Transforming Cities
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Carl Oesterhelt<br />
Foto: Yves Krier<br />
Dirk Wagner<br />
über Carl Oesterhelt<br />
„Mehr als vierhundert Interessierte<br />
hat meine Musik eh nie<br />
erreicht“, begründet der Münchner<br />
Komponist und Musiker<br />
Carl Oesterhelt den Verzicht auf<br />
einen Vertrieb für sein eigenes<br />
Label „The Society Of Dilettanti“,<br />
das neben anderen auch jene<br />
Kompositionen von Oesterhelt<br />
veröffentlicht, die der Autodidakt<br />
mit dem Münchner Rundfunkorchester<br />
eingespielt hat.<br />
Dass der Mann, der mit seiner<br />
Musik angeblich nie mehr als<br />
vierhundert Interessierte erreicht,<br />
unter anderem auch den<br />
Hörspielpreis der Kriegsblinden<br />
für eine Zusammenarbeit mit<br />
Michaela Melián erhielt, verschweigt<br />
er nicht etwa aus Bescheidenheit.<br />
Vielmehr geraten<br />
solche Wertschätzungen seines<br />
Œuvres leicht aus seinem<br />
Blickfeld, das zu sehr vorwärts<br />
gerichtet ist, um sich mit der<br />
Archivierung seiner bisherigen<br />
Errungenschaften aufzuhalten. Es<br />
wundert darum geradezu, wenn<br />
eine Publikation auf „The Society<br />
Of Dilettanti“ dann ausgerechnet<br />
den doch rückwärts gewandten<br />
Titel „Retrospektive“ trägt. Neben<br />
besagten Kompositionen für das<br />
Rundfunkorchester sind in jener<br />
Retrospektive auch Arbeiten zu<br />
hören, die Oesterhelt mit Unterstützung<br />
der Münchner Kammerspiele<br />
entwickelte. „Das war ein großes<br />
Glück für mich, weil deren Intendant<br />
Johan Simons der einzige ist,<br />
der mir erlaubt, mit einem riesen<br />
Ensemble zu arbeiten,“ resümiert<br />
Oesterhelt seine Arbeit als Musiker<br />
und Komponist in den Kammerspielen,<br />
die aus einer Zusammenarbeit<br />
mit Schorsch Kamerun hervorging,<br />
jenem Sänger der Goldenen Zitronen<br />
also, dessen kreatives Schaffen<br />
sich über die Jahre auch immer<br />
mehr auf die Theaterarbeit verlagert<br />
hatte. „Carl ist ja großartig für so<br />
eine Art Zwanziger Jahre-Kunstlied,<br />
das dann vielleicht noch in Form<br />
von Terry Riley oder Philipp Glass<br />
in den Sechzigern wieder aufkam.“,<br />
schwärmt Schorsch Kamerun.<br />
Allerdings muss sich solches „Art<br />
Zwanziger Jahre-Kunstlied“ dann<br />
auch die Frage gefallen lassen, ob<br />
es ein knappes Jahrhundert später<br />
immer noch dessen einstige Provokanz<br />
besitzt, mit der es vorwärts<br />
gerichtet verkrustete Strukturen<br />
aufbrechen wollte, oder ob solche<br />
Neuauflage von Berg, Webern oder<br />
Strauss am Ende nicht die einstige<br />
Avantgarde zur heutigen Nostalgie<br />
verklärt. Kitzelt die Spitze am Ende<br />
nur noch, wo sie einst so forsch zu<br />
stechen wusste? Ist sie am Ende<br />
auch nur, was Hermann Hesse der<br />
Musik von Richard Strauss vorwarf:<br />
„virtuos, raffiniert, voll handwerklicher<br />
Schönheit, aber ohne Zentrum,<br />
nur Selbstzweck“? Das wäre wohl<br />
das Unverschämteste, was man<br />
Oesterhelts Kompositionen nachsagen<br />
kann, die ja eben nicht handwerklich<br />
schön sein wollen. Mit der<br />
Meidung jedweder Harmoniesucht<br />
positioniert Oesterhelt sich vielmehr<br />
in einer Gesellschaft, in der sogar<br />
Sozialdemokraten jedes Klassenbewusstsein<br />
abschaffen wollten: „Es<br />
gibt keine Schichten,“ sagte etwa<br />
Müntefering von der SPD 2006 und<br />
Foto: Yves Krier<br />
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