohen Alkoholkonsum<br />

- Verweigerung den HJ oder BDM-Dienst abzuleisten<br />

- für Mädchen: frühe Kontakte mit Jungs („sexuell verwahrlost“ – galt nur für Mädchen),<br />

- Kontakt zu ZwangsarbeiterInnen<br />

- Verweigerung <strong>von</strong> Arbeitsdiensten<br />

- Zugehörigkeit <strong>zur</strong> Swing-Jugend<br />

- Widerstand gegen den NS…<br />

Alle Kinder und Jugendlichen, die aus so stigmatisierten Familien stammten oder sich<br />

selbst unangepasst verhielten, wurden sehr stark <strong>von</strong> der Fürsorge kontrolliert und in der<br />

Regel in ein Fürsorgeheim zwangseingewiesen.<br />

Sie sollten in den Fürsorgeeinrichtungen diszipliniert und umerzogen werden. Schien dies<br />

im Sinne der Verantwortlichen nicht zu gelingen, wurden sie in die 1940 bzw. 1942<br />

eingerichteten Jugendkonzentrationslager Moringen für Jungen oder Uckermark für<br />

Mädchen und junge Frauen deportiert.<br />

2


Nachkriegszeit BRD<br />

Die Besatzungsmächte erklärten das RJWG in seiner Fassung <strong>von</strong> 1922 für anwendbar und<br />

Fürsorgeeinrichtungen beschäftigen noch lange dasselbe Personal, das während der NS-<br />

Zeit tätig war, so dass keine wesentlichen Reformen in der Heimerziehung stattfanden.<br />

Auch die Gründe für eine Einweisung in Heime und zu Pflegeeltern unterschieden sich<br />

nicht wesentlich <strong>von</strong> denen aus der Weimarer Republik.<br />

Die Ausführenden der öffentlichen Erziehung maßen die Lebensverhältnisse ihres Klientels<br />

und somit den Grad der „Verwahrlosung“ weitgehend an bürgerlichen Wertmaßstäben.<br />

Schwarze Pädagogik<br />

Missstände noch bis in die 70er Jahre hinein in den Institutionen <strong>von</strong> Kirchen (c.a. 2/3 der<br />

Heime waren in kirchlicher Trägerschaft), privaten Trägern und auch staatlichen<br />

Einrichtungen bestimmten das Leben des Klientels. Unter dem Stichwort "Schwarze<br />

Pädagogik" (eine Erziehungsform, die sich hauptsächlich durch Gewalt und Erniedrigung<br />

auszeichnete) wurden die Missstände v.a. <strong>von</strong> den "Heimkindern" in den 70ern öffentlich<br />

gemacht.<br />

Teilweise waren restriktive Erziehungsvorstellungen der Zeitgeist bis in die 80er Jahre<br />

hinein. In den Einrichtung waren die Bedingungen dennoch ungleich schlimmer, oftmals<br />

fanden in den Heimen bloße Massenabfertigung mit einem Schwerpunkt auf Arbeit,<br />

Disziplinierung, Zucht und Ordnung statt.<br />

Nicht alle Kinder und Jugendliche in Heimen sind dort ausgebeutet oder geschädigt<br />

worden. Einrichtungen haben die jungen Menschen teilweise vor großer Not bewahrt und<br />

engagierte Mitarbeiter_innen haben oft unter schlechten Arbeitsbedingungen wichtige<br />

Arbeit geleistet, die wenig Anerkennung fand.<br />

Dennoch war das Fürsorgesystem generell auf das Prinzip „Abschreckung durch<br />

Abschiebung“ ausgerichtet.<br />

So gab es auch in der BRD verschiedene Stationen der Fürsorge: Es gab in jedem<br />

Bundesland eine Landesfürsorgeheim, das für die besonders „schwer erziehbaren“ Kinder<br />

und Jugendlichen eingerichtet wurde<br />

In den LFH wurden junge Menschen systematisch körperlich gezüchtigt und weggesperrt.<br />

Auch die Verweigerung <strong>von</strong> Ausbildungsleistungen, pauschale Bestrafung, Zwangsarbeit,<br />

Kontaktsperren usw. gehörten zu den regelmäßigen Praktiken in solchen Gruppen und<br />

Anstalten<br />

Deutsche Demokratische Republik<br />

Anders als in der Bundesrepublik war es in der DDR seit 1950 gesetzlich verboten, Kinder<br />

und Jugendliche körperlich oder seelisch zu misshandeln. (In der BRD wurde erst im Jahr<br />

2000 das „Züchtigungsrecht“ vollständig abgeschafft) Die Praxis war dennoch <strong>von</strong><br />

erheblicher Gewalt gegen Kinder und Jugendlichen geprägt.<br />

Die Heime in der DDR waren allesamt staatlich und hatten den Auftrag, die Kinder und<br />

Jugendlichen streng sozialistisch (um-) zu erziehen. Für die "Insassen" der Heime gab es<br />

3


sehr wenig Möglichkeiten, der schulischen und beruflichen Entwicklung. Förderung nach<br />

Begabungen oder Neigungen war nicht vorgesehen<br />

Nach der Jugendhilfereform in der DDR ab April 1965 war das Heimsystem extrem<br />

ausdifferenziert. Es gab die Unterscheidung zwischen Normalheimen und Spezialheimen.<br />

Normalheime dienten der Erziehung elternloser und „entwicklungsgefährdeter“ Kinder.<br />

Sonderheime dienten <strong>zur</strong> Umerziehung stark „verhaltensgestörter“ Kinder und als<br />

besonderes Spezialheim existierte eine Disziplinareinrichtung: Der Geschlossene<br />

Jugendwerkhof Torgau.<br />

Gründe für die Einweisung in ein "Spezialheim" waren neben (schweren)<br />

Erziehungsproblemen und (angenommenen) Verhaltensstörungen auch politischideologisches<br />

„Fehlverhalten“. In Spezialheimen (z.B. Jugendwerkhöfen, im besonderen<br />

Ausmaß im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau) wurden die Methoden der "schwarzen<br />

Pädagogik" mit dem Ziel der (politischen) Umerziehung und (Zwangs-) Anpassung an die<br />

Gesellschaft angewendet.<br />

Einige Beispiele für den gesellschaftlichen Wandel und den Wandel der<br />

Erziehungsvorstellungen:<br />

In den Waisenhäusern des 16. Jahrhunderts wurden die Kinder nur so lange<br />

„aufbewahrt“, bis sie alt genug waren (falls sie überlebten, die Sterblichkeitsrate lag<br />

bei ca.40 %), um u.a. der Tätigkeit des Bettelns nachzugehen. Die Kinder wurden<br />

genau auf diese Tätigkeit vorbereitet und der Bettel war dabei ein anerkannter<br />

Beruf, der nicht stigmatisiert war. Bettler_innen erfüllten nämlich eine<br />

gesellschaftliche Aufgabe, indem sie es besser Situierten ermöglichten, durch<br />

Almosen einen Beitrag <strong>zur</strong> Rettung des eigenen Seelenheils zu leisten. In der<br />

Weimarer Republik führten jedoch genau die „Bettelei“ <strong>von</strong> Kindern und<br />

Jugendlichen zu einer Einweisung in die Fürsorgeheime.<br />

War früher klar, wer arm ist bleibt arm ist das zwar heute i.d.R. immer noch so,<br />

aber die Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen sind andere. Wer nicht<br />

gewillt ist, sich aus dem unteren sozialen Milieu herauszuarbeiten, wird stark<br />

kritisiert. Die Lebensvorstellungen für Kinder und Jugendliche richten sich immer<br />

noch an den mittelständischen Werten. Dennoch wird neuerdings oft gleichzeitig<br />

eine „milieunahen“ Unterbringung gefordert.<br />

Die Sexualmoral wandelte sich auch grundlegend. Bis in die 70er Jahre hinein<br />

wurden Mädchen bei geringstem angenommenem abweichenden körperlichen<br />

Verhalten unterstellt, "sexuell verwahrlost" zu sein. Das reichte <strong>von</strong> Pinkeln wie ein<br />

Junge, früh einen Freund zu haben bis zum in einem Bett schlafen mit der<br />

Schwester.<br />

Die gesellschaftlichen Veränderungen, die veränderten Moralvorstellungen finden<br />

irgendwann auch Niederschlag in der Fürsorgeerziehung - das System jedoch ist träge und<br />

so kommen Veränderungen in der öffentlichen Erziehung generell immer erst sehr spät an.<br />

4


Geschlossene Unterbringung heute<br />

Immer noch werden strukturelle Missstände in Institutionen der sozialen Arbeit öffentlich.<br />

Geschlossene Heime sind Extrembeispiele der pädagogischen Hilfen und sehr umstritten.<br />

Die GU erfüllt auch Abschreckungsfunktion, wie damals in den 50-70er die<br />

Landesfürsorgeheime als „letzte Station“. So wurden gerade letztes Jahr<br />

menschenverachtende Zustände in einem geschlossenen Heim der Haasenburg eG<br />

bekannt. Dennoch dauerte es über 1/2 Jahr, bis das Heim geschlossen wurde und die<br />

"Insassen" umverteilt wurden. 1<br />

Kinder und Jugendliche erleben nach wie vor verschiedenste Formen <strong>von</strong> Gewalt. In der<br />

Familie, in ihrer Peer-Group, aber auch in Wohngruppen, wenn sie gegen ihren Willen<br />

verlegt werden, wenn sie mit Medikamenten beruhigt werden oder Gleichgültigkeit gegen<br />

ihre Lebensgeschichte erleben.<br />

Strukturelle Gewalt der Ausgrenzung wegen ihres Anders-seins, wegen des Stigmas<br />

"Heimkind", wegen Armut und einer Gesellschaft, die immer noch auf Arbeit und Sich-<br />

Anpassen setzt.<br />

Gerade Jugendliche mit stark herausforderndem Verhalten stellen nach wie vor eine<br />

Problemgruppe in der Heimerziehung dar – gestern wie heute fehlt häufig das Geld für<br />

eine angemessene therapeutische und pädagogische Begleitung <strong>von</strong> Kindern, die bereits<br />

Gewalt in ihren Herkunftsfamilien und/oder der peer-group erfahren haben und diese<br />

weitergeben.<br />

Erziehungsprogramme, die auf Strafe (moderner Konsequenzen) setzen statt auf<br />

Kooperation (Jesper Juul: "Jedes Kind will kooperieren") oder sich<br />

"Verstärkerprogrammen" (schönes Beispiel die RTL-Serie "Super Nanny") bedienen, sind<br />

nicht gewaltfrei.<br />

Kinder und Jugendliche Wegsperren erst recht nicht.<br />

Neue Konzepte BRD<br />

Die Student_innenbewegung der 60er und 70er Jahre im Westen hatte <strong>zur</strong> Folge, dass<br />

autoritäre und repressive Erziehungsstile sowohl im familiären als auch institutionellen<br />

Rahmen kritisch hinterfragt wurden.<br />

Es entstanden alternative Betreuungsformen wie Kleinstheime und Wohngruppen,<br />

Erziehungsberatung und sozialpädagogische Familienhilfe wurden ausgebaut. Diese<br />

Reformen fanden im Kinder- und Jugendhilfegesetz <strong>von</strong> 1991 ihre rechtliche Grundlage. Es<br />

folgte eine Entwicklung <strong>von</strong> der Erziehung durch Strafen, Belohnung und Reglementierung<br />

hin zu einem entwicklungsfördernden Umfeld und das Anbieten tragfähiger,<br />

wechselseitiger Beziehungen. Es sollte eine Orientierung an den Ressourcen und<br />

1<br />

GU–Geschichte mit schwankenden Zahlen:<br />

seit 1980: Abnahme der GU-Plätze<br />

1989: Im Westen: 372 Plätze in 24 Heimen<br />

da<strong>von</strong> 220 für Jungen, 152 für Mädchen (nicht alle belegt!)<br />

Ab 1990: Weiterer Rückgang der FEM (freiheitsentziehende Maßnahmen)-Plätze (1997: 122 Plätze, 74 Jungen, 48 Mädchen)<br />

Nach der Wende im Osten hieß es: „Nie wieder Torgau!“ (Jugendwerkshof siehe Kapitel DDR)<br />

Aber seit ca. 2000: Wiederanstieg der FEM-Plätze: 2004: 183 Plätze; August 2011: 368 Plätze) in sehr unterschiedlicher<br />

Verteilung auf die Bundesländer<br />

5


entsprechender Einbeziehung der Betroffenen stattfinden. Ambulante Maßnahmen <strong>zur</strong><br />

Verhinderung einer <strong>Fremdunterbringung</strong> wurden ausgebaut, und die Bedeutung familiärer<br />

Bindungen rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt.<br />

Die elterlichen Rechte wurden nur bei Gefahr des Kindeswohles eingeschränkt. Immer gibt<br />

es hierbei einen Spagat zwischen Unterstützung und Kontrolle. Doch auch bei staatlichem<br />

Eingreifen in die elterlichen Rechte regelt das KJHG die Beratung und Mitbestimmung <strong>von</strong><br />

Eltern und Kindern bei der Auswahl <strong>von</strong> Hilfeleistungen und entsprechender Einrichtungen.<br />

Seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist die Elternrolle auch während<br />

einer <strong>Fremdunterbringung</strong> rechtlich anerkannt. So haben sie ein Anrecht auf<br />

Unterstützung bei den Kontakten und Hilfe für die Rückkehr des Kindes.<br />

Statistik 2 Gründe für <strong>Fremdunterbringung</strong> heute<br />

2012 sind rund 40.200 Minderjährige und damit 1700 mehr als im Vorjahr vom Jugendamt<br />

in Obhut genommen worden. Die Zahlen werden seit 1995 erfasst, seit 2007 steigen sie<br />

ständig. 2007 gab es noch 43 Prozent weniger Inobhutnahmen als 2012.<br />

65 % der <strong>Fremdunterbringung</strong>en wurden 2011 vom Jugendamt angeregt, die<br />

Eigeninitiative der jungen Menschen selbst betrug 3%, während die Anregung der<br />

Maßnahme durch die Eltern oder Sorgeberechtigten 19% betrug.<br />

In 45% aller Vollzeitpflegefälle wurde die elterliche Sorge vollständig oder teilweise<br />

entzogen.<br />

Hauptgründe der Hilfegewährung in stationärer Erziehung (2011)<br />

27% „Gefährdung des Kindeswohls“<br />

15% die „Unversorgtheit“<br />

15 % „un<strong>zur</strong>eichende Betreuung“<br />

2 % „Entwicklungsauffälligkeiten“<br />

1 % „Auffälligkeiten im sozialen Verhalten“<br />

1 % „schulische/berufliche Probleme“<br />

Die vergleichende Betrachtung der Begründung für die Jahre 2007 und 2011 zeigt die<br />

Begründungen. Gestiegen sind:<br />

- „Gefährdung des Kindeswohls“ (+37%)<br />

- „eingeschränkte Erziehungskompetenz“ (+29%)<br />

Stark rückgängig sind:<br />

- „schulische/berufliche Probleme“ (-28%)<br />

- „Auffälligkeiten im sozialen Verhalten“ (-10%)<br />

Gerade letztere Zahl lässt auf einen Paradigmenwechsel schließen: Bis in die späten 70er<br />

Jahre hinein war Hauptziel Öffentlicher Erziehung sog. unangepasste, schwierige<br />

Jugendliche umzuerziehen. Erst nach und nach erfolgte ein Haltungswechsel, der nicht<br />

(nur) bei den Jugendlichen das Problem sah, sondern erkannte, dass es zu wenig<br />

individuelle Konzepte gibt und oftmals das Familien- oder Gesellschaftssystem die<br />

2<br />

(Quelle: http://www.bgw-online.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medientypen/bgw_forschung/TP-Tb-13-Trendbericht-Kinderund-Jugendhilfe_Download.pdf?__blob=publicationFile<br />

6


Jugendlichen krank/schwierig macht und Probleme entstehen lässt. Die Statistik gibt einen<br />

Hinweis darauf, dass der Blick auf die Jugendlichen sich vom Grundsatz her gewandelt hat.<br />

Oftmals steht nicht mehr das (angenommene) Fehlverhalten der Jugendlichen im Fokus,<br />

sondern die Erziehungsfähigkeit und Versorgungsmöglichkeit der Eltern.<br />

Dennoch werden auch zunehmend wieder Jugendliche, die sich unangepasst verhalten,<br />

stark kritisiert, ohne den Gesamtzusammenhang zu sehen.<br />

Der Zugang <strong>zur</strong> höheren Schulbildung, zu Ausbildungsplätzen ist immer noch stark<br />

Schichtabhängig.<br />

Kinder und Jugendliche, die sich auf öffentlichen Plätzen treffen, weil sie beispielsweise zu<br />

Hause in beengten Verhältnissen wenig Möglichkeiten haben, sich mit ihren Freund_innen<br />

zu treffen oder aber sie auch teilhaben wollen am gesellschaftlichen Leben, werden<br />

oftmals als diffus bedrohlich empfunden. Und wenn sie problematisches Verhalten zeigen,<br />

wird nicht nach den Ursachen dafür gefragt, sondern sie werden in der Regel mit<br />

ordnungspolitischen Maßnahmen einfach vertrieben.<br />

Die Ursachen für unangepasstes Verhalten und die Bewertung dieses Verhaltens (wieviel<br />

da<strong>von</strong> ist z.B. Überlebensnotwendig für die Kinder und Jugendlichen?) muss notwendig<br />

beim Suchen der geeigneten Hilfsmaßnahmen mitgedacht werden.<br />

Was ist gut, was muss noch besser werden?<br />

Nach wie vor gibt es Konzepte und Einrichtungen, die <strong>von</strong> den Jugendlichen erwarten,<br />

nach bestimmten Regeln zu funktionieren (die GU ist dabei das extremste Beispiel).<br />

„Wenn wir uns nicht auf die klassische defizitorientierte Diagnostik beschränken,<br />

sondern uns bei den als unerträglich empfunden Kindern auch fragen, wie wir uns<br />

selbst – unsere Organisationsformen und unsere Haltungen und<br />

Wahrnehmungsperspektiven – verändern können, damit wir es mit ihnen ertragen<br />

können (und sie mit uns), finden wir Handlungsmöglichkeiten, die wir sonst nicht<br />

hätten. […] Der Lohn für die selbstkritische Betrachtung besteht oft in neuen<br />

Handlungsmöglichkeiten.<br />

(Wolf, Klaus (2004) „Das Leben im Heim – mit den Augen der Kinder betrachtet?“, S. 6)<br />

Nach wie vor gibt es zu wenig Mitarbeiter_innen mit Migrationshintergrund, mit<br />

Klassismusbetroffenheit, mit ungewöhnlichen Lebenskonzepten. Immer noch wird soziale<br />

Arbeit i.d.R. <strong>von</strong> Mittelschichtsfrauen geleistet.<br />

Und es gibt auch große Missstände z.B. bei der Mitbestimmung der Betroffenen:<br />

(Beispiele aus meiner praktischen Tätigkeit)<br />

- In der Praxis wird ganz oft das Wunsch- und Wahlrecht der Familien übergangen<br />

(auch bei SPFH-Wahl)<br />

- Kinder- und Jugendliche sind oftmals gar nicht zu den Hilfeplanungen eingeladen<br />

- Eltern und Jugendliche können meistens nicht mit entscheiden, in welche<br />

Pflegefamilie, in welche Einrichtung der Jugendliche kommt.<br />

- In die Gestaltung der Besuchskontakte werden die Betroffenen selten mit<br />

einbezogen.<br />

- Es gibt i.d.R. bei <strong>Fremdunterbringung</strong> für die Eltern keine individuellen Hilfen mehr.<br />

7


Qualifizierte Rückführungshilfen und generelle Elternarbeit finden in den<br />

Einrichtungen bzw. in Kooperation mit den Einrichtungen nicht statt. Es gibt viele<br />

Eltern, die nicht in der Lage sind, sich gut um ihr Kind zu kümmern, die aber eine<br />

sehr enge emotionale Ebene haben. Eltern, die abgeben, sind mitnichten immer<br />

schlechte Eltern. Oft handeln Eltern sehr verantwortungsbewusst, wenn sie ihr Kind<br />

abgeben. Aber das muss man v.a. auch ihnen selber deutlich machen.<br />

- Gute Elternarbeit beinhaltet auch, Eltern klarzumachen, dass sie dem Kind<br />

"erlauben" sollten, Beziehungen zu ihren neuen Betreuungspersonen einzugehen -<br />

egal wie lange die <strong>Fremdunterbringung</strong> geplant ist. Sowohl die Einrichtung als auch<br />

die Eltern sollten sich bestenfalls als gegenseitige Ergänzung für das Wohl des<br />

Kindes sehen. Das kann aber nur mit einer guten professionellen Begleitung<br />

passieren, da die ganze Situation in der Regel hoch emotional aufgeladen ist.<br />

- Kindern wird selten angemessen erklärt, warum sie in einer<br />

Einrichtung/Pflegefamilie leben und weitere Zukunftsperspektiven werden nicht<br />

aufgezeigt, so dass die Kinder oftmals sehr verunsichert sind.<br />

Wie schon gesagt: In den letzten 20 bis 30 Jahren wurden individuellere Konzepte<br />

entwickelt, die sich an den Ressourcen, Fähigkeiten und Neigungen der Kinder und<br />

Jugendlichen richteten.<br />

Diese kritisch weiterzuentwickeln, die gesellschaftlichen Zustände dabei im Blick zu<br />

behalten (Armut, Zugang zu Bildung, Migration,...), die oft Auslöser für die gefährdete<br />

Entwicklung <strong>von</strong> Kindern und Jugendlichen ist, ist im Sinne des Kindeswohls unabdingbar. 3<br />

Unabhängig da<strong>von</strong>, wie schwierig die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie waren / sind<br />

sollte die Bedeutung der leiblichen Eltern für die Kinder immer im Blick bleiben.<br />

Sowohl die Herkunftseltern aber auch v.a. die Kinder und Jugendlichen selbst müssen<br />

stärker mit einbezogen werden in die Konzepte und Praxen sozialer Arbeit.<br />

Die <strong>Fremdunterbringung</strong>skapazitäten und –möglichkeiten sind begrenzt.<br />

In der Praxis geht es fast nie um das passende Konzept, sondern um den freien Platz, der<br />

auch noch den Kostenvorstellungen des Jugendamtes entspricht.<br />

Die eigentlichen Fragen, die abgewägt werden müssten sind:<br />

- Hält eine Pflegefamilie die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes aus?<br />

- Kann eine Pflegefamilie damit umgehen, dass die Herkunftseltern eine große Rolle<br />

für das Kind spielen?<br />

- Ist das Kind zu klein für eine Unterbringung in einer Wohngruppe mit Schichtdienst?<br />

- Gibt es Möglichkeiten, die sozialen Bezüge des Kindes zu erhalten, also wohnortnah<br />

unterzubringen?<br />

- Braucht das Kind eine spezialisierte Unterbringung (geschlechtergetrennt,<br />

Pädagog_innen mit Erfahrung in der Suchthilfe, …?)<br />

- …<br />

3<br />

(z.B. Konzepte wie „Beratung für Arme“: Beispiel für ein Konzept:<br />

http://www.bke.de/content/application/shop.download/1257417004_Arme%20familien%20PM%2072.pdf)<br />

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Literatur und Links<br />

Band 170 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und<br />

Jugend, (1998) „Leistungen und Grenzen <strong>von</strong> Heimerziehung“ Ergebnisse einer<br />

Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen; Forschungsprojekt<br />

Jule: Projektleitung: Prof. Dr. Dres. h.c. Hans Thiersch; Universität Tübingen; Stuttgart<br />

Berlin Köln<br />

Dührsen, Annemarie (1958), „Heimkinder und Pflegekinder in ihrer Entwicklung“,<br />

Göttingen<br />

Fegert, Jörg-M.u.a. (2010), „Problematische Kinderschutzverläufe: Mediale<br />

Skandalisierung, fachliche Fehleranalyse und Strategien <strong>zur</strong> Verbesserung des<br />

Kinderschutzes (Studien und Praxishilfen zum Kinderschutz)“, München<br />

FICE, IFCO und SOS-Kinderdorf (2005), Quality 4 children: „Standarts für die<br />

Betreuung <strong>von</strong> fremd untergebrachten Kindern und jungen Erwachsenen in Europa“,<br />

www.quality4children.info<br />

Günter, Mirijam (2004): "Heim" Jugendbuch, mit autobiografischen Zügen aus der<br />

Heimerfahrung in den 80ern, dtv, München<br />

Hoffmann, Dr. Martin (Vorsitz) u.a. (2013), Bericht und Empfehlungen der<br />

unabhängigen Kommission <strong>zur</strong> Untersuchung der Einrichtungen der Haasenburg GmbH<br />

Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Potsdam<br />

Hoops, Sabrina (2006), „Die ‚geschlossene Unterbringung` nach § 1631 b“; Deutsches<br />

Jugendistitut, München<br />

Kuhlmann, Carola (2010): Expertise für den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er<br />

und 60er Jahren“ Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er<br />

Jahre –Maßstäbe für angemessenes Erziehungsverhalten und für Grenzen ausgeübter<br />

Erziehungs- und Anstaltsgewalt, Bochum<br />

LVkE (Hrsg.) (2012): „Kleine Kinder in stationären Hilfen <strong>zur</strong> Erziehung“, aus:<br />

Pädagogischer Rundbrief 1/2012, www.salberghaus.de<br />

Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes<br />

Schleswig-Holstein (2008), Dokumentation Runder Tisch mit ehemaligen<br />

Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt; Universität Koblenz-<br />

Landau<br />

o.A. (2006): “Wird's dann besser? Qualtiätsstandards im Verlauf der<br />

<strong>Fremdunterbringung</strong>” Tagungsband der Fachtagung am 13. Juni 2006 im<br />

Veranstaltungszentrum St. Pölten<br />

o.A. (2008): Fürsorgeerziehung der 1950 und 1960er Jahre Stand und Perspektiven der<br />

(fach-)historischen und politischen Bearbeitung. Dokumentation des<br />

ExpertInnengesprächs in Kooperation zwischen AFET und Universität Koblenz Landau<br />

9


o.A. (2008): Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre Stand und Perspektiven<br />

der (fach-) historischen und politischen Bearbeitung, Dokumentation des<br />

ExpertInnengesprächs in Kooperation zwischen AFET und Universität Koblenz Landau<br />

vom 05.03.2008<br />

Seglias, Loretta (2013) "Heimerziehung – eine historische Perspektive" aus Studie<br />

"Hinter Mauern" - Universität Luzern<br />

Sozialpädagogisches Institut, SOS-Kinderdörfer, Dokumentation der Fachtagung<br />

„Herkunftsfamilien in der Kinder- und Jugendhilfe“ vom 10.-12-02-2003, Frankfurt am<br />

Main<br />

TAZ, 15.06.2013; „Kinderheim in Brandenburg – Der Horror am Waldrand“<br />

Wolf, Klaus (2004) „Das Leben im Heim – mit den Augen der Kinder betrachtet?“, aus:<br />

Sozial, Heft 2, (Siegen)<br />

Wolf, Hilma Karoline (2008), „Herbstglück – Aufzeichnungen eines erwachsen<br />

gewordenen Heimkindes“, (Fuchstal)<br />

www.gewalt-im-jhh.de/hp2/Bucher_und_Meinungen_-_Gewalt_/Glueckstadt.pdf<br />

www.gedenkort-kz-uckermark.de<br />

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