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Unschuldig schuldig? Zur Schuldfrage und Vermittlung von Schlinks

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<strong>Un<strong>schuldig</strong></strong> <strong>schuldig</strong>?<br />

Jahren Haft. Außerdem scheint sie die Enttäuschung Michaels zu spüren <strong>und</strong> weiß, dass ein<br />

Anknüpfen an Vergangenes unmöglich geworden ist. Hanna erscheint nach wie vor isoliert.<br />

In dem Gespräch mit Michael äußert sie, dass sie sich <strong>von</strong> den Mitmenschen unverstanden<br />

fühlt <strong>und</strong> dass nur die Toten Rechenschaft <strong>von</strong> ihr verlangen könnten. Wenn es auch<br />

Zeichen gibt, die auf Hannas Suizid hindeuten, so lassen sich über die wirklichen Gründe<br />

letztlich lediglich Vermutungen anstellen. Die vom Autor gewählte Erzählperspektive<br />

erlaubt keinen unmittelbaren Einblick in das Denken <strong>und</strong> Fühlen Hannas kurz vor ihrem<br />

Tod.<br />

In unseren Seminaren wurde sowohl über letzteren Aspekt als auch allgemeiner über die<br />

Angemessenheit der langen Haftstrafe im Kontext <strong>von</strong> Hannas Schuld sehr lebhaft<br />

diskutiert, wobei die Ambivalenz der weiblichen Hauptfigur die Studierenden zu<br />

unterschiedlichsten Stellungnahmen provozierte. Die Diskussion in Düsseldorf wurde enger<br />

an der Romanvorlage geführt als in Cambridge, wo die Studierenden den Aspekt der<br />

<strong>Schuldfrage</strong> <strong>von</strong> sich aus auf die aktuelle Diskussion der Schuld der dritten Generation<br />

ausweiteten <strong>und</strong> auf dieser Ebene weiter diskutierten. Eine solche Akzentverschiebung, in<br />

der deutlich wurde, dass die Studierenden des Düsseldorfer Seminars nicht über ein<br />

vergleichbares Hintergr<strong>und</strong>wissen zur Herstellung aktueller Bezüge verfügten, kann im<br />

Wesentlichen auf die Zusammensetzung der Kurse zurück geführt werden. Der<br />

Deutschkurs an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf setzte sich zu einem größeren<br />

Teil aus Studierenden außereuropäischer Nationen zusammen (ungefähr die Hälfte kam aus<br />

Ländern der GUS-Staaten, ein weiteres Drittel aus China, Japan <strong>und</strong> Südkorea, eine<br />

Minorität aus Spanien, Frankreich <strong>und</strong> Italien), während das „Cross Cultural Writing and<br />

Society” — Seminar in Cambridge ausschließlich europäische Teilnehmer beinhaltete<br />

(neben englischen auch einige deutsche, griechische Studentinnen <strong>und</strong> italienische<br />

Studierende). In einem solchen Kontext wurde auch die Frage nach Hannas Schuld<br />

tendenziell unterschiedlich beurteilt. In den Düsseldorfer Seminaren wurde sie zwar <strong>von</strong><br />

einer Mehrheit der Studierenden als „Täterin” betrachtet, ein großer Teil präferierte jedoch<br />

eine Doppelkategorisierung als „Opfer” <strong>und</strong> „Täterin”, d.h. als „un<strong>schuldig</strong>” <strong>und</strong><br />

„<strong>schuldig</strong>” zugleich, <strong>und</strong> eine Minderheit beurteilte sie sogar als un<strong>schuldig</strong>es Opfer. Bei<br />

einer Wahl <strong>von</strong> Adjektiven zur weiteren Beschreibung Hannas dominierte der Terminus<br />

„grausam”, an zweiter Stelle wurde die Eigenschaft „hilflos”, dann „stark” <strong>und</strong> schließlich<br />

© gfl-journal, No. 2/2004<br />

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